Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Elsbeth Ranke und Sabine Reinhardus
Klett-Cotta
Impressum
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel: »The Deep History of Ourselves. The Four-Billion-Year Story of How We Got Conscious Brains« bei Viking (Penguin Random House LLC), New York
Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH Co KG, Regensburg
ISBN 978-3-608-98331-9
E-Book ISBN 978-3-608-11656-4
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für meinen Mentor und Freund Mike Gazzaniga
Vorbemerkung und Dank
Bewusstsein – die ersten vier Milliarden Jahre handelt von der Evolution(1) des Verhaltens. Dabei geht es nicht nur um das Verhalten(1) des Menschen(1) oder anderer Säugetiere(1), nicht einmal nur um das von Tieren(1). Es geht darum, dass Verhalten schon anfing, sobald die allerersten Organismen(1) entstanden waren. Diese einzelligen(1) Mikroorganismen(1), Vorfahren(1) der Bakterien(1) und unsere Mitbewohner auf der Erde(1), mussten bereits vieles tun, was auch wir tun, um zu überleben(1) – Beschädigung vermeiden(1), Nährstoffe(1) aufnehmen, Flüssigkeitshaushalt und Temperatur(1) regulieren, und sich fortpflanzen(1). Bewusstsein – die ersten vier Milliarden Jahre zeichnet nach, wie spätere Organismen ihr Überleben sichern, indem sie genau diese
grundsätzlichen Anforderungen über ihr Verhalten erfüllen. Aber natürlich ergeben
Ähnlichkeiten nur dann einen Sinn, wenn man auch die Unterschiede in den Blick nimmt;
so soll dieses Buch vor allem auch herausarbeiten, wodurch wir uns von allen anderen
Lebewesen am meisten unterscheiden: Sprache(1), Kultur(1), unsere Fähigkeit zu denken(1) und unsere Vernunft(1) zu gebrauchen sowie unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion(1). Das alles ist neu – doch die Wurzeln reichen zurück bis an die Anfänge des Lebens.
Kurz bevor ich Bewusstsein – die ersten vier Milliarden Jahre zu schreiben begann, las ich E. O. Wilsons(1)Der Sinn des menschlichen Lebens. Ich war gefesselt von der äußerst kompakten »monothematischen« Form seiner Kapitel,
und ich beschloss, ihm darin zu folgen. Daher bestehen die Kapitel in Bewusstsein – die ersten vier Milliarden Jahre jeweils aus kurzen »Gedanken(2)« oder »Meditationen«, eigenständigen Skizzen zu einem abgegrenzten Thema. Dafür habe
ich mir eine Längenvorgabe von etwa 1500 bis 2000 Wörtern gesetzt, und meistens habe
ich mich daran gehalten. Auch im knappen Umfang des Buchs wollte ich eigentlich Wilsons(2) Vorbild folgen, doch an dieser Front war ich weniger erfolgreich.
Die Kapitel sind thematisch gruppiert; wer also gezielt wissen möchte, wie das Leben
entstanden ist, wie das Verhalten(2) von Bakterien(2) oder die geschlechtliche(1) Fortpflanzung(2) aufkam, wie das Leben von der Einzelligkeit(2) zur Vielzelligkeit(1) fortschritt, wie sich das Nervensystem(1) herausbildete, welche entscheidende Rolle Schwämme(1) und Quallen(1) für die Evolution(2) des Menschen(2) spielten, wie Kognition(1) oder Emotion(1) entstanden oder was wir über Bewusstsein(1) und Gehirn(1) wissen, kann einfach die entsprechenden Kapitel aufschlagen. Doch all jene, die Bewusstsein – die ersten vier Milliarden Jahre von vorn bis hinten durchlesen möchten, nimmt das Buch mit auf den Stammbaum des Lebens(1); bei diesem Aufstieg werden wir die Überlebensfähigkeiten(2) der ältesten Mikroorganismen(2) mit unseren einzigartigen Techniken zusammenbringen, mittels Denken und Fühlen zu
überleben und zu gedeihen, und zugleich über unsere persönliche(1) Vergangenheit und Zukunft(1) sowie die Zukunft unserer Art nachdenken(3).
Dies ist das vierte Buch, das ich ganz allein schreibe. Bei meinem ersten habe ich
etwas Wichtiges gelernt(1): Die beste Methode, um herauszufinden, was man über sein Fachgebiet weiß – und nicht
weiß –, besteht darin, darüber zu schreiben. Bei Bewusstsein – die ersten vier Milliarden Jahre war das etwas anders – ich wusste von Anfang an, dass ich viel zu recherchieren hatte,
um von der Geschichte des Lebens zu erzählen. Im ersten Teil des Buchs schreibe ich
daher vieles eher aus der Perspektive eines Wissenschaftsjournalisten und weniger
als Experte. Entsprechend habe ich, wenn ich mich überfordert fühlte, Spezialisten
um Hilfe gebeten (hoffentlich in ausreichender Weise). Aber auch in jenen Bereichen,
in denen ich mich »auskenne«, stellte ich immer wieder fest, wie groß meine Wissenslücken
doch noch waren; so konsultierte ich auch hier Kollegen, um diese Lücken zu schließen.
Danke also all denen, die mich beraten haben: Tyler Volk(1) ((1)präbiotische Chemie und frühe Lebewesen), Nick Lane(1) (Ursprung des Lebens), Karl Niklas(1) (Ursprung der Vielzelligkeit(2) und Bedeutung von Fitness(1)-Export(1) und Fitness-Abgleich(1)), Sarah Barfield(1) (Segregation der Keimbahn(1)), Ralph Greenspan(1) und Takeo Katsuki(1) (Verhalten(3) von Quallen(2)), Iñaki Ruiz-Trillo(1) (einzellige(3) Vorfahren(2) mehrzelliger Organismen(2)), Linda Holland(1) (Frühzeit der Bilateria(1); Divergenz(1) von Urmündern(1) und Neumündern(1); Divergenz der Chordatiere(1) von anderen Neumündern, und der Wirbeltiere(1) von anderen Chordatieren), Maja Adamska(1) (Physiologie(1) und Verhalten der Schwämme(2)), Sten Grillner(1) (Nervensysteme(2) früher Wirbeltiere), Eric Nestler(1) (Epigenetik(1) und Verhalten), Betsy Murray(1) (Evolution(3) der Wahrnehmung(1) und Gedächtnissysteme(1)), Charan Ranganath(1) (Wahrnehmung und Gedächtnis), Cecilia Heyes(1) (Ausschluss nichtbewusster(1) Erklärungen vor einer Behauptung von Bewusstsein(2) bei Menschen(3) und Tieren(2)), Thomas Suddendorf (Ausschluss nichtbewusster Erklärungen vor einer Behauptung von
Bewusstsein bei Menschen und Tieren). Nathaniel Daw(1) (kognitive(2) Deliberation(1)), Marian Dawkins(1) (Anthropomorphismus(1)), Liz Romanski(1) (präfrontaler Cortex(1)), Helen Barbas(1) (präfrontaler Cortex(2)), Roozbeh Kiani(1) (präfrontaler Cortex(3)), Todd Preuss(1) (präfrontaler Cortex(4)), Hakwan Lau(1) (Metakognition und Bewusstsein), Steve Fleming(1) (Metakognition und Bewusstsein), Karl Friston(1) (Predictive Coding(1)), Richard Brown(1) (Philosophie des Geistes(1)), David Rosenthal(1) (Bewusstseinstheorie höherer Ordnung(1)) und Christophe Menant(1) (Selbst(1), Bewusstsein und das Böse).
Bewusstsein – die ersten vier Milliarden Jahre sollte die Leser jedoch nicht nur inhaltlich, sondern auch visuell ansprechen – ich
brauchte also einen Mitarbeiter. Als ich Heide Fasnacht(1), einer befreundeten Künstlerin, davon erzählte, empfahl sie mir einen begabten Studenten.
Caio Da Silva Sorrentinos Arbeiten beeindruckten mich sofort, spätestens aber, nachdem
er basierend auf einigen Leseproben ein paar Entwürfe gezeichnet hatte, war ich begeistert.
Caio entwickelte ein perfektes visuelles Konzept, das sich, auch mit der handschriftlichen
Beschriftung, zum Teil an die biologischen(1) Illustrationen aus dem späten 19. Jahrhundert anlehnt. Caio ist ein wirklich hervorragender
Illustrator, und ich habe sehr gern mit ihm zusammengearbeitet. Bewusstsein – die ersten vier Milliarden Jahre hat von seinem Blick erheblich profitiert.
Als ich mein letztes Buch Angst(1)schrieb, saß meine Frau, Nancy Princenthal(1), gerade an ihrem eigenen Buch über die Künstlerin Agnes Martin, das später den PEN America Award für Biografien gewann. Wir hatten unsere Bücher ungefähr zeitgleich
begonnen und beendet, und unsere Ehe überlebte(3) diesen Husarenritt. Genauso überlebte sie auch unseren neuesten synchronen Kraftakt –
Bewusstsein – die ersten vier Milliarden Jahre bei mir, und bei ihr ein Buch über sexuelle(1) Gewalt in der Kunst der 1970er-Jahre. Meines wäre nicht fertig geworden ohne ihre
moralische(1) Unterstützung und ohne ihre erfahrene Redaktionsarbeit an Stellen, an denen ich zu
kämpfen hatte. Unser Sohn Milo LeDoux(1), ein zum Kapitalmarkt-Anwalt mutierter(1) Altphilologe, gab am Abendessenstisch gelegentlich treffsichere Millennial-Kommentare
ab. Als ich zum Beispiel einmal erwähnte, dass menschliches Verhalten(4) häufig nichtbewusst(2) gesteuert wird, meinte er: »Das ist also ungefähr wie Tesla-Fahren.« Ihm sind ein
oder zwei Fußnoten zu verdanken.
Rick Kot(1), mein Lektor bei Viking und mein Freund im Leben, begleitete mich bei der Arbeit
an meinen drei letzten Büchern. Bei jedem dieser Bücher gab er mir hilfreiche konzeptuelle(1) Ratschläge und legte Hand(1) an, wenn ich zu »auswuchernd« schrieb. Einen besseren Verlag als Viking könnte ich
mir nicht vorstellen. Das ganze Team hat für alle meine Bücher Großartiges geleistet.
Danke auch an meine Agentin Katinka Matson(1) bei Brockman Inc. Sie betreute mich bei meinen vier Büchern, straffte die Exposés,
damit sie den Verlagen Appetit machten, und stand mir auch darüber hinaus immer mit
Rat und Tat zur Seite.
Seit 1989 ist die New York University mir eine wunderbare akademische Heimat. Die
Universität und mein Institut, das Center for Neural Science, unterstützten mich bei jedem Schritt und ermöglichten es mir, gleichzeitig Forscher
und Autor zu sein, und halfen mir sogar irgendwie, ein Musiker zu sein.
William Chang(1) betreut mein Büro an der NYU seit fast zwei Jahrzehnten. Er steht hinter den Kulissen immer parat, hat einen ordnenden
Blick auf meine Texte und Illustrationen und regelt auch sonst alles, was anfällt.
Womit Claudia Farb(1) und Mian Hou(1), ebenfalls seit Jahrzehnten im Team, mir alles helfen, lässt sich in Worten gar nicht
ausdrücken. Außerdem danke ich allen Studierenden, Doktoranden und Postdocs sowie
Gastforschern und anderen Wissenschaftlern, die über die Jahre hinweg mit mir zusammen
geforscht haben.
Und schließlich danke ich den früheren und aktuellen Mitgliedern meiner Band The Amygdaoids
für ihre Freundschaft, die musikalische Zusammenarbeit und die intellektuelle Anregung,
namentlich Tyler Volk(2), Daniella Schiller(1), Nina Curly(1), Gerald McCollum(1), Amanda Thorpe(1) und Colin Dempsey(1). Wir sind »Rock-it«-Forscher.
Bewusstsein
Die ersten vier Milliarden Jahre
Prolog
Warum nur …?
Bewusstsein – die ersten vier Milliarden Jahre sucht nach dem Platz des Menschen(4) in der fast vier Milliarden Jahre alten Historie des Lebens. Als ich dieses Vorhaben
einer Freundin gegenüber erwähnte, fragte sie: »Warum nur machst ausgerechnet du dich an so ein Projekt?« Sie wusste, dass ich den Großteil meiner wissenschaftlichen
Karriere mit der Untersuchung von Schaltkreisen(1) im Gehirn(2) von Ratten(1) verbracht hatte, die bei drohender Gefahr(1) Verhaltensreaktionen(1)(1) auslösen; ich hoffte, dass sich anhand dieser Informationen(1) zumindest ein paar Aspekte menschlicher Emotionen(2) erklären lassen, insbesondere von Angst(2) und Furcht.
Die Frage meiner Freundin lässt sich in gewisser Hinsicht so beantworten: Wenn wir
die Natur des Menschen(5) wirklich verstehen wollen, müssen wir die Geschichte ihrer Evolution(4) verstehen. Unser Verhalten(5) ist ein Teil unserer Biologie(2), und wie der Evolutionsbiologe(1)(1) Theodosius Dobzhansky(1) einst sagte: »Nichts in der Biologie ergibt Sinn, außer im Licht der Evolution.«
Dass Verhalten(1) und Evolution(5) in einer Wechselbeziehung stehen, ist keineswegs ein neuer Gedanke. Schon Darwin(1) betonte das, ebenso wegweisende Ethologen wie Niko Tinbergen(1) und Konrad Lorenz(1). Die Behavioristen(1), die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Psychologie(1) dominierten, kümmerten sich dagegen wenig um die Evolution, doch die meisten Psychologen
und Neurowissenschaftler(1) von heute sehen in ihr einen durchaus entscheidenden Faktor.
Die meisten – und hierbei insbesondere die neurowissenschaftlichen(2) – Untersuchungen zur Verhaltensevolution(2)(1) behandeln die Beziehung zwischen eng verwandten Gruppen(1), etwa Menschen(6) und anderen Säugetieren(2). Dafür gibt es ganz offensichtliche Gründe. Da Verhalten(6) über das Gehirn(3) gesteuert wird, können etwa Untersuchungen über die Gehirnevolution(1)(1) in solchen Gruppen zum Verständnis der Evolution(6)(3) ihres jeweiligen Verhaltensrepertoires beitragen – also auch unseres Verhaltens.
Genauso gute Gründe gibt es aber dafür, weiter in die Tiefe zu gehen. So zeigen etwa
die Ergebnisse aus Vergleichsstudien an Säugetieren (häufig Nagern(1)) und Wirbellosen(1) (etwa Fliegen(1) und Würmern(1)), dass auch zwischen diesen Gruppen ein Zusammenhang besteht; gleichzeitig erhalten
wir so erhellende Einsichten in die Arbeitsweise unseres Gedächtnisses(2). In diesem Buch möchte ich noch weiter zurückgehen, ja sogar in sehr große Tiefen vorstoßen – nämlich bis zum Anfang des Lebens, und darüber hinaus: zu
den sogenannten (2)präbiotischen chemischen Bedingungen der Erde(2), die die Biologie(3) und damit das Leben überhaupt ermöglicht haben.
Ich hatte mich schon immer vage für die Evolution(7) von Gehirn(4) und Verhalten(4) interessiert, das Thema aber nie besonders eifrig verfolgt. 2009 verbrachte ich dann
ein Freisemester in Cambridge und freundete mich mit Seth Grant(1) an, einem Neurobiologen(1), den ich schon als Postdoc im Labor des Nobelpreisträgers Eric Kandel(1) an der Columbia University in New York kennengelernt hatte. Bereits dort hatte er
mit der Erforschung der Evolution von Genen(1) begonnen, die an der synaptischen(1) Plastizität(1) beteiligt sind, um die biologischen(4) Mechanismen des Lernens(2) und des Gedächtnisses(3) zu verstehen. Diese Untersuchungen setzte er in Cambridge fort.
Bei diesen an der Plastizität(2) beteiligten Genen(2) fand Seth(2) Parallelen zwischen Nagern(2) und Meeresschnecken(1); vielleicht hatten sie also ihre Lernfähigkeit(3) von einem gemeinsamen Vorfahren(3) geerbt, der Hunderte Millionen Jahre früher gelebt hatte. Noch interessanter ist
aber, dass einige dieser Gene auch in einzelligen(4) Protozoen(1) vorkommen. Das ist insofern relevant, als Tiere(3) und heutige Protozoen ebenfalls einen gemeinsamen Vorfahren haben, der vor über einer
Milliarde Jahre lebte. Es könnte also sein, dass einige der Gene, die in unserem Nervensystem(3) für das Lernen zuständig sind, über solche mikrobiellen(3) Vorfahren zu uns gelangt sind.
Wenn Sie sich mit Protozoen(2) ein bisschen auskennen, wundern Sie sich vielleicht über diese Erkenntnisse. Die
meisten Menschen(7) stellen sich Verhalten(7), wenn sie überhaupt einmal darüber nachdenken(4), speziell über erlerntes(4) Verhalten(1)(1), als Produkt eines Nervensystems(4) vor. Als Einzeller(5) haben Protozoen aber kein Nervensystem, denn dafür bräuchten sie Spezialzellen (Neuronen(1)) – sie verfügen allerdings nur über eine einzige Allzweckzelle. Dennoch zeigen sie
dezidiertes Verhalten – sie schwimmen(1) von schädlichen chemischen Substanzen weg und auf nützliche zu – und nutzen für ihre
aktuellen Reaktionen(1) sogar vergangene Erfahrungen(1), müssen also über ein Lern- und Erinnerungsvermögen(1) verfügen. Die logische Schlussfolgerung lautet, dass Verhalten(8), Lernen(5) und Gedächtnis(4) nicht unbedingt ein Nervensystem voraussetzen.
Das war für mich äußerst aufschlussreich. Ich informierte mich daraufhin, was in Forscherkreisen
über die Verhaltensfähigkeiten dieser einzelligen(6) Organismen(3)(2)(2)(1)(1)(2)(1)(3)(1)(2)