Der 38. Sommer

 

von Andy Claus

 

Roman

 

 

 

 

 

Von Andy Claus erschienen unter anderem noch:

Stalker – Du gehörst mir  ISBN 978-3-940818-15-7

Ben – der Fremdenlegionär  ISBN 978-3-934825-90-1

Eric – Aus dem Leben eines Miststücks ISBN 978-3-934825-82-6

Albtraumprinzen ISBN 978-3-86361-287-0

und mehr

Alle Bücher auch als E-books

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: info@himmelstuermer.de
      Originalausgabe, April 2014 

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Coverfoto: http://www.malestockphoto.com

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

 

ISBN print 978-3-86361-346-4
      ISBN epub
978-3-86361-347-1 

ISBN pdf:  978-3-86361-348-8

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

Prolog

 

Taavi stieg mit heftig klopfendem Herzen die knarrenden Holzstufen hoch und las das Namensschild. Er zögerte erneut, ärgerte sich über sich selbst und die ganzen Emotionen, die ihn bestürmten und denen er komplett ausgeliefert war. Beinahe fühlte er sich noch einmal wie mit sechzehn, denn sie waren wieder da, diese ruhelosen Schmetterlinge in seinem Bauch. Er musste trotz seiner Anspannung grinsen. Es gab nichts Schöneres, als diese besondere Art der Aufregung und gleichzeitig nichts Bedeutungsloseres, zumindest das hatte er im letzten Drittel seines achtunddreißigjährigen Lebens gelernt. Kurz kam ihm der Gedanke, dass sein Dasein hätte viel ruhiger und vielleicht sogar glücklicher verlaufen können, wenn er damals nicht auf diese maßlos überschätzten Pseudoinsekten geachtet hätte.

Aber dann verstand er plötzlich, was er schon länger geahnt hatte. So einfach war es nicht. Es war gelaufen, wie es musste. Es gab für alles eine Zeit, die zunächst reifen sollte und erst jetzt, nach allem, was er erlebt hatte, begreifen und akzeptieren musste, standen ihre Chancen gut, es gemeinsam zu schaffen.

Er drückte auf den Klingelknopf.

 

 

 

 

Schmetterlinge im Bauch

 

1

 

„Lasst mich endlich in Ruhe!“

Heftig kickte der sechzehnjährige Taavi Brofeldt einen kleinen Stein zur Seite. Er machte mit hängendem Kopf ein ärgerliches Gesicht und schob trotzig die Fingerspitzen in die Jeanstaschen. Dabei spürte er schon wieder die verdammten Tränen in sich aufsteigen. Das durfte nicht passieren, sie alle hatten ihn viel zu oft weinen sehen. So zog er sich noch ein Stück weiter in Richtung der Fahrradständer zurück. Er hasste den Schulhof, denn meist stand er allein und abseits herum. Obwohl er es sich so sehr wünschte, interessierte sich keiner der anderen Jungs für ihn, niemand wäre auf die Idee gekommen, ihm seine Freundschaft anzubieten. Manchmal glaubte er deshalb, es gäbe irgendetwas an ihm, womit er dies alles verdiente und er sei es einfach nicht wert, beachtet zu werden. Das machte es jedoch nicht leichter und wenn sich wie heute ausgerechnet Eddy über ihn lustig machte, tat das unglaublich weh.  

Der gut aussehende, witzige Eddy wurde von jedem akzeptiert. Er war stark, laut und respektlos, scheinbar grenzenlos von sich selbst überzeugt und durchsetzungsfähig. Wenn Eddy etwas sagte, hörten ihm alle zu, er war ein Anführer, musste um niemanden buhlen, denn jeder war froh, sich zu seinen Freunden zählen zu dürfen. Kurz - der blonde Bengel trat so auf, wie Taavi es gerne getan hätte. Aber er war nun mal das genaue Gegenteil. Er reichte den meisten anderen Jungs aus der Klasse gerade mal bis zum Kinn, sein blasses, schmales Gesicht wirkte unter den ständig strubbeligen, dunklen Haaren mädchenhaft zart. Sein zierlicher Körperbau rief jedem entgegen, dass er sich nicht wehren konnte, was viele gerne ausnutzten, um ihren eigenen Frust loszuwerden und sich überlegen zu fühlen.

Obwohl er jetzt an der Mauer hinter den Fahrradständern stand, hörte er die anderen immer noch lachen und spöttisch seinen Namen verunstalteten. Taavi - Kadavi … mit noch immer gesenktem Kopf und wie zum Schutz hochgezogenen Schultern drückte er die Hände tiefer in die Hosentaschen und scharrte in Gedanken versunken mit der Schuhspitze kleine Kiesel gegen die Wand. Er schniefte, längst liefen ihm die Tränen wieder übers Gesicht und er hasste sich dafür. Beinahe hätte er die Klingel überhört, welche die Kids zurück in ihre Klassen rief und als er sie realisierte, musste er sich zwingen, ins Gebäude zu gehen. Er trödelte, deshalb war die Tür bereits zu und es kostete ihn Überwindung, sie zu öffnen und hineinzugehen. Die Lehrerin schaute ihn nur kurz an, während er zu seinem Platz ging, aber das Grinsen und Glucksen der anderen begleitete ihn. Kaum saß er, flog ihm ein Stift an den Kopf. Er zuckte zusammen, drehte sich aber erst gar nicht um, um zu sehen, wer ihn geworfen hatte.

Taavi saß allein an einem der Tische ganz vorn, das Mädchen, welches noch vor kurzem seine Banknachbarin war, hatte die Schule gewechselt. Er war genau genommen froh darüber, denn dass er sich zumindest mit den Klassenkameradinnen eine Zeit lang gut verstand, war auch eins der Dinge, weshalb die anderen Jungs ihn verspotteten. Mittlerweile hatte er das Gefühl, die Mädchen gaben sich nur mit ihm ab, weil er ihnen leid tat und das war etwas, womit er überhaupt nicht umgehen konnte. Es machte ihn innerlich klein, kleiner als er körperlich sowieso schon war und darauf verzichtete er lieber. Aus diesem Grund war er dazu übergegangen, nun seinerseits zu stänkern, den Mädels auf diese Weise unsanft klar zu machen, dass er ihre Freundschaft nicht wollte, nicht brauchte.  

Die restlichen zwei Stunden brachte er hinter sich, indem er sich auf den Unterricht konzentrierte. Dabei fühlte er sich sicher, seine Leistungen waren gut und in diesem Fall war es ihm egal, dass auch dies den anderen Anlass bot, ihn als Streber zu beschimpfen. Er war sich selbst den Erfolg schuldig, wenigstens etwas, das er in seinem Leben beeinflussen konnte.

Nach Schulschluss ließ er sich Zeit mit dem Zusammenpacken seiner Sachen. Die anderen waren bereits hinausgestürmt, als auch er sich langsam auf den Weg machte. Heute passte ihn niemand ab, er stieg auf sein Rad und fuhr heimwärts.

Sein Zuhause lag nur knappe drei Kilometer vom Gymnasium entfernt nahe des Stadtwalds in Köln Lindenthal, einer Gegend mit sehr viel Natur und großen Gärten. Seine Eltern erbten das alte, zweistöckige Haus schon vor Taavis Geburt von den Großeltern, die Familie war um 1950 aus Finnland eingewandert und hatte schnell erfolgreich Fuß gefasst. Von ihrem einstigen Wohlstand war jedoch nur dieses Haus übrig geblieben, es war inzwischen komplett umgebaut und renoviert worden. Seine Mutter widmete sich mit Leidenschaft der Gartenpflege, es gab dort nicht nur Blumenbeete, Ziersträucher und einen beinahe makellosen Rasen, sondern auch eine riesige, uralte Eiche über der Grillecke, Obstbäume und Gemüseanbau. Die meiste Zeit lebte Taavi dort allein mit seiner Mutter, sein Vater befand sich als selbständiger Elektriker den größten Teil des Jahres in ganz Deutschland und manchmal auch im benachbarten Ausland auf Montage. Das kleine Unternehmen sorgte für einen bescheidenen Wohlstand und Taavi gehörte nicht zu den Kindern, die auf irgendetwas verzichten mussten. Allerdings wusste er genau, wo die Grenzen lagen, gestaltete seine Wünsche immer so, dass sie im Bereich des Möglichen lagen. Er hatte ein sensibles Gefühl für das Machbare und das, was er erwarten durfte.

Jetzt stellte Taavi den Drahtesel seitlich an die Doppelgarage, schloss die Haustür auf, stellte seine Schuhe in den Flur und hängte die Jacke auf. Er hörte seine Mutter in der Küche mit Geschirr klappern, aber der Gedanke an Mittagessen drehte ihm heute den Magen um. 

„Ich bin da!“, rief er deswegen und lief dann sofort die beiden Treppen zu seinem Zimmer hoch, das direkt unter dem Dach lag. Der fünfundfünfzig Quadratmeter große, mit Buchenholzlaminat ausgelegte Maisonette-Raum, der sich über die Gesamtfläche des Hauses erstreckte, war ganz nach seinen Vorstellungen eingerichtet und hatte sogar ein angrenzendes, winziges Bad. Die Schrägen wurden weiß gestrichen, die Stirnwände in einem dunklen Blau gehalten, worauf auch die Möblierung abgestimmt war. Mittig direkt am Kamin stand ein Schwedenofen, den er im Winter selbst mit Holz beheizen konnte, auch wenn es außerdem noch eine Heizung gab. Im Sommer sorgte eine Klimaanlage dafür, dass sich der Raum nicht zu sehr aufheizte, was jedoch nicht immer gelang, da das Geld für eine wirklich leistungsstarke Anlage nicht gereicht hatte. Alles in allem wirkte das Zimmer nicht wie das eines Sechzehnjährigen. Taavi hatte schon vor drei Jahren begonnen, die jugendlichen Bedeutsamkeiten, die meist mit Chaos einhergingen, abzustreifen und legte sehr früh Wert auf Design und Funktionalität. So sah seine Etage bis auf Schreibtisch und Bett meist wie unbewohnt aus und er hatte diesbezüglich einmal ein Gespräch seiner Eltern belauscht, die sich fragten, ob diese Ordnungsliebe nicht vielleicht schon ein wenig zwanghaft sei. Jedenfalls war er hier oben sein eigener Herr, hielt sein Reich selbst in Ordnung, wozu ihn niemand nötigen musste, weil er von sich aus eben weder Durcheinander noch Dreck mochte.

Es gab zwischen Taavi und seinen Eltern auch ansonsten selten Streit, Missverständnisse oder Verbote, was wohl auch daran lag, dass er für letztere schon immer so etwas wie das perfekte Kind war. Er erfüllte so gut wie alle Erwartungen und machte keinen Ärger, im Gegenzug wurden seine Wünsche erfüllt, so weit das möglich war und er hatte auf dieser Vertrauensbasis sehr viele Freiheiten, die er allerdings selten ausnutzte.

Über die Wendeltreppe zur ehemaligen Dachluke in seinem Zimmer angekommen, warf er die Tasche neben den Schreibtisch, ließ sich auf den Stuhl fallen und fuhr als erstes den Computer hoch. Kaum konnte er es abwarten, nach Mails und Nachrichten zu schauen, denn hier, in der Anonymität des Internets, war er jemand. In Chats und verschiedenen Communities ging man auf ihn ein, hörte ihm zu und genau das brauchte er jetzt. Enttäuscht nahm er zur Kenntnis, dass sein Postfach diesmal leer blieb. Es ist noch sehr früh, sagte er sich, dann hörte er auch schon die Stimme seiner Mutter, die ihn zum Essen rief. 

Er beantwortete ihre Fragen nach seinem Tag, wie immer, ohne sie darin einzuweihen, wie es ihm in der Schule wirklich erging, denn damit wollte er sie nicht belasten. Als Gegenleistung für ihre Sorge und Liebe empfand er es als seine Pflicht, ihr so wenig Stress wie möglich zu bereiten. Es war schwierig genug, dass sie die meiste Zeit über allein für alles da sein musste, weil der Vater auf Montage nur telefonisch zu erreichen war. Aus den gleichen Gründen aß Taavi auch etwas, obwohl jeder Bissen drei Schluckversuche brauchte, um durch seine enge, trockene Kehle abwärts zu rutschen.

Später dann floh er wieder auf sein Zimmer und zwang sich, erst die Hausaufgaben zu erledigen, bevor er wieder an dem PC ging. Es dauerte nur eine Viertelstunde, er hatte den Stoff bereits in der Schule begriffen und die Hausaufgaben waren deshalb lediglich eine lahme Wiederholung, die er nur mit halber Konzentration erfüllte. Dann endlich hatte er frei.

Wieder rief er als erstes Mails ab und diesmal wurde er nicht enttäuscht. Dark16 war das Zauberwort, das sein Herz höher schlagen ließ, der Nickname passte zu einem Jungen, mit dem er sich nun schon beinahe drei Monate lang austauschte. Ihnen gingen nie die Themen aus, Taavi fühlte sich endlich einmal von einem Gleichaltrigen ernst genommen und hatte sogar angefangen, von seinen Problemen zu schreiben. Robin alias Dark16 interessierte sich dafür, er versuchte, ihm Tipps zu geben und sprach auch von eigenen Erfahrungen. Alles in allem baute er Taavis Selbstbewusstsein auf, indem er immer auf dessen Seite war..

Heute lud Robin ihn für 17 Uhr zu Chatfun ein, auf dieser Webseite trafen sie sich oft zu stundenlangen Gesprächen. Taavi hätte Robin gerne einmal im wirklichen Leben getroffen, aber er traute sich nicht. Was wäre, wenn der andere trotz ihres freundschaftlichen Kontaktes nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, sobald er ihn erst einmal persönlich kannte? Die Chancen dafür waren groß, schließlich mochte ihn kein Gleichaltriger, dem er je gegenübergestanden hatte, so richtig. Robin seinerseits sprach ebenfalls noch nie von einer angestrebten Begegnung, sie hatten bisher beide auch das Thema Videochat umgangen und keine Fotos ausgetauscht. So wussten sie nur wenig über das Aussehen des jeweils anderen. Der kurzen Beschreibung nach war Robin zehn Zentimeter größer als Taavi, blond und sportlich. Seine Augenfarbe gab er mit blau und sein Sternzeichen mit Stier an.

Schon um halb fünf loggte Taavi sich ein und ertappte sich dabei, dass er das Poster von David Beckham anschaute, als träfe er sich in Kürze virtuell mit ihm. Dass er nicht wirklich viel von Robins Aussehen wusste, ebnete den Weg für Träumereien, vor allem, weil Augen- und Haarfarbe und sogar das Sternzeichen übereinstimmten. Dabei machte Taavi sich keinen Kopf darum, dass er teilweise sehr zärtliche Gedanken für den anderen hegte. So stellte er sich vor, dass sie gemeinsam an einem nahe gelegenen See schwimmen gingen und dabei ein Picknick machten, eng nebeneinander liegend und redend die Sommernachmittage verbrachten. Hin und wieder hatte er sich gefragt, wie Robin wohl riechen würde, schnitt das Thema auch einmal nebenbei an und bekam die Auskunft, dass der andere AXE Instinct benutzte. Schon am nächsten Tag hatte er sich das gleiche Deo gekauft und sprühte damit vor dem Schlafengehen sein Kopfkissen ein. So ließ ihn das Gefühl, Robin sei bei ihm, oft mit einem Lächeln einschlafen – mit einem Lächeln und dem Kissen im Arm, während sein Kopf auf der blanken Matratze lag. Trotz dieser Empfindungen, die jeder andere als romantisch eingestuft hätte, machte Taavi sich keine Gedanken darüber. Er war nach wie vor sicher, dass er wirklich nur einen Freund suchte und wusste nicht, dass es andere Gefühle waren, als dies bei Jungsfreundschaften normalerweise der Fall war.

 

Robin war, ebenfalls früher, schon fünf Minuten später im Chatroom. Das Gespräch kam schnell in Gang, beide erzählten, was in der Schule passiert war und auch von ihrem Tagesablauf. Taavi lachte oft über die Witze von Robin, seine Chatbekanntschaft hatte es drauf, selbst aus den unerfreulichsten Situationen noch eine gewisse Komik herauszuziehen, was es für Taavi leichter machte, damit umzugehen. Denn immer standen in Robins Darstellungen nachher die anderen wie Trottel da, nicht mehr er selbst.

Das war auch heute der Fall und irgendwann ließ Taavi sich im Eifer der Konversation dazu hinreißen, seinen momentan dringendsten Gedanken einfach aufzuschreiben.

„Sollen wir uns mal treffen? Vielleicht kannst du nach Köln kommen?“

Gleich nachdem er die Frage raus geschickt hatte, bereute er sie. Starr schaute er auf den Bildschirm, auf dem erst einmal keine Antwort erschien. Die Sekunden schienen sich enorm zu dehnen, dann plötzlich erschien die Nachricht, dass Robin den Chatroom verlassen hatte. Erschrocken wechselte Taavi sofort ins Mailprogramm, sein Herz klopfte wie verrückt, während er eine Nachricht an den anderen begann. Er schrieb, dass sie sich nicht unbedingt treffen mussten, er einsehe, dass es eine ganz blöde Idee sei, ihm auch der Internetkontakt reichte und er nicht wolle, dass ihr Kontakt deswegen abbrach. Als er das Mail rausschickte, kam gleichzeitig eine Nachricht von Robin herein. Darin entschuldigte dieser sich, weil sein PC abgestürzt war und er sich jetzt aus welchem Grund auch immer nicht mehr einloggen konnte. Das war also der Grund, dass Robin kommentarlos aus dem Chatraum verschwand, es war keine Reaktion auf die Frage gewesen. Taavi atmete auf, fragte sich aber gleich darauf, wie Robin sein panisches Mail nun aufnehmen würde.  

Im Sekundentakt rief er Mails ab, sein Zeigefinger tippte dabei im schnellen Takt auf die Maustaste. Dann war endlich eine Nachricht von Robin da. „Installier Skype! Bis nachher!“ stand im Mail und Taavi begab sich sofort ins Internet zum kostenlosen Download. Er installierte die Software, erstellte mit seinem gewohnten Nick ein Konto, loggte sich ein, und wartete dann aufgewühlt. Er war auf Robins Stimme gespannt und hoffte, er selbst würde keinen Unsinn reden. Dann endlich kam die ersehnte Nachricht. Er nahm den Kontakt an und hörte zum ersten Mal die Stimme des anderen. 

„Hi Taavi!“

„Hi!“

Eine Pause trat ein, Taavi überlegte krampfhaft, welche nettere Begrüßung, welchen lockeren Spruch er hätte bringen können, aber sein Hirn war wie leer gefegt und so räusperte er sich nur und zupfte nervös an seinem kabellosen Headset.

„Beißt du gerade ins Mikrofon?“

„Oh … nein, sorry!“

„Wegen vorhin … ich habe nichts gegen ein Treffen.“

„Ah, ja? Das wäre schön!“

„Ich weiß nur noch nicht, wann und wie … vielleicht in den Ferien? Bis dahin muss ich dann ja auch das Geld für die Zugfahrt zusammenhaben!“

„Ja, das musst du wohl!“

Taavi ärgerte sich maßlos über sich selbst. Meine Güte, das war nur ein Gespräch mit seinem Internetfreund, kein Telefonat mit David Beckham.

„Hey, was ist mit dir? Ohne Tastatur erscheinst du mir ziemlich einsilbig …“

„Echt?“

Verdammt! Taavi merkte, dass er rot wurde und war froh, dass der andere ihn nicht sehen konnte.

„Ja echt … zugeknöpft wie die Strickjacke einer fünfzigjährigen Jungfrau!“

Robin lachte leise und Taavi fühlte sich plötzlich wie in der Schule. Mit Witzen über seine Person war er bestens vertraut.

„Sehr lustig! Macht’s Spaß, mich zu verarschen?“, brummte er deshalb.

„Och Mann, was ist denn los? Ich verarsch dich doch nicht, ich versuche nur, zu reden. Einer muss es doch tun … ich meine, du bist ungefähr so gesprächig wie ein Eimer Wasser, welche Möglichkeiten habe ich, außer dich zum lachen zu bringen?“

Taavi widerstand dem Impuls, das Gespräch zu trennen, nur ganz knapp. Aber er wusste, er würde das ganz fürchterlich bereuen, deshalb nahm er sich zusammen.

„Ich finde das aber nicht lustig.“

„Okay, ich hab’s verstanden. Worüber willst du reden?“

„Weiß nicht!“

„Kann es sein, dass sie dich heute in der Schule mehr aufgemischt haben, als du geschrieben hast?“

Das war der richtige Aufhänger, geduldig wartete Robin, bis Taavi nach und nach ins richtige Fahrwasser kam und sich schließlich alles von der Seele sprach.

„Du lässt dir viel zu viel gefallen!“, meinte er anschließend.

„Was soll ich denn machen? Ich kann ihnen schlecht eins aufs Maul geben!“

„Warum denn nicht? Einmal zuschlagen und beim nächsten Mal überlegen sie es sich!“

Taavi sah sich selbst wütend Luftlöcher schlagen, während der ungleich größere Eddy ihn am Kopf von sich fernhielt. Dass er viel kleiner und schwächer war, wollte er Robin jedoch nicht so deutlich auf die Nase binden.

„Gewalt ist keine Lösung!“

„Och, du würdest staunen, was man damit erreichen kann! Aber okay, ich bin auch nicht unbedingt für die groben Lösungen, man kann diese Arschlöcher auch zum Schweigen bringen, indem man plötzlich anders reagiert, als sie es erwarten!“

„Das kann ich aber auch nicht!“

„Das ist ja dein Problem. Mit Worten kommst du sowieso schwerer gegen solche Typen an, vor allem, weil dir die richtigen Antworten immer erst zwei Stunden später einfallen!“

Das stimmte, Taavi war alles andere als schlagfertig und so wirkte seine Abwehr immer schwach, gekränkt und stammelnd.

„Und wie werde ich redegewandter? Gibt’s da nen Kurs an der Volkshochschule?“.

„Ich denke, zuerst musst du dir mal klar darüber werden, dass auch dieser Eddy-Arsch Fehler hat. Und auf denen musst du rumreiten, sobald er anfängt, dich anzupissen!“

Eddy Fehler? Taavi wusste keine, es sei denn …

„Er ist ziemlich schlecht in der Schule, immer kurz vorm sitzenbleiben!“

„Na also, dann pack ihn bei der nicht vorhandenen Intelligenz. Das kann er sicher nicht leiden!“

„Dann rammt er mich ungespitzt in den Boden …!“

 

Sie sprachen fast vier Stunden lang miteinander, Taavis Mutter musste ihn an diesem Tag öfter zum Abendessen rufen, bis sie sich endlich trennten, sich aber für den Abend noch einmal verabredeten. Während des Essens wirkte Taavi abwesend, er ging das Gespräch noch einmal durch, ärgerte sich über Dinge, von denen er sicher war, sie besser nicht gesagt zu haben, aber er zog auch viel Positives heraus. Verträumt saß er am Tisch und aß wie in Zeitlupe, Robins Stimme klang in seinem Kopf nach.

Später konnte er es kaum erwarten, wieder an den PC zu gehen und dieses Mal kostete es schon weitaus weniger Anstrengung, mit Robin ins Gespräch zu kommen.

 


2

 

In den folgenden Wochen schaffte Taavi es nicht, in der Schule etwas an seinem Verhalten zu ändern, noch immer reagierte er für jeden ersichtlich verletzt auf die Angriffe mit Eddy als Wortführer, was dieser gern und reichlich ausnutzte. Allerdings schöpfte Taavi trotzdem sehr viel Kraft aus den Unterhaltungen mit Robin, er konnte sie inzwischen nicht mehr aus seinem Tagesablauf wegdenken. Keiner von ihnen kam darauf zu sprechen, dass sie dabei auch ihre Webcams einschalten könnten, deshalb blieb es bei einfachen Telefonaten übers Netz. Das jedoch minderte die emotionale Bedeutung ihrer virtuellen Freundschaft absolut nicht, denn ein Treffen hatte keiner von ihnen noch mal angesprochen. Sie beließen es bei den anfänglichen, unverbindlichen Plänen, die keiner von ihnen auf einer Umsetzung festnagelte und Taavi war froh, dass Robin augenscheinlich so sensibel war, zu spüren, dass er eigentlich Angst vor dem persönlichen Kontakt hatte, ohne negative Konsequenzen daraus zu ziehen. Dabei kam er nicht auf die Idee, dass auch Robin Berührungsängste haben könnte, er ging inzwischen vielmehr davon aus, dass der andere sich ihm zuliebe dahingehend zurückhielt.  

 

Heute musste Taavi das Fahrrad von der Schule nach Hause schieben, er konnte nicht zählen, wie oft man ihm schon die Fahrradreifen zerstochen hatte. Daheim hatte er sich bereits einen Vorrat an Schläuchen und Mänteln angelegt, damit er nicht jedes Mal in die Stadt musste, um Nachschub zu kaufen. Am heutigen Tag hatte er jedoch keine Zeit für eine Reparatur, noch dazu, wo auch die Kabel zerschnitten waren und so stellte er das Rad einfach in die Garage. Er wollte die Hausaufgaben schnell hinter sich bringen, um an den PC zu kommen. Morgen würde er eben zu Fuß zur Schule gehen, es war ja nicht weit.

„Es wird wirklich Zeit, dass du denen mal zeigst, wo der Hammer hängt! Das kann doch nicht endlos so weitergehen“, kommentierte Robin die Sache.

„Ich weiß, dass du das denkst … aber ich kann wirklich nichts tun. Eddy ist viel stärker und außerdem nie allein! Ich habe keine Chance gegen ihn!“

„Du sollst dich ja auch nicht prügeln, gib ihm endlich die richtigen Antworten!“

„Du weißt doch, wenn er loslegt, fällt mir nix mehr ein!“

„Dann leg dir was zurecht. Die Hohlbirne kommt doch immer mit dem gleichen Mist, also kannst du dir die Antworten vorher ausdenken. Komm, das machen wir jetzt …“

Taavi ließ sich gern darauf ein, es machte Spaß, sich Frechheiten auszudenken und dabei vorzustellen, sie Eddy an den Kopf zu werfen. Gleichzeitig war er jedoch sicher, wenn es drauf ankam, würde er es wie immer nicht schaffen. Trotzdem merkte er, dass Eddy tatsächlich Fehler hatte und wenn sich jemand darauf konzentrierte, konnte ihn das sicher zur Weißglut bringen. Eddy war ganz und gar nicht perfekt, er verstand es nur, genügend Respekt zu verbreiten, dass man ihn trotzdem akzeptierte.

 

An diesem Abend konnte Taavi lange nicht einschlafen, mit seinem nach AXE Instinct duftenden Kissen im Arm und dem Bild von David Beckham vor seinem geistigen Auge, stellte er sich vor, wie er Eddy verbal fertig machte. In seiner Vorstellung stand letzterer völlig hilflos vor ihm und steckte die Worte ein, als seien es Ohrfeigen, natürlich ohne sich auch nur im Ansatz zu wehren. Das alles mündete traumhaft darin, dass die Jungs der Klasse schließlich auf Taavis Seite standen, ihm schmeichelten und nicht mehr von seiner Seite wichen. Über dieser aufbauenden Heldentat holte ihn dann endlich der Schlaf ein.

 

Der nächste Morgen in der Schule begann wie immer, Eddy machte sich über ihn lustig, indem er sich auf Taavis Pult setzte und unterschwellige, aber trotzdem deutliche Andeutungen über das beschädigte Fahrrad und Taavis Fußmarsch machte. Dabei schaute er stets Beifall heischend in die Runde und fand das Ganze unglaublich amüsant. Pack ihn bei seiner Dummheit, das wirkt! 

„Reifen zerstechen kann jeder … aber weißt du auch, wie viel 24 x 24 ist?“

Taavis Mundwerk hatte sich in der Erinnerung an das gestrige Gespräch mit Robin selbstständig gemacht und er schaute jetzt tatsächlich in das gleiche, erstaunt dumme Gesicht, das er sich vor dem Schlafengehen vorgestellt hatte. Wie es aussah, fiel Eddy nicht gleich eine Erwiderung ein, er war so verblüfft, dass er lediglich ein hochmütig verzerrtes Lächeln zustande brachte. Deshalb setzte Taavi noch einen drauf und sagte den von Robin kreierten Satz, über welchen sie am Vorabend am meisten gelacht hatten.

„576 … klar, dass du das nicht weißt, entschuldige! Zahlen kann man weder boxen noch treten und beschimpfen oder beleidigen. Macht auch keinen richtigen Spaß. Ich sollte wohl lieber fragen, wo man die Hirnprothese kaufen kann, die es dir zumindest möglich macht, von anderen abzuschreiben oder Scheiße zu labern.“

Eddy war aufgestanden, sein betont überhebliches Grinsen dünnte an den Rändern beträchtlich aus. Er starrte Taavi wütend an. Er war so überrascht von den Worten, dass ihm immer noch nichts einfiel, was er hätte erwidern können. Taavi hingegen sonnte sich im Erstaunen der anderen.

„Du solltest dein Plastikhirn mal generalüberholen lassen, sonst kommt es noch so weit, dass du nicht nur nicht denken kannst, sondern auch vergisst, wie man zuschlägt. Und damit wäre dein jämmerliches Leben total sinnlos geworden!“

Die Umstehenden kicherten verhalten, vor allem den Mädchen schien der Verlauf zu gefallen. Eddy holte gerade Luft, um endlich etwas zu erwidern, als sich die Tür öffnete und die Lehrerin herein kam. Alle verteilten sich an ihre Tische und setzten sich unter flüsternden Gesprächen und leisem Lachen hin. Als Taavi Eddy einen vorsichtigen Blick zuwarf, machte dieser eine genauso bekannte wie abgedroschene Geste, sein Zeigefinger strich über seinen Hals und sein Blick verkündete dabei Totes Fleisch. 

In der ersten Pause ging Taavi nicht hinaus, er half dem Lehrer beim Umhertragen von Unterrichtsmaterial, während der zweiten Pause trieb er sich im Biologieraum herum. Während er anfangs noch eine Weile auf einer Welle der Überlegenheit geschwommen war, wurde er immer besorgter, je mehr Zeit Richtung Schulschluss verging. Eddys Rache würde folgen und auch wenn Taavi einigen seiner Mitschüler wohl imponiert hatte, würde ihm mit Sicherheit keiner beistehen. Wie hatte er so blöd sein können? Das war Robin schuld, ohne seinen Zuspruch hätte er den Mund nicht so voll genommen. Aber jetzt war sein Chatfreund weit weg. Toll, und wie kam er nun mit heilen Knochen nach Hause? Nur kurz dachte er darüber nach, sich an den Vertrauenslehrer zu wenden, aber das kam ihm feige vor, er wollte den anderen nicht noch mehr Futter geben, um ihn niederzumachen. Und außerdem konnte auch ein Lehrer nicht in jeder Ecke stehen, in der Eddy ihm auflauerte. Da musste er allein durch.

 

Später dann kam er überraschenderweise unbehelligt vom Schulhof weg. Dann jedoch, keine fünfhundert Meter entfernt, stampfte Eddy aus dem Gebüsch hinter einem Stromkasten. Bei ihm waren nur seine drei engsten Freunde und Speichellecker. Er trat Taavi in den Weg und schubste ihn an der Schulter zurück.

„So, und jetzt wiederhol noch mal, was du eben gesagt hast!“

Taavi schaute vor sich auf den Boden und versuchte, an den drei Jungs vorbei zu kommen.

„Lass mich in Ruhe!“, murmelte er dabei ohne die geringste Hoffnung auf Erfolg.

„Das könnte dir so passen! Du hast dich doch so stark gefühlt, wie ist es denn damit? Kannst du dich jetzt auch wehren?“

Eddy wartete die Antwort nicht ab, er holte aus und setzte seine Faust mitten in Taavis Gesicht. Wie ein Sturzbach schossen diesem das Blut aus der Nase und die Tränen aus den Augen, er taumelte und steckte gleich noch ein Hieb in den Magen ein. Er brach in die Knie und hielt sich den Bauch, ein Schlag gegen den Oberarm warf ihn anschließend komplett um. Es folgten noch zwei Tritte, dann ließ Eddy ihn zurück und verschwand. Niemand hatte den Zwischenfall beobachtet. Deshalb blieb Taavi verkrümmt und leise wimmernd noch einen Augenblick auf dem Bürgersteig liegen, dann kämpfte er sich hoch und setzte seinen Weg nach Hause humpelnd fort.  

Dort ging er sofort hinauf in sein Zimmer und ins Bad, schaute sein blutiges Gesicht an und begann sich vorsichtig zu waschen, dann zog er sich um. Die sich gerade ausbildenden Hämatome an seinem Körper konnte er unter einem frischen T-Shirt verstecken, aber für seine geschwollene Nase musste er sich etwas einfallen lassen, denn seine Mutter würde entsetzt sein und Fragen stellen. Wie immer wollte er sie nicht beunruhigen und dachte sich eine Lüge aus, wie er zu der Verletzung gekommen war. Sport war immer eine gute Ausrede, dann hatte er eben einen der schweren Medizinbälle auf die Nase gekriegt.

Während er hinunter ging, bemerkte er etwas Erstaunliches. Es kam ihm merkwürdig vor, aber er fühlte sich trotz der körperlichen Blessuren irgendwie besser als sonst. Diesmal konnte er punkten und wenigstens ein bisschen am Status von Eddy kratzen. Er hatte, wenn auch nur kurz, den ratlosen Blick in dessen Augen gesehen, als er ihn verspottete und das gab ihm eine Ahnung davon, wie es sein konnte, wenn er sich nicht alles gefallen ließ. Auch, wenn ihm das letztendlich Schmerzen bereitete, spürte er so etwas wie Genugtuung und konnte es kaum erwarten, Robin davon zu erzählen.

Wie erwartet hätte seine Mutter ihn am liebsten zum Arzt geschickt, aber er konnte es ihr zum Glück ausreden und machte sich nach seiner Notlüge gleich wieder auf, um an den PC zu kommen. Robin wartete bereits, Taavi überfiel ihn sofort mit den Vorfällen vom Vormittag.

„Scheiße … und wie geht es dir jetzt?“

Robins Stimme klang besorgt.

„Meine Nase tut am meisten weh und so viele blaue Flecken hatte ich auch noch nie. Aber auch wenn ich Schiss hatte … jetzt bin ich froh, dass ich mich getraut habe! Dein Tipp war supi!“

„Na ja, ich weiß nicht. Ich wollte nicht, dass du verprügelt wirst!“

„Das war doch klar und ich hab es dir vorher gesagt. Ich war auch kurz sauer auf dich, aber das war nur die Angst, weil ich allein da durch musste …“

Sie unterhielten sich noch eine Weile, dann machten beide die Hausaufgaben, während sie durchs Netz miteinander verbunden blieben. So war es fast, als würden sie nebeneinander sitzen und immer wieder wanderte Taavis Blick verträumt zum Beckham-Poster.

 

 

3

 

Kurz vor Ostern war der innere Drang der beiden Jungs dann doch stärker als ihre Angst, die das Einzige war, was sie miteinander teilten, ohne darüber zu sprechen. Sie wollten sich sehen und es war diesmal Robin, der das Thema anschnitt.

„Ich könnte in den Ferien nach Köln kommen, ich möchte dich endlich mal in Wirklichkeit sehen … auch wenn ich ein bisschen Angst habe, du magst mich dann vielleicht nicht mehr.“

Beide machten sich dabei keine Gedanken darüber, dass es bei Jungsfreundschaften doch in den seltensten Fällen auf das äußere Erscheinungsbild ankam. Nichtsdestotrotz wurde es für Taavi auf diese Weise leichter, darauf einzugehen.

„So geht es mir auch, wahrscheinlich sehe ich ganz anders aus, als du denkst. Ich bin ziemlich klein und … na ja, dünn.“

Damit war sein größtes Problem raus und er wartete atemlos ab, was Robin darauf antworten würde.

„Na und? Mir doch egal, wie du aussiehst!“

Es hörte sich beinahe beschwörend an, wie Robin das sagte, ganz so, als erwarte er Taavis Bestätigung ganz dringend.

„Eigentlich ist es doch auch wirklich egal, oder nicht? Wir sind Freunde!“

„Genau!“

Trotzdem blieb bei beiden ein mulmiges Gefühl, das von den Schmetterlingen der Vorfreude immer wieder aktiviert wurde, bis es dann endlich soweit war. Diesmal würden sie es tatsächlich durchziehen.

 

Gleich am ersten Wochenende der Osterferien wollte Robin aus Kassel anreisen, sie hatten verabredet, dass Taavi ihn samstags um zehn Uhr am Hauptbahnhof abholte. In der Nacht vorher machten sie beide kein Auge zu, sie sprachen beinahe bis zu dem Zeitpunkt, an dem Robin sich aufmachen musste. Sogar, während dieser seine Tasche packte, unterhielten sie sich darüber, was er alles mitbringen sollte. Sie schauten das gleiche Fernsehprogramm, legten irgendwann die gleiche DVD ein und schauten synchron 127 Hours. Erst als es draußen langsam hell wurde, verfielen beide in wilden Aktionismus, in dessen Verlauf sie sich dann endlich zwangsläufig verabschieden mussten. 

In Taavis ohnehin schon immer ziemlich ordentlichem Zimmer stand alles an seinem Platz, er war jedem Staubkörnchen zuleibe gerückt. In Absprache mit seinen Eltern hatte er ein Gästebett aufgestellt, das mit militärischer Sorgfalt bezogen war. Er war völlig sicher, dass jeder Junge in seinem Alter solchen Wert auf diese Dinge legte und Robin einen schlechten Eindruck von ihm bekam, wenn er nachlässig war.

Im Anschluss duschte er, sprühte sich mit AXE Instinct ein und duschte noch mal, weil er nicht genau wie Robin duften wollte. Er zog sich viermal um, ehe er sich endlich auf den Weg machte. Er befand sich in einem absoluten Ausnahmezustand, immer wieder stellte er sich ihre erste Begegnung vor. Würde er Robin erkennen? War eine Umarmung zur Begrüßung angebracht? Wahrscheinlich eher nicht, sie waren schließlich keine Mädchen.

Er fuhr zum Hauptbahnhof, suchte den Bahnsteig, auf dem der Zug aus Kassel voraussichtlich in einer Viertelstunde ankommen würde. Er war zu aufgeregt, um sich auf eine der Bänke zu setzen und ging unruhig hin und her, bis es endlich so weit war. Der Zug fuhr ein und entließ eine Menge Menschen aus seinen Türen. Die meisten verließen zielbewusst den Bahnsteig, einige blieben auch zurück, wurden begrüßt oder schauten sich suchend um. Der Zug nahm die neuen Fahrgäste auf, während Taavis Blick über die Verbliebenen wanderte. Schließlich lief er umher, schaute in jede Nische, während sich der Bahnsteig immer mehr leerte.  

Übrig blieben letztendlich eine ältere Frau mit altmodischem, rotem Koffer, die irgendwie ängstlich umher sah, zwei miteinander plappernde, kichernde Mädchen, einige Männer mittleren Alters und drei einzelne Jungs, die zumindest altersmäßig in Frage kamen. Allerdings sah keiner von ihnen so aus, wie Taavi sich Robin vorstellte. Selbst wenn er nicht die Beckham-Messlatte anlegte, blieb niemand übrig. Da war ein hochgeschossener, sommersprossiger Typ mit rotblonden Haaren, der auf jemanden zu warten schien, der andere, etwas langweilig aussehende Junge mit dem Militärhaarschnitt hatte sich auf eine der Bänke gesetzt und las, ohne sein Umfeld zu beachten. Der dritte im Bunde fiel eigentlich von vorn herein aus, es war ein Gothic, der ganz in schwarz gekleidet, mit vielen Piercings, Silberschmuck, langem Wickelrock und klobigen Stiefeln einfach nur da stand und seine Umgebung demonstrativ desinteressiert betrachtete. War Robin nicht gekommen?

Taavi spürte, wie die Enttäuschung in ihm hoch kroch. Das machte doch keinen Sinn, er war doch quasi per Internet live dabei gewesen, als der andere seine Sachen packte! Ratlos blieb er stehen und drehte sich einmal im Kreis, vielleicht hatte er ja nur jemanden übersehen … oder war auf dem falschen Bahnsteig. Sein Blick traf auf den des Gothics und er bemerkte ein leichtes Lächeln auf dem schmalen, blassen Gesicht. Nee, nich? Schnell schaute Taavi wieder weg, aber damit konnte er an den Tatsachen nicht wirklich etwas ändern. Aus seiner vagen Vermutung wurde schnell Gewissheit, denn als er das nächste Mal hinschaute, hatte der andere schon ein paar Schritte auf ihn zu gemacht und sein Gesichtsausdruck signalisierte, dass er ihn gleich begrüßen würde.

Während der letzten Sekunden nahm Taavi erst AXE Instinct und dann die Erscheinung seines Gegenübers überdeutlich wahr. Nur die Spitzen seiner von Natur aus hellblonden Haare waren schwarz gefärbt und reichten als wilde Mähne links bis auf die Schulter, die rechte Seite wurde ausrasiert. Die Fingernägel glänzten schwarz lackiert, seine blauen Augen hatte er großzügig mit dunklem Kajal umrandet. Ein Silberkettchen verband das Nasenpiercing mit einer Sicherheitsnadel im rechten Ohr und er trug eine Kette mit einem großen, schwarzen Kristall in Tropfenform um den Hals. Silberne Totenkopfringe zierten beide Mittelfinger, Nietenbänder Hals und Handgelenke. 

„Bist du Taavi?“

„J…ja!“, stotterte dieser und sein Gesichtsausdruck war so alarmiert, dass Robin grinsen musste.

„So schlimm?“, meinte er dann vergnüglich und lauernd zugleich.

In diesen Momenten waren alle Gedanken, die Taavi sich vorher gemacht hatte, verschwunden. Umarmung oder nicht, die ersten Worte … völlig egal! Und auch die Befürchtung, dass Robin ihn vielleicht nicht mögen würde, war wie weggeblasen. Jetzt dachte er nur noch darüber nach, wie er seinen Eltern erklären sollte, wer da für eine Woche bei ihm zu Besuch sein würde. Gothics waren doch die, die sich nirgendwo einfügen wollten, die sich mit dem Tod beschäftigten und wahrscheinlich auch mit Dämonen und dem Teufel. Sie sahen ihre Umwelt ausschließlich aus dem Blickwinkel des Sensenmanns, während ihr Horizont sich über einem Friedhof wölbte, wo sie Schwarze Messen feierten und unaussprechlichen Dingen huldigten. Und manchmal machten sie sogar Todeslisten und begingen mit ausgefallenen Ritualdolchen Morde im Namen des Bösen.

„Hallo?“, brachte Robin sich in Erinnerung.

Taavi riss sich zusammen und streckte ihm zur Begrüßung unsicher die Hand entgegen, die Robin geflissentlich übersah. Es folgte nur ein barsches „Tach!“ und sein Gesichtsausdruck wurde hochmütig. Taavi fühlte deutlich, dass er jetzt etwas Nettes sagen musste, ihm fiel aber beim besten Willen nichts ein.

„Jetzt weißt du zumindest, wieso ich das Treffen immer aufgeschoben habe, ich habe mir gedacht, dass du ein Problem mit mir hast. Irgendwie hatte ich aber auch gehofft, dass es inzwischen egal ist, ich bin der Gleiche wie der aus dem Internet. Erinnerst du dich? Dich habe ich mir übrigens auch anders vorgestellt … zumindest so groß, dass du schon allein an eine Türklinke rankommst! Und so schwer, dass dich ein leichter Windhauch nicht gleich bis zum Nordpol pustet!“

Taavi wurde rot und sah auf einmal ganz klar, was er da gerade anrichtete. Das da vor ihm war Robin! Der einzige Freund, den er auf der Welt hatte, derjenige, der sich wirklich für ihn interessierte! Trotzdem fiel ihm immer noch keine Erwiderung ein, deshalb fuhr der andere inzwischen deutlich gereizt fort:

„Okay, was jetzt? Soll ich wieder abhauen?“

„Nein! Nein, natürlich nicht! Ich … ich war nur überrascht!“

„Sag bloß? Wär mir gar nicht aufgefallen!“

„Ich muss mich nur erst mal dran gewöhnen. Warum hast du mir nichts davon erzählt?“

„Ich sollte mir dein blödes Gesicht entgehen lassen? Nö!“

Das Lächeln auf Robins schmalem Gesicht wurde offener. Plötzlich sah Taavi nur noch dieses Lächeln, das Robins ganzes Gesicht aufhellte und sogar seine ausdrucksvollen, ungewöhnlich großen Augen erreichte.

„Sollen wir dann mal gehen?“, schlug Taavi vor.

„Ich bitte darum! Ist ein McDoof in der Nähe? Ich hab Hunger!“

Ohne ein weiteres Wort zu wechseln liefen sie aus dem Hauptbahnhof hinaus, Robin vorneweg, als wäre jeder von ihnen allein unterwegs. Erst draußen gingen sie dann nebeneinander her und Taavi hatte den Eindruck, dass alle Leute erst Robin und dann ihn anstarrten. Er war froh, als sie im Restaurant am Tisch saßen, obwohl Robins Outfit auch dort ein Blickfang war.

„Was hast du denn nun genau für ein Problem mit mir? Magst du Leute wie mich im Allgemeinen nicht? Kennst du überhaupt welche? Weißt du eigentlich, um was es dabei geht?“, versuchte Robin, diese Sache aus dem Weg zu räumen.

„Klar kenne ich Gothics … na ja, nicht direkt. Ich sehe sie in der Schule, aber sie wollen unter sich bleiben. Sie beschäftigen sich mit dem Tod und wohl auch mit Dämonen, machen komische Rituale …“

„ … und opfern schwarze Hühner, alles klar. Du weißt also gar nichts – wie die meisten – und pflegst. aus Blödheit einfach mal ein paar abartige Vorstellungen. Bist du denn wenigstens bereit, was an deinen Vorurteilen zu tun? Ich kann dir sagen, wie es wirklich ist. Allerdings nur, wenn es dich interessiert. Wenn nicht, fahre ich gleich wieder heim, dann war das alles ein großer Flop und du bist eben doch nur ein Arsch.“

„Moment, ich hab doch gar nichts gesagt!“

„Machst du Witze? Dein Gesicht spricht in einer Tour und dein Verhalten auch. Sei einfach ehrlich, wir sollten uns nicht mit etwas aufhalten, was eigentlich keine Chance hat. Ich werd schon nicht aus Kummer sterben … nur die Harten kommen in den Garten, kein Problem, echt!“

Taavi wog Pro und Kontra kurz ab, was eher unterbewusst stattfand. Und er kam zu dem eindeutigen Ergebnis, dass er Robins Abreise auf keinen Fall wollte, egal, was seine Eltern oder sonst wer davon hielten. Und das war eigentlich sein einziges Problem mit der Sache, er selbst spürte jetzt sogar Neugierde auf das, in was Robin ihn einweihen wollte. 

„Ich möchte aber nicht, dass du abhaust. Ehrlich!“

Robin biss herzhaft von seinem Royal TS ab und spülte mit Cola nach.

„Wenn du das sagst … aber beschwer dich nachher nicht, ich hab dir den einfachen Weg angeboten!“

„Quatsch, ich find das echt nicht so schlimm!“

„Dann will ich nicht in der Nähe sein, wenn du mal was schlimm findest!“

„Ich war wirklich nur erstaunt, dass du ein Gothic bist, damit hatte ich einfach nicht gerechnet!“

„Ich bin kein Gothic … ich bin einfach ich. Bestenfalls eine Mischung aus Gothic, Visual Kei und Punk. Ich hasse diese Gruppenzwänge, ich ordne mich nirgends unter, auch da nicht.“

„Aber du siehst aus wie ein Gothic!“

„Und du siehst aus wie sechs, bezweifle ich deswegen, dass du sechzehn bist?“

„Dann sag mir doch, wie du dich siehst! Was ist Visual Kei überhaupt?“

„Aus der Visu-Szene mag ich vor allem die Musik und die Bands. Du hast sie schon oft im Hintergrund gehört, wenn wir miteinander gesprochen haben. Aucifer, Malice Mizer, Dir En Grey sind Visual Kei Bands. Zwar völlig verschieden, aber vielleicht kennst du wenigstens eine davon.“ 

„Nie gehört!“

Despair’s Ray? Moi Dix Mois?” 

Taavi schüttelte den Kopf.

„Keinen Schimmer!“

„Ich zeig sie dir gleich im Internet, okay? Jedenfalls sind die Bands stylisch einfach geil, mir nur manchmal zu grell. Was Punk angeht … dabei geht’s wohl eher um meine Einstellung. Du weißt ja, ich bin nicht der Typ, der sich was gefallen lässt. Ich rede Klartext, ob es den anderen gefällt oder nicht. Ich hasse Verarsche und mache nix von dem, was die ganzen blöden Mitläufer tun. Kennst du denn wenigstens Argonoice oder Rammstein?“ 

„Ja, natürlich!“

„Herr der Fliegen, ein Lichtblick! Den Gothic-Style mag ich, weil ich mich oft mit Themen wie Tod und Vergänglichkeit befasse. Ich weigere mich einfach, das wie die meisten Leute wegzuschieben, als würde ich niemals sterben. Es gibt da vieles, über was sich das Nachdenken lohnt. Und das hier sind meine Glücksbringer und Beschützer!“ Er zeigte auf seinen Totenkopfschmuck. 

Taavi war ein wenig überfordert, gab das jedoch nicht zu. Zudem war er neugierig, wollte alles wissen und bestenfalls auch verstehen. So unterhielten sie sich noch eine Weile, wobei Robin meist Monologe führte und Taavi immer lebhafter Fragen stellte. Robin faszinierte ihn, vor allem, weil er sich niemanden unterwarf. Er lebte das, wovon Taavi nur träumte, formulierte seine Zweifel und Meinungen, worauf er selbst um des lieben Friedens Willen lieber verzichtete.

Später dann waren sie auf dem Weg zu Taavi nach Hause und seine Lebhaftigkeit schlief immer mehr ein, plötzlich wirkte er wieder bedrückt.

„Was ist los?“, fragte Robin auf den letzten Metern vor Taavis Elternhaus.

„Ich hab ein bisschen Angst vor dem, was meine Eltern sagen werden!“, rückte er nach anfänglichem Zögern mit der Sprache heraus.

„Ach so! Du hast gesagt, sie sind okay.“

„Natürlich, aber ich weiß nicht, was sie tun, wenn ich mal was Überraschendes mache oder wenn sie mit etwas nicht einverstanden sind, an dem mir etwas liegt!“

„Wenn es zu schlimm für dich wird, kann ich ja immer noch gehen. Ich werd dir keine Schwierigkeiten machen, echt!“

„Nein, das will ich nicht. Ich komm schon damit klar!“

„Also lassen wir es drauf ankommen?“

„Ja!“

Sie lächelten sich an, ihr Blick hatte dabei etwas Verschwörerisches. In diesem Moment war beiden klar, dass Widerstände etwas sein würden, gegen das sie sich auf die eine oder andere Weise gemeinsam wehren wollten. Dabei hatten sie natürlich noch keine Ahnung, was sich ihnen tatsächlich in den Weg stellen sollte.

Einen ersten Vorgeschmack gab es, als Taavi mit Robin zur Haustür herein kam. Seine Mutter war gerade dabei, die Garderobe abzustauben, schaute kurz zur Tür, grüßte lächelnd und schien gleich anschließend zur Salzsäule zu erstarren, als ihr Blick auf Robin fiel. Ihr Blick glitt von der asymmetrischen Frisur über die Piercings und den Rock und blieb schließlich an den dicken Boots hängen.

„Hallo Mum! Das ist mein Freund Robin!“

Robin lächelte sie an, doch als er begriff, wie es wohl weiterlaufen würde, erstarb das Lächeln und sein Gesicht verlor jeden Ausdruck, wurde glatt wie eine Maske. Auch wenn er es eigentlich nicht anders erwartet hatte, enttäuschte ihn die Reaktion. Aber Leena riss sich so offensichtlich zusammen, dass sie sich wie ein selbst aufblasendes Schlauchboot beinahe explosiv straffte. Sie streckte Robin die Hand entgegen.

„Du wirst also ein paar Tage lang hier bleiben?“

Es war eine Floskel und sollte wohl freundlich klingen, aber es kam bei Robin an, als würde sie ihm eine bodenlose Frechheit unterstellen. Er übersah die vor ihm schwebende Hand und legte den Kopf schief, so dass es aussah, als sei der lange Teil seiner Haare plötzlich zu schwer geworden. Dabei fixierte er Taavis Mutter, schaute ihr dabei so tief in die Augen, dass sie ein Schauer überlief.

„Ich würde gern hier bei Taavi bleiben, genau!“

Taavi spürte einen Kloß im Hals, derart fassungslos hatte er seine Mutter noch nie gesehen. Sie konnte ihren eher selten aufkommenden Unmut bisher durchaus kundtun, ohne ihre Bestürzung auf diese Weise offensichtlich werden zu lassen. Sie ließ die Hand langsam sinken und die Atmosphäre zwischen ihnen schien sich elektrisch aufzuladen.

„Wir gehen dann mal hoch!“, stotterte Taavi und machte einen großen Satz auf die erste Treppenstufe, um aus der Situation zu fliehen. Es war Robin, der ihm einen Strich durch die Rechnung machte.

„Bist du sicher? Es sieht nicht so aus, als ob deine Mutter glücklich mit der Vorstellung ist, dass ich im Haus bleibe!“

Dabei schaute er Leena Brofeldt noch immer provozierend in die Augen.

Taavis Blick pendelte während dieser Kraftprobe von einem zum anderen, er konnte mit der Situation überhaupt nicht umgehen.

„Komm doch!“, versuchte er es noch einmal.

„Darf ich?“, richtete Robin die Antwort direkt an Taavis Mutter.

„Aber natürlich!“

Sie wandte sich um und ging ohne ein weiteres Wort Richtung Küche, während Robin seinem Freund die Treppe hinauf folgte. Oben hatte Robin keinen Blick für Taavis Zimmer, er ließ zuerst seine Tasche auf den Boden und dann sich selbst in einen Sessel fallen.

„Das ist ja wohl gründlich in die Hose gegangen.“

„Kann man wohl sagen. So eine Reaktion kenn ich von ihr nicht, sie hat sich normalerweise immer im Griff!“

„Das liegt wohl daran, dass du normalerweise nicht mit jemandem wie mir hier auftauchst.“

„Sonst tauche ich mit niemandem hier auf. Na ja, eins der Mädels aus der Schule war ein paar Mal hier, aber da hat sie immer ganz verschwörerisch gelächelt und von meiner kleinen Freundin gesprochen.“

„War sie dass denn? Ich meine, deine kleine Freundin?“

„Du meinst Liebe und so? Nö, damit hatte ich bisher nix zu tun.“

„Es gibt keine, die du willst?“