Walther Cormann

Die 5 Wirkfaktoren der
systemisch-integrativen
Therapie und Beratung

Impressum

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-89144-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10657-2

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20215-1

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Inhalt

1 Einleitung

2 Die 5 Wirkfaktoren der systemisch-integrativen Therapie und Beratung

2.1 Die Therapeutenpersönlichkeit

2.1.1 Sie handelt nach ethischen Gesichtspunkten

2.1.2 Sie begegnet dem Klienten auf Augenhöhe

2.1.3 Sie gibt sich als Querdenker

2.1.4 Sie zeigt sich als Wirklichkeitsdealer

2.1.5 Sie ist Kommunikationsprofi

2.1.6 Sie betätigt sich als Schatzsucher

2.1.7 Sie wirkt als Krisenmanager

2.1.8 Sie ist Mannschaftstrainer

2.1.9 Sie versteht sich als Weichensteller

2.1.10 Sie arbeitet als Synapsenbauer

2.2 Das Setting

2.2.1 Die soziale Dimension des Settings

2.2.2 Die räumliche Dimension des Settings

2.2.3 Die zeitliche Dimension des Settings

2.2.4 Die sachliche Dimension des Settings

2.2.5 Die materielle Dimension des Settings

2.3 Die Therapie- und Beratungsschleife

2.3.1 Phase 1: Kontaktaufnahme

2.3.2 Phase 2: Informationsgewinnung

2.3.3 Phase 3: Erste Auswirkungsüberprüfung

2.3.4 Phase 4: Aktionsphase

2.3.5 Phase 5: Integrationsphase

2.3.6 Phase 6: Zweite Auswirkungsüberprüfung

2.3.7 Phase 7: Zukunftsverankerung

2.4 Die Methoden

2.4.1 Meta-Methoden der systemisch-integrativen Therapie und Beratung

Arbeiten im Hier und Jetzt

Die Welt der Gefühle

Die Teile und das Ganze

Potenzialorientierung

Der Körper als Feedbackgeber

Die Kraft der inneren Bilder

2.4.2 Systemische Sprache als Basisintervention und Steuerungselement

Ankoppeln

Therapeutisches Umdeuten

Hypothetische Sprache

Unterschiedsbildende Sprache

Zirkuläre Sprache

Normalisierungen

Übersetzen

Doppeln

Kommentare

Präsuppositionen

Moderation

Integrationssätze

Vage Sprache oder präziser Sprachgebrauch

2.4.3 Visualisierende und erlebnisaktivierende Methoden nach Phasen der Therapieschleife

1. Vorgehen in der Kontaktphase

Begrüßung und Small Talk

2. Vorgehen in der Informationsgewinnungsphase

W-Fragen – Das Genogramm – Die Familienchronologie – Das Beziehungsrad – Arbeit mit Fotos – Der Wohnungsgrundriss – Familie in Tieren – Arbeit mit Tierfiguren – Natursymbole – Skalierungen – Zielscheibe

3. Methoden für die Aktions- und Integrationsphase

Perspektivwechsel – Arbeit mit Selbstannahmen und Regelsätzen – Konfiguration des inneren Teams – Beziehungsskulpturen – Ideale Beelterung – Inszenierung einer Neugeburt – Das innere Kind – Auflösung negativer Projektionen – Therapeutische Briefe – Rückgabe von Verantwortung – Die Bearbeitung emotionaler Verletzungen – Das Lebenspanorama – Die Erfolgsgeschichte schreiben – Der Gang durchs Leben – Traumabearbeitung – Trauerarbeit und Abschiednehmen – Begegnung mit dem Ton – Flussritual – Loslassen und Annehmen

4. In der Zukunftsankerphase

2.5 Die Mitverantwortung der Klienten

3 Praxisberichte

3.1 Einzeltherapie mit Frau P – Verantwortungsrückgabe und Stärkung des Selbstwerts

3.2 Einzeltherapie in der Gruppe mit Frau Y – Integration der Gefühle im Körperlichen

3.3 Trauma-Einzeltherapie mit Frau Z – Integration des inneren Kindes mit der Methode der idealen Beelterung

Literatur

Informationen zum Autor

1 Einleitung

In meiner Tätigkeit als Lehrender für Systemische Therapie und Beratung führe ich in den Seminaren unseres Weiterbildungsinstituts Live-Therapien mit eingeladenen Klienten sowie mit den Teilnehmenden der Weiterbildungsprogramme als Teil der Selbsterfahrung durch. Auf diese Weise kann ich meine Vorstellungen von einer wirkungsvollen und effizienten Arbeitsweise im therapeutischen Kontext praktisch darstellen und für die Beobachter erlebbar, reflektierbar und auswertbar machen. Wichtig ist hierbei, dass die Teilnehmer das Geschehene in seiner Struktur verstehen, um die immer wiederkehrenden Abläufe im Therapieprozess zu erlernen und in der Folge dann auch selbst durchführen zu können.

Von der Struktur gelingender Therapieprozesse handelt dieses Buch. Schritt für Schritt wird beschrieben und dargestellt, wie die Komplexität in der therapeutischen Arbeit gehandhabt werden kann. Vieles vollzieht sich dabei gleichzeitig, und deshalb ist es wichtig und sinnvoll, im therapeutischen Vorgehen einem inneren Plan zu folgen und diesen umzusetzen. Ich nenne dies die Architektur der systemisch-integrativen Therapie und Beratung. Diese macht es möglich, auch komplexe Prozesse und emotional schwierige Themenbereiche so zu gestalten, dass ein wünschenswertes Ergebnis zu erwarten ist.

Nach einer Live-Arbeit in einem Weiterbildungsseminar bitte ich die teilnehmenden Beobachter zunächst, ein spontanes persönliches Feedback zu geben, bevor die eigentliche Analyse der therapeutischen Arbeit beginnt. Typische Mitteilungen sind dann beispielsweise: »Ich hätte nicht gedacht, dass man in solch kurzer Zeit so weit kommen kann«, »Mich hat beeindruckt, dass die Klienten die ganze Zeit mit Wertschätzung bedacht wurden. Die konnten sagen, was sie wollten, sie fanden immer deine Zustimmung«, »Ich glaube, es war sehr anstrengend, die ganze Zeit so aufmerksam zu sein«, »Mir hat die Leichtigkeit gut gefallen und dein Humor«, »Mich hat verblüfft, mit wie wenig inhaltlichen Informationen du gearbeitet hast«, »Ich glaube, die Klienten haben sich sehr angenommen gefühlt. Mir wäre es jedenfalls so ergangen«, »Ich habe jetzt ein gutes Beispiel dafür bekommen, wie man die Kinder aktiv in den Therapieprozess einbeziehen kann und mitarbeiten lässt«, »Ich rätsele noch, wodurch eigentlich die Verbesserung eingetreten ist. Das würde ich gerne noch klären.«

Erst im Anschluss an diese Äußerungen der Teilnehmer wird mit der Analyse der Arbeit begonnen. Das Ziel der Weiterbildung besteht unter anderem darin, die Prozesse und Strukturen einer therapeutischen Sitzung lesen zu lernen, um diese Erkenntnisse für die Gestaltung von Therapiesitzungen mit den eigenen Klienten zu nutzen. Dieses Buch verfolgt deshalb auch das Ziel, durch die Beschreibung grundlegender Prozessbausteine ein wirksames Fundament für die eigene Arbeitsweise zu entwickeln, sodass am Ende eine Vielzahl neuer sowie auch bereits bekannter Methoden, Techniken und Interventionsstrategien zur Verfügung steht.

Seit über 30 Jahren arbeite ich als praktizierender Psychotherapeut, Berater, Business-Coach und Supervisor in freier Praxis – zunächst als gelernter Gesprächspsychotherapeut, dann zeitweise mit kassenärztlichem Auftrag verhaltenstherapeutisch und schließlich seit über 20 Jahren als systemisch-integrativer Einzel-, Paar- und Familientherapeut mit körper- und hypnotherapeutischen Einflüssen. Die wichtigsten persönlichen Begegnungen während meiner therapeutischen Ausbildungsphase waren zweifellos Virginia Satir, Gundl Kutschera, Paul Watzlawick, Gunther Schmidt und Al Pesso, um nur die wirklich wichtigsten zu nennen und dem Leser hiermit einen Einblick in meine »therapeutische Herkunft« zu geben. 1989 habe ich gemeinsam mit meiner Frau Sabine Cormann unser Weiterbildungsinstitut in Lindau am Bodensee und in Hamburg gegründet. Seitdem lehren wir systemisch-integrative Therapie und Beratung mit Einzelpersonen, Paaren und Familien.

Innerhalb der systemischen Therapie ist der systemisch-integrative Ansatz eine Besonderheit und unterscheidet sich somit von den anderen Therapiekonzepten systemischer Couleur. Der entscheidende Unterschied liegt in der expliziten Zielsetzung. Als therapeutische Metaziele beschreiben wir den Aufbau einer integrativen Struktur sowohl auf der intrapersonalen wie auch auf der interpersonalen Ebene. Hierdurch wird eine ganzheitliche Sichtweise des Menschseins eingenommen, die in bester Weise mit einem humanistischen Weltbild einhergeht. Auf die praktische Arbeit bezogen bedeutet das: Es geht nicht darum, durch Psychotherapie etwas der Person Eigenes wegzutrainieren, zu bekämpfen oder zu desensibilisieren. Ziel ist vielmehr, durch eine andere, neue, bessere Einstellung, Haltung und Sichtweise sich selbst und seiner sozialen Umgebung gegenüber ein verbessertes Lebensgefühl zu entwickeln, das für den Klienten wünschenswert und annehmbar, also integrierbar ist. Integrativ zu arbeiten bedeutet, etwas hinzuzufügen, anstatt etwas wegzumachen. Die Frage ist also nicht: »Was ist Ihr Problem?«, sondern: »Was ist Ihr Ziel?« (oder für fortgeschrittene Klienten und Therapeuten: »Womit werden Sie sich beschäftigen, nachdem Sie Ihr Ziel erreicht haben?«).

Systemisch-integrativ zu arbeiten heißt zweierlei: Erstens setzt diese Form professioneller Arbeit ein planvoll einsetzbares, klar strukturiertes Konzept voraus, um dann zweitens auf dieser Basis zuversichtlich, kreativ-spielerisch, lebendig, emotional, humorvoll und freundlich zu intervenieren. Dies geht einher mit einem hohen Maß gedanklicher wie emotionaler Beweglichkeit.

Im folgenden Kapitel wird zunächst der von uns praktizierte und gelehrte systemisch-integrative Ansatz in Therapie und Beratung ausführlich beschrieben. Das Kernthema dieses Buches ist fokussiert auf die genaue und ausführliche Darlegung der Therapie- und Beratungsschleife als die Architektur für unser Konzept der systemisch-integrativen Arbeitsweise.

Im letzten Teil des Buches werden in mehreren Fallbeispielen die verschiedenen Etappen des jeweiligen Therapieverlaufs abgebildet und kommentiert.

2 Die 5 Wirkfaktoren der systemisch-integrativen Therapie und Beratung

Im Folgenden werde ich die 5 wichtigsten Faktoren für effiziente und nachhaltig wirksame therapeutisch induzierte Verbesserungs- und Veränderungsprozesse der systemisch-integrativen Therapie und Beratung beschreiben. Zu diesen unabdingbaren und grundlegenden 5 Wirkfaktoren zähle ich die Therapeutenpersönlichkeit, das angemessene und passende Setting, den Gebrauch der Therapie- und Beratungsschleife, den richtigen handwerklichen Einsatz systemisch-integrativer Methoden und Interventionen sowie schließlich die Mitwirkungsbereitschaft und damit die Mitverantwortung unserer Kunden und Klienten an der Umsetzung neu gewonnener Erkenntnisse und Erfahrungen in ihren Lebensalltag.

2.1 Die Therapeutenpersönlichkeit

In diesem Abschnitt werden die wesentlichen Merkmale eines optimalen Therapeutenprofils beschrieben. Hierbei wird deutlich, dass die therapeutische Arbeit nicht losgelöst von der Person des Therapeuten gesehen werden kann, sondern dass der Therapeut und Berater immer die Verkörperung seiner Methode ist. Zugespitzt: Die wichtigste Methode der Psychotherapie ist der Therapeut selbst. Es sollte also ständig bedacht werden, dass allein schon die Anwesenheit des Therapeuten eine Intervention darstellt. Er kann nicht nicht kommunizieren, deshalb erzielt er immer eine Wirkung.

2.1.1 Sie handelt nach ethischen Gesichtspunkten

Die DGSF (Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie) schreibt in ihren Ethikrichtlinien, denen ich voll und ganz zustimme: »Die Grundhaltung (…) ist gekennzeichnet durch Achtung, Respekt und Wertschätzung gegenüber einzelnen Personen und Systemen. Dies beinhaltet die Akzeptanz Einzelner als Person und die Allparteilichkeit gegenüber den zum System gehörenden Personen, unabhängig von deren Alter, Geschlecht, ethnischer Herkunft, Kultur, Status, sexueller Orientierung, Weltanschauung und Religion. Die KlientInnen werden als ExpertInnen für sich und ihre Lebensgestaltung gesehen. Sie werden zur Entdeckung und selbstbestimmten Nutzung eigener Ressourcen angeregt, dabei unterstützt und begleitet. BeraterInnen und TherapeutInnen orientieren sich in ihrem Handeln daran, die Möglichkeitsräume der KlientInnen und Systeme zu erweitern und deren Selbstorganisation zu fördern. Insbesondere nehmen sie Themen, die sich unter der Genderperspektive stellen, sensibel wahr. Dabei werden eigene Prämissen einer ständigen Reflexion unterzogen.«

Des Weiteren gehören die Schweigepflicht, die Selbstfürsorge und eigene Psychohygiene, die Möglichkeit zur Reflexion der beruflichen Tätigkeit durch Supervision, Intervision oder Vergleichbares sowie die Qualitätssicherung durch eigene Fort- und Weiterbildungen aus meiner Sicht zu den wesentlichen Aspekten ethischer Standards.

Von zentraler Bedeutung ist es, dass der Therapeut für die Befindlichkeit des Klientensystems hinreichend Empathie entwickelt. Er kann sich emotional in die Lage des Klientels versetzen, ohne die gleichen Gefühle empfinden zu müssen. Am besten gelingt empathisches Einfühlen durch Bewertungsabstinenz. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu überprüfen und einzuschätzen, ob eine bestimmte Befindlichkeit angemessen ist oder nicht, und schon gar nicht wäre es hilfreich, das Vorgetragene mit unseren eigenen Erfahrungen abzugleichen und zu einem Urteil darüber zu gelangen.

2.1.2 Sie begegnet dem Klienten auf Augenhöhe

Im therapeutischen Kontext begegnen sich zwei Experten: Der Klient ist Experte für seine Lebensgeschichte, für seine psychischen Zustände und Befindlichkeiten, für seine Probleme und ebenso für seine Ziele und Veränderungswünsche. Der Therapeut hingegen ist Experte für Entwicklungs-, Verbesserungs- und Veränderungsprozesse in Bezug auf die Selbstorganisation des Klientensystems. Er achtet darauf, was für sein Gegenüber nützlich, hilfreich, passend oder wünschenswert ist. Seine Haltung ist eine Angebotshaltung mit der Orientierung auf Kundenzufriedenheit. Er will dem Klienten zuarbeiten, nicht über ihn bestimmen oder ihn überzeugen. Er arbeitet ständig optional. Dabei werden Wahlmöglichkeiten für den Klienten je nach Bedarf reduziert (wenn zu viele Optionen vorliegen) oder erweitert (bei zu wenigen Optionen). Es kommt also zu einem kooperativen und koevolutionären Arbeitsprozess, in dessen Mittelpunkt das Anliegen und die Ziele des Klienten stehen. Beide Seiten lernen in dieser Zeit voneinander. Vorgefertigtes Wissen ist dabei eher hinderlich.

Wenn ein Klient sagt, er komme wegen einer Depression, dann müssen und können wir als Therapeuten nicht wissen, was das für ihn bedeutet, wie er diesen Zustand erlebt und welche Wünsche er damit verbindet. Wir fragen ihn! Wir erkundigen uns, wir lassen ihn beschreiben, was er wie erlebt, und bringen uns mit spezifischen Fragen ein. Während unsere Fragen durchaus Routine sind, sind die erhaltenen Antworten ständig neu oder anders. Das bedeutet, dass es für die gleiche Problembezeichnung sehr viele verschiedene Veränderungs- und Lösungswege geben wird. Da wir im Vorfeld nicht wissen können, für welche Veränderungsrichtung sich der Klient entscheiden wird, arbeiten wir stringent optional und klientenorientiert, also maßgeschneidert.

Einem Klienten auf Augenhöhe zu begegnen bedeutet vor allem, ihm eine Beziehung anzubieten – allerdings keine normal-alltägliche, sondern eine besondere: eine therapeutische. Diese spezifische Art von Beziehung ist für den Klienten von großer Bedeutung für seinen Veränderungsprozess. Im Austausch mit einem Therapeuten über seine Sicht- und Erlebnisweisen, seine Lebensumstände und die damit in Zusammenhang stehenden Bedürfnisse, Wünsche, Ängste, Nöte, Zweifel, krisenhaften Momente, seine Probleme, Symptome und traumatischen Erfahrungen kann er eine neue Form der Selbstreflexion erproben, ein neues Selbst-Verständnis entwickeln und durch die Fragen, Inszenierungen, Feedbacks und Kommentare des Therapeuten Anregungen für neue Möglichkeiten erlangen.

2.1.3 Sie gibt sich als Querdenker

Psychische Prozesse haben eine strategische Komponente. Es ist wichtig, diese zu erfassen und zu thematisieren. Hierzu gehört vor allem die Frage nach der Nützlichkeit des Problems oder Symptoms. Ein Problem kommt ja nicht einfach zur Tür hinein, begrüßt einen und sagt: »Ich bin jetzt ein Teil vor dir.« Vielmehr werden Probleme und Symptome durch die Person selbst erzeugt, durch eine bestimmte Aufmerksamkeitsfokussierung und eine dazu passende Bewertung. Was für den einen ein schwerwiegendes Problem darstellt, bemerkt ein anderer gar nicht. Wenn in einer Familie bereits die beiden älteren Kinder Bettnässer waren, dann erscheint es fast schon als normal, wenn auch das folgende Kind dieses Verhalten zeigt. Ist ein solches Symptom bislang noch nie entwickelt worden, dann führt sein erstes Auftreten allerdings schnell zu einem massiven Problemerleben in der Familie – nicht nur beim Kind. Strategisch zu denken bedeutet hier, Hypothesen aufzustellen über die Funktion eines Symptoms, über seine Bedeutung, seine Wirkungsweise und seine Nützlichkeit. Wir beschäftigen uns also mit der Frage: »Mal angenommen, das Symptom würde noch nicht existieren – was müsste man erfinden, um das, was das Symptom bewirken wird, zu erreichen?«

Systemische Therapeuten sind in der Regel Querdenker. Sie verlassen den Pfad des linear-kausalen, des mechanistischen Denkens. Hierdurch kann erreicht werden, dass Klienten und Therapeuten nicht länger gegen den Problemteil einer Person arbeiten. Vielmehr geht es darum, gemeinsam anders zu denken und zu handeln: So wird zum Beispiel auf die interaktiven Aspekte zwischen dem Problemteil und den relevanten Umwelten geschaut, das Zirkuläre bedacht und auf die Dynamiken in personalen Prozessen fokussiert. Somit arbeiten wir nicht länger gegen den Problemteil einer Klientenperson, sondern begegnen ihm mit Interesse und Wertschätzung und sehen auch diesen Problemteil als Produkt des Potenzials des Klienten an. Ein Symptom zu erzeugen wird unter den Gesichtspunkten des Querdenkens als eine spezifische Fähigkeit gesehen, um hierdurch etwas für sich Nützliches zu erreichen, etwas, das ohne Symptom kaum mit den üblichen Mitteln der Kommunikation und Beziehungsgestaltung gelungen wäre.

Therapeuten sollten die Fähigkeit haben, Motivationslagen und Absichten für Problemverhaltensweisen zu erfassen und zu benennen. Es gilt also zu fragen, wozu etwas geschieht, mit welcher Intention. Die Intention einer Handlung zu benennen schlichtet sehr schnell Konflikte und Auseinandersetzungen – auch mit sich selbst. Wenn die Klienten bemerken, dass ihr Handeln mit einer guten Absicht in Zusammenhang steht, dann beruhigt das die Gefühle. Man muss sich nicht mehr gegen das Problem stemmen, sondern kann das Gute im Schlechten sehen. Hierdurch kann oftmals ein problematisches Denk- oder Handlungsmuster unterbrochen werden, sodass sich etwas Neues entwickeln kann.

2.1.4 Sie zeigt sich als Wirklichkeitsdealer

Die weltanschauliche Grundlage der hier beschriebenen Therapieform ist der Konstruktivismus. Nach dieser Auffassung ist jeder Mensch ein sich selbst organisierendes dynamisches System. Aufgrund von Beziehungserfahrungen zu den primär wichtigsten Personen zu Beginn des Lebens – meistens die eigenen Eltern oder zumindest ein Elternteil – kann jeder Mensch ein eigenes Bild seiner Realität entwickeln. Somit ist jeder Mensch durch seine einzigartige Realitätssicht geprägt und spezifisch ausgestattet. Hierdurch wird es möglich, auf autonome Weise einen Umweltbezug herzustellen.

Kommunikation ist die Brücke zwischen einer Person und ihrer sozialen Umgebung. Kommunikation findet im sozialen Austausch ständig statt, doch werden nur solche Kommunikationsinhalte aufgenommen, die für die Selbststeuerung der Person eine Bedeutung haben. Unsere Aufmerksamkeit arbeitet also stark selektierend: Man nimmt das wahr, was zur eigenen Wirklichkeitskonstruktion passt. Unpassende Informationen werden dagegen überwiegend ausgeblendet oder notfalls verzerrt wahrgenommen. Das bedeutet, dass unser Gehirn am liebsten solche Informationen bezieht, die es schon kennt, denn hierdurch wird es in der Richtigkeit der eigenen Annahmen bestärkt. Dies schafft eine starke Orientierung und gibt Sicherheit. Man muss sich nicht ständig wandeln und verändern und kommt mit der Komplexität des Lebens besser zurecht.

Wenn in diesem ausbalancierten Zustand nun etwas passiert, das nicht zu erwarten war und gleichzeitig auch nicht erwünscht ist, dann können wir davon ausgehen, dass diese Störung der Balance sich wie ein Problem anfühlt. Wir können davon ausgehen, dass sich Probleme durch eine sinnlich-wahrnehmbare Ist-Soll-Diskrepanz bemerkbar machen: Irgendetwas ist momentan nicht so, wie es erwartet wurde, unsere ursprüngliche Wirklichkeitskonstruktion stimmt nicht mehr mit den realen Bedingungen überein. Diese Diskrepanz macht uns zu schaffen, und wir wollen alles dafür tun, dass wir unseren alten Zustand wieder erreichen.

Bei vielen Schwierigkeiten im Alltag wird das auch gelingen, nicht aber, wenn eine Veränderung ansteht, die wirklich notwendig ist. Dann werden die Versuche, das Problem wieder loszuwerden, zu einem sogenannten Problem zweiter Ordnung, und solche Probleme lassen sich nur mit Lösungen zweiter Ordnung verändern. Deshalb ist es für systemisch-integrative Therapeuten wichtig, diese Unterscheidung zwischen erster und zweiter Ordnung bei der Methodenauswahl zu nutzen. Wenn man, um ein Beispiel zu nennen, aufgrund von selten stattfindenden Kopfschmerzen ein Aspirin nimmt und der Kopfschmerz daraufhin aufhört, dann hat man für das Problem erster Ordnung eine Lösung erster Ordnung gefunden. Ebenso sieht es aus, wenn man sich nach einer verpatzten Prüfung vornimmt, jetzt ernsthaft zu lernen und sich gewissenhaft vorzubereiten und schließlich die Prüfung besteht: Dann hat es mit einer Lösung erster Ordnung (sich etwas mehr anstrengen, sich mehr Zeit für das Lernen nehmen usw.) gut geklappt.

Wenn aber die gut gemeinte Lösung erster Ordnung nicht dazu beiträgt, das Problem zu lösen, dann tendiert man gerne dazu, das, was nicht zum Gelingen beiträgt, zu intensivieren. Es entsteht hierdurch ein Problemmuster, das »mehr desselben« genannt wird. Dieses Problemmuster führt dazu, dass die favorisierte Lösung zu einem Problem zweiter Ordnung wird. Das bedeutet, einfach gesagt, dass der Umgang mit dem Problem zum Problem wird. Führt das vermehrte Lernen nicht zum gewünschten Erfolg und wird gleichzeitig der vermehrte Zeitaufwand zu einem Stressfaktor im Familienleben oder in privaten Beziehungen, dann wird es notwendig, zur Lösung dieser Problemkomplexität eine Lösung zweiter Ordnung anzustreben. Eine verbesserte Beziehungsgestaltung mit mehr Freude als Stress könnte z. B. zum Gelingen der Lernsituation beitragen, indem der Lernende aus den Beziehungen Vertrauen und Unterstützung ableitet, anstatt diese zeitlich und emotional zu vernachlässigen. Lösungen zweiter Ordnung haben nicht mit mehr oder weniger zu tun, sondern erfinden eine neue Sichtweise, eine neue Haltung, eine neue Bewertung, kurzum, sie zielen darauf ab, etwas völlig anders zu machen als das, was bislang nicht wirklich zu einer Verbesserung geführt hat.

Dadurch, dass man einen bestimmten Zustand als Problem benennt und nicht etwa einfach als Information verwendet, begibt man sich schon in eine Problemtrance. Dann wird beispielsweise nach Ursachen und Schuldigen gesucht, und auf diese Weise gelangt man schnell in ein Problemgefühl: Es fühlt sich (auch körperlich) unangenehm, lästig, belastend, vielleicht ohnmächtig oder wütend an.

So beginnt ein Problemkreislauf, durch den sich das Problem in den seltensten Fällen unmittelbar lösen lässt. Denn jetzt wird die Aufmerksamkeit auf das Problem gelenkt und nicht auf die Lösung. Die nicht erfolgreichen Problemlösungsstrategien werden dann zu Problemen zweiter Ordnung. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass wir als Therapeuten keinen direkten Einfluss auf die Problembeseitigung beim Klienten haben. Den hat nur er selbst und nur dann, wenn er sein Problem anders wahrnimmt und bewertet als bisher.

Wir können unsere Klienten also lediglich einladen, sich in ihrer bisherigen Betrachtungsweise (»Ich darf kein Problem haben – und wenn doch, dann muss es schnell wieder weggemacht werden«) stören zu lassen, indem wir einen Perspektivwechsel anbieten. Dieser soll dazu führen, dem Problem anders als bisher zu begegnen, nämlich freundlich. Durch den Perspektivwechsel kann der Klient eine andere, eine neue Wirklichkeit kennenlernen. Er kann ausprobieren, inwieweit sie zu ihm passen könnte, welche Vorteile oder Nützlichkeiten sie beinhaltet. Er kann, angeregt durch die therapeutische Arbeit, zunächst einmal testen, welche Vor- und Nachteile eine Veränderung der Sichtweise haben könnte.

Wichtig für die Therapeuten ist es an dieser Stelle, keine bestimmten Veränderungsabsichten zu hegen. Wir machen lediglich Angebote und sprechen Einladungen aus. Der Klient ist es, der sich selbst entscheidet: autonom, denn anders geht es nicht. Kein anderer kann ihm die notwendige Entscheidung abnehmen oder für ihn entscheiden. Er muss es selbst tun. Bleibt er beim Bisherigen oder riskiert er etwas Neues? Wir begleiten ihn konsequent und sind emotional stets dicht dabei, wir sind offen für alle möglichen Sichtweisen und bieten neue Betrachtungsweisen an, damit der Klient aus seinen Möglichkeiten wählen kann. Wir als Wirklichkeitsdealer machen die Angebote, der Kunde entscheidet und wählt aus. Das kann nur er selbst tun. Alles andere wäre eine therapeutische Anmaßung.

Die therapeutische Arbeit mit unterschiedlichen Wirklichkeiten geht einher mit der Methode der positiven Umdeutung, wobei positiv hier verstanden wird als nützlich, brauchbar, annehmbar und integrierbar. Durch eine neue Bedeutungszuschreibung des Problemzustands wird der Klient eingeladen, sein Problem einmal anders zu sehen und dieses andere auf sich wirken zu lassen, um herauszufinden, ob diese neue Wirklichkeitsbeschreibung brauchbar oder nützlich erscheint. Nur dann hat die Umdeutung (als Teilaspekt einer Lösung zweiter Ordnung) Aussicht auf Erfolg.

Ein systemisch-integrativer Therapeut handelt also ständig mit Wirklichkeitskonstruktionen in der Annahme, dass, wenn es möglich ist, sich einen Problemzustand zu konstruieren, es ebenso möglich sein muss, sich eine Lösungswirklichkeit zu erschaffen. Und hierbei sind wir vorwiegend mit Lösungsstrategien zweiter Ordnung behilflich.

2.1.5 Sie ist Kommunikationsprofi

Wir können heute davon ausgehen, dass die Beziehungsqualität zwischen Klient und Therapeut den größten Anteil am Gelingen der Therapie hat. Bei einer gut ausgestatteten therapeutischen Beziehung kann sich der Klient mit seinen Anliegen, Problemen, Krisen und Symptomen dem Therapeuten anvertrauen und sich öffnen. Das bedeutet nicht, dass er über alles sprechen muss, denn das ist manchmal kontraindiziert. Aber er wird wahrnehmen, dass er nichts falsch und nichts richtig machen kann, da es im therapeutischen Kontext keine Bewertungsmaßstäbe für richtige oder falsche Verhaltensweisen gibt. Der Klient wird erleben, dass er sich so zeigen kann, wie er ist, und dass mit dem gearbeitet wird, was er einbringt. Er wird nicht diagnostiziert, nicht analysiert, nicht bewertet und nicht belehrt. Vielmehr wird er als ganzheitliche Person angenommen, und genau das wollen wir in der therapeutischen Arbeit kommunizieren – verbal wie nonverbal. Sollte es einmal nicht gelingen, einem Klienten so wie beschrieben zu begegnen, dann stellt sich die Frage, ob diese Konstellation günstig und hilfreich sein kann. Ein Therapeutenwechsel könnte notwendig werden – und zwar nicht aus Unfähigkeit, sondern aus professioneller Einsicht.

Die übliche Kommunikationsform in der systemisch-integrativen Therapie ist das Gespräch. Jedoch folgen wir hier – anders als in alltäglichen Gesprächen – nicht so stark dem Inhalt einer Schilderung des Klienten. Vielmehr richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die aktuellen, also im Hier und Jetzt stattfindenden, emotionalen Zustände und Gefühlslagen oder Stimmungen. Spricht der Klient bedrückt, traurig, euphorisch oder teilnahmslos über sein Thema? Wir können davon ausgehen, dass jeder Inhalt mit emotionalen Bedeutungen verknüpft ist. In dem Maße, wie wir beim Erzählen von Inhalten auf die emotionale Lage des Klienten eingehen, erreichen wir ihn als Person mit seinen subjektiven Befindlichkeiten in diesem Moment der Zeit. Dies ist eine starke Annäherung an die Klientenperson und kann neue Aspekte in seinem Umgang mit sich selbst in Bezug auf die Problemlage deutlich machen. Zum Beispiel kann hierdurch ein besseres Selbst-Verständnis aufgebaut werden, das zu einem zunehmenden Selbstvertrauen reifen kann. Wichtig auf dem Weg zum Aufbau einer integrativen Struktur auf der intrapersonalen Ebene ist Selbstempathie des Klienten. Diese ist oftmals im Zustand der Problemtrance in Vergessenheit geraten. Es gilt, diese wieder zu aktivieren oder auch in manchen Fällen erstmals kennenzulernen.

»Weg vom Inhalt hin zum Prozess« ist häufig eine Ansage, die ich in unseren Weiterbildungsseminaren mache. Das bedeutet, sich nicht zu stark mit den geschilderten Inhalten zu beschäftigen, denn das könnte vom Wesentlichen ablenken: dem Prozess der Selbststeuerung. Die Selbststeuerung bringt erst die entsprechende Färbung in die erzählten Inhalte, oder noch radikaler: Sie macht erst Inhalte. Deshalb plädiere ich dafür, Inhalte und Erzählungen der Klienten zu nutzen, um immer wieder neue Aspekte der Selbststeuerung wahrzunehmen, aufzugreifen und zu thematisieren.

Hierzu gehören insbesondere die Selbstannahmen. Selbstannahmen steuern in hohem Maße die Selbstorganisationskräfte (vgl. hierzu Walther Cormann: Selbstorganisation als kreativer Prozess, 2011). Selbstannahmen sind sozialisiert, durch Erziehung und frühe Erfahrungen gelernt und bieten sehr wertvolle Orientierungen, um gut durch das Leben zu navigieren. Allerdings sind die Regeln und Glaubenssätze aus der Kindheit nicht immer hilfreich für das Leben als Erwachsener. Es gibt durchaus sehr hinderliche Annahmen darüber, wie man zu sein hat oder auf keinen Fall sein darf, um gut oder richtig zu sein und dazuzugehören (etwa zur Herkunftsfamilie). Diese psychodynamischen Zusammenhänge sind den Klienten oftmals gar nicht bewusst, werden aber im Gespräch immer wieder genannt: »Ich kann doch nicht einfach …«, »Ich muss zuerst einmal …«, »Das kann ich aber nicht machen, weil …«, »Das habe ich noch nie gemacht …«, »Ich weiß nicht, ob das geht …«, »Ich muss immer dafür sorgen …«, »Das ist zu einfach …«.

Um das Selbst-Verständnis der Klienten zu erweitern, werden Selbstannahmen immer wieder durch den Therapeuten thematisiert: Sie werden erfragt, gespiegelt, wiederholt, bestätigt usw. Der Klient erhält hierdurch Feedbacks über seine intrapsychischen Abläufe und kann sich dann fragen, ob diese Annahmen für die erstrebte Zielsetzung angemessen, passend, hilfreich oder nützlich sind oder ob hier Hindernisse oder Kollisionen mit dem Althergebrachten und gut Verinnerlichten zu befürchten sind. Auf diese Weise wird der Klient jeweils in die Verantwortung gebracht, darüber zu entscheiden, ob Veränderungsprozesse erstrebenswert sind oder das Bisherige bewahrt bleiben soll – unter Umständen zum Preis des Problems oder Symptoms.

Der Therapeut, der nach dieser Ausrichtung arbeitet, wird einerseits auf der emotionalen Ebene Zustimmung und Empathie zum Ausdruck bringen, andererseits zugleich das in der Selbststeuerung vorzufindende Muster zur Aufrechterhaltung des Problems und die damit verbundenen Selbstannahmen infrage stellen. Damit wird die Botschaft zum Ausdruck gebracht, dass jedes Gefühl seine Berechtigung hat, dass aber auch zu überprüfen ist, ob so manche gelernten Selbstannahmen aus der Kindheit noch heute Regie über das Leben als erwachsener Mensch führen sollen.

Um diese Entscheidung zu treffen, ist es zunächst einmal erforderlich, die vorhandenen und wirksamen Selbstattribuierungen zu entdecken und sich ihrer bewusst zu werden. Nur dann können diese den Bedürfnissen und Erfordernissen der Jetzt-Zeit angepasst werden. Auf der nonverbalen Ebene bedeutet dies, dass den emotionalen Befindlichkeiten des Klienten mit der notwendigen Ernsthaftigkeit und, wenn erforderlich, Tiefe zu begegnen ist. Hingegen kann die Arbeit an den kritischen Selbstannahmen und Problemmustern durchaus mit einer Prise Humor einhergehen, weil hier zum Teil irrwitzige Konstellationen und unerfüllbare Bedingungen gestellt werden, die eben rational nicht nachvollziehbar sind (etwa »Ich muss immer alles richtig machen«, »Ich darf nie Nein sagen«, »Ich muss immer alles allein schaffen« usw.). Mit einem gewissen Humor kommt Bewegung in die starren, chronifizierten oder immer wiederkehrenden Abläufe, und eine Veränderungsidee kann mehr Raum gewinnen.

Sprache im therapeutischen Sinn ist eine starke Intervention, wenn sie sinnvoll und richtig eingesetzt wird. Dies erfordert nicht den Besuch eines Rhetorikseminars, sondern Fingerspitzengefühl. In manchen Momenten des Gesprächs ist es nützlich oder gar erforderlich, eine äußerst präzise Sprache und Wortwahl zu benutzen, um ganz exakt benennen zu können, um was es geht, was wichtig und bedeutungsvoll ist oder welche Gefühlsvariante gerade besonders zur Geltung kommt. So kommt es oft vor, dass ich einen Klienten frage:

C: »Und wie geht es Ihnen jetzt, wenn Sie an diese neue Möglichkeit denken?«

Kl: »Schon etwas besser.«

C: »Aha, schon etwas besser. Und wie ist das, wenn es sich besser anfühlt für Sie?«

Kl: »Es ist irgendwie leichter.«

C: »Ja, irgendwie leichter … Und wo spüren Sie diese Erleichterung schon jetzt am meisten?«

Kl: »Hier in den Schultern.«

C: »Mhm, ja … Und wie fühlt es sich dort an in den Schultern – anders als noch vorhin?«

Kl: »Irgendwie entspannter und kraftvoller.«

C: »Das heißt, Sie kommen wieder mehr in Ihre Kraft und spüren das am meisten, wenn Sie die Entspannung in den Schultern wahrnehmen … verbunden mit dem Gefühl, dass es sich für Sie jetzt leichter anfühlt? Und ich sehe jetzt, während ich das sage, dieses Lächeln in Ihrem Gesicht, so als wenn Sie Freude daran haben, dass es für Sie leichter wird, entspannter und dazu auch kraftvoller … dass das für Sie gerade eine schöne Erfahrung ist? Vielleicht wie der Anfang eines Neubeginns?«

Die systemische Sprache unterscheidet sich deutlich von der normalen, gängigen Alltagssprache. So verbinde ich in meiner therapeutischen Sprache gerne etwas Beobachtbares, etwas, das gerade ist oder stattfindet, mit etwas Unentscheidbarem (vgl. Heinz von Foerster), also mit etwas, das man nicht beobachten oder wissen, aber erfragen kann:

C: »Sie weinen. Darf ich Sie fragen, was gerade in Ihnen vorgeht? Was bewegt Sie gerade / Wie fühlen Sie sich?«

Kl: »Ich bin einfach nur traurig.«

C: »Ja, einfach nur traurig jetzt … Und wie geht es Ihnen in diesem Zustand / Und wie fühlt sich das an für Sie?«

Kl: »Das tut gut, das hatte ich lange nicht mehr.«

Wir als Therapeuten müssen nicht das Unentscheidbare entscheiden, wir sollten es allerdings immer wieder erfragen, erforschen, ergründen, damit die Klienten sich über sich selbst klarer werden, einen Eindruck über sich selbst bekommen, ihre Selbststeuerung deutlich wahrnehmen und einen guten Kontakt zu sich erleben – begleitet durch die therapeutischen Anmerkungen.

Doch nicht immer ist die Präzisierung der Sprache die Methode der Wahl. Genauso wichtig ist es, im richtigen Moment eine sehr vage, unbestimmte, offene Sprache zu benutzen, um damit den Klienten einzuladen, selbst die Inhalte zu benennen. Hierzu wieder ein kurzes Beispiel:

Das Ehepaar XY berichtet von häufigen Konflikten in der Ehe. Dabei ist die Stimmung im Raum angespannt.

C: »Frau X, Herr Y, Sie haben jetzt einiges über Ihre Schwierigkeiten im Umgang miteinander berichtet, und mein Eindruck im Moment ist der, dass die Spannungen auch hier im Gespräch momentan zunehmen … Deshalb möchte ich Sie gerne fragen, was Sie sich denn unter einem guten Ergebnis für die heutige Sitzung vorstellen.«

Oder:

C: »Frau X und Herr Y, ich bemerke auch jetzt momentan diese Spannungen, die im Zusammenhang zu sehen sind mit diesen Schwierigkeiten, über die Sie beide berichtet haben. Mal angenommen, es wäre möglich, irgendwie eine Verbesserung diesbezüglich zu erreichen, was wäre denn dann für Sie anders?«

Diese Art der unspezifischen Aussagen wollen die Klienten dazu einladen zu spezifizieren. Sie sind dann wieder in der Verantwortung für die Inhalte, und der Therapeut steuert den Prozess, indem er – wie im Beispiel oben – nach wünschenswerten Verbesserungen/Veränderungen Ausschau hält.

Wichtig ist es, das Zusammenspiel von vager Sprache einerseits und präziser Sprache andererseits zu beherrschen und zum Einsatz zu bringen.

2.1.6 Sie betätigt sich als Schatzsucher

Es hat sich nahezu im gesamten therapeutischen Geschäft herumgesprochen: Systemische Therapie arbeitet potenzialorientiert. Stimmt! Potenzialorientierung ist das zentrale Merkmal dieser Therapierichtung. Vom ersten Moment der Begegnung mit den Klienten an findet sie statt: die Suche nach und das Finden von Potenzialen, Kompetenzen und Ressourcen. Und in der Tat: Es gibt sie, man muss seine Aufmerksamkeit nur darauf fokussieren. Das ist dann nicht so einfach, wenn man gelernt hat, mehr auf Mängel oder Defizite zu achten, aber es ist erforderlich, um in die für die Klienten wünschenswerte Veränderungsrichtung zu arbeiten. Hierfür werden Potenziale, Kompetenzen und Ressourcen gebraucht.

Zunächst eine kurze Definition dieser drei Begrifflichkeiten: Kompetenz ist die Bezeichnung für eine bestimmte Fähigkeit. Für Therapeuten ist es erforderlich, beziehungs- und kommunikationsfähig zu sein. Das gehört zu ihren Kernkompetenzen. Beziehungsfähigkeit drückt sich aus im sicheren Umgang mit Nähe und Distanz. Kommunikationskompetenz zeigt sich in der nützlichen Anwendung von Sprache und in der Reflexion nonverbaler Wirkungen.

Potenziale umfassen viel mehr als einzelne Kompetenzen. Hiermit werden die personalen Energien und Kraftfelder einer Person bezeichnet. Das Potenzial ist die emergente Kraft des psychischen Systems Mensch. Wenn man sag: »Er hat das Zeug zum Therapeuten«, dann ist damit mehr gemeint als eine sichere Kommunikationskompetenz. Das Therapeuten-Potenzial umfasst Aspekte wie menschlich oder herzlich sein, Lebenserfahrung verkörpern, Zuversicht ausstrahlen und vieles mehr – kurzum also eine Haltung einzunehmen, die mehr ist als die Summe der spezifischen Fähigkeiten. Ein Gitarrenspieler, der aufgrund seiner erworbenen Fähigkeit fünf Akkorde spielen kann und nun beginnt, verschiedene Songs zu begleiten, ist noch lange kein Musiker. Ein Musiker lebt Musik. Ein Therapeut lebt die Zuversicht in Hinblick auf Entwicklungen, Verbesserungen, Veränderungen und Lösungen, er lebt Humanismus.

Ressourcen stellen eine Art Hintergrunderfahrung oder auch Hintergrundwissen dar. Auf diese kann man zurückgreifen und sich hierdurch von innen bereichern lassen. Frühere Lebenserfahrungen lassen sich gerade durch therapeutisches Arbeiten reaktivieren und für die zukünftigen Absichten nutzen. Um ein guter Therapeut zu sein, muss man nicht aus einer Therapeutenfamilie stammen. Man kann aber das erlebte Lebensgefühl und die wichtigsten Werte seiner Herkunftsfamilie (etwa Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit, Engagement, Leistungsbereitschaft usw.) vielseitig einsetzen und für seine eigenen Projekte weiter entfalten. Als Ressourcen nutzbar sind auch Highlights, Sternstunden, grandiose Erlebnisse aus dem eigenen Leben oder – wie Virginia Satir es nannte – »moments of excellence«. Wichtig ist dabei, den Zugang zu seinen Ressourcen zu kennen. Nicht alle Klienten in ihren spezifischen Problemlagen können einen Zugang zu ihren stärkenden früheren Erfahrungen herstellen. Es ist dann unsere Aufgabe, ihnen dabei zu helfen.

Wir gehen also auf Schatzsuche. Und schon begegnen wir den ersten Kompetenzen des Klienten: Er holt sich therapeutische Hilfe, er ist besorgt um sich und vertraut sich an, er hat Veränderungswünsche, damit es ihm besser geht, er ist bereit, Zeit und Geld zu investieren in sein Veränderungsprojekt. Kurzum: Er lässt seine hilfsbedürftige Seite zu und öffnet sich der Unterstützung von außen. Es ist wichtig, dies immer wieder zu kommunizieren.

Im Laufe der Therapie werden dem Klienten jede Menge Fragen gestellt, die er beantwortet. Damit zeigt er seine Entscheidungsfähigkeit. Er wird gefragt, ob er etwas verändern möchte, ob er Ziele hat, ob er etwas Neues ausprobieren will usw. Das heißt, er übernimmt mit seinen Antworten Verantwortung für seinen Veränderungsprozess, er nimmt sich ernst und wichtig, er kann über sich lachen und zeigt Humor, er bespricht seine Sehnsüchte und nimmt Kontakt mit seinem Bedürfnis nach Anerkennung und Liebe auf. All das gilt es zu erfassen, zu benennen, zu betonen, zu hinterfragen und zu kommentieren. Hierdurch können sich das positive Selbstgefühl des Klienten zunehmend wieder aufbauen und sein Selbstwert wachsen.