Voss, Tobias

Die METALOG® Methode

Hypnosystemisches Arbeiten mit Interaktionsaufgaben

Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt, Germany

ISBN 9783753400693

© 2021 von Tobias Voss

Bildnachweis: © Tobias Voss.

Fotomotive auf S. →-→, →-→, →-→, →-→, →-→, →-→ sind dem METALOG training tool „EmotionCards“entnommen.

Lektorat: Katja Lange, www.richtiggut.com

Umschlag & Gestaltung: Astrid Shemilt, www.astridshemilt.com

Illustrationen: Christian Mirra, www.christianmirra.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar

Meinen wichtigsten Lehrer:innen und Mentor:innen gewidmet: Chris Hall, Frank Farrelly und Gunther Schmidt.

Inhalt

  1. INTERAKTIONSAUFGABEN ALS GANZHEITLICHES LERNKONZEPT
  2. INTERAKTIONSAUFGABEN IN DER PRAXIS
  3. EIN ANWENDUNGSFELD: TEAMENTWICKLUNG
  4. METALOG TRAINING TOOLS
  5. ANHANG: SELBSTSTÄNDIG MASSSCHNEIDERN

Prolog

PROLOG

Hallo und herzlich willkommen zu diesem Buch über die METALOG Methode. Mein Name ist Tobias Voss und ich arbeite seit 1994 als selbstständiger Coach und Trainer für eine Vielzahl an Firmen und anderen Organisationen. Einer meiner Arbeitsschwerpunkte ist die Entwicklung von Erfahrungsorientierten Lernmethoden1 (EOL®).

In den ersten Jahren meiner Tätigkeit als Trainer hatte ich Stress. Mir kam es vor, als wäre ich auf der Suche nach einem Diamanten, der in einem großen Granitbrocken steckt, und als Werkzeug hätte ich lediglich einen kleinen, handbetriebenen Bohrer. Während dieser „schweißtreibenden“ Arbeit machte ich zahlreiche Beobachtungen über Verhalten, Motivation und Lernen bei meinen Teilnehmerinnen und Teilnehmern: Lernen und persönliche Entwicklung waren umso langsamer und schwieriger, wenn …

In der Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen im Trainingsalltag entwickelte ich die METALOG Methode. Ich möchte in diesem Buch die zahlreichen Erfahrungen, die ich als selbstständiger Berater für Menschen unterschiedlicher Organisationen machen durfte, in „kondensierter“ Form für Sie nutzbar machen. Dieses Buch ist also eine Art Praxisbericht. Gleich vorneweg möchte ich mich bei meinen Teilnehmerinnen und Teilnehmern bedanken, ohne die ich diese Lernerfahrungen nicht hätte machen können. Die zahlreichen Fehler, die ich machen durfte, und die Rückmeldungen haben viel zu meinem eigenen Lernen beigetragen. Ohne die Teilnehmer:innen hätte dieses Buch nie entstehen können. Letztlich ist dieses Buch ein persönliches Buch, deshalb werden Sie viele kurze Berichte entdecken, die mit „Ich machte die Erfahrung, dass …“ beginnen. Um die Privatsphäre meiner Kund:innen zu wahren, habe ich natürlich keine Namen von Personen oder Firmen, sondern lediglich die Branchen genannt. Da ich immer wieder Fachvokabular verwende, habe ich ein Glossar angelegt, in dem ich diese Fachbegriffe kurz erkläre. Dieses befindet sich am Ende des Buchs. Doch beginnen möchte ich mit der Erklärung und Entmystifizierung des Titels:

Metalog

Der aus Grantchester, England, stammende Anthropologe Gregory Bateson verwendet diesen Begriff in seinem Buch „Ökologie des Geistes“. Er beschreibt damit ein Gespräch über ein problematisches Thema, bei dem die Beteiligten nicht nur über das Thema selbst reden sollen. Auch die Struktur des Gespräches als Ganzes soll dabei relevant sein. Ein Metalog ist also eine Art der Metakommunikation. Das heißt, es wird auch darüber geredet, wie miteinander geredet wird. Als Trainer:in sind wir nahezu täglich mit der Aufgabe betraut, Metaloge zu erzeugen, zu moderieren und zu einem sinnstiftenden Ende zu bringen.

Hypnose als alltägliche Aufmerksamkeitsfokussierung

Hypno

Eine sehr wichtige Rolle spielten für meine Arbeit immer die Kommunikationsmuster des Arztes und Hypnotherapeuten Milton Erickson2. Seine Arbeitsweise wurde von vielen, u. a. auch von Richard Bandler und John Grinder, Entwickler des NLP (Neurolinguistisches Programmieren), untersucht und modelliert. Mein Anliegen ist es, die Sprachmuster und Haltungen Ericksons für den Kontext der Arbeit mit Gruppen und hier insbesondere im Zusammenhang interaktiver und erfahrungsorientierter Lernmethoden zugänglich und nutzbar zu machen. Der Zustand der Hypnose bzw. Trance wird dabei als Alltagsphänomen betrachtet. Das hat nicht unbedingt etwas mit Schlaf oder Entspannung zu tun, als vielmehr mit einer Fokussierung der individuellen Aufmerksamkeit.

So sind Trance und Hypnose in vielen Kulturen ein hochaktives Phänomen, das beim Tanzen, Trommeln, Geschichtenerzählen etc. seit Menschengedenken eine wichtige Rolle spielt. Gunther Schmidt3 schlägt in diesem Zusammenhang die Begriffe der Problemtrance und Lösungstrance vor. Also wiederum ein Absorbiert-Sein von einem entsprechenden Zustand. Gruppen, Teams, Abteilungen, Schulklassen sind quasi permanent fokussiert. Wie eine Ausrichtung des Fokus in eine gewünschte Richtung konkret aussehen kann, ist ein Thema dieses Buchs.

Systemisch

Das Konzept der systemischen Beratung hat seine Wurzeln in der Familientherapie. Heute werden systemische Konzepte vielfach und sehr erfolgreich auch für die Beratung anderer sozialer Systeme wie Firmen, Non-Profit-Organisationen oder Schulen eingesetzt. Einige wichtige Grundgedanken in Kurzform dabei sind (ausführlicher s. Kap. 3 Ein Anwendungsfeld: Teamentwicklung, S. →):

Zirkularität: Das Verhalten eines Beteiligten in einem System ist gleichzeitig Ursache und Wirkung des Verhaltens der anderen Beteiligten. Aus diesem Grund ist es auch nicht sinnvoll, einer Person bestimmte Charaktereigenschaften zuzuschreiben. Diese sind vielmehr immer in Bewegung und lassen sich neu gestalten.

Perspektive: Menschen handeln und kommunizieren aus ihrer eigenen Perspektive heraus. Deshalb ist eine Aussage wie z. B. „Wir sind ein schlechtes Team“ nicht umfassend, da sie lediglich die Beschreibung einer Perspektive von vielen möglichen ist, gleichzeitig aber Allgemeingültigkeit beansprucht. Die Perspektive ist also immer nur die konstruierte Wirklichkeit des Sprechers bzw. der Sprecherin dieser Aussage.

Kontext: Verhalten hat nur in einem bestimmten Sinnzusammenhang eine konkrete Bedeutung und ist davon losgelöst nicht allgemein gültig. Der Kontext ist der sinnstiftende Rahmen, in dem eine konkrete Bedeutung entsteht.

Hypnosystemisch

Gunther Schmidt integrierte die kompetenzaktivierende Erickson’sche Hypno- und Psychotherapie und die systemischen Vorgehensweisen zu einem zusammengehörenden Konzept. Ich habe die hypnosystemische Therapie und Beratung als wertschätzendes und hochwirksames Repertoire an Haltungen und Interventionen erlebt, die ein optimales Maßschneidern der beraterischen Vorgehensweise auf die Bedürfnisse der Klient:innen ermöglicht. Meine eigene Vorgehensweise in der Arbeit mit erfahrungsorientierten Lernmethoden hat sich durch diese Ideen gewandelt und ist wesentlich dynamischer und flexibler geworden.

Interaktionsaufgaben

Interaktionsaufgaben sind erfahrungsorientierte Lernmethoden. Die Gruppe bzw. die:der Einzelne in der Gruppe bekommt die Möglichkeit, sich selbst in Interaktion zu erfahren. Dabei wird agiert, kommuniziert, nachgedacht, erlebt und gefühlt. Lernen mit Kopf, Hand und Herz ganz im Sinne von Kurt Hahn wird so möglich. Dieser Vorgang findet in einer scheinbar vom Alltag abgetrennten Sphäre statt. Diese Sphäre kann zu einem vollkommen eigenständigen Mikrokosmos der Gruppendynamik werden. Daher ist es wichtig und sinnvoll, dass dort eine hilfreiche Atmosphäre aufgebaut wird, wo sich Kräfte und Kompetenzen positiv entwickeln können. Dabei folgen diese „Lernprojekte“ meist einem einfachen Aufbau: Nach der Inszenierung durch den:die Trainer:in löst die Gruppe selbstständig eine bestimmte Aufgabe. Der:Die Trainer:in greift mehr oder weniger ein. Am Ende werden die Erfahrungen in einen größeren Gesamtzusammenhang eingebettet. Was genau jedoch getan werden kann, um dabei eine maximale gewünschte Wirkung zu erzielen, ist Gegenstand der folgenden Kapitel.

METALOG training tools

Unter diesem Namen habe ich in den letzten Jahren mit meinem Partner Erwin Voss eine Sammlung von Interaktionsaufgaben entwickelt und veröffentlicht. Diese beruhen teils auf klassischen Ideen, sind größtenteils jedoch völlig neu entwickelte Lernszenarien. Mit diesen Aufgaben lassen sich eine Vielzahl an Themenbereichen wie z. B. Kommunikation, Kundenorientierung, Führung, Team, Organisationsentwicklung, soziales Lernen usw. erlebbar machen. Die METALOG Methode hingegen ist ein universelles Konzept der Arbeitsweise mit Interaktionsaufgaben. Sie können anhand dieser Vorgehensweise mit sehr vielen Interaktionsaufgaben, die in der Literatur beschrieben werden, arbeiten. Hinweise zu weiteren empfehlenswerten Buchtiteln finden Sie im Anhang dieses Buchs (s. Kap. 5.2 Empfehlungen zu publizierten Sammlungen von Interaktionsaufgaben, S. →).

Therapie

Dieses Buch ist keines über Psychotherapie. Es geht vielmehr der Frage nach, wie in Gruppen Lernszenarien geschaffen werden können, die Lernen und persönliche Entwicklung der Teilnehmenden beschleunigen und nachhaltig machen können. Hypnosystemisches Know-how lässt sich dabei hervorragend auf die Arbeit mit und in Gruppen übertragen.

Trainer bzw. Trainerin

Der Einfachheit und besseren Lesbarkeit halber verwende ich den Begriff Trainer:in für die Person, die die Interaktionsaufgabe und damit den Gruppenprozess leitet. Gemeint sind darüber hinaus alle beruflichen Rollen aus den unterschiedlichen Kontexten von Firmen, Schule bis hin zu Kirche und sozialen Organisationen, die sich mit dem Thema Lernen und Veränderung befassen.

Vernetzung

An sehr vielen Stellen im Buch finden Sie Verweise auf andere Kapitel. Ich lade Sie ein: Folgen Sie diesen Verweisen!


1 Der Begriff „Erfahrungsorientierte Lernmethoden“ (EOL®) wird hier als Überbegriff für diverse Methoden wie z. B. die Arbeit mit Interaktionsaufgaben oder Accelerated Learning verwendet.

2 Milton Erickson (1901–1980), amerikanischer Arzt und Psychotherapeut. Durch Ericksons Arbeits- und Denkweise wurden zahlreiche Psychotherapieverfahren weiterentwickelt.

3 Gunther Schmidt integrierte hypnotherapeutische mit systemischen Konzepten zum sogenannten hypnosystemischen Ansatz.

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Interaktionsaufgaben als
ganzheitliches Lernkonzept

1 INTERAKTIONSAUFGABEN ALS GANZHEITLICHES LERNKONZEPT

Ich möchte in diesem ersten Kapitel des Buches meine eigene Entdeckung der Interaktionsaufgabe, neurodidaktische Hintergründe und wichtige Grundüberlegungen der METALOG Methode beschreiben. Die Grundüberlegungen dazu finden Sie in den in Kap. 1.3.1 Kompetenz und Lösungsorientierung als Grundhaltung, S. →, 1.3.2 Metaphern steuern Handlungen, S. → und 1.3.3 Sprache als Kooperationswerkzeug, S. →. Diese Überlegungen stellen so etwas wie die Basis des gesamten Konzeptes dar. Am Ende dieses Kapitels finden Sie unter 1.4 Die Essenz von Interaktionsaufgaben, S. 48 meinen eigenen, aktuellen State of the Art für diesen Bereich. Doch zuerst einmal dahin, wo alles irgendwie begann …

1.1 DIE ENTDECKUNG DER INTERAKTIONSMETAPHER

Ich arbeitete als Trainer für eine große deutsche Airline in einem zweitägigen Seminar für Flugbegleiter:innen mit dem Titel „Kommunikation und Service“. Thema des Seminars war „Kundenorientierung an Bord“. Nach eineinhalb Tagen Seminar war ich ermattet vom vielen Reden und von der Passivität der Gruppe, die ich diesmal erwischt hatte. Irgendwie war die Gruppe überhaupt nicht in Gang gekommen. Wie sollte ich bloß den restlichen Tag überstehen? Schwerpunkt des Nachmittags war der Umgang mit herausfordernden Kundensituationen.

Es gab mehrere theoretische Modelle dazu und ein paar kopflastige Übungen. Ich wusste in dem Moment, dass ich, so wie es vom Trainerleitfaden vorgesehen war, nicht weitermachen konnte und wollte. Aus Verzweiflung und dem sehnlichsten Wunsch nach Entlastung durch mehr Aktivität der Gruppe gab ich ihr eine Übung, deren Material ich noch von einem anderen Training im Kofferraum meines Autos liegen hatte. Hier ging es darum, einen Ball mithilfe eines von Schnüren gehaltenen Rings von einem Ausgangsort zu einem Zielort zu transportieren. Ohne selbst einen Zusammenhang zwischen der Übung und dem Thema zu sehen, nur mit dem Wissen, die Übung würde aktivierend sein, sagte ich ungefähr Folgendes: „Ich habe jetzt eine Aufgabe für Sie zum Thema ‚Umgang mit schwierigen Kundensituationen‘. Dies hier ist der Kunde (ich hielt den Ball hoch). Transportieren Sie ihn doch bitte von hier den Gang entlang ins Foyer. Die Schnüre müssen dabei immer gespannt sein!“ Dann ließ ich die Gruppe die Aufgabe machen. Voll Freude bemerkte ich, dass die Teilnehmenden lachten und Spaß dabei hatten und gleichzeitig konzentriert waren. Nach ca. 15 Minuten, die sie benötigten, um die Aufgabe zu lösen, waren sie gelöster, entspannter und offener, als im gesamten Seminar zuvor. Das freute mich. Ich selbst wusste allerdings noch nicht, wie ich die durch die Übung erzeugten Teamerfahrungen mit dem Thema „schwierige Kundensituationen“ zusammenbringen sollte. Deshalb fragte ich einfach die Gruppe und hoffte, den Teilnehmenden würde schon etwas einfallen. Unverhofft sprudelten plötzlich die Ideen. Faszinierenderweise sahen sie die auf S. 21 in der Tabelle dargestellten Zusammenhänge.

Das Fazit der Gruppe war, dass die innere Grundhaltung und der kommunikative „Grund-Tonus“ des und der Einzelnen sehr wichtig sind für den Umgang mit schwierigen Kundensituationen. Ich war begeistert von diesem Ergebnis. Und ich hatte eine neue, faszinierende Facette einer Interaktionsaufgabe entdeckt: Die Gruppe scheint in einer Interaktion das zu finden, was sie sucht.

Interaktionsaufgabe: Balltransport Echte Situation an Board des Flugzeugs
Jemand tauchte im Gang des Seminarhauses auf und stand der Gruppe im Weg. An Bord vor oder während des Flugs tauchen unvorhergesehene Probleme auf, die durch geschicktes Improvisieren gelöst werden müssen.
Die Schnüre müssen von allen gut gespannt gehalten werden, damit der Ball im Ring liegen bleibt. So ist man für Herausforderungen wie Stufen etc. vorbereitet. Der Fokus von allen auf die Kund:innen ist eine wichtige Grundvoraussetzung für den gelungenen Umgang mit herausfordernden Kunden situationen.
Ziel ist es, dass der Ball nicht herunterfällt. Ziel ist es, dass die Passagier:innen gut am Zielort ankommen.
Gegenseitiges Loben bei erfolgreichen Zwischenschritten und überwundenen Hindernissen führt zur Aufrechterhal- tung der Motivation. Gegenseitiges Loben, Witze machen, Mut zusprechen führt zu guter Stimmung in der Crew. Das erleichtert die Arbeit und den Umgang mit schwierigen Kundensituationen.

In einem anderen Seminar, ebenfalls bei einer Fluggesellschaft, bei dem es um die Rolle des:der Purser:innen (Chefsteward:essen) an Bord ging, suchte ich nach einem Lernszenario, das dem Tätigkeitsfeld dieser Service- und Führungsaufgabe gerecht wird, nämlich die „Kommunikationsdrehscheibe an Bord zu sein“. Ich ließ die Gruppe von einer Art Bistrotisch, bei dem jedoch die Tischplatte nicht festgeschraubt war, sondern lediglich auf einem Holzständer balanciert wurde, Figuren herunternehmen.4 Dabei waren jeweils mehrere Dreierteams an einem Tisch in Aktion. Eine der Personen pro Dreierteam war der:die Ausführende, hatte die Augen verbunden und durfte von den anderen nicht berührt werden. Es war lediglich erlaubt, ihm:ihr sprachliche Anweisungen zu geben.

Im Anschluss fragte ich die Gruppe, welche Bedeutung sie diesem Szenario beimessen könnten. Faszinierenderweise konnten sie vielen Aspekten der Aufgabe eine Bedeutung in ihrem beruflichen Alltag geben. Und noch dazu waren diese Bedeutungen individuell verschieden. Der eine sah sich selbst, wie er als Führungskraft die Balance an Bord zwischen den Bedürfnissen der Passagier:innen und denen seiner Mitarbeitenden hielt. Die andere sah die Konzentration, die die Besatzung in einer sogenannten „Emergency Situation“ (Notfall an Bord) aufbringen musste, um alle Passagier:innen heil wieder auf den Boden zu bringen, usw.

Balance an Board

Spannenderweise traf ich meine Teilnehmerinnen und Teilnehmer zwei Monate später wieder und einige erzählten mir, wie sie während der Arbeit an Bord ständig das Erlebnis mit dem wackeligen Tisch präsent hatten und davon unterstützt wurden.

Dieser Moment war für mich, als hätte ich plötzlich entdeckt, die Erde sei doch keine Scheibe, sondern eine Kugel. Mir wurde schlagartig bewusst: So funktioniert nachhaltiges Lernen! Und gleichzeitig spürte ich, dass ich erst die Spitze des Eisbergs wahrgenommen hatte. Die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit dieser Methodik (damals für mich noch eher ein Phänomen als eine Methodik) wollte ich weiter erforschen.

Folgende Schlüsse zog ich zu diesem Zeitpunkt aus den Erfahrungen mit dem Balltransport und dem Bistrotisch:

Die körperliche Aktivität und das gemeinsame Erleben regen die Lust an, darüber zu reden. Einzelne und die gesamte Gruppe können vieles in einer Interaktionsaufgabe entdecken, was der:die Trainer:in niemals erkennen würde, weil er:sie einen anderen Lebenshintergrund hat.

Der Lebens- und Erfahrungshintergrund der Gruppe ist vergleichbar mit einer gemeinsamen Brille, durch die die Gruppe die neue Erfahrung sieht. Da sich die Gruppe allerdings während der Interaktionsaufgabe ja nicht in der „echten Welt“ (etwa in der Kabine des Flugzeugs) befindet, sondern in einer Übungssituation, bedarf es einer gewissen Fokussierung ihres Blicks. D. h. Interaktionsaufgaben müssen so „inszeniert“ werden, dass sie Teil der realen Erlebniswelt der Gruppe werden (s. Kap. 2.1 Inszenieren, S. →).

Interaktionsaufgaben sind hochflexibel einsetzbar, d. h. es gilt, die Aufgabe je nach Situation, Zielgruppe und Ziel maßzuschneidern.

Die Tatsache, dass Interaktionsaufgaben auf Aktionen zwischen Menschen basieren, verleitet manche Anwender:innen zu dem Gedanken, dass sie mit Teamaufgaben gleichzusetzen wären und daher in erster Linie auch nur in Teamtrainings gehören. Dies ist nicht der Fall. Vielmehr lassen sie sich für viele Trainingssituationen, in denen Interaktion und Kommunikation eine Rolle spielen, einsetzen. Zum Beispiel für Trainings zu folgenden Themen:

Die Andersartigkeit der Interaktionsaufgabe gegenüber der realen Welt der Gruppe hat viele Vorteile.

So sind verschiedene Sichtweisen auf ein- und dasselbe Element der Interaktionsaufgabe für unterschiedliche Teilnehmende gleichermaßen „wahr“. Die Schnüre z. B. können ebenso „Spannung“ wie „Kommunikationswege“ oder „gegenseitige Abhängigkeit“ bedeuten. Überhaupt ist es faszinierend, wie Gruppenmitglieder ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen bei ein- und demselben Erlebnis häufig respektieren und zulassen können. Jede:r erkennt eben in der gemeinsamen Erfahrung genau das, was für sie:ihn Sinn macht. Darüber hinaus hat der:die Trainer:in die Möglichkeit, nach der Interaktion durch geschicktes Fragen den Lernprozess der Akteur:innen zu beeinflussen. Diese Fragen wirken wie Orientierungshilfen für die Gruppe (s. Kap. 2.3.3 Timing der Fragen: das Modell des 3-phasigen Übergangs, S. →).

Der:Die Einzelne und die Gruppe versuchen während und nach dem Lernprojekt, den Erfahrungen Bedeutungen zu geben. Sie sind also in einem Suchprozess. Die Bedeutungen, die sie den Erfahrungen geben können, liegen im Kontext ihrer persönlichen Kultur.

An dieser Stelle entdeckte ich die Parallelität zur Welt der hypnotherapeutischen Metapher von Milton Erickson. Erickson verwendet Metaphern mit therapeutischem Ziel. Seine Metaphern, die häufig Anekdoten sind, lösen bei Patient:innen einen Suchprozess aus. Die Patient:innen suchen für sich selbst heraus, was für sie von Bedeutung ist. Da ich dasselbe Phänomen bei Interaktionsaufgaben entdeckte, wurden für mich daraus „Interaktionsmetaphern“. Ganz im Sinne von Erickson gab meine Gruppe den verschiedenen Elementen der Interaktionsaufgabe eine oder mehrere für sie stimmige Bedeutungen. Dabei ist immer wieder auffällig, dass selbstständig abgeleitete Lernfazits der Gruppe um ein Vielfaches stärker sind, als von uns Trainer:innen beabsichtigte. Konkret heißt das, wir sollten der Weisheit der Gruppe gegenüber demütig sein.

Interaktionsaufgaben können als systemische Interventionen betrachtet werden.

Sie machen Multiperspektivität und Wechselwirkungsprozesse deutlich und bilden dabei Beziehungen und die dazugehörigen kommunikativen Beiträge der Beteiligten ab.

Interaktionsaufgaben erzeugen authentisches Verhalten und Emotionen.

Während der Interaktionsaufgaben werden typische Verhaltensmuster sichtbar, da sie authentische Verhaltensweisen erzeugen. Das unterscheidet Interaktionsaufgaben auch maßgeblich von Rollenspielen. Während Rollenspiele häufig als künstlich oder aufgesetzt erlebt werden, schlagen Interaktionsaufgaben die Beteiligten stärker in ihren Bann und erzeugen bei den Akteur:innen dasselbe Verhalten, das sie auch im Alltag zeigen würden. Durch die Integration von Körperbewegungen und sozialer Interaktion wird die Durchführung ganzheitlich erlebt. Da die Akteur:innen ein Ziel verfolgen und dabei Herausforderungen kommunikativer und strategischer Art zu erfüllen haben, entstehen natürlich auch Emotionen. Eben das ist einer der größten Pluspunkte dieser Art des Lernens: Emotionen machen Interaktionsaufgaben zu Lernkraftverstärkern.

1.2 NEURODIDAKTISCHE HINTERGRÜNDE

Die Ergebnisse der Hirnforschung der letzten Jahre haben für die Kontexte „Lernen“ und „persönliche Veränderung und Entwicklung“ zahlreiche Modelle und Erklärungen geliefert, die das Arbeiten mit Interaktionsaufgaben noch erfolgsversprechender erscheinen lassen. Ein hierbei besonders relevanter Teil des Gehirns ist das limbische System mit dem Mandelkern als zentraler „Schaltstelle“ und seine Vernetzungen zu anderen Teilen des Gehirns. Im Folgenden einige für unser Anliegen wichtige Erkenntnisse:

Forschungen zur Dopamin-Ausschüttung zeigen:

Das Gehirn berechnet permanent voraus, was als Nächstes geschehen wird. Wenn das Erwartete eintritt, wird es als unbedeutend gewertet. Das Gehirn ist sozusagen im Autopiloten-Modus. Immer wieder gibt es aber Erlebnisse, die als „anders“, „besser als erwartet“ oder als „Überraschung“ wahrgenommen werden. Hier wird Aufmerksamkeit erregt, die Erfahrungen werden mit höherer Priorität weiterverarbeitet und es steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden. Als Nebeneffekt wird das körpereigene Belohnungssystem aktiv: Es werden körpereigene Opiate, z. B. das hochwirksame Dopamin, ausgeschüttet und diese belohnen die Lernenden durch ein gutes Gefühl. Gelernt wird, was sich zu lernen lohnt. Im umgekehrten Fall schaltet das Gehirn diesbezüglich sinnvollerweise ab, um begrenzte Ressourcen (Aufmerksamkeit, Gedächtnisbildung etc.) nicht für „Nutzloses“ zu verschwenden. Interaktionsaufgaben sind wie geschaffen dafür, Überraschungsmomente zu erzeugen. Die Aufgabenstellung und Herausforderung sind neu für die Akteur:innen und der Ausgang ist es auch. Das führt zu einer intensiven Erfahrung der Akteur:innen, die sich häufig noch Jahre danach an bestimmte Erlebnisse erinnern können.

Die Rolle von Emotionen bei der Steuerung von Verhalten5

Emotionen sind die Energielieferanten oder „Motoren“ aller kognitiven Dynamik. Sie wirken massiv fokussierend auf die Aufmerksamkeit und öffnen zahlreiche Zugänge zu Gedächtnisspeichern. Auf diesem Weg bleiben kognitive Elemente wie „an Leim“ kleben und werden im Langzeitgedächtnis verankert. Darüber hinaus sind Emotionen hilfreiche Komplexitätsreduktoren, die uns unterstützen, Entscheidungen zu fällen und Denkinhalte zu hierarchisieren. Der Mandelkern, als Teil des limbischen Systems, gibt dem Menschen permanent Gefühlsfeedback über das, was er erlebt und rational denkt. Ohne diesen Rückmeldemechanismus ist vernünftiges Denken nicht möglich.

Interaktionsaufgaben erzeugen Gefühle bei den Akteur:innen. Da sie wie kleine Lernwelten konzipiert sind, in denen die Gruppe Herausforderungen meistern muss, handeln die Beteiligten authentisch. Wie im echten Leben müssen sie sich mit Vorgehensweisen und Blickwinkeln anderer beschäftigen und auseinandersetzen. Es gilt, ein Ziel zu erreichen. Das alles setzt zahlreiche Emotionen frei. Dadurch wird der Lernvorgang authentisch, die Akteur:innen werden klar im Kopf und können Entscheidungen leichter treffen.

Lernen heißt erschaffen und erleben

Kleine Kinder sind die besten Lerner:innen. Permanent sind sie kreativ und erschaffen Neues. Sie probieren aus, verwerfen etwas und probieren wieder Neues aus. Neurobiologisch betrachtet, findet in dieser ersten Lebensphase das intensivste Lernen statt. Es werden in kurzer Zeit wesentlich mehr neuronale Verbindungen geschaffen als jemals im Erwachsenenleben danach. Spielend lernen zum Beispiel Kinder, die in zwei Kulturen groß werden, die Sprachen dieser beiden Kulturen oder noch viel früher so komplexe Vorgänge wie Laufen oder Sprechen. Dieses Gelernte hat sich durch eigenes Erschaffen und Erleben so tief eingegraben, dass es nicht mehr verlernt werden kann. Wissen kann nicht einfach „vermittelt“, sondern nur angeboten werden. Die Lernenden müssen es gewissermaßen immer noch einmal für sich selbst erschaffen bzw. integrieren.

Gehirngerechtes Lernen

Interaktionsaufgaben kreieren einen Erfahrungsraum, in dem die Gruppe bzw. die Einzelnen frei und selbstständig eine Problemlösung kreieren. Ein Stück weit tragen Interaktionsaufgaben dazu bei, die exzellenten Lernstrategien, die wir als Kinder hatten, wieder zu aktivieren.

Verbindung von Körper und Geist