Märchen von Brüdern und Schwestern
Märchen der Welt
Herausgegeben von Ulrike Krawczyk
FISCHER E-Books
Ulrike Krawczyk, in Bad Cannstadt geboren, studierte Germanistik und Linguistik an der Universität Stuttgart.
In der Reihe ›Märchen der Welt‹ hat sie zudem die ›Märchen von Sonne, Mond und Sternen‹ herausgegeben.
www.fischerverlage.de
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403107-1
Ein Pud = 40 russische Pfund = 40 × 400 Gramm
Werst = russisches Längenmaß, etwa 1 km (1 Werst = 1067 m)
›Die wahren Märchen der Brüder Grimm‹, herausgegeben von Heinz Rölleke, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1989, Bd. 2885
Für meine Kinder
Anja, Eva und Felix
In den Märchen dieses Kapitels sind Geschwisterliebe, gegenseitige Hilfe, Opfermut und Erlösung die stets wiederkehrenden Motive. Kein Weg ist der Schwester zu weit, kein Abenteuer dem Bruder zu gefährlich, wenn es gilt, dem anderen beizustehen und die erlösende Hilfe zu bringen.
Vor langer Zeit lebte einmal ein Zar und eine Zarin mit Namen Swjetossar. Die hatten zwei Söhne und eine Tochter, die schöner war als Sonne, Mond und Sterne und schöner noch, als man es je in einem Märchen erzählen könnte. Ihr seidenes Haar war dicht und wie aus Gold und zu langen Flechten geflochten und hing herab bis zu den Fersen. Obwohl sie in einem Turm lebte, ging dennoch die Kunde von ihrer Schönheit in alle Lande, und die Leute nannten die Zarewna nur Wassilissa mit den goldenen Flechten, die unvergleichlich Schöne.
Zwanzig Jahre lang lebte die Zarentochter abgeschlossen in ihrem Turm, behütet von Zar und Zarin und ihren Ammen und Wärterinnen. Und als die zwanzig Jahre vorübergegangen waren, ließ Zar Swjetossar Boten aussenden in alle Länder, um Zaren, Könige und Fürsten zu einem Feste zu laden, damit sich die schöne Zarewna einen Gemahl erwähle. Der Zar ging selbst in den hohen Turm, um es der schönen Wassilissa anzusagen.
Die Zarentochter freute sich von ganzem Herzen, und sie sprach: »Großmächtiger Vater, hoher Zar, noch nie lief ich über Gras und Blumen, laßt mich mit meinen Ammen und Wärterinnen im Freien lustwandeln.«
Dies gewährte der Zar, und Wassilissa mit den goldenen Flechten stieg hinab in den weiten Schloßhof und spazierte mit ihren Begleiterinnen auf der Blumenwiese. Die schöne Zarewna pflückte sich blaue Blumen und entfernte sich ein wenig von ihren Begleiterinnen, denn ein junges Herz kennt keine Vorsicht. Sie trug keinen Schleier, und unverhüllt war ihre Schönheit. Da brach ein Sturm los, wie ihn selbst die ältesten Leute noch nicht erlebt hatten. Bäume entwurzelten, alles wurde herumgewirbelt und zerbrach. Mit einem Mal ergriff der Sturmwind die schöne Zarewna und trug sie durch die Lüfte davon. Er trug sie über Länder und über Meere, er trug sie über drei Reiche in das vierte Reich, in das Reich des grausamen Drachen. Die Ammen und Wärterinnen schrien und weinten und suchten an allen Orten, doch es war umsonst.
Sie eilten in das Schloß zurück, warfen sich dem Zaren zu Füßen und riefen: »Hoher Zar, unschuldig sind wir an deinem Unglück, wenn wir auch schuldig vor dir erscheinen. Der Sturmwind entführte unser Licht, Wassilissa mit den goldenen Flechten, die unvergleichlich Schöne, und wir wissen nicht wohin. Sprich ein Wort der Gnade, bestrafe uns nicht.«
Der Zar zürnte und war traurig, doch er begnadigte die Ammen.
Am anderen Morgen kamen die Freier ins Schloß, doch der Zar rief: »Der Sturmwind entführte meine Tochter, Wassilissa mit den goldenen Flechten, niemand weiß wohin«, und er erzählte, was geschehen war. Da glaubten die Freier, daß der Zar eine Ausrede gebrauche. Sie stürzten zu dem Turm, doch siehe, der Turm war leer. Der Zar aber beschenkte die hohen Freier reichlich, und ein jeder ritt wieder in sein Land zurück.
Die beiden Zarensöhne, Wassilissas mutige Brüder, sahen die Trauer von Vater und Mutter und baten: »Rüstet uns ein Pferd, großmächtiger Vater, segnet uns, gnädige Mutter. Wir wollen unsere Schwester, Wassilissa mit den goldenen Flechten, suchen.«
»Ach, meine Söhne, Kinder meines Herzens«, sprach der Zar traurig, »wohin wollt ihr denn reiten?«
»Wir werden reiten, wohin der Weg führt, wohin der Vogel fliegt, soweit der Himmel blau ist.« Da ließ der Zar die Pferde für seine Söhne rüsten, die Zarin segnete sie, und sie ritten davon. Sie ritten über Berg und Tal, sie ritten kurze Wege und sie ritten lange Wege, sie ritten ein ganzes Jahr und noch ein zweites und kamen durch drei große Reiche. Endlich schimmerten von fern Berge zwischen sandigen Steppen, das Land des grausamen Drachen.
Die Zarewitsche fragten alle Menschen, die vorübergingen: »Habt ihr nicht Wassilissa mit den goldenen Flechten, die unvergleichlich Schöne, gesehen? Wißt ihr nicht, wo die schöne Zarewna ist?«
Doch die Leute sprachen nur: »Wir haben nichts von ihr gehört, wir haben sie nie gekannt«, und sie gingen rasch weiter. Endlich kamen die Zarewitsche zu einer großen Stadt. Am Tor stand ein lahmer Bettler. Die Zarensöhne gaben ihm ihr Silber und fragten auch ihn: »Hast du nicht Wassilissa mit den goldenen Flechten, die unvergleichlich Schöne, gesehen?«
»Ach, meine Freunde«, sprach der Bettler, »man merkt, daß ihr aus fremdem Lande seid. Unser Herrscher, der grausame Drache, hat bei Strafe verboten, mit Fremden zu reden. Niemand darf davon sprechen, wie der Sturmwind die schöne Zarentochter vorübertrug.«
Da ahnten die Brüder, daß ihre Schwester nahe war. Sie gaben ihren feurigen Rossen die Sporen und ritten zum Schloß des Drachen. Das Schloß war aus purem Gold und stand auf einer silbernen Säule. Das Dach war aus Edelsteinen und die Treppen aus Perlmutter. Wassilissa saß traurig an ihrem goldvergitterten Fenster. Plötzlich schrie sie laut auf vor Freude. Sie hatte die beiden Zarensöhne gesehen und ihre Brüder erkannt. Heimlich sandte sie ihnen einen Boten entgegen und ließ sie in das Schloß führen. Der grausame Drache war nicht zu Hause, und Wassilissa mit den goldenen Flechten fürchtete, daß er die Brüder kommen sähe. Doch kaum waren die beiden eingetreten, da stöhnte die silberne Säule, die perlmutternen Treppen gingen wie Flügel auseinander, und das ganze Schloß drehte sich.
»O weh, der Drache kommt geflogen, versteckt euch, meine Brüder!«
Und schon flog der grausame Drache herbei und pfiff und rief mit lauter Stimme: »Ich spüre einen lebendigen Menschen!« Da kamen die beiden Zarensöhne aus ihrem Versteck hervor.
»Wir sind es, grausamer Drache. Wir sind gekommen, um unsere Schwester, Wassilissa mit den goldenen Flechten, zu erlösen.«
»Tapfere Burschen seid ihr«, schrie der Drache und schlug mit den Flügeln, »und doch habe ich euch schnell bezwungen.« Und er nahm den einen Bruder auf seine Flügel und erschlug damit den anderen. Dann rief er nach den Wächtern und ließ die beiden Toten in die Grube werfen. Wassilissa mit den goldenen Flechten, die unvergleichlich Schöne, weinte bittere Tränen, sie aß nicht und trank nicht und trauerte. Sie weinte und trauerte einen Tag, sie weinte und trauerte zwei Tage und drei Tage. Sie wäre am liebsten gestorben, aber ihrer Schönheit wegen beschloß sie zu leben.
Sie überlegte, wie sie sich selbst von dem Drachen befreien könnte und versuchte es mit kluger Schmeichelei: »Hoher, furchterregender Drache, groß ist deine Kraft! Ist dir kein Gegner gewachsen?«
»Die Zeit meines Gegners ist noch nicht gekommen, mein Täubchen. Es wurde mir geweissagt, mein Gegner würde aus einer Erbse geboren und heiße Iwan aus der Erbse.« Doch dies sagte der Drache nur zum Scherz, er dachte an keinen Gegner. So verläßt sich der Starke oft auf seine Kraft, und doch wird aus Scherz oftmals bitterer Ernst.
Daheim im Reich des Zaren Swjetossar trauerte die Mutter um ihre Kinder. An einem heißen Tag war sie mit ihren Bojarinnen im Garten. Sie war durstig und verlangte zu trinken. Sie schöpfte mit einem goldenen Becher das Wasser der Quelle, die in dem Garten sprudelte, und trank es hastig. Dabei verschluckte sie eine Erbse, und der Zarin wurde sonderbar zumute.
Als die Zeit gekommen war, gebar sie einen Sohn, und sie nannte ihn Iwan aus der Erbse. Der Knabe wuchs nicht nach Jahren, sondern nach Stunden und war mit sieben Jahren ein richtiger Held. Einmal fragte er Vater und Mutter, ob er keine Geschwister gehabt habe. So erzählten sie ihm, daß seine Schwester, Wassilissa mit den goldenen Flechten, vom Sturmwind davongetragen worden sei und daß die beiden Brüder vor Jahren ausgezogen seien, um sie zu suchen. Nie mehr seien sie wiedergekehrt.
»Vater, Mutter, gebt mir euren Segen, laßt mich ausziehen, meine Schwester und meine Brüder zu suchen.«
»Ach, Kind«, riefen die Eltern, »du bist noch so jung und grün. Deine Brüder waren große Helden und kamen um. Dir wird es nicht besser ergehen.«
»Mir wird nichts geschehen«, rief Iwan aus der Erbse, »ich will die Schwester und die Brüder suchen.« Und er bat so lange unter Tränen, bis ihm der Zar das Roß rüstete und die Mutter ihn zur Reise segnete.
Iwan aus der Erbse ritt davon. Er ritt einen Tag und den zweiten Tag, und des Nachts kam er zu einem Hüttchen, das auf Hühnerfüßen stand und sich immerfort drehte. Nach altem Brauch, wie es ihn die Mutter gelehrt hatte, verneigte sich Iwan aus der Erbse und sprach den Spruch:
»Dreh dich mein Hüttchen, dreh dich zu mir,
Mit dem Rücken zum Wald, mit dem Eingang zu mir.«
Und das Hüttchen drehte sich Iwan aus der Erbse zu. Aus dem Fenster sah eine grauhaarige Alte: »Wen hat Gott hierher geführt?«
Iwan aus der Erbse verneigte sich und fragte: »Großmütterchen, sahst du nicht den Sturmwind fliegen? Weißt du nicht, wohin er die schönen Jungfrauen trägt?«
»Ach, wackerer Jüngling«, antwortete die Alte, »auch mich hat der Sturmwind erschreckt. Seit hundertzwanzig Jahren sitze ich in diesem Hüttchen und wage mich nicht vor die Tür, denn er könnte kommen. Aber es ist nicht der Sturmwind, der mich so ängstigt, es ist der grausame Drache.«
»Wie kann ich zu ihm gelangen?« rief Iwan aus der Erbse.
»Bleibe weg, mein Licht, er wird dich verschlingen!«
»Nein, ich will es wagen, er wird mich nicht verschlingen!«
»Vielleicht bist du der Held, der ihm vom Schicksal bestimmt ist. Wenn du den Drachen bezwingst, so nimm auch aus seinem Hort das Wasser der Jugend, denn wer sich damit besprengt, wird wieder jung.«
»Großmütterchen, ich werde dir das Wasser der Jugend bringen.«
»Mein Licht und mein Herz, ich glaube es dir. Reite nun immer geradeaus und folge dem Lauf der Sonne. Übers Jahr wirst du zum Fuchsberg kommen, dort frage weiter nach dem Weg ins Drachenreich.«
»Mein Dank sei bei dir, Großmütterchen«, verabschiedete sich Iwan, und er ritt immer mit dem Lauf der Sonne.
Schnell ist ein Märchen erzählt, doch nicht so schnell die Tat getan!
Er ritt durch drei Reiche, bis er in das Reich des Drachen kam, und dort fragte er alle Menschen, die vorübergingen:
»Habt ihr nicht Wassilissa mit den goldenen Flechten gesehen, die unvergleichlich Schöne? Wißt ihr nicht, wo die schöne Zarewna ist?«
Doch die Leute sprachen nur: »Wir haben nichts von ihr gehört, wir haben sie nie gekannt« und gingen rasch weiter. Endlich kam Iwan aus der Erbse zu einer großen Stadt.
Am Tor stand ein lahmer Bettler, dem gab er all sein Gold und Silber, das er bei sich hatte, und er fragte auch ihn: »Hast du nicht Wassilissa mit den goldenen Flechten, die unvergleichlich Schöne, gesehen? Weißt du nicht, wo die schöne Zarewna ist?«
»Ach, mein Freund«, sprach der Bettler, »man merkt, daß du aus fremdem Lande bist. Unser Herrscher, der grausame Drache, hat bei Strafe verboten, mit Fremden zu reden. Niemand darf davon sprechen, wie der Sturmwind die schöne Zarentochter vorübertrug.« Da wußte Iwan aus der Erbse, daß er seiner Schwester nahe war. Er gab seinem Roß die Sporen und ritt zum Schloß des Drachen. Wassilissa mit den goldenen Flechten schaute aus dem Fenster und sah von ferne den jungen Helden. Sie sandte ihm heimlich einen Boten entgegen, um zu erkunden, aus welchem Lande, von welchem Stamme er sei und ob er nicht von Vater und Mutter gesandt wäre.
Als sie hörte, daß Iwan aus der Erbse, der jüngste Bruder, gekommen war, lief sie ihm tränenüberströmt entgegen und rief: »O weh, fliehe, mein Brüderchen, fliehe! Gleich wird der Drache kommen, und wenn er dich erblickt, tötet er dich.«
»Schwester, das will ich nicht hören, das sollst du nicht sagen. Ich fürchte die Kraft des grausamen Drachen nicht.«
»Bist du es, der aus der Erbse geboren ist?« fragte Wassilissa mit den goldenen Flechten. »Dann kannst du ihn besiegen.«
»Warte nur, Schwester, warte. Doch erst gib mir zu trinken. Weit ritt ich durch die glühende Sonne, weit ritt ich über staubige Wege, ich bin durstig.«
»Brüderchen, was willst du trinken?« fragte Wassilissa.
»Einen Eimer voll süßen Honigmet, Schwester«, verlangte Iwan aus der Erbse. Da ließ Wassilissa mit den goldenen Flechten einen Eimer voll süßen Honigmet bringen. Iwan aus der Erbse trank ihn aus mit einem Zug und bat um einen zweiten. Wassilissa mit den goldenen Flechten staunte und ließ einen weiteren Eimer holen.
»Bruder, jetzt glaube ich, daß du Iwan aus der Erbse bist.«
»Laß mir einen Stuhl bringen, Schwester, damit ich ein wenig ruhen kann.« Wassilissa mit den goldenen Flechten ließ einen kräftigen Stuhl herbeibringen, doch der Stuhl brach unter Iwan zusammen. Man brachte einen zweiten, mit Eisen beschlagen, doch auch dieser zerbarst.
»O Bruder«, rief die Zarewna, »das war der Sitz des Drachen«.
»Dann bin ich kräftiger als er«, lachte der Bruder.
Iwan aus der Erbse ging zum alten weisen Hofschmied und bestellte einen Stab aus Stahl und Eisen, fünfhundert Pud[1] schwer. Der Schmied machte sich mit seinen Gesellen sogleich an die Arbeit und schmiedete das Eisen. Die Hämmer dröhnten, und die Funken flogen. In vierzig Stunden war der Stab geschmiedet und fünfzig Männer schleppten ihn mühsam herbei, doch Iwan aus der Erbse nahm ihn mit einer Hand und warf ihn in die Lüfte. Da flog der Stab mit Donnergetöse in die Wolken und war nicht mehr zu sehen, und alles Volk lief voller Angst davon. Iwan aus der Erbse aber gab den Auftrag, ihm zu melden, wenn der Stab wieder geflogen käme, und ging ruhig ins Schloß zurück. Als drei Stunden vorübergegangen waren, schrie das ganze Volk, daß der Stab geflogen komme. Iwan aus der Erbse sprang auf den Platz hinaus und fing den Stab im Fluge auf. Er selbst beugte sich nicht, doch der Stab in seiner Hand wurde krumm. Er aber nahm den Stab, bog ihn über dem Knie wieder zurecht und kehrte in das Schloß zurück.
Plötzlich ertönte ein furchtbares Donnern und Pfeifen, und der grausame Drache flog herbei. Sein Pferd war schnell wie ein Pfeil, und Flammen schlugen aus seinen Nüstern. Er sah aus wie ein Held, hatte aber den Kopf eines Drachen. Wenn er sonst auf zehn Werst[2] herangeflogen war, begann das Schloß zu schwanken und sich zu drehen, doch heute blieb alles ruhig und bewegte sich nicht von der Stelle. Der Drache stutzte, pfiff und schrie. Sein Sturmpferd schüttelte die schwarze Mähne, schlug mit den großen Flügeln, lärmte und wieherte. »Oho«, brüllte der Drache, »mein Gegner ist da.«
Iwan aus der Erbse trat unter die Tür.
Der Drache schäumte: »Ich nehme dich auf eine Hand und schlage mit der anderen zu, und niemand wird von dir auch nur einen einzigen Knochen finden!«
»Nimm das Maul nicht zu voll«, rief Iwan aus der Erbse und trat ihm mit dem Stab entgegen.
»Verkrieche dich, Erbschen!« höhnte der Drache vom Sturmpferd.
»Komm nur, grausamer Drache«, rief Iwan aus der Erbse und hob den Stab. Der Drache ritt ihm mit Macht entgegen und stieß mit seiner Lanze zu. Doch er stach daneben, und Iwan aus der Erbse sprang zur Seite, ohne zu straucheln.
»Jetzt ist die Reihe an mir«, rief er und schleuderte den Stab gegen den Drachen. Und siehe, der Drache wurde von der Macht des Stabes in tausend und abertausend Stücke gerissen. Der Stab aber drang in die Erde und ging durch zwei Reiche bis in das dritte Reich. Das Volk warf die Mützen in die Höhe und rief Iwan aus der Erbse zum Zaren aus.
Iwan aber wies auf den weisen Schmied, der den Stab geschmiedet hatte, und sprach zu dem versammelten Volke: »Er soll euer Herrscher sein. Gehorcht ihm zum Guten, wie ihr früher dem Drachen zum Bösen gehorcht habt.«
Danach holte Iwan aus der Erbse das Wasser des Lebens und das Wasser des Todes und besprengte damit seine toten Brüder.
Da erwachten die Jünglinge zu neuem Leben und sprachen: »Lang haben wir geschlafen, Gott weiß, was inzwischen geschah.«
»Ach, meine lieben Brüder, ohne mich hättet ihr auf immer geschlafen«, rief Iwan aus der Erbse und drückte sie an sein Herz. Er holte aus dem Drachenhort das Wasser der Jugend, dann rüstete er ein Schiff und nahm seine Schwester Wassilissa mit den goldenen Flechten und seine Brüder mit sich. Sie zogen auf dem Schwanenfluß in die Heimat, durch drei Reiche bis in das vierte Reich.
Iwan aus der Erbse vergaß auch nicht die Alte im Hüttchen und brachte ihr das Wasser der Jugend. Sie wusch sich damit und verwandelte sich und wurde wieder jung. Singend und tanzend ging sie hinter Iwan aus der Erbse her und begleitete ihn auf dem Weg.
Zar Swjetossar und die Zarin waren voller Freude. Sie begrüßten Iwan aus der Erbse mit großen Ehren und sandten Boten in alle Welt, mit der Nachricht, daß Wassilissa mit den goldenen Flechten durch ihren Bruder von dem grausamen Drachen erlöst sei. Die Geschütze donnerten, die Trompeten bliesen und alle Glocken läuteten. Wassilissa fand den Bräutigam ihres Herzens, und auch Iwan aus der Erbse fand eine Braut.
Das war ein Fest! Der Met floß in Strömen, die Großväter der Väter waren auch mit dabei und tranken und schmausten. Der Honigmet floß bis zu uns, er floß über unseren Bart, aber in den Mund gelangte er nicht mehr. Gewiß ist aber, daß Iwan aus der Erbse nach dem Tode des Vaters die Zarenkrone empfing. Er herrschte voll Ruhm, und noch viele Geschlechter feierten seinen Namen.
[Märchen aus Rußland]
Es war einmal eine Frau, die erwartete Besuch und hatte deshalb drei Pasteten gebacken und in den Keller gestellt. Sie hatte aber drei Söhne, die besaßen gar feine Nasen und rochen die Fleischkuchen im Keller und stiegen hinab und aßen sie ganz heimlich miteinander auf. Als nun die Mutter die Pasteten holen wollte, waren alle fort. Da wußte sie gar nicht, wer sie gegessen haben mochte, und war ganz ärgerlich und sprach für sich: »So wollt’ ich doch, daß die Pastetenfresser auf der Stelle zu Raben würden!«
Und sogleich flogen ihre drei Söhne als schwarze Raben in der Stube herum und dann zum Fenster hinaus. Ehe sie aber fortflogen, riefen sie aus der Luft noch ihrer einzigen Schwester zu: »Besuch’ uns auch, liebes Schwesterlein, über’s Jahr in dem Schlosse auf dem gläsernen Berg! Du mußt aber zwei Hühnerfüße mitbringen, um hineinzukommen, und findest du uns nicht zu Hause, so mußt du ein wenig warten.«
Dann schwangen sie sich hoch in die Luft dem gläsernen Berg zu. Ihre Schwester sah ihnen lange nach, bis sie so klein wurden wie Pünktchen und ihr Auge sie zuletzt gar nicht mehr von dem blauen Himmel unterscheiden konnte. Da war sie sehr traurig und ihre Mutter noch viel mehr, weil sie, ohne es zu wissen, ihre eigenen Söhne zu Raben verwünscht hatte.