Ausfahrt Phoenix

„Sie werden für die Frauenwelt viel attraktiver sein, wenn Sie zeigen, wer Sie wirklich sind.“ Ob der gut gemeinte Ratschlag seiner Therapeutin Stefan Pfeulich weiterbringen wird? Stefan ist Mitte dreißig und immer noch auf der Suche nach seiner Traumfrau. Doch leider bekommt er beim anderen Geschlecht einfach keinen Fuß auf den Boden. Er grübelt zu viel, ist im entscheidenden Moment völlig blockiert und zieht immer die Falschen an. Entnervt vom Singledasein bucht er eine Gruppenreise durch die USA. In Phoenix kommt es zu einem schicksalhaften Erlebnis. Wird die Wüstenstadt in Arizona zum Wendepunkt in seinem Leben?

Der Autor

Michael Schmid, Jahrgang 1968, ist in Tübingen aufgewachsen und lebt seit mehreren Jahren in Nürnberg. Er hat seine bisherigen Bücher unter Pseudonym geschrieben und veröffentlicht mit „Ausfahrt Phoenix“ seinen ersten Roman unter seinem eigenen Namen.

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www.ausfahrt-phoenix.de

Copyright © 2018 Michael Schmid

All rights reserved. 2. Auflage.

Lektorat: Barbara Lösel | www.wortvergnügen.de

Umschlaggestaltung: Jürgen Hagl

Website: www.ausfahrt-phoenix.de

Anschrift: Augraben 90a, 90475 Nürnberg

Email: michael-schmid@outlook.com

Es ist nie zu spät …

I.

Am Anfang. In Nürnberg.

1. Bier oder Cocktail?

Da stand sie. An der Bar. Ganz alleine. Blonde schulterlange Haare, große Augen, volle Lippen. Etwas verloren blickte sie umher. Sie hatte eine weiße Bluse an, die drei oberen Knöpfe waren geöffnet. Man kam nicht umhin, einen Blick auf ihre wohlgeformten Brüste zu werfen.

Starr nicht so. Das ist ja peinlich.

Stefan sprach mit sich selbst und versuchte, unauffällig woanders hinzuschauen. Nach einer Weile setzte er seine Objektbeobachtung fort und musterte die Frau seiner Begierde.

Er sah eine enge blaue Jeans und hohe weiße Pumps. Auch das noch. Er stand auf hohe Schuhe. Ihr Gesicht war derart hübsch, sie sah aus wie gemalt. Wie alt mochte sie sein? Mitte oder Ende 20? Es war egal, sie war perfekt.

Nervosität überkam ihn, obwohl er nur dastand und nichts machte. Er fühlte sich, als ob er in Kürze etwas unternehmen müsse.

Was tun? Sie ansprechen, aber wie?

Panikgefühle wie vor einer Prüfung überkamen ihn. Doch die Zeit, sie anzuquatschen, war noch nicht gekommen. Er brauchte einen Plan.

Okay, einen Plan. Stefan war sich bewusst, er hatte keinen und sein Kopf war leer.

Bleib ruhig, vielleicht fällt dir ja noch was ein.

Stefan nahm sich zumindest vor, gelassen zu wirken. Obwohl man ihm ansah, dass er das überhaupt nicht war. Man konnte nämlich immer sehr gut an seinen Augen ablesen, in welcher Gefühlslage er gerade war. An sich wäre es häufig besser für ihn, eine Sonnenbrille zu tragen. Aber in der dunklen Disco war das ja eher suboptimal.

Wie sie wohl hieß?

Vermutlich Lena, Sarah oder Sophia.

Hübsche Frauen heißen meistens so. Irgendwie komisch. Woran das liegt?

Stefan versuchte, darüber nachzudenken, und erinnerte sich daran, dass dies wenig Sinn machte. Bereits bei „Hitch, der Date Doktor“ hieß es: „Bleib präsent und gib dich nicht irgendwelchen Tagträumen hin.“

Stefan beschloss, sie Lena zu nennen. Er sah sie an und wartete, dass sie seinen Blick erwiderte. Aber nichts dergleichen geschah, sie schaute überall hin, nur nicht zu ihm.

Sollte er einen Handstand machen oder auf und ab hüpfen? Oder das Zaubern anfangen, wie es in skurrilen Ratgebern immer hieß? Welch schwachsinnige Gedanken.

Doch da, ihr Blick wanderte langsam in Stefans Richtung. Gleich war es so weit, dann würden sich ihre Augen zum ersten Mal begegnen. Sie würde innehalten, ihm tief in die Augen schauen, ihn anlächeln und möglicherweise sogar zuzwinkern. Jahre später würden sie immer wieder davon erzählen: „Weißt du noch damals, als wir uns das erste Mal im T90 gesehen haben. Es war Liebe auf den ersten Blick.“

Das würde sich auch sehr gut für eine Rede bei ihrer Hochzeit eignen. Der Trauzeuge würde es in seine Laudatio einbauen. Und alle wären hin und weg. Was für eine fantastische Liebesgeschichte.

Vermeide deine Tagträume.“ Stefan fiel der Date Doktor ein. Urplötzlich waren die Selbstzweifel wieder da: Die bemerkt dich sowieso nicht.

Warum sollte es heute nicht mal anders sein? Eventuell war Stefans großer Tag ja gekommen.

„Hast du schon mal gehört, dass in der Disco Liebesbeziehungen entstanden sind?“ Die Worte von Maximilian, seinem besten Freund, kamen Stefan in den Sinn. Maximilian versuchte Stefan immer wieder zu erden und ihn von dem Druck zu befreien, unbedingt eine Frau finden zu müssen.

„Außerdem darfst du dir nie anmerken lassen, dass du auf der Suche bist. Die Frauen spüren das sofort und das wirkt abschreckend auf sie.“

Das Mysterium „Frauen“ war ein häufiges Gesprächsthema zwischen Maximilian und Stefan. Wo war Maximilian überhaupt? Er wollte doch nur auf die Toilette und war bereits eine ganze Weile verschwunden.

Lenas Kopfbewegung setzte sich fort. Gleich würden sich ihre Blicke streifen. Stefan versuchte, so gelassen wie möglich zu schauen.

Strahle Überlegenheit und Coolness aus. Jetzt. Sofort.

Stefan sah sich nicht selber, was vielleicht besser war. Mit seinem gekünstelten Gesichtsausdruck sah er nämlich aus wie ein begossener Pudel, den man vor dem Einkaufszentrum vergessen hatte und der verzweifelt auf sein Herrchen, oder besser gesagt Frauchen, wartete.

Die Blicke von Lena und Stefan begegneten sich. Was für ein magischer Moment … hätte dies sein können.

Es passierte nämlich rein gar nichts.

Das Reh, das er erlegen wollte, um es mal auf den Punkt zu bringen, sah einfach an ihm vorbei. Diese Lena nahm ihn nicht im Geringsten wahr.

Frust machte sich in Stefan breit.

Er musste es wohl doch mit der Brechstange probieren, wie es in der Fußballsprache hieß. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Schicksal auf die Sprünge zu helfen. Im Klartext hieß das, sich dem Reh unverhohlen zu nähern, bevor es wieder davonsprang.

Seitdem er von seiner Therapeutin ein Buch mit dem Titel „Weg des Mannes“ geschenkt bekommen hatte, fielen ihm immer mehr dieser Jagd-Metaphern ein. Das schamanische Buch zielte auf die Beziehungen zwischen Mann und Frau ab. Dabei wurde der Mann als Jäger bezeichnet, der auszieht, um das Wild, also die Frau, zu erlegen. Besser gesagt zu fangen, sonst hätte er ja nichts davon und wäre gleichzeitig ein Psychopath. Wenngleich fangen eigentlich auch nicht passte und in eine ähnliche schräge Richtung zielte. Gemeint war sicherlich, das Wild für sich zu gewinnen.

Dieses schlaue Buch hatte das Ziel, den Mann mit spirituellen Übungen auf seine Jagd vorzubereiten. Denn nur, wenn der Jäger im Besitz all seiner Kräfte war und „mit dem Herzen sehen konnte“, war es Zeit, die Jagd zu beginnen. Ansonsten sollte er sich zurückziehen, an seinen Kräften arbeiten und auf seine Einsatzzeit warten.

Was Stefan schon länger wusste: Er war überhaupt nicht bereit für die Jagd und fühlte sich eher wie ein in vergangenen Kämpfen angeschossener Jäger. Doch nun war er ungeduldig und hatte keinen Bock mehr zu warten, bis seine Jagdzeit endlich gekommen war. Er wartete schon viel zu lange und glaubte sowieso nicht so recht an die Verheißungen des Buches. All diese Übungen und bewusstseinserweiternden Trainings schienen bei ihm nicht zu fruchten.

Warum sollte es heute nicht mal anders sein? Er war ausgeschlafen, seine Laune war ganz ordentlich, er war noch nicht zu sehr angetrunken und hatte sein Lieblingshemd an. Darin musste er einfach gut aussehen. Es gab also keinen Grund, sich dieser Lena nicht zu nähern und sie anzusprechen.

Stefan sah nochmals zu ihr hinüber und nahm sich vor, einfach zu ihr hinzugehen. Er wollte nicht darauf warten, bis ihm ein anderer Jäger zuvorkam, sie einfach weglief oder Maximilian ihn bequatschte.

Stefan hatte in diesem Moment eine Bestimmung. Er musste sich einfach auf Lena, das Reh oder besser gesagt, die Frau seines Lebens, zubewegen. Es war an der Zeit.

Stefan schlich sich von hinten an und stand dann plötzlich neben ihr. Sein Herz schlug heftig. Er wartete einen Augenblick. Lena drehte sich zu ihm um und sah ihn an. Was für wundervolle blaue Augen. Stefan war überwältigt. Aber plötzlich wurde ihm etwas klar. Er hatte sich überhaupt nicht überlegt, was er ihr sagen wollte.

„Ach da steckst du. Hab dich schon überall gesucht.“

Maximilian sah Stefan vorwurfsvoll an.

„Na, das Gleiche könnte ich zu dir sagen. Wolltest doch nur auf die Toilette?“

„Ich bin meiner Ex-Freundin Sabine über den Weg gelaufen. Mann, war das peinlich.“

„Warum denn?”

„Na, sie hatte ihren neuen Freund dabei. Ich sage dir, der ist bestimmt dreißig Jahre älter als sie. Zumindest schaut er so aus. Ist unglaublich, dass ich gegen so ein Exemplar eingetauscht wurde. Soll sie mal glücklich mit dem werden.“

„Ja, soll sie doch“, antwortete Stefan geistesabwesend.

„Was ist denn mit dir los? Du schaust so verwirrt.“

„Danke, das kann ich jetzt gerade noch gebrauchen. Bist ein echter Freund.“

„Bitte schön. Aber jetzt mal im Ernst. Was ist los?”

„Erinnere mich beim nächsten Mal daran, dass Diskotheken einfach nichts für mich sind.“

„Warum denn, du bist doch ein Tänzer vor dem Herrn. Wer in deinem Alter kann schon den Scherenschritt tanzen?“

Stefan schmunzelte kurz. Er musste an eine Party vor ein paar Jahren in Bamberg denken, bei der er und Maximilian eine etwas steife Geburtstagsfeier aufgefrischt hatten. Sie mixten exotische Cocktails, verteilten Shots an die Gäste und hatten Spaß auf der Tanzfläche. Bei dem Lied „I follow rivers“, das damals in den Charts war, kam Stefan dermaßen gut in Fahrt und machte ganz außergewöhnliche Tanzbewegungen. Maximilian hatte so etwas nach seinen Angaben noch nie gesehen hatte und nannte sie fortan den „Scherenschritt“.

„Ach ja, der Scherenschritt. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich den damals hinbekommen habe.“

„Da hatten wir auch etwas mehr Spaß als hier. Schau dich doch mal um. Die sind alle total verkrampft, oder nicht?“

Stefan sah Maximilian unsicher an und murmelte leise „vielleicht“ vor sich hin.

„Ich sehe, dich bekommen wir gerade nicht locker. Was ist denn los?“

„Siehst du die Blonde dahinten, die gerade mit dem Typen spricht?“

„Welche? Die da?” Maximilian zeigte mit dem Finger in Richtung Bar.

„Oh Gott. Nicht so auffällig. Die sieht uns doch.”

„Stimmt, du hast recht. Also die da hinten?” Maximilian nickte nicht minder auffällig in dieselbe Richtung.

Stefan holte tief Luft. Er kannte Maximilian gut genug um zu wissen, dass er immer wieder ein bisschen unkoordiniert in seinen Aktionen war.

„Genau die. Sie hätte die Frau meines Lebens sein können.“

„Die ist doch viel jünger als du.“

„Echt? Die ein bis zwei Jahre.“

„Na eher zehn bis zwölf.“

„Okay, dann halt zehn bis zwölf Jahre.“

„Hast du nicht mal gesagt, dass du Frauen nicht leiden kannst, die auf tätowierte Typen stehen?“

„Genau, kann ich auch nicht.“

„Na, dann sei froh, dass du der Frau deines Lebens aus dem Weg gegangen bist.“

Stefan bemerkte, wie Lena heftig mit einem bärtigen Mann flirtete, der an beiden Armen komplett tätowiert war. Er blickte fassungslos in ihre Richtung.

„Was hat denn der auf den Armen? Sind das große Totenköpfe?“ Stefan schüttelte den Kopf. „Wie kann man seinen Körper so verunstalten? Die Arme sehen ja aus wie verkohlt.“

„Auch mal schön“, erwiderte Maximilian süffisant.

„Welchen Grund hat man denn, sich Bilder von Totenköpfen in die Haut zu rammen?“

„Vielleicht hat der eine Todessehnsucht oder der Tätowierer hat sich schlichtweg ‚verstochen‘.“

Stefan hörte gar nicht richtig zu und sagte: „Und noch viel schlimmer, warum stehen Frauen auf so etwas?“

Maximilian war klar, dass Stefan wieder in einen seiner Monologe über dieses Thema verfiel. Bevor er antworten konnte, fuhr Stefan fort: „Wahrscheinlich fährt der Typ einen blitzblanken BMW X6 ohne jeglichen Aufkleber, aber seinen Körper verschandelt er sich. Habe ich dir schon mal von diesem Vergleich erzählt?“

„Ja, mehrfach“.

„Okay. War mir nicht mehr sicher.“ Stefan hielt kurz inne und sprach dann weiter: „Das ist wie mit dem Regenwald. Wenn der abgeholzt ist, dann wächst da nichts mehr nach, da kann man sich noch so anstrengen und neue Bäume pflanzen. Genauso ist es bei Tätowierungen: Einmal die blanke Haut beschmiert und das bleibt dann für die Ewigkeit. Denn auch mit Lasern bekommt man das nicht mehr richtig weg, weißt du?“

Maximilian verdrehte die Augen, doch Stefan hörte nicht auf: „Ich kann mich manchmal schon nicht entscheiden, welches T-Shirt ich anziehen soll, wie kann ich dann …“

Genervt unterbrach ihn Maximilian: „Mensch, Stefan, der Typ ist halt cool und traut sich was. Nicht so wie du, der beim Ansprechen von Frauen total verkrampft ist.“

„Kann sein.“

„Was war denn vorhin los mit dieser Frau?“

Stefan zögerte kurz und sagte dann nachdenklich: „Voll peinlich sag ich dir! Ich war mir so sicher, dass sie für mich bestimmt ist. Hatte das derart im Gefühl.“

„Na, das ist ja schon mal gut. Und dann?“

„Nach reichlicher Überlegung bin ich irgendwann einfach zu ihr hin. Ich wäre dabei fast gestorben.“

„Wegen der da hinten, die gerade mit dem Totenkopf-Äffchen schmust?“

„Was?“

„Nein, war Spaß. Erzähl weiter.“

„Mach das nicht noch mal“, ermahnte ihn Stefan und grinste dabei verkrampft. „Also, ich bin zu ihr hingegangen und stand dann auf einmal vor ihr.“

„Gut, zwangsläufig.“

„Max, lass mich doch mal ausreden.“

„Okay, sorry.“

„Ich stand vor ihr und habe direkt in ihre klaren blauen Augen geschaut.“

„Und ...?“

„Ja, nichts. Mein Kopf war leer und mir fiel nichts ein. Dann sagte ich einfach nur: ‚Hallo, bist du zum ersten Mal hier?‘“

„Na gut, gibt bessere Anmachsprüche.“

„Das ist mir auch klar.“

„Was sagte sie?“

„Nein.“

„Wie, nein?“

„Ja, nein halt.“

„Verstehe. Und anschließend …?“

„Anschließend bin ich wieder dahin zurück, wo ich herkam.“

„Hm, was soll ich sagen? Da hast du ja fast alles richtig gemacht“, erwiderte Maximilian ironisch. Er schien sichtlich Gefallen an Stefans Geschichte zu haben.

Idiot. Stefan war drauf und dran, beleidigt zu sein. Er beschloss jedoch, das Erlebte mit mehr Humor zu nehmen. Vielleicht war es ja hilfreich …

„Was hättest du denn gesagt?“, fragte Stefan.

„Also mein Lieblingsspruch ist immer: Bier oder Cocktail?“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“

„Doch, klar. In der Disco ist es immer hilfreich, sinnbefreite und vor allem einfache Dinge zu sagen.“

„Ach nee.“

„Natürlich. So lenkt man das Gespräch auf die Alkoholebene, lockert die Situation und kann anschließend eine unverkrampfte Konversation führen.“

„Und das funktioniert bei dir?“

„Ja, fast immer.“

„Warum bist du dann schon so lange Single?“

Maximilian wartete kurz, bevor er antwortete, und nickte dabei mit dem Kopf.

„Ein guter Punkt, ein guter Punkt. Gebe ich dir recht. Aber das hat andere Gründe.“

„Na gut. Gegebenenfalls probiere ich deinen Spruch mal aus.“

„Solltest du. Am besten heute noch.“

„Weiß nicht. Muss mich zuerst einmal erholen.“

„Das ist die falsche Einstellung, Stefan. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Komm, jetzt schauen wir uns mal um, wen du ansprechen könntest.“

Sie betrachteten das Geschehen im T90 in Nürnberg. Die Diskothek gab es schon länger, nach einer umfassenden Renovierung wurde sie kürzlich wieder neu eröffnet. Das Besondere am T90 war, dass sie im Flughafengebäude untergebracht war. Man konnte von dort aus durch einige große Scheiben direkt auf die Rollbahn schauen und den Flugzeugen beim Starten und Landen zusehen.

Mit der Beschreibung dieser Location konnte man Auswärtige, die dort noch nie waren, immer sehr beeindrucken. Man durfte nur nicht erwähnen, dass am Nürnberger Flughafen nicht immer Flugzeuge zu sehen sind. Doch schließlich war das T90 ja auch keine Aussichtsplattform, sondern eine Disco.

Und in dieser war heute besonders viel los. Auf der Tanzfläche konnte man sich fast nicht bewegen, so voll war es. Es war eng und heiß, unweigerlich roch man den Schweißgeruch der anderen. Die Einführung des Rauchverbotes war sicherlich eine gute Sache, aber in manchen Momenten wünschte man sich Ausnahmen davon.

Stefan blickte umher und beobachtete die tanzende Masse. Aus den Lautsprechern dröhnte „Auf uns“ von Andreas Bourani. Viele grölten den WM-Song lauthals mit. Bei manchen machte sich reinste Ekstase breit, als ob Mario Götze gerade eben erst die deutsche Nationalelf zum Weltmeister-Titel geschossen hätte.

Je mehr sich Stefan umsah, desto stärker fielen ihm einige extrem affektierte und laut lachende Frauen auf. Sie wirkten gekünstelt ausgelassen und verhielten sich so, als seien sie die bestgelauntesten weiblichen Exemplare überhaupt.

„Schau dir mal die ganzen Frauen hier an. Bisschen arg aufgedreht, oder?“, schrie Stefan Maximilian ins Ohr.

„Das Gleiche habe ich auch schon gedacht. Fällt dir auf, dass es meistens so Frauen um die 40 sind, die hier noch mal alles geben?“

„Könnte hinkommen. Die sind auch äußerst aufreizend gekleidet. Nicht, dass ich was dagegen hätte. Aber etwas übertrieben ist das schon.“

„Weißt du, die wollen es einfach noch mal wissen.“

„Wie meinst du das?“

„Mensch Stefan, du kennst dich auch gar nicht aus mit Frauen.“

„Zum Glück habe ich ja dich“, erwiderte Stefan.

„Genau“, meinte Maximilian und fuhr nach einer kurzen Unterbrechung fort: „Bei Frauen ist es so, dass sie bis Anfang 30 nach dem optimalen Partner suchen. Deshalb verhalten sie sich wie eine Prinzessin und weisen so Typen wie dich einfach ab, weil ja an der nächsten Ecke noch ein viel besserer auf sie zukommen könnte.“

„Ach, ist das so?“

„Ja, ist mehrfach wissenschaftlich belegt“, grinste Maximilian. Es war manchmal schon erstaunlich, wie überzeugt er seine Theorien vertrat.

„Aus biologischer Sicht suchen Frauen den perfekten Partner, der für die Fortpflanzung geeignet ist. Und dabei geben sie zwar vor, einen netten und ganz normalen Typen zu wollen, der humorvoll, intelligent und auch sensibel ist. Allerdings suchen sie dann doch einen wahren Mann, der selbstbewusst ist, gerne einen dummen Spruch auf den Lippen hat, sie auch mal schlecht behandelt und sagt, wo es langgeht. Im Endeffekt einen Macho. Daher kommst du ja auch bei den Frauen nicht so an. Du bist noch in dem Alter, in dem du für die meisten noch nicht interessant genug bist.“

Stefan überlegte, was er von Maximilians Philosophien halten sollte. Er wollte das nicht glauben.

„Ich gehe jetzt mal auf die Tanzfläche“, beschloss er und strebte auf eine Lücke in der Menschenmenge zu, die er gerade erspäht hatte.

„Warte, ich komme mit“, erwiderte Maximilian und hastete Stefan hinterher.

Auf der Tanzfläche war es dermaßen eng, dass man sich kaum bewegen konnte. Die Hitze stieg von Minute zu Minute. Schweißperlen rannen von Stefans Stirn. Hin und wieder zwängten sich Karawanen von Kleingruppen durch die tanzende Menge, meist mit Getränken in Form von Flaschen oder Gläsern bewaffnet, um von der einen Seite der Tanzfläche hinaus auf die angrenzende Außenterrasse zu gelangen.

Neben Stefan und Maximilian zwängten sich plötzlich zwei Frauen Ende 40 auf die Tanzfläche. Eigentlich gab es keinen Platz mehr, aber das schien den beiden egal zu sein. Sie hatten Frisuren aus den 80er-Jahren und hätten Schwestern von Bonnie Tyler sein können. Jetzt fehlte nur noch „Total Eclipse of the Heart“ oder „It’s a heartache“ aus den Lautsprechern.

Stefan fiel auf, dass die beiden Damen sich mehr und mehr in einem seltsamen Aerobic-Stil zu bewegen begannen. Dabei glänzten sie mit übertriebenen Auf- und Abwärtsbewegungen der Ellbogen, ähnlich dem Schlittschuhschritt beim Langlauf. Man konnte nicht erkennen, ob es sich um Spaß oder Ernst handelte. Stefan befürchtete, dass es sich um ihren alltäglichen Tanzstil handelte. Auch Maximilian entgingen die ausdrucksstarken Damen nicht.

Eine der beiden, die mit den besonders auftoupierten Haaren, berührte Stefan bei ihren massiven Bewegungen verstärkt mit dem Ellbogen, was sie aber nicht weiter zu stören schien. Maximilian rief Stefan ins Ohr: „Ich glaube, die scheint dich zu mögen.“

Das wäre kein Wunder gewesen, da Stefan oft schräge Frauen oder Frauen, für die er sich nicht interessierte, anzog.

„Komm, das ist unsere Chance. Ich glaube, bei denen stehen wir hoch im Kurs.“

Trotz der schmeichelhaften Ellbogenhiebe fühlte sich Stefan alles andere als wohl. Er war nicht in der Stimmung, mit den 80er Damen aufzufallen und ebenfalls als seltsam angesehen zu werden.

„Ich hole mir mal was zu trinken“, rief er Maximilian zu und entfernte sich von der Tanzfläche.

Maximilian war zwar über Stefans Abgang überrascht, witterte aber sofort seine Chance und nahm unmittelbar die frei gewordene Tanzlücke ein. Er war bereit für Bonnie Tyler’s Ellbogenschläge.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Stefan, wie Maximilian ebenfalls den Aerobic-Stil zu tanzen begann und fast synchron in die Bewegungen der beiden Frauen einstieg. Diese waren sichtlich erfreut. Stefan schüttelte leicht den Kopf und lief zur Bar. Er brauchte jetzt etwas Abkühlung.

Warum mussten Bestellungen an der Bar in der Disco immer so chaotisch ablaufen? Das hatte sich Stefan schon mehrfach gefragt.

In zwei Reihen drängten sich Menschen an der Theke entlang und suchten nach freien Zugangsplätzen zum Counter. Wie meist war der Zugang zur Bar durch sitzende oder stehende Personen versperrt, von denen man nicht wusste, ob sie auch etwas bestellen wollten oder nur einfach den Platz besetzten.

Hinter der Theke huschten ein paar Barkeeper hin und her wie in einem Ameisenhaufen. Dabei schienen sie ständig beschäftigt zu sein und schauten kaum auf. Man konnte nur erahnen, wer von ihnen bereit sein könnte, eine Bestellung aufzunehmen.

Jeder der anstehenden Menschen wartete offensichtlich auf seine Bestellchance und wollte der Nächste sein, der seinen Drink-Wunsch über die Theke rief oder auch brüllte – es war schließlich extrem laut.

Die Männer wollten außerdem bei dem ganzen Prozess einen guten Eindruck machen. Schließlich zeigte sich bei der Bestellung an der Theke, wie gut man sich gegen andere Primaten durchsetzen und behaupten konnte. Es war somit ein Überlebenskampf wie im Tierreich.

Während Stefan noch über die Vergleiche mit der Tierwelt sinnierte, bemerkte er auf einmal eine hübsche dunkelblonde Frau, die geduldig neben ihm wartete. Sie trug ein enges schwarzes Kleid und hielt einen Zehn-Euro-Schein in den Händen. Stefan fielen sofort die knallrot lackierten Fingernägel auf, wobei der Ringfinger in einem helleren Farbton gehalten war.

Es waren sehr schöne Fingernägel und Hände, was bei Frauen nach Stefans jüngster Beobachtung nicht allzu häufig vorkam. Früher hatte er es nie so bemerkt, doch es gab in der Tat massive Unterschiede zwischen Frauen, was Hände und Fingernägel betraf.

Darüber sollte ich mal ein Buch schreiben, überlegte Stefan. Manche Frauen haben unheimlich kleine Fingernägel, andere wiederum ganz große.

Eine sehr bedeutsame Erkenntnis, hörte er eine andere Stimme in seinem Kopf. Konzentrier dich mal lieber auf deine Bestellung und das süße Mädchen neben dir.

Und da war sie wieder, seine Anspannung. Seine Gedankenmaschine setzte sich in Bewegung. Sollte er etwas sagen? Und was sollte er sagen?

Stefan schielte nach rechts und achtete darauf, ob sie ihn auch anschaute. Aber das war anscheinend nicht der Fall. Sie blickte fokussiert in Richtung Theke und schien auf ihre Gelegenheit zu warten, den Barkeeper anzusprechen.

Stefan kam eine Idee und er wusste auf einmal, was er ihr sagen könnte. Er versuchte zu lächeln und sich bemerkbar zu machen, was ihm allerdings nicht gelang. Er räusperte sich, um sich etwas lockerer zu machen und fragte: „Na, Bier oder Cocktail?“

Ein dunkelblonder Kopf drehte sich langsam in Stefans Richtung. Er hatte keine Ahnung, was ihn jetzt erwarten und ob er die Antwort „Bier“ oder eben „Cocktail“ erhalten würde. Er hatte auch noch keinen Plan, wie er die Konversation anschließend fortsetzen sollte.

Die Lippen der süßen Dame, und sie war in der Tat wirklich süß, spitzten sich. Sie setzte zu einer Antwort an.

„Ich mag keinen Alkohol.“

Damit hatte Stefan nicht gerechnet. Er war perplex. Sein Kopf war leer. Gleichzeitig konnte er sich nicht entscheiden, ob er „ich schon“ oder „ich auch nicht“ antworten sollte. Was hatte ihm Maximilian da nur eingebrockt?

„Hm“, war das Einzige, was ihm über die Lippen kam. Oh verdammt, schoss es ihm durch die Gehirnwindungen. Er fühlte sich wie ein Versager.

„Eine Johannisbeerschorle“, hörte er sie deutlich sagen. Sie hatte sich in eine Lücke an der Theke vorgearbeitet und hatte ihre Bestellung abgegeben, ohne Stefan nochmals eines Blickes zu würdigen.

In diesem Moment wurde Stefan plötzlich eines klar: Es war Zeit zu gehen.

2. Montag

Montagmorgen, halb acht.

Warum fühlt sich ein Montag immer so anders an als andere Tage, dachte Stefan bei sich, als er vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer taumelte. Er war noch ziemlich schlaftrunken und hatte an diesem Morgen auf vieles Lust, nur nicht auf die Arbeit.

Er ließ sich aufs Sofa fallen und schaltete den Fernseher ein – sein morgendliches Ritual. Im Morgenmagazin kam gerade der Wetterbericht. Der Moderator erklärte: „Heute wird es sonnig und heiß. Wer die Möglichkeit hat, heute die Sonne zu genießen, sollte es unbedingt tun. Für die anderen: Ziehen Sie sich zumindest leicht an. Jeder Stoff zu viel kann unangenehm sein.“

Wie gut, dass ich heute im Anzug zur Arbeit muss. Stefan, erhob sich vom Sofa und lief in die Küche. Es war Zeit für einen Kaffee. Während er die Kaffeemaschine bediente, schaute er aus dem Fenster und betrachtete das Haus gegenüber. Es hatte vier Stockwerke und jede Wohneinheit besaß einen großen Balkon. Im Laufe der Jahre, die er hier schon wohnte, waren ihm die Gesichter der Menschen des gegenüberliegenden Wohnkomplexes sehr vertraut geworden, obwohl er niemanden davon persönlich kannte. Manchmal fragte er sich, ob er den anderen auch bekannt war oder ob sie ihn überhaupt bemerkten, wenn er am Küchenfenster stand. Besonders seltsam war es dann, wenn er den Bewohnern des anderen Hauses begegnete und man wortlos aneinander vorbeiging. Hm, eigentlich kenne ich dich ja. Aber ich tu so, als ob ich nicht weiß, wer du bist, ging es ihm da durch den Kopf.

In der Wohnung im ersten Stock saß morgens regelmäßig eine Frau um die 30 in ihrem gelben Bademantel auf dem Balkon und rauchte eine Zigarette. Stefan vermutete, dass sie an einer Doktorarbeit oder an einem Buch schrieb, denn sie schien permanent zu Hause zu sein. Das hatte er bemerkt, als er ein paar Tage frei gehabt hatte. Den ganzen Tag pendelte sie zwischen ihrem Balkonstuhl, auf dem sie rauchend saß, und ihrer Wohnung, in der sie am PC arbeitete.

Von seiner Küche aus konnte Stefan direkt in die Wohnung der Frau schauen und sogar hindurch bis zum hinteren Zimmer, in dem ein Schreibtisch an einem Fenster stand. Manchmal fühlte sich Stefan fast wie ein Spanner, doch die Wohnung der Frau war dermaßen transparent, vor allem auch weil es keine Vorhänge gab. Er hätte bewusst wegschauen müssen, um diesen Einblick zu vermeiden. Wenn er ehrlich war, hätte er zu gerne einmal die junge Dame leicht oder auch unbekleidet erblickt. Aber bislang war das leider noch nie vorgekommen. Tja, Stefan war halt auch nur ein Mann.

Das Gesicht der Nachbarin konnte er aus der Ferne nur schemenhaft erahnen. Im Laufe der Zeit hatte sich in Stefans Kopf ein imaginäres Bild ihres Gesichts entwickelt, und das war – wer hätte es gedacht – äußerst attraktiv. Als er ihr nach Jahren zum ersten Mal auf der Straße begegnete, war Stefan ganz erstaunt, dass sie von Nahem völlig anders aussah und nicht so attraktiv war, wie er sie sich in seiner Vorstellung gemacht hatte. Eigentlich wollte Stefan sie grüßen, als er sie sah, doch sie schaute ihn mit einem leeren Blick an, als ob sie ihn noch nie gesehen hätte. Vielleicht war ja nur er so ein aufmerksamer Beobachter oder doch nur ein Spanner, und alle anderen achteten gar nicht so auf ihre Mitmenschen wie er.

Wie auch immer, heute, am Montagmorgen, kurz nach halb acht, saß sie wie jeden Tag in ihrem gelben Bademantel auf dem Balkon und rauchte. Gedankenversunken lief Stefan zurück zu seinem Sofa, nippte an seinem Kaffee und aß ein Brötchen mit Marmelade.

Am liebsten würde ich heute hier sitzen bleiben, war Stefans bedeutendster Gedanke, als gerade die Wirtschaftsnachrichten von der Frankfurter Börse durchgegeben wurden. Ihm fiel ein, was ihn heute in der Arbeit erwartete. Montagmorgens war regelmäßig um 8 Uhr 30 ein Abteilungsmeeting anberaumt.

Wie konnte man montags um diese Uhrzeit bereits ein Meeting abhalten? Er war immer froh, wenn er sich zu dieser Zeit überhaupt an seinen eigenen Namen erinnern konnte und wusste, was er ungefähr in dieser Firma arbeitete. Aber seine Chefin wollte von allen Mitarbeitern jeden Montag ein Update, was im Detail in der letzten Woche geschehen und was für die neue Woche zu tun war.

Stefan Pfeulich war ein guter Mitarbeiter und Finanzanalyst, sein Job war jedoch nicht gerade seine Leidenschaft. Außerdem war er manchmal etwas bequem. Eigentlich könnte er sich am Freitag oder am Wochenende auf das Meeting vorbereiten, doch verschob er dies immer auf den Montagmorgen, wohl wissend, dass er da meist zu wenig Zeit hatte. Besonders pünktlich war er leider auch nicht.

Das sollte an diesem sonnigen und bereits zur frühen Stunde heißen Morgen auch nicht anders ein. Stefan begann, sich in seinen Anzug zu zwängen.

„Ich hasse diese Anzüge, wenn es warm ist.“, fluchte er leise und bemitleidete sich. Bereits beim Anblick des Anzugs liefen ihm die Schweißperlen von der Stirn. Doch es half nichts. Heute war ein Termin bei der Geschäftsleitung und da konnte er nicht im T-Shirt hin. Er hatte schon einmal einen Rüffel von seiner Chefin Petra bekommen, als er im legeren Hollister-T-Shirt mit Aufdruck „California“ aufgekreuzt war. „Stefan, das ist jetzt aber nicht dein Ernst, wir haben einen Termin bei Dr. Hoffenstedt“, meinte sie. „Sollen wir die Büros noch abdunkeln und laute Musik abspielen, damit deine Kleidung zum Ambiente passt?“ Stefan war damals überrascht gewesen, dass seine Chefin überhaupt schon mal in einem Hollister-Laden gewesen sein musste, um eine solche Aussage machen zu können. Denn sie war immer sehr konservativ gekleidet und nur in teuren Boutiquen unterwegs. „Du fährst jetzt erst mal nach Hause und ziehst dir was Ordentliches an, oder willst du meine und deine Karriere komplett ruinieren? Dr. Hoffenstedt meint doch, er hätte es mit einem Hippie zu tun. Keine Widerrede, fahr.“

So fuhr Stefan nach Hause und zog sich um. Er war zwar per Du mit seiner Chefin, was sich zwangsläufig bei einem Survival-Training zur Teambildung ergeben hatte, aber die Beziehung war eher distanziert. Mit ihrer üppigen Mähne, ihrer ausgeprägten Körpergröße und ihren klaren Worten hatte sie ein starkes Auftreten und es war schwer, sich ihr zu widersetzen. Außerdem war sie einfach auch seine Vorgesetzte.

„Krawatte lass ich weg, die kann heute umbinden, wer mag. Ich auf jeden Fall nicht.“ Der rebellische Stefan sprach aus ihm.

Er sah auf die Uhr. Es war bereits deutlich nach acht. Jetzt musste er sich sputen. Er hatte es zwar nicht sehr weit zur Arbeit, aber das sollte an diesem Morgen wieder eine Punktlandung geben, vorausgesetzt, es gab keinen Stau.

Als er gerade zur Tür hinauswollte, machte er noch einmal kehrt und lief zu seinem Schrank. Er griff nach der erstbesten Krawatte und knurrte: „Ich mag dich zwar nicht, aber sicher ist sicher.“

„Stefan, kannst du nicht einmal pünktlich sein?“ Das Besprechungszimmer war gut gefüllt, als Stefan hektisch hereinstürzte und sich dem strengen Blick von Petra Sonnenberger ausgesetzt sah.

„Sorry, war Stau“, antwortete er.

Petra blickte ihn missbilligend an und setzte ihre Ansprache an die Mitarbeiter fort, die sie bereits vor ein paar Minuten begonnen hatte.

„Also, Sie wissen ja alle, dass diese Woche die komplette Finanzplanung abgeschlossen sein muss. Daher ist wichtig, dass Sie alle geplanten Termine einhalten und den Input der Ihnen zugeordneten Fachbereiche termingerecht hinbekommen. Ist Ihnen das bewusst?“

Alle Kollegen nickten in irgendeiner Form, manche brabbelten auch ein kaum verständliches „Ja“.

Petra Sonnenberger schien leicht genervt, sie hatte sich offenbar eine etwas klarere Antwort der Mitarbeiter erwartet.

„Na schön, dann schauen wir jetzt mal in die einzelnen Teams. Stefan fängst du bitte an zu berichten?“

Auch das noch! Stefan hatte gedacht, er käme ganz zum Schluss an die Reihe und hätte sich noch einmal überlegen können, was denn in der Woche so alles anlag. Er wusste es in dem Moment weiß Gott nicht mehr. Er musste improvisieren.

„Ja, diese Woche …“ Stefan machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: „Es wird so sein wie letzte Woche, es gibt einiges zu tun und wir sind ziemlich ausgelastet. Ansonsten läuft alles planmäßig.“

Stille im Raum.

„Das ist alles?“, hakte Petra streng nach.

„So in etwa. Mit den Details will ich jetzt keinen nerven. Wir sind ja alle gut beschäftigt. Das besprechen wir dann im kleinen Kreis.“

Stefan war selbst stolz auf seine Antwort am frühen Morgen. Mehr war gerade einfach nicht drin.

Er blickte in die Runde und sah, dass die anderen sowieso nicht zugehört hatten. Es war ihnen nicht zu verdenken, er hörte umgekehrt auch nie richtig zu. Lediglich Petra zeigte sich hellwach und präsent und musterte ihn prüfend.

„Das war wirklich alles, Stefan? Nichts vergessen?“

„Nö, ich glaube, das war‘s“, erwiderte er verunsichert. Dabei sausten ihm zig Gedanken durch den Kopf, was er Wichtiges vergessen haben könnte. Er spürte, wie plötzlich alle Kollegen auf ihn schauten, denn Petra hatte immer noch eine Augenbraue misstrauisch nach oben gezogen. Stefan, denk nach! Denk nach! Da muss noch was sein. Es war nicht das erste Mal, dass er an einem Montagmorgen einen gedanklichen Aussetzer hatte. Ihm wurde heiß in seinem Anzug. Dabei fasste er sich spontan an die Brust und bemerkte die Krawatte, die er sich vorhin auf dem Weg zur Arbeit noch schnell umgebunden hatte. Sein Gehirn wurde auf einmal wieder klar.

„Ach natürlich, das Wichtigste hätte ich jetzt beinah vergessen. Petra Sonnenberger und ich haben heute um 16 Uhr einen Termin bei Dr. Hoffenstedt zur vorläufigen Prognose für das Gesamtjahr. Dafür solltet ihr uns bis halb zwölf alle Vorabplanungsdateien eurer Fachbereiche zukommen lassen, damit wir die Prognose für die Firma abschließen können.“

Petra nickte zustimmend. Es war ihr wohl wichtig, das nochmals zu erwähnen, obgleich seit Wochen davon berichtet wurde. Es war heute seine Aufgabe, zusammen mit seiner Chefin die Prognosezahlen aus verschiedenen Bereichen zusammenzuführen und sie dann am Nachmittag mit dem Geschäftsführer Dr. Hoffenstedt zu besprechen.

Der Termin war alles andere als angenehm, da erstens Dr. Nikolaus Hoffenstedt generell ein ziemlicher Unsympath war und er zweitens extrem ungehalten wurde, wenn ihm die Zahlen nicht zusagten. Dabei war die Finanzabteilung nur Überbringer der Prognosewerte und nicht für das Geschäft an sich verantwortlich. Dennoch war es „Klausi, dem Vollstrecker“, wie die Mitarbeiter Dr. Hoffenstedt hinter vorgehaltener Hand gerne nannten, ziemlich egal, wen er gerade vor sich sitzen hatte. Im Herzen war er ein leidenschaftlicher Psychopath und liebte es, Kollegen einfach mal „rund“ zu machen, wenn ihm irgendetwas nicht passte. Dafür war er ja der oberste Chef und hatte nach eigener Auffassung jedes Recht dazu.

Das Problem war zurzeit, dass die Geschäfte der Firma Primo Electronics Nürnberg, in der Stefan beschäftigt war, alles andere als gut liefen. Der Verlauf der Verkaufszahlen war in allen Sparten von links oben nach rechts unten gerutscht. Und das würde bei der neuen Prognose auch nicht anders sein.

„Also, Sie haben gehört, was Stefan gerade so lapidar gesagt hat. Ich will hier nochmals betonen, dass bis halb zwölf Uhr alle, und ich sage explizit a l l e Daten, hier sein müssen. Beim letzten Mal hat die Hälfte von Ihnen den Termin verpasst und ich musste mir von Dr. Hoffenstedt eine Stunde lang anhören, wie unfähig die Finanzabteilung sei und dass er sich unsere Abteilung zukünftig durchaus auch in Neu-Delhi vorstellen könne. Die indischen Kollegen wären zwar auch nicht besser, würden aber nur ein Bruchteil von uns kosten. Von daher erwarte ich dieses Mal Pünktlichkeit, Vollständigkeit und Genauigkeit. Ist Ihnen das klar?“

Petra erhielt ein klares „Ja“ aus vielen Kehlen. Das war unmissverständlich gewesen.

Auch Stefan bejahte die Frage. Just in diesem Moment klopfte es an der Tür und Mylène Seydoux, Petras hübsche französische Assistentin, lugte schüchtern in den Meetingraum. Stefan hatte eine Schwäche für sie, was nicht nur an ihrem süßen französischen Akzent lag.

„Entschuldigen Sie die Störung Madame, aber Monsieur Docteur ‘offenstedt ist gerade am Telefon und möschte Sie unbedingt sprechen.“

Die Worte klangen wie ein Gedicht aus ihrem Mund. Und keiner konnte so bezaubernd den Buchstaben „h“ nicht aussprechen wie sie. Stefan bekam Herzklopfen, obwohl es dafür in diesem Moment überhaupt keinen Grund gab. Aber allein ihr Anblick, ihre langen, dunklen, gelockten, glänzenden Haare und ihre Stimme entzückten ihn.

„Haben Sie ihm gesagt, dass ich im Meeting bin?“

„Oui, ‘ab isch gemacht.“

„Und?“

„Das sei ihm ziemlisch egal, Madame, ‘at er gemeint. Er ‘at mir aber schon mal erzählt, worum es geht. Monsieur ‘offenstedt möschte die Zahlen ‘eute nischt erst um vier, sondern bereits um zwei. Er müsse ‘eute früher nach ‘ause.“ Mylène wurde rot im Gesicht. Das waren offensichtlich zu viele „h“ gewesen, die sie geschluckt hatte. Stefan kam noch mehr ins Schwärmen.

Petra Sonnenberger dagegen war offensichtlich ganz und gar nicht nach Schwärmen zumute. Panik zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Ihre Augen waren weit aufgerissen, die Mundwinkel wie versteinert. Sie wurde hektisch, was sonst nicht ihre Art war.

„Okay, Sie haben es alle gehört. Wir haben einen fire drill.“

Ein schöner Anglizismus, wenn Dinge einfach scheiße liefen. Man konnte manchmal meinen, man wäre bei der Feuerwehr und hätte in der Tat einen Feueralarm. Oder im Krankenhaus und es gäbe einen Notfall: „Herr Pfeulich, bitte in den OP. Es geht um Leben und Tod.“

Aber hier ging es „nur“ um Zahlen, da Monsieur Hoffenstedt früher wegmusste, aus welchem Grund auch immer. Und Menschenleben waren mit ziemlicher Sicherheit auch nicht in Gefahr. Doch im Geschäftsleben tat man gerne so, als wäre genau das der Fall.

„Dann machen wir heute früher Schluss mit unserem Meeting. Sie wissen, was zu tun ist. Um halb zehn will ich alle Daten im E-Mail-Posteingang haben. Und mit a l l e meine ich a l l e. Also an die Arbeit und eine schöne Woche.“

So schnell Petra Sonnenberger diese vier Sätze gesprochen hatte, so schnell war sie aus dem Besprechungszimmer verschwunden. Zurück blieben verdutzte und genervte Gesichter. Ein kollektives Stöhnen und Schimpfen begann, als die Chefin das Büro verlassen hatte.

Stefan gingen indessen ganz andere Dinge durch den Kopf: Mylène sah heute aber auch so was von süß aus. Und einen so kurzen Rock hatte sie lange nicht mehr angehabt. Eventuell sollte er sie doch mal auf einen Kaffee einladen. Stefan begann Pläne zu schmieden, während die anderen bereits zum fire drill hinauseilten. Stefans Feueralarm wurde auch in Gang gesetzt, doch sein Feuer brannte an anderer Stelle.

10 Uhr und noch nichts im Posteingang. Auweia. Das konnte heiter werden an diesem Tag. Vielleicht hatten die Kollegen ja ihre Daten direkt an Petra Sonnenberger geschickt und ihn nicht in cc gesetzt.

Während Stefan noch überlegte, ob er bei seinen Kollegen mal nachfragen oder ihnen noch Zeit geben sollte, klopfte es an seiner Bürotür. Spontan musste er an Mylène denken. Möglicherweise wollte sie ihm ja die Hauspost bringen oder ihn zu Petra Sonnenberger zitieren.

„Herein“, sagte er.

Die Tür öffnete sich langsam. Er schaute hoch und sah dunkle, lockige Haare. Allerdings nicht schulterlang, sondern kurz. Das war Gertrud Huber, die etwas beleibte Kollegin aus der Buchhaltung.

„Guten Morgen, Stefan, entschuldige, dass ich störe.“

„Kein Problem, du störst nicht.“

„Das ist schön.“

Sie schlich ins Büro und bewegte sich langsam auf Stefan zu. An einem Bürostuhl, der neben seinem Schreibtisch stand, machte sie halt. Sie umfasste die Stuhllehne mit beiden Händen. Stefan war sich nicht ganz sicher, aber sie schien irgendwie nervös.

Er sah zu ihr auf und musterte sie kurz. Gertrud Huber war Ende 30, trug eine etwas altmodische Brille, hatte leichte Bäckchen und großporige Haut. Sie war nicht gerade eine Schönheit, dafür sehr nett. Man konnte sich immer gut mit ihr unterhalten, denn sie war völlig unkompliziert und natürlich. Und Stefan war ihr gegenüber auch immer locker. Das war typisch für ihn – bei Frauen, für die er sich interessierte, war er nervös, verkrampft und im Kopf blockiert. Bei Frauen, für die er kein Interesse zeigte und von denen er nichts zu „befürchten“ hatte, war es das genaue Gegenteil. Ein klassisches Dilemma.

„Na Gertrud, schon wieder Montag?“

„Stimmt, da hast du recht. Schick schaust du aus.“

„Oh, danke. Darf heute Anzug tragen, weil ich nachher mit Petra Sonnenberger den Termin bei Dr. Hoffenstedt habe.“

„Oh, da bist du nicht zu beneiden. Aber du machst das bestimmt super.“

„Na ja, schauen wir mal. Wird schon werden. Nur sind wir zeitlich etwas im Verzug und die Zahlen sind aller Voraussicht nach alles andere als gut.“

Während er das sagte, ging mit einem leisen Signalton eine E-Mail ein. Er schaute kurz auf den Bildschirm und sah, dass ihm sein Kollege Franz Hofreiter eine Nachricht mit Anhang geschickt hatte. Es ging also doch so langsam voran mit dem Input der Kollegen.

Stefan wandte sich wieder Gertrud zu und bemerkte, dass sie heute wieder alles andere als vorteilhaft gekleidet war. Sie trug eine graugrüne Leinenbluse und eine recht weite, abgetragene Jeans. Dazu braune, bequeme Schnürschuhe. Also, modisch war anders. Aber gut, das war Gertrud. Sie legte auf Kleidung keinen großen Wert, oder es hatte ihr bislang noch keiner gesagt, dass sie auch mehr aus sich machen könnte. Besonders auffallend war heute, dass sie enorm schwitzte und einen hochroten Kopf hatte. Nun, es war ja auch sehr warm und die Büros hatten keine Klimaanlage.

„Du, Stefan, ich wollte dich was fragen …“

Stefan fiel ein, dass er versprochen hatte, ihr eine Präsentation weiterzuleiten.

„Bestimmt wegen der Präsentation zum neuen Betriebsabrechnungsverfahren, oder? Hab ich ganz vergessen zu schicken, das mach ich gleich mal.“

„Nein, das meinte ich nicht“, erwiderte Gertrud.

Stefan blickte auf: „Ach so?“

Gertruds Kopf war mittlerweile noch röter als zuvor. Ein leichter Schweißgeruch drang Stefan in die Nase. Leinen war wohl nicht für jeden eine vorteilhafte Kleidung bei heißen Temperaturen, oder kam der Geruch etwa von ihm selbst? Hoffentlich nicht.

„Es ist so, Stefan. Heute Abend ist ein Konzert der Schürzenjäger und es gibt noch Karten. Ich wollte dich fragen, ob du mit mir da hingehst. Das hatte ich eigentlich schon länger vor, aber ich habe mich die ganze Zeit nicht getraut.“ Gertrud sprach hastig und sah ihn mit großen, erwartungsvollen Augen an.

Mit dieser Frage hatte Stefan nun wirklich nicht gerechnet. Er war mit Gertrud noch nie ausgegangen, sondern hatte nur während der Arbeit Kontakt mit ihr. Auf die Idee, mit ihr etwas zu unternehmen, war er noch nicht gekommen. Genauso wenig auf den Gedanken, ein Konzert der Schürzenjäger zu besuchen. Das war alles andere als sein Musikgeschmack.

it diesem Gefühlszustand hatte er wahrlich eine Arschkarte gezogen.

Hitzewallungen machten sich in Stefan breit und ein Sturzbach an Schweißperlen setzte sich von seinem Haaransatz in Bewegung. Sie rannen zuerst über seine Stirn und liefen kurz danach auch über seinen Rücken und unter seine Achseln.

Stefan fühlte sich unter Druck, obwohl es objektiv keinen Grund dafür gab. Denn Gertrud hatte ihn ja nur gefragt, ob er mit ihr auf ein Konzert gehen wollte. Während seine Kollegin immer noch in Erwartung einer Antwort vor ihm stand, tobten in Stefan die wirrsten Gefühle. Ist doch nett, dass sie fragt. Warum interessieren sich immer die falschen für mich? Was soll ich auf ‘nem komischen Schürzenjäger-Konzert? Was sag ich jetzt zu ihr? Oh Gott, ich glaub, sie will was von mir und von ihr komm ich dann nicht mehr weg. Im Nanosekunden-Takt wechselten sich seine Gedanken ab, vielmehr pulsierten sie alle gleichzeitig in Stefans Kopf.

Eine Stimme gewann blitzartig Oberhand. Sie sagte: Stefan, du hast echt einen an der Klatsche. Und zwar richtig. Gleich im Anschluss dachte Stefan: Darüber muss ich unbedingt mit meiner Therapeutin sprechen. So kann es nicht weitergehen. Und da fiel es ihm ein. Er hatte heute Abend doch sowieso einen Termin bei Rafaela Failer. Schlagartig kam eine gewisse Erleichterung in Stefans Gesicht zurück, seine von Panik erfüllten Augen entspannten sich und die Schweißbäche schienen wieder leicht zu versiegen.

Er meinte, wieder klarer zu sein, und sagte zu Gertrud: „Das ist lieb, dass du fragst. Die Schürzenjäger sollen ja live recht gut sein. Da wäre ich echt gerne mit. Doch ich habe heute Abend leider schon einen Termin, den ich nicht verschieben kann. Wir können aber ein anderes Mal was unternehmen, wenn du möchtest.“

Stefan fühlte sich erlöst und gleichzeitig jämmerlich. Denn wie immer bei Frauen, die um ihn warben und von denen er gar nichts wollte, schaffte er es nicht, ein klares Signal zu geben, dass er kein Interesse hatte.

Dass er sich mit seiner Antwort keinen Gefallen getan hatte, merkte er schnell. Gertrud zwinkerte ihm lächelnd zu und sagte strahlend: „Schade, Stefan, wegen heute Abend. Aber dann gehen wir einfach mal was trinken. Wir können auch zur Spider Murphy Gang gehen, die spielen bald im Serenadenhof in Nürnberg.“

Seine Schwäche, klaren Aussagen aus dem Weg zu gehen und dem weiblichen Geschlecht möglichst nicht weh tun zu wollen, könnte ihn bald wieder in Schwierigkeiten bringen. Stefan wurde dies abrupt bewusst. Und fast gleichzeitig brach ihm wieder der Schweiß aus.

Stefan hatte wahrlich ein Problem: Entweder verhielt er sich so unklar wie gerade eben bei Gertrud, oder er benahm sich völlig unsicher bei den Frauen, die er wirklich begehrte. Bei Letzteren machte er sich hierdurch natürlich total uninteressant. Denn nichts war so kontraproduktiv bei der Eroberung von Frauen, wie ihnen das Gefühl zu geben, krampfhaft auf der Suche und dabei verängstigt zu sein. Von diesem ungünstigen Wirkmechanismus hatte er zwar schon gehört, aber bislang konnte er sich von diesem Muster noch nicht befreien. Vielleicht hatte sein Freund Maximilian ja recht, wenn er ihm permanent einzuflößen versuchte: „Stefan, du musst unbedingt daran arbeiten, einfach mal ein Arschloch zu sein. Damit erhöhst du deine Attraktivität.“ Stefan war sich nicht sicher, ob das der richtige Weg war, zur Frau seiner Träume zu gelangen, doch sogar seine Therapeutin war dieser Meinung. Aber wie auch immer, „Arschloch zu sein“ passte irgendwie nicht zu ihm. Es musste auch einen anderen Weg geben. Und gegebenenfalls würde er diesen ja noch finden.