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Monika Buschey

Wege zu Brecht

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Monika Buschey

Wege zu Brecht

Wie Katharina Thalbach, Benno Besson,
Sabine Thalbach, Regine Lutz, Manfred Wekwerth,
Käthe Reichel, Egon Monk und Barbara Brecht-Schall
zum Berliner Ensemble fanden

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Dieses Buch entstand mit finanzieller Unterstützung von:

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INHALT

VORWORT

MANFRED WEKWERTH

REGINE LUTZ

KÄTHE REICHEL

EGON MONK

BENNO BESSON

ANNEMARIE SABINE THALBACH

KATHARINA THALBACH

BARBARA BRECHT-SCHALL

Mannichfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehen; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls, erblickt.

(Novalis)

Man kann einen Menschen nicht erfassen; nur nachzeichnen, wie er sich versteckt.

(Maximilian Schell)

Vorwort

WEGE ZU BRECHT

»Herr K. zog die Stadt B. der Stadt A. vor. ›In der Stadt A.‹, sagte er, ›liebt man mich; aber in der Stadt B. war man zu mir freundlich. In der Stadt A. machte man sich mir nützlich; aber in der Stadt B. brauchte man mich. In der Stadt A. bat man mich an den Tisch; aber in der Stadt B. bat man mich in die Küche.‹ «

Bertolt Brecht, der Stückeschreiber aus Augsburg, der so gern am heißen Herd steht, denkt im amerikanischen Exil über eine Rückkehr nach Europa nach, zögert sie aber hinaus. Der große Krieg ist zu Ende, aber noch ist nicht abzusehen, wie die Siegermächte mit den Besiegten verfahren, wie sich die Verhältnisse in Deutschland entwickeln würden. Er findet es klug, erst einmal in die Stadt Z. zu gehen, nach Zürich, um von dort aus die Situation zu erkunden. In Zürich sind außerdem während des Krieges Stücke von ihm aufgeführt worden.

Die Stadt B. ist für ihn Ostberlin. Er will Mitgestalter sein, einer, der gebraucht wird, will die verbliebenen Kräfte am richtigen Ort einsetzen. Zusammen mit Helene Weigel gründet er 1949 das Berliner Ensemble, BE, und sammelt die alten Freunde um sich: Elisabeth Hauptmann, eine seiner engsten Mitarbeiterinnen seit mehr als zwanzig Jahren, Ruth Berlau als Fotografin des Ensembles, die Schauspieler der älteren Generation, Erwin Geschonneck, Ernst Busch, Friedrich Gnaß, Annemarie Hase, Gerhard Bienert. Als Gäste stoßen Therese Giehse, Hans Gaugler, Leonard Steckel dazu.

Zunächst ist das BE zu Gast im Deutschen Theater, wenig später zieht man um ins Theater am Schiffbauerdamm. Ein eigenes Haus also und genau das, in dem der Stückeschreiber und die Seinen bereits in den zwanziger Jahren Triumphe gefeiert haben.

Zu Brechts besonderen Gaben gehört in jedem Lebensalter das Gespür für Menschen und Talente. Das Gefühl dafür, wie man die Begabung anderer aufspürt und in den Dienst der eigenen Sache stellt, wie man sie sich zunutze macht. Er sei einer gewesen, der die Kreativität in anderen geweckt, befördert und ihr Nahrung gegeben habe, sagen die, die von ihm lernen durften.

Noch in Zürich, als sich abzeichnet, dass es von neuem eine Ensemblearbeit geben wird, hat er die Fühler ausgestreckt. Brechts Wohnung wird zum Treffpunkt. Theaterleute und Schriftstellerkollegen – Heimkehrende und Daheimgebliebene begegnen sich in Zürich, gedenken derer, die der Krieg verschlungen hat, fassen vorsichtig und ein bisschen ungläubig die Zukunft ins Auge. Natürlich sind auch junge Leute darunter, die sich für des Stückeschreibers Person und Arbeit interessieren oder die umgekehrt sein Interesse geweckt haben.

Während der Arbeit hat mich Ulla Monk gefragt, ob ich vielleicht einen Generalbass durchklingen höre: ob da etwas sei, das diejenigen besonders charakterisiere, die sich um das Jahr 1949 herum nach Berlin aufgemacht haben, zu Bertolt Brecht. Natürlich ihre Begeisterung fürs Theater, könnte man sagen. Aber das wäre eine zu schnelle Antwort. Und im Nachdenken über die Frage fällt mir erst auf, wie unterschiedlich die Motive waren, die eine Rolle spielten für den Aufbruch der damals jungen Leute. Es sind die Unähnlichkeiten, die hervorstechen. Und doch gibt es etwas, das sie alle verbindet: der Umstand, dass keinem von ihnen ein Künstlerleben in die Wiege gelegt worden war.

Benno Besson wuchs unter Bauernkindern in der französischen Schweiz auf, seine Eltern unterrichteten in der Dorfschule. Regine Lutz als Basler Professorentochter hatte es nicht leicht, ihrer Familie beizubringen, dass sie Schauspielerin werden wollte. Manfred Wekwerth verbrachte seine Kindheit hinter der Theke einer Kneipe in Köthen und nährte von Anfang an zwei Seelen in seiner Brust: Die eine zog ihn zu den Naturwissenschaften, die andere zum Theater. Egon Monk entstammt einer Arbeiterfamilie. Märchen hat er als Kind kennengelernt und das Kino. Dass es so etwas gab wie Theater, erfuhr er erst als junger Erwachsener. Käthe Reichel hat ihr Spielzeug auf der Straße verkauft, um Weihnachtsgeschenke für ihre Mutter kaufen zu können. Als Lehrmädchen hat sie dann ihr Geld für Theaterkarten ausgegeben.

Sabine Thalbach, Tochter eines Kunstmalers, entdeckte die Schauspielerei als Ventil für Lebendigkeit und Lebensfreude. Barbara Brecht-Schall als Einzige wuchs gewissermaßen im Schneideratelier auf: Dennoch hat sie den Faden immer nur für kurze Zeit aufgenommen. Auf die Dauer mochte sie weder schreiben noch spielen. Als Tochter von Helene Weigel und Bertolt Brecht bleibt ihr keine Wahl: Sie ist die Haupterbin, ein Fluch und ein Segen zugleich.

Mit ihnen allen bin ich ins Gespräch gekommen – mit und ohne Mikrofon. Nicht mit Sabine Thalbach. Sie ist in jungen Jahren gestorben. Von ihr haben mir ihre Tochter Katharina und ihre Geschwister erzählt. Manches Interview ist Teil einer Radiosendung geworden, manchen Begegnungen folgten weitere: Es gab ja so viel zu erzählen. Nicht auszuschöpfen ist der Brunnen der Erinnerung. Allen, die mir ihren Weg zu Brecht beschrieben haben, gilt mein Dank.

Monika Buschey

MANFRED WEKWERTH

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Von links: Manfred Wekwerth, Bertolt Brecht, Ernst Busch, Isot Kilian, Paris 1955

Er kam als Regisseur einer Laiengruppe aus der Provinz. Als er ging, war er viele Jahre Intendant des Berliner Ensembles gewesen. Manfred Wekwerth ist in Köthen, in Sachsen-Anhalt aufgewachsen - quasi hinter der Theke einer Kneipe, in der seine Mutter in der Küche arbeitete.

Tatsächlich ein Mensch, der vor Energie birst. Mit immerhin 76 Jahren. Gezwungen still zu sitzen, wippt der Fuß am übergeschlagenen Bein, überschlagen sich die Worte, stockt die Sprache. Nicht, weil etwa ein Wort fehlte, nein: Es drängen so viele Formulierungen heran, dass der Koordinationsassistent im Kopf nicht entscheiden kann, welche er den anderen vorziehen soll. So entsteht ein kleiner Stau. Dann kommt der Satz: elegant und korrekt.

Manfred Wekwerth liebt es, über Brecht zu sprechen. Es ist ihm Pflicht und Lust. Wer soll es tun, wenn nicht er. Eine schönere, eine sinnvollere Aufgabe kann es nicht geben. Sie macht ihn zur Instanz: Er, der Statthalter Brechts auf Erden. Seine biographischen Aufzeichnungen fangen mit der Zeit an, in der er Brecht getroffen hat. Als habe sein Leben erst in dem Moment begonnen.

2006 ist ein Brecht-Jahr – 1956, vor 50 Jahren also, ist der Meister gestorben – und es stürzen sich Fernsehteams von überall her auf die verbliebenen Jünger. Manfred Wekwerth sieht sich seiner Aufgabe gewachsen. Mehr als das, er wächst noch an ihr: Mögen sie kommen, die Kameras und die Mikrofone, er ist gerüstet. Er hat Kopien von ausführlichen Interviews, die er Fachzeitungen gegeben hat, bereitliegen. Falls einer um die richtigen Fragen verlegen sein sollte. Falls einer vergisst, sie zu stellen.

Er führt die Besucher in sein Arbeitszimmer, wo Fotos hängen aus der großen Zeit, Zeichnungen, Karikaturen, eine Maske. Auch ein Porzellanteller von 1914, Brecht hat ihm den verehrt. Ein markiger Spruch steht darauf, ein Soldat mit Bajonett ist zu sehen. Er liebte solche Sachen, sagt Wekwerth. Man müsse Ganghofer kennen, habe er gesagt, damit man Dostojewski zu schätzen wisse.

Seit langem wohnt er mit seiner Frau nicht mehr in Berlin. Nach Grünau hat es sie gezogen – oder sollte man sagen: verschlagen? An den südöstlichen Rand der großen Stadt, Richtung Köpenick. Hier war einmal die Feine-Leute-Ausflugsgegend, heute ist in Grünau der Hund begraben, auch wenn der See im Sonnenlicht schön schimmert. Die guten Restaurants haben dichtgemacht, oder es ist ein Billigmarkt an ihre Stelle getreten. Eine Bürgerinitiative hat sich gebildet, um zu verhindern, dass die Straßenbahnlinie, die um den See herumführt, eingestellt wird.

Beschreibungen der ganz frühen Jahre, betont der Hausherr und ist gleich wieder beim Thema, finde er langweilig und er zitiert Tolstoi: »Vom Jüngling bis zu mir ist es nur ein Schritt, vom Neugeborenen bis zum Jüngling eine schreckliche Entfernung.« Wenn es denn aber sein muss – bitte sehr –, lässt er sich darauf ein. Auch das gehört dazu, und es soll doch nur ja keiner glauben, er könne sich nicht erinnern. Was immer er erzählt, er präsentiert es wie ein Möbelschreiner den fertigen Schrank: Da schließt jede Tür, da klemmt nicht eine Schublade und die Kanten sind sorgfältig abgerundet, dass sich bloß keiner daran stößt. Schon so oft hat er erzählt, was immer gewünscht wurde. Und als guter Schauspieler weiß er, wie man es hinbekommt, dass es frisch klingt und wie gerade erst hervorerinnert.

Fangen wir also hinter dem Tresen an. Dort, wo er als Junge gestanden und auf seine Mutter gewartet hat. Ohne Vater ist er aufgewachsen und Lokomotivführer hat er werden wollen. Das Speiselokal, in dem seine Mutter in der Küche geholfen hat, gehörte seiner Tante Leni. Der Lohn, den die Mutter bezog, war gering, aber es gab zu essen für sie beide. Eine Wohnung gab es auch, es war die der Großmutter, und es musste so hart gespart werden, dass das Wohnzimmer im Winter meistens nur durch den Ofen beleuchtet war: durch das wenige Licht, das das Feuer durch die schmalen Ritzen rund um die Ofentür schickte.

Nicht ohne Stolz erzählt Manfred Wekwerth, er sei mit Bier getauft worden. Er weiß auch die Sorte: »Siechenbräu« – so hieß auch das Lokal seiner Tante –, eine bayerische Biersorte. Es spricht wohl für die Qualität des Restaurants, dass dort bayerisches Bier zu bekommen war, denn Köthen liegt nicht in Bayern. Köthen liegt in Sachsen-Anhalt, und dort ist Manfred Wekwerth am 3. Dezember 1929 geboren.

Sein Vater liebte die Mutter weit weniger als sie ihn. Er war Matrose gewesen und konnte sich seinen vorläufigen Landgang nicht anders vorstellen als mit vielen Frauen. »Wenn das Kind ohne Kopf geboren wird, ist es mir auch egal«, schrieb er seiner Frau kurz vor der Geburt. Da war er schon nicht mehr an dem Ort, wo die Vaterpflichten ihn erwarteten. Der Sohn hat den Vater erst beim Scheidungstermin seiner Eltern zum ersten Mal gesehen: durch einen Türspalt. Die Tür führte in den Gerichtssaal, es war im Jahr 1939.

Mit 20 Mark Unterhalt durfte die Mutter laut Gerichtsbeschluss künftig rechnen. Doch mit Beginn des Krieges ließ der Vater verlauten, er brauche sein Geld nunmehr für »vaterländische Zwecke«. Wie sehr er sie auch demütigte – die Mutter liebte ihn trotzdem, und weil er nicht greifbar war, ergoss sich alle Liebe über den einzigen Sohn. Für ihn lohnte es sich, zu leben und zu arbeiten, seine Entwicklung war ihre einzige Freude.

Er, der Biergetaufte, der sie regelmäßig an ihren Arbeitsplatz in der Kneipe begleiten durfte, macht an diesem Ort erste Erfahrungen, die ihm im späteren Berufsleben zugutekamen. Unter dem milden Blick seiner Mutter – der auf ihm ruhte, sooft sie einen Augenblick Zeit hatte – beobachtete er die Gäste. Menschen sind für einen Schauspieler, einen Regisseur, immer Lehrmeister. Ganz egal, wie sie sich verhalten. Von dem Jungen beobachtet zu werden, irritierte niemanden so leicht und im »Siechenbräu« bemerkte den Kleinen kaum noch einer: Er gehörte dazu, und man vergaß ihn, sobald man am Tisch saß. Der Junge seinerseits vergaß niemanden. Die meisten Gäste waren Stammkunden, man konnte die Studien, die man trieb, also regelmäßig fortsetzen. Auf der Straße erkannte er die Gäste schon von weitem an ihrem Gang. Von der Theke aus nutzte er die Gelegenheit, ihnen beim Essen, beim Reden, beim Rauchen, beim Aufhängen des Mantels, beim Bezahlen zuzusehen. Aus ihren Worten, Gesten und Gewohnheiten setzte er sich eine Figur zusammen: das Lachen, der Gang, der Blick. Manchmal stellte er sich vor, wie es wäre, wenn Figur A die Stimme von Figur B hätte. Oder wie es sich anfühlen würde, wenn C lispelte wie D und D so heftig auftreten würde wie E.

Vorsichtig und ganz für sich allein fing er an, die Gäste nachzuahmen. Die Selbstgefälligkeit, mit der sich der Mann mit der Glatze den Mantel aufknöpfte. Wie er sich in Positur stellte, breitbeinig, als gelte es, etwas Wichtiges zu verkünden. Manfred Wekwerth probte diese Geste regelrecht und wartete dann gespannt auf die Wiederkehr des Glatzköpfigen, damit er noch mal ganz genau hinsehen könnte: Was machte die linke Hand, während die rechte an der Knopfleiste entlangglitt, worauf richtete sich der Blick? Und was mochte der Mann wohl denken, während er sich den Stuhl zurechtrückte?

Auf diese Weise war der Junge immer beschäftigt, immer in einer gewissen Spannung. Hingerissen vom »Jahrmarkt der Realität«, wie er heute sagt. Und natürlich kombinierte er das Beobachtete, formte sich Mosaiksteine daraus, losgelöst von der Person, setzte dem Gang einer Frau mit hohen Hacken ein Lachen auf, das eigentlich gar nicht zu ihr gehörte, sondern einem Wesen, das seiner Phantasie entsprang. Oder er ließ den Mann mit der Glatze versuchsweise so sprechen wie sein Onkel sprach. Doch so viel Spaß er auch hatte an seinem Spiel, er hielt mit seinen darstellerischen Künsten hinter dem Berg. Machte nicht den Clown, verzichtete darauf, sich den Beifall der anderen abzuholen. In frühen Jahren war er zu wenig selbstbewusst, zu scheu, zu ängstlich.

Die Schulzeit holte dann bald ganz andere Eigenschaften aus ihm heraus. So musste seine Mutter der Landesregierung eine Petition einreichen, damit ihr Sohn 1948 zum Abitur zugelassen wurde. Seine Lehrer hielten ihn für »moralisch unreif«. Was war geschehen? Er sei einfach unverschämt gewesen, erzählt Manfred Wekwerth, herausfordernd, demonstrativ faul. Nach dem Krieg, so sieht er es heute, nach der Nazizeit, nach der fortwährenden Unterordnung musste man einfach auf die Pauke hauen. Eine schwierige Zeit, vom Materiellen einmal ganz abgesehen. Die Freiheit, die die Befreier gebracht hatten, erwies sich als schwer genießbar. An die Stelle der aufgeblähten Ideale und ehernen Gesetze von Vaterlandstreue und deutschem Wesen war das Nichts getreten. Und was gestern noch mit Macht unter die Haut gefahren war, das war heute ein hohles Gefühl im Magen und ein weiches in den Knien.

Vergnügungssüchtig sei er gewesen, sagt Wekwerth, wie alle damals. Man war davongekommen, der Krieg war vorbei, man ging tanzen. Weiße Jacken, aus Bettlaken geschneidert, und weite Mäntel aus Decken – das war die Kostümierung, die Jugenduniform von Köthen. Damit hob man sich ab von den Erwachsenen. In überfüllten Schuppen, die ›Sankt Hubertus‹ hießen oder ›Osterköthen‹ – und wo es Amizigaretten das Stück für acht Mark gab –, schwofte man bis in den Morgen. In die Schule zu gehen hatte man danach keine Lust und keine Kraft.

Manfred Wekwerth half sich mit einem Entschuldigungsschreiben seiner Mutter. Sie hatte einmal einen entsprechenden Brief geschrieben, als er krank war. Nun verwendete er den Brief immer wieder. Er klaute ihn aus dem Klassenbuch und änderte das Datum. Lange ging das gut. Dann denunzierte ihn ein Mitschüler, dem er beim Tanzen das Mädchen ausgespannt hatte. Vor dem gesamten Lehrerkollegium musste er sich verantworten.

Was wollen Sie denn mal werden, war die erste Frage.

Theologe, antwortete der Schüler Wekwerth wahrheitsgemäß, denn der Pfarrer der Gemeinde war aus vielen Gründen sein Vorbild.

Mit der zweiten Frage zielten sie direkt aufs Herz: Gehören Sie zu denen, die am Sonntag tanzen waren bis in den Morgen?

Ein Ja hätte zum sofortigen Rausschmiss führen können, eine Lüge wäre leicht zu widerlegen gewesen.

Ich kann mich nicht erinnern, sagte also der Schüler Wekwerth.

Daraufhin wurde er mit dem Bannstrahl der sittlichen Unreife belegt, gegen den seine Mutter erfolgreich ankämpfte.

Eine einzige Grauzone war die Schulzeit dennoch nicht. Sie brachte sogar Gelegenheit, die frühen Talente wieder aufleben zu lassen. Der Deutschlehrer, Doktor Schreyer, hasste den Krieg nicht weniger als einen für seinen Geschmack zu lauten Frieden, der ihm abverlangte, seinen geliebten Kleist eindimensional im Sinne von Völkerverständigung und Weltfrieden interpretieren zu müssen. Also interpretierte er gar nicht, sondern spielte mit der Abiturklasse den »Zerbrochenen Krug«. Wekwerth war der Ruprecht.

Vorher – wir springen ein paar Jahre zurück – galt es noch, der Kriegsmaschinerie zu entgehen, die mit dem Vorangehen der Kampfhandlungen auch die Jüngsten zu erfassen drohte. Wiederum eine echte Herausforderung.

Eine schauspielerische Einlage von großer Durchschlagskraft hat ihn gerettet. Felix Krull, Vorbild aller jungen Männer, die den Gang zu den Waffen verweigern, kannte er nicht. Thomas Mann gehörte ja zu den Geächteten. Manfred Wekwerth holte die Kraft zum großen Nein ganz aus sich selbst. Er ging systematisch vor: Er studierte die Symptome, die ein Magengeschwür verursacht. Es kam die nötige Intuition hinzu und er legte bei den entsprechenden ärztlichen Untersuchungen eine Leistung hin, die seinen Einberufungsbefehl immerhin hinauszuzögern half. Am 8. Mai 1945, so lautete der Beschluss, hätte er einrücken müssen. Bis dahin hatte sich die Sache dann erledigt.

Ja, und dann natürlich Pfarrer Karl Hüllweck. Auf den kommt er gern zu sprechen. Sankt Jakob war seine Kirche. Mit ihm lasen die jungen Leute Kierkegaards »Krankheit zum Tode«, denn der Kirchenmann war ganz auf der Höhe der Zeit und also Existentialist. Zur seelischen Reinigung hatte er ein Stück geschrieben: »Der todesmüde Tod«. Darin verweigert der übersättigte Tod dem lieben Gott den Dienst. Wekwerth spielte einen Aussätzigen. Aufführungsort war die St. Jakobs-Kirche, wo es eine Silbermann-Orgel gab. Vom Orgelklang umrauscht vollzog sich ein erschütterndes Spiel. Nach der Vorstellung gingen Zuschauer und Schauspieler tief bewegt nach Hause.

Einen richtig guten Freund hatte Manfred Wekwerth während der Schulzeit: Gerhard Neumann. Ein schöngeistig interessierter Mensch, der Gedichte auswendig kannte, sogar selber welche schrieb. So sehr sie sich mochten, es gab reichlich Reibungspunkte, weil Wekwerth wesentlich mathematisch-naturwissenschaftlich interessiert war und Neumann ausschließlich an der Kunst. Gegenseitig beschimpften sie sich als Idioten und waren doch fasziniert vom Wesen und vom Interesse des anderen. Außerdem machten sie gemeinsam Front gegen diejenigen unter den Lehrern, denen die Prinzipien von deutscher Ordnung und Sauberkeit über alles gingen. Beide brachten die besten Leistungen, wenn sie gefordert waren. Wekwerth gründete in der Oberstufe einen Kreis für höhere Mathematik. Die wenigen Schüler, die ihm angehörten, beschäftigten sich mit Dingen, die weit über das Wissen der Lehrer hinausgingen.

Nach dem Abitur wollte er Mathematik studieren. Es fehlte ihm das Vokabular, seine Freude am Theaterspielen auf einen Berufswunsch hin zu formulieren. Schauspielerei war nichts, was er für sich als etwas angesehen hätte, das man lebenslang betreiben könnte. Außerdem waren die Naturwissenschaften seine Leidenschaft.

Die Universität Leipzig lehnte ihn ab. Was gebraucht wurde, waren Lehrer. Neulehrer hießen die, die nach dem Rausschmiss der Nazilehrer den Schüler-Laden schmeißen sollten. Die Ausbildung dauerte nicht länger als eine Schwangerschaft: Nach neun Monaten stand man als ›Lehramtsbewerber‹ da, wurde aber sofort eingesetzt.

Und so wie er als Schüler mit den Musen geflirtet und sich dabei der Mathematik gewidmet hatte, so gab er es weiter. Er versuchte nach Kräften seinen Schülern die naturwissenschaftlichen Fächer schmackhaft zu machen und er spielte mit ihnen Theater. Ob seine eigenen Interessen denn nun mehr in die eine oder in die andere Richtung gingen, fragte er sich zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr. Er hatte die beiden Seelen in seiner Brust akzeptieren gelernt, fühlte sich keineswegs zerrissen, sondern genoss es, seine Nase mal hierhin und mal dorthin stecken zu können.

So ergab es sich fast von selbst, dass das, was unter der Regie des Deutschlehrers und des Pfarrers begonnen hatte, sich fortsetzte. Er war Mitglied einer Laienspielgruppe in Köthen. Er war sehr engagiert. Man spielte Hofmannsthal und Goethe, man spielte im Spiegelsaal des Köthener Schlosses, wo schon Bach musiziert hatte.

Brecht kannten die jungen Schauspieler nicht. Wie ihm »Die Gewehre der Frau Carrar« in die Hände gerieten, weiß Wekwerth heute nicht mehr. Jedenfalls war es ein erlesen zerlesenes Manuskript, mit Schreibmaschine auf dünnem Papier geschrieben. Beim Umblättern musste man sehr vorsichtig sein. Das Stück handelte vom Spanischen Bürgerkrieg, und davon hatten die jungen Leute durchaus schon etwas gehört.

Wekwerth fiel sofort auf, dass dieses Stück in Diktion und philosophischem Anspruch etwas Besonderes war. Die Sprache, die Direktheit der Handlung begeisterten ihn. Sofort wurde ihm klar, dass man für die Hauptrolle – Pedro, den Milizionär – einen hochkarätigen Schauspieler bräuchte. Einen, wie die Laientruppe ihn nicht hergab.

Er sprach also einen echten Arbeiter an. Er wusste von ihm, dass er vor 1933 in proletarischen Chören gesungen hatte. Der Coup gelang, wiewohl der junge Mann sein Opfer nur mit Mühe bewegen konnte, überhaupt einmal zu einer Probe zu kommen. Eigentlich lehnte der Neue die Schauspielkunst rigoros ab. Verstellerei war das für ihn. Mit Verachtung las er seinen Rollentext einfach so runter. Mochten die anderen sehen, woran sie mit ihm waren. Er sprach aber doch mit einiger Verve, beseelt vom Geist der Unbefangenheit. Da machte es gar nichts, dass er ab und zu ein »Blödsinn« oder »lächerlich« einflocht. Er überzeugte wider Willen. Die Kollegen applaudierten. Damit war er gewonnen.

Nun läuft die Geschichte auf den Weg zu, der im Erzählen vom eigenen Leben zu den viel beschrittenen gehört: der Weg, der über ein Stück des Stückeschreibers zum Stückeschreiber selbst führte. Die Schauspieler hatten sich kundig gemacht; Bertolt Brecht, so wussten sie, lebte in Berlin. Die Premiere ihrer Aufführung kündigten sie im Lokalblatt von Köthen an: »Die Gewehre der Frau Carrar« von Bertolt Brecht, stand da also, Ort und Stunde, und darunter der Satz: Der Autor ist anwesend. Diese Anzeige, erzählt Wekwerth, schnitten wir aus und schickten sie nach Berlin. Unsere Haltung war klar: Wenn der ein großer Mann ist, wie es heißt, hat er Humor und kommt. Wenn nicht, brechen wir den Stab und sind fertig mit ihm.

Er kam nicht. Hatte aber so viel Humor, der kleinen Truppe einen Bus des Berliner Ensembles zu schicken. Alle mögen einsteigen, sagte der Fahrer, Brecht und Weigel laden ein, das Stück auf der Probebühne des BE in der Luisenstraße zu zeigen. Wir waren gar nicht sehr erstaunt, erzählt Wekwerth. Wir waren von der Großartigkeit unserer Aufführung vollkommen überzeugt. Bescheidenheit lag uns fern. Diese Inszenierung war es wert, vom Autor gesehen zu werden.

Ein unerwartet großes Publikum wartete in Berlin auf die jungen Leute aus der Kleinstadt: Therese Giehse darunter, Wolfgang Langhoff, natürlich Helene Weigel und Brecht selbst. Wenn wir gewusst hätten, sagt Wekwerth, wer unsere Zuschauer waren, es hätte uns der Atem gestockt. Sie wussten es nicht und brachten alles flüssig vor, spielten sogar besonders konzentriert, da sie das spezielle Interesse des Publikums spürten.

Großer Applaus. Blicke, die auf gerührtes Staunen schließen ließen: Dass junge Leute aus der Provinz so etwas zustande brachten! Man schüttelt ihnen die Hände, umarmte sie gar. Er möge sich direkt an Brecht wenden, rief Helene Weigel ihm zu. Gar nicht so leicht, den Stückeschreiber im allgemeinen Gewühl auszumachen. Schließlich fand Brecht ihn. Ihm die Hand hinstreckend, sagte er leise seinen Namen. Und fing gleich mit der Arbeit an. Ihre Vorstellung davon, was spanisch sei, meinte Brecht, sei wohl den Broschüren eines Reisebüros entnommen, weniger dem Studium der Realität. In der Tat, Wekwerth erinnert sich deutlich, die Köthener Truppe hatte Sprachen und Gestus stark mit Temperament aufgeladen: Wie die Spanier so sind, haben wir gedacht.

Noch so manchen Fehler galt es zu korrigieren, und die junge Truppe begann zu begreifen, welche Auszeichnung es war, dass der Stückeschreiber sie ernst nahm, mit ihnen probierte bis tief in die Nacht. Der Hauptdarsteller, Dreher von Beruf, der anfangs unwillig war, gefiel dem Meister so gut, dass er ihn engagierte. Selten noch, sagte Brecht, habe er jemandem so gern zugehört. Wekwerth war leicht geknickt, sah er sich doch als der Urheber des ganzen Unternehmens.

Sie müssen noch viel lernen, sagte Brecht bei der Verabschiedung am nächsten Morgen.

Ich dachte, er würde fortfahren: Und wenn Sie genug gelernt haben, dann kommen Sie wieder. Das aber sagte er nicht. Er sagte: Und wenn Sie bei uns lernen wollen, beim Berliner Ensemble, dann bleiben Sie gleich da.

Ich bin geblieben, sagt Manfred Wekwerth.

So viel also zum Weg des Mathematikers zur Kunst, so viel zum Weg des Laiendarstellers zum Assistenten an einem Theater, das für das, was Theater war, ein völlig neues Fundament schuf. Die Schlusspointe ist gesetzt, der Vorhang könnte fallen. Aber Manfred Wekwerth holt schon wieder Luft.

Wenn man einmal anfängt …

Er erzählt von den Damen des Ensembles, vom Hang zum Glockenrock. Wenn den eine trug, wusste man, sie trägt ihn für ihn.

Für wen? Hat er einmal ungeschickt gefragt, als er noch Novize war.

Na, für i h n. Ach so.

Ein Gespräch unter Männern, eines auf niedrigem, von Frauen so tief verachtetem Niveau, auch das war möglich mit Bert Brecht. In Augsburg, seiner Heimatstadt, habe er zusammen mit seinen Freunden die Mädchen in zwei Kategorien eingeteilt.

Die Klugen und die Dummen?

Wieder so eine Novizenfrage.

Nein: die, die einen ließen, und die, die einen nicht ließen. So war das.

Mit einer gewissen Rührung hat er damals schon die Liebe Brechts zu Regine Lutz beobachtet, der jungen Schweizerin im Ensemble. Bei ihr ist er nie zum Zuge gekommen, erzählt Wekwerth, deshalb war er ständig verliebt in sie. Viele Stücke wurden eigens für sie ausgesucht. Wenn sie sich einem anderen zuwandte, wurde er eifersüchtig.