Märchen von Sonne, Mond und Sternen
Märchen der Welt
Herausgegeben von Ulrike Krawczyck
FISCHER E-Books
Ulrike Krawczyk, in Bad Cannstadt geboren, studierte Germanistik und Linguistik an der Universität Stuttgart.
In der Reihe ›Märchen der Welt‹ hat sie zudem die ›Märchen von Brüdern und Schwestern‹ herausgegeben.
www.fischerverlage.de
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403112-5
Pannekoek, Anton: Die südliche Milchstraße, Annalen der Bosscha-Sterrenwacht, Lombang, Java, 1932.
Für meinen Bruder Peter
und meine Schwester Corinna
Es war einmal ein Königssohn; im südlichen Alpengebiete lag seines Vaters Reich. Da gab es grüne Weiden und schattige Wälder und steile Berge mit schwarzen Felsen. Die Einwohner lebten als Jäger und Hirten und priesen ihre Heimat und schätzten sich glücklich. Nur einer war mit sich und der Welt nicht zufrieden – der Königssohn. Es quälte ihn nämlich ein Wunsch, den ihm niemand erfüllen konnte: er wollte den Mond besuchen. Alle weisen Leute im ganzen Reiche hatte er schon gefragt, was er machen solle, um auf den Mond zu gelangen, aber niemand wußte Rat. Darüber war der Königssohn mißmutig und traurig. Vergeblich suchten ihn seine Gefährten zu zerstreuen und auf andere Gedanken zu bringen. Er sprach und träumte immer nur vom Mond. In der Vollmondzeit wurde er stets ganz trübsinnig; er wandelte vom Abend bis zum Morgen ruhelos auf den Felsen und Wiesen umher und starrte ständig zum Mond empor. Die erfahrensten Ärzte kamen an den Hof, doch vermochte keiner die seltsame Krankheit des Prinzen zu heilen, und sie nahm an Heftigkeit immer mehr zu.
Eines Tages hatte sich der Prinz auf der Jagd von seinen Begleitern getrennt und im Walde verirrt. Als es Abend wurde und die Sonne unterging, befand er sich in einem einsamen, mit blühenden Alpenrosen bewachsenen Hochtal, das auf drei Seiten von schroffen Graten und gewaltigen Felstürmen umsäumt war. Hier beschloß der Königssohn die Nacht zu verbringen, denn er konnte nicht mehr hoffen, noch an diesem Tage seine Jagdgefährten wieder anzutreffen. Er legte sich also auf das Gras zwischen die Alpenrosenbüsche und schaute nachdenklich in die Ferne, zu den roten Wolken am Abendhimmel und zu den verglimmenden Gipfeln der Berge. Weil er aber sehr müde war, so schlief er bald ein. Da hatte er einen merkwürdigen Traum: Er stand auf einer mit seltsamen Blüten übersäten Wiese und sprach mit einem wunderschönen fremden Mädchen, das er nicht kannte und nie gesehen hatte. Ringsum war alles weiß, so weit der Prinz schauen konnte, er aber hielt einige rote Alpenrosen in der Hand und reichte sie der schönen Fremden. Sie nahm die Blumen lächelnd an, fragte ihn, wie es in seinem Heimatland aussehe und erzählte schließlich, daß sie die Tochter des Mondkönigs sei. Bei diesen Worten fühlte der Königssohn eine unbeschreibliche Freude und erwachte.
Mitternacht mußte schon vorbei sein. Der Mond stand hoch, und sein silbernes Licht flutete um die zackigen Felsen des einsamen Hochtales. Der Prinz blickte empor, und seine Freude verwandelte sich in tiefes Weh. Die gewöhnliche Sehnsucht erfaßte ihn, und lange hing er schweigend seinen trüben Gedanken nach. Endlich zog ein Windhauch säuselnd durch die Alpenrosen, da dachte der Königssohn, wie es wäre, wenn er wirklich jener Mondprinzessin begegnete. So fing er denn an, die schönsten Alpenrosen abzupflücken und einen Strauß zusammenzusetzen. Damit war er lange beschäftigt.
Auf einmal schien es ihm, als habe er oben in den Felswänden sprechen gehört. Er horchte, aber es herrschte lautlose Stille, nur in der Ferne rauschte ein Wasserfall. Der Prinz pflückte wieder Blumen, und zum zweiten Mal vernahm er Worte, und diesmal ganz deutlich. Der Schall kam von dem höchsten Felsturm herab, und die Spitze dieses Turmes war in eine dichte, weiße Wolke gehüllt. Dort oben müssen Bergunholde hausen, dachte der Königssohn und faßte den Knauf seines Schwertes. Ohne den Alpenrosenstrauß wegzulegen, schritt er langsam gegen den Turm zu, ging um den Fuß der Wände herum und begann auf der weniger schroffen Rückseite emporzusteigen. Das Sprechen wurde immer deutlicher, doch ließen sich die Worte noch nicht verstehen. Bald geriet der Königssohn in die Wolke hinein, das Mondlicht drang nicht mehr durch, und er tastete sich nur noch vorwärts.
Endlich stieß er an etwas Hartes, da ging eine Tür auf, und der Prinz stand vor einem hellerleuchteten, kleinen Raum, in dem zwei meeralte Männer saßen. Diese fuhren erschreckt hoch. Er jedoch beruhigte sie, indem er sich entschuldigte und sagte, er sei ein Jäger, der sich in der Bergwildnis verirrt habe. Auf diese Worte hin gingen ihm die beiden entgegen, hießen ihn eintreten und waren sehr freundlich mit ihm. Man redete dies und das, und der Prinz fragte die beiden, ob sie Bergesalte seien. Allein die Alten erwiderten, sie seien Mondbewohner, hätten eine große Reise im Weltenraum gemacht und gedächten soeben, in ihre Heimat zurückzukehren. Als der Königssohn das hörte, wurde er ganz blaß vor Erregung und erzählte den beiden, daß er schon seit Jahren den brennenden Wunsch hege, eine Mondreise machen zu können. Die Alten lachten und meinten, wenn er bei ihnen bleiben wolle, hätten sie nichts dagegen, die Reise werde sofort beginnen. Da war nun der Prinz über alle Maßen froh und dankte den guten Alten in den überschwenglichsten Worten.
Inzwischen hatte sich die Wolke von der Felszinne gelöst und begann mit rasch wachsender Geschwindigkeit zum Mond emporzuschweben. Während der langen Reise erzählte der Prinz den zwei Alten allerlei aus dem Reich seines Vaters, und sie hinwieder teilten ihm mit, wie es auf dem Mond aussehe und wie man dort lebe. So meinten sie unter anderem, ein Erdbewohner könnte es nicht lange auf dem Mond aushalten, denn da sei alles weiß, das Flachland und die Berge, die Pflanzen und die Städte – alles erstrahle in silbernem Schein, und ein Erdbewohner müßte mit der Zeit von dem blendenden Schein erblinden. Aber auch ein Mondbewohner seinerseits dürfte nicht lange auf der Erde weilen, denn die dunkle Farbe der Wälder und Felsen mache ihn trübsinnig, und wenn er nicht bald wieder auf den Mond zurückkehren könne, würde er in verzehrender Sehnsucht nach den weißen Gefilden seines Heimatlandes dahinsterben.
Mit solchen Gesprächen und Betrachtungen vertrieben sich die drei Mondreisenden die Zeit. Endlich ließ sich die Wolke, in der sie saßen, auf einem Mondberge nieder und stand still. Der erste Teil der Reise war beendet, es hieß nun zu Fuß weitergehen. Die zwei Alten bedeuteten dem Prinzen, daß sie sich westwärts wenden müßten, und rieten ihm, nach Osten zu wandern, dann werde er bald die Hauptstadt erreichen. Der Prinz nahm also Abschied und ging in östlicher Richtung bergab. Das Land ringsum war weiß, dazu trugen vor allem die kleinen weißen Blumen bei, welche in unabsehbarer Menge die Mondoberfläche bedeckten. Aber auch der Boden zeigte sich weiß, und selbst die sonnendurchglühten Felswände der Berge waren von mattglänzender heller Farbe. Es dauerte nicht lange, so erblickte der Königssohn die Häuser und die Turmspitzen der Hauptstadt. Alle diese Gebäude aber bestanden vom Boden bis zu den Zinnen aus weißem Marmor.
Der Prinz eilte dieser weißen Pracht entgegen, bis er von einem Zaun aufgehalten wurde. Der Zaun war mit großer Kunstfertigkeit aus blinkendem Metall hergestellt, und die Stäbe trugen seltsame Verzierungen. Hinter dem Zaun arbeitete ein Gärtner. Als dieser den Fremden bemerkte, kam er langsam näher, grüßte und erkundigte sich ganz verwundert nach der Herkunft der roten Blüten, welche der Prinz in der Hand hielt; es waren die Alpenrosen, die er nachts gepflückt hatte. Der Prinz erklärte, er komme von der Erde, und die roten Blüten seien dort gewachsen.
Nun erzählte der Gärtner, daß in dem Schloß, welches sich weiter hinten erhob, der Mondkönig und seine Tochter wohnten, die Prinzessin finde großen Gefallen an schönen und seltenen Blumen und werde den Fremden gewiß reichlich belohnen, wenn er ihr den roten Strauß überlassen wolle. Der Prinz lachte und meinte, er schenke seine Alpenrosen mit Freuden der Prinzessin, aber Belohnung verlange er nicht, denn er sei ein Königssohn. Der Gärtner ersuchte den Fremden, in den Garten einzutreten, dann eilte er in das Schloß hinein. Nach einer kleinen Weile kehrte er atemlos wieder zurück und bat den Prinzen, sich mit ihm ins Schloß zu begeben. Der Königssohn folgte seinem Führer durch zahlreiche Vorhallen und Gänge, wobei er staunend die alabasterweißen Wandflächen betrachtete und die blanken Waffen, die daran hingen.
In einem großen, lichterfüllten Saale wurde der Prinz von dem Mondkönig und dessen Tochter empfangen und auf das freundlichste willkommen geheißen. Der Mondkönig war ein sehr alter Mann mit langem, silberhellem Barte; in der Prinzessin aber erkannte der Königssohn jenes wunderschöne Mädchen wieder, welches er nachts im Traume erblickt hatte. Sie nahm die Alpenrosen dankend entgegen, pries ihre herrliche Farbe und fragte den Prinzen, ob es in seiner Heimat viele solche Blumen gebe, was für Leute dort wohnten und wie groß das Reich seines Vaters sei. Erst nach längerem Geplauder trennte man sich, und der Mondkönig sagte zu dem Prinzen, daß er ihn als seinen Gast betrachte.
Der Prinz wohnte nun längere Zeit im Königsschloß, machte weite Wanderungen in die Umgebung und lernte die Mondlandschaft, zu der er so oft sehnsuchtsvoll emporgeschaut hatte, genau kennen. Nach einigen Wochen fragte der Mondkönig bei der Mittagstafel seinen Gast, wie es diesem auf dem Mond gefalle. Der Prinz erwiderte, die weißleuchtende Mondlandschaft sei die schönste, welche er je gesehen habe, aber ihr ungewohnter Glanz greife seine Augen an, und er fürchte zu erblinden, wenn er nicht bald wieder in seine Heimat zurückkehre. Da warf die Prinzessin ein, sie könne die Befürchtungen des Erdenprinzen nicht teilen, denn mit der Zeit werde er sich wohl an den Glanz der Mondlandschaft gewöhnen. Aber ein alter Hofgelehrter erlaubte sich’s, der Prinzessin zu widersprechen, indem er bemerkte, es sei für einen Erdbewohner wirklich nicht ratsam, allzulange auf dem Monde zu verweilen.
Als der Königssohn sich dazumal auf der Jagd verirrt hatte, suchten ihn seine Begleiter allerorten, in den finsteren Wäldern und auf den unwegsamen Felsen, vermochten ihn jedoch trotz tagelanger Bemühungen nicht aufzufinden. Es blieb ihnen also nichts übrig, als ins königliche Schloß zurückzukehren und zu berichten, was geschehen war. Der alte König aber schickte sie fort und erklärte ihnen, sie dürften ihm ohne seinen Sohn nicht mehr vor die Augen kommen. Gleichzeitig ward im ganzen Reiche bekanntgemacht, daß jeder, der irgend etwas über den Verbleib des Prinzen angeben könne, eine hohe Belohnung zu erwarten habe. Allein es half nichts: Niemand wußte etwas, und der Prinz blieb nach wie vor verschollen. Schon glaubte man allgemein, er müsse zur Nachtzeit im Gebirge den Tod gefunden haben, als plötzlich die Kunde durch das Land eilte, der Prinz sei wieder zurückgekommen und habe die Tochter des Mondkönigs als Gemahlin heimgeführt.
Da freuten sich die Leute und zogen in hellen Scharen zum Königsschloß, um die Prinzessin zu Gesicht zu bekommen, denn sie konnten sich nicht vorstellen, wie so eine Mondbewohnerin aussehen möge. Sie unterschied sich aber nur dadurch von den irdischen Frauen, daß ein lichter Glanz von ihr auszugehen schien und daß auf der Wiese jeder Baumschatten verschwand, sobald sie ihn betrat. Sehr erstaunt waren die Leute über die weiße Blume, welche auf dem Mond überall wächst und welche die Prinzessin mitgebracht hatte. Diese Blume verbreitete sich im Laufe der Zeit über die ganzen Alpen, und noch heute grüßen ihre hellen Sterne von den Felswänden der Hochgipfel; man gab dieser Blume den Namen Edelweiß.
Die Prinzessin hingegen äußerte sich entzückt über die farbenreichen Wiesen und Weidegefilde der Alpen und wurde nicht müde, die bunten Blütenkelche und das grüne Gras zu bewundern. Gefallen fand sie auch an den blauen Bergseen, und immer wieder pries sie die Mannigfaltigkeit der Erdoberfläche im Vergleich zu der einförmigen Mondlandschaft, wo alles weiß in weiß spiele. Den Prinzen überkam eine stolze Befriedigung, als er sah, daß sich die Mondtochter in seinem Heimatland so wohl fühlte, und es machte ihm besonderes Vergnügen, sie in allen Tälern des Reiches herumzuführen und ihr die verschiedenen Besonderheiten und Schönheiten der Gegend zu zeigen. Die beiden waren dabei froh und meinten, daß es auch so bleiben würde.
Als aber der Königssohn eines Abends spät von der Jagd heimkehrte, da gewahrte er seine Gemahlin, wie sie auf dem Söller stand und traumverloren zur Mondsichel emporblickte. Dies kam ihm seltsam vor. Er kam leise näher, überraschte die Träumerin und fragte, warum sie so gedankenvoll den Mond betrachte. Sie lächelte verlegen und schwieg, aber auf weiteres Befragen gestand sie, daß sie seit einiger Zeit eine tiefe Sehnsucht nach den weißen Mondgefilden empfinde. Die Wiesen und Talgründe der Alpen seien zwar sehr schön, aber das Gewirre von finsteren Berggipfeln, die sich gleich den schwarzen Fäusten riesenhafter Unholde drohend gegen den Himmel reckten, gebe der Landschaft einen düsteren Abschluß, und dieser Anblick laste mit der Zeit wie ein schwerer Kummer auf der Seele.
Der Prinz erschrak, als er diese Klage hörte, denn augenblicklich mußte er daran denken, was ihm jene zwei Alten gesagt hatten, mit denen er zum Monde aufgefahren war, daß nämlich ein Mondbewohner auf der Erde bald die weiße Pracht seiner Heimat vermissen und, von Lichtsehnsucht ergriffen, dahinsterben würde. Vorderhand war nun freilich zu ernster Besorgnis kein Anlaß, und der Prinz hoffte, er könne seine Gemahlin durch Zerstreuung und Lustbarkeit von ihrem gefährlichen Heimweh befreien; aber er täuschte sich, denn der Zustand wurde nach und nach bedenklich. Genauso, wie es der Prinz vor seiner Mondreise getan hatte, starrte sie jetzt stundenlang den Mond an, und sie wurde endlich so blaß und schwach, daß man um ihr Leben fürchten mußte. Immer aber jammerte sie über die schwarzen Felshäupter, die so unheimlich herunterdrohten, als ob sie die Täler verfinstern wollten. Und wie dem Prinzen damals niemand hatte helfen können, so wußte auch jetzt für seine Gemahlin niemand Rat und Rettung. Das Leiden der Prinzessin wurde inzwischen zusehends schwerer, und der Ausspruch jener zwei alten Mondbewohner schien sich furchtbar zu bewahrheiten. Der Prinz war verzweifelt, seine Umgebung ratlos.
Als der Mondkönig erfuhr, daß seine Tochter in Lebensgefahr schwebe, da verließ er den Mond und begab sich auf die Erde, um seinen Schwiegersohn zu besuchen. Dieser erzählte ihm von dem schrecklichen Heimweh der Prinzessin, das mehr und mehr gewachsen sei und sie nun zu töten drohe. Da erklärte der Mondkönig, er lasse seine Tochter nicht sterben und werde sie deshalb wieder auf den Mond zurückführen, wenn der Prinz mitkommen wolle, so sei er herzlich eingeladen.
Nun bestürmte man den Prinzen von allen Seiten mit der Bitte, er möge an das Reich denken, über welches er zu herrschen bestimmt sei, er solle in den heimatlichen Bergen bleiben und auf seine Gemahlin verzichten. Man pries die große Zukunft, die er vor sich habe, man riet ihm, eine Reise in den schönen Süden zu unternehmen – allein, der Prinz hörte auf keine dieser Reden, sondern ging mit seinem Schwiegervater und seiner todkranken Gemahlin auf den Mond.
Hier erholte sich diese überaus schnell, doch ehe sie vollkommen genesen war, erkannte der Prinz mit Schrecken, daß er von Tag zu Tag weniger sah und daß er binnen kurzem erblinden würde. Da riet ihm der alte Mondkönig selbst, den Mond zu verlassen, bevor es zu spät sei. Der Prinz sträubte sich, als aber die Gefahr immer dringender wurde, riß er sich endlich los und kehrte tieftraurig auf die Erde zurück.
Nun überfiel ihn seine Mondsehnsucht heftiger denn je. Zur Vollmondzeit war er überhaupt nicht mehr im Schloß zu sehen, sondern irrte ruhelos auf den Bergen umher. Tagsüber schlief er in Felshöhlen und unter Bäumen, nachts bestieg er hochragende Spitzen und schaute unverwandt zum Monde hinauf; wenn dann Neumond eintrat, und der Prinz wieder zurückkam, da war er kaum mehr zu erkennen. Endlich verdroß es ihn ganz, unter Menschen zu gehen; er stieg nicht mehr in die Täler hinab und verwilderte vollständig. Unaufhaltsam durchquerte er die großen Wälder und Felseinöden des Reiches, besuchte jedes Tal und klomm auf jeden Gipfel, aber nirgends fand er Trost und Frieden.
Wochen waren schon vergangen, seitdem der Königssohn zum letztenmal einen Menschen gesehen und zum letztenmal ein Wort gesprochen hatte. Da wurde er gegen Abend in einem geröllübersäten Talschluß von einem Gewitter überrascht und mußte in eine Höhle flüchten. In dieser traf er einen seltsamen kleinen Mann, kaum drei Schuh hoch, aber mit langem Bart und ernstem Gesicht und einer goldenen Krone auf dem Haupt. Der Prinz sprach das Männchen an und erkannte bald, daß er einen Leidensgefährten gefunden hatte, denn was der kleine Mann mit der goldenen Krone von seinem Schicksal erzählte, das klang gar hart und traurig. Der kleine Mann war nämlich der König der Salwáns, eines zwergenhaften Waldvolkes. Seit unvordenklichen Zeiten bewohnten diese ein schönes Reich im fernen Osten. Als das Reich seine große Blüte erreicht hatte und so viel Einwohner zählte wie eine große Waldung Blätter, da machte fremdes Kriegsvolk einen feindlichen Einfall, verwüstete alles mit Feuer und Schwert und tötete in langen Kämpfen so viele von den Salwáns, daß die Überlebenden endlich aus ihrem Heimatlande flüchten mußten. Nun zog der König mit dem Reste seines Volkes von einem Nachbarreich ins andere und bat, man möge ihm einen Berg oder einen Sumpf oder sonst irgendein Stück Land überlassen, damit seine Leute sich darauf ansiedeln könnten. Aber kein Fürst wollte davon etwas hören, überall wurden die Salwáns mit Hohn hinausgewiesen. Endlich hatten sie in einem entfernten Lande Unterkommen gefunden, mußten sich aber zu so schweren Arbeiten verpflichten, daß viele dabei starben und andere flüchteten, um das Elend ihrer Brüder nicht länger mit ansehen zu müssen, so auch der König. Nachdem er das erzählt hatte, seufzte der kleine Mann und meinte, es gebe wohl kein unglücklicheres Geschöpf als einen Fürsten, dessen ganzes Volk zugrunde gehe und der nichts dagegen tun könne.
Auch der Prinz erkannte teilnehmend an, daß ein hartes Geschick den Zwergenkönig betroffen habe, bemerkte jedoch, sein eigenes Los sei nicht minder grausam, und trug seine Leidensgeschichte vor. Anfangs hörte der Zwergenkönig mit trübem Blick zu, aber allmählich erhellte sich sein Gesicht, zuletzt lächelte er ganz vergnügt, und als der Prinz, dem dies entgangen war, geendigt hatte, da sprang der kleine Mann auf, schlug die Hände zusammen und rief in jubelndem Ton: »Prinz, freue dich, jetzt sind wir beide gerettet!« Ob dieses unerwarteten Ausrufs sah der Prinz den Kleinen beinahe erschrocken an und dachte nichts anderes, als daß dieser den Verstand verloren habe. Allein, der Zwergenkönig hatte nicht ohne Grund gesprochen und begann nun, seine Absicht klar und deutlich auseinanderzusetzen. Er meinte, die Prinzessin habe nur deshalb in ihre Heimat zurückkehren müssen, weil ein lichtgewohntes Mondkind den Anblick schwarzer Felsen auf die Dauer nicht ertragen könne. Wenn die Berge des Alpenreiches dieselbe helle Farbe trügen wie jene auf dem Mond, so wäre die Prinzessin nimmermehr von Heimweh befallen worden. Nun seien aber die kleinen Salwáns findige und geschickte Leute, und sie wollten sich gerne verpflichten, unzählige dunkle Hochgipfel von oben bis unten mit dem Weiß der Mondlandschaft zu bekleiden, falls sie vom Könige dieses Alpenreiches die Erlaubnis erhielten, dort für alle Zeiten unbehelligt wohnen zu dürfen. Auf solche Weise könne beiden geholfen werden, dem Prinzen und dem Volk der Zwerge.
Bald staunend, bald ungläubig hatte der Prinz dieser verheißungsvollen Rede gelauscht, und nun bemerkte er, es würde ihm wohl nicht schwerfallen, den Salwáns die Erlaubnis zum Aufenthalt im Reiche zu erwirken, allein er begreife nicht, wie diese es anfangen wollten, eine dunkle Bergwand weiß zu machen. Da lächelte der Zwergenkönig und meinte, der Prinz möge deswegen beruhigt sein, denn die Zwerge hätten schon Schwereres zustande gebracht. Nun zauderte der Prinz nicht länger und forderte den kleinen Mann auf, sich mit ihm zu Hofe zu begeben. Der Salwán war es zufrieden, und weil auch das Unwetter nachgelassen hatte, so verließen sie unverweilt die Höhle und machten sich gemeinsam auf den Weg. Zwei Tage lang mußten sie durch menschenleere Einöden wandern, bis sie endlich ins Haupttal kamen und das Schloß erreichten.
Der alte König zeigte sich sehr erfreut über die Rückkehr seines Sohnes, allein die Wünsche, welche dieser und sein Begleiter vorbrachten, muteten den Herrscher seltsam an. Das Aussehen der Felsgipfel hielt er für belanglos, doch glaubte er die Einwanderung eines fremden Volkes nicht gestatten zu dürfen. Erst als der Fürst der Salwáns erklärte, sie würden niemals auf die üppigen Talgründe und Wiesen und Äcker Anspruch erheben, sondern sich mit dem Aufenthalt in den Wäldern und Felswildnissen begnügen, da gaben der Alpenkönig und seine Räte ihre Zustimmung. Das Übereinkommen wurde verbrieft, und beide Teile schworen, es getreulich einzuhalten.
Frohlockend reiste der Zwergenkönig unverzüglich wieder ab, um sein schwergeprüftes Volk aufzusuchen und ihm die gute Nachricht zu überbringen. Einige Tage später sah man die kleinen Leute in langen Zügen die Reichsgrenzen überschreiten und sich den Hochbergen zuwenden. Nachdem sie im Geklüfte, hinter Wasserfällen und unter Überhängen ihre Behausungen gewählt hatten, ließ der Zwergenkönig dem Prinzen mitteilen, daß die Salwáns am nächsten Abend mit ihrer Arbeit beginnen würden. Der Prinz, welcher seine erwartungsvolle Ungeduld kaum zu meistern vermochte, wurde gleichwohl von Zweifeln geplagt, denn es schien ihm unmöglich, daß die Zwerge ihre Aufgabe lösen könnten.
Er begab sich auf einen der höchsten Berggipfel und wartete den Abend ab. Kaum war der Mond aufgegangen, so erschienen sieben Salwáns, die sich in einem Kreise aufstellten und anfingen, allerhand seltsame haschende Griffe zu tun, die kleinen Hände fuhren durcheinander wie die Wellen eines Sturzbaches. Staunend gewahrte der Prinz dieses Treiben, und endlich fragte er die Männchen, was sie damit bezweckten. Darauf erwiderten sie, daß sie im Begriffe seien, das Mondlicht zu spinnen. Und richtig: nach einiger Zeit wurde im Mittelpunkt des Kreises ein Knäuel sichtbar, das einen milden, aber andauernden Glanz ausstrahlte. Emsig arbeiteten die Zwerge; das Knäuel wuchs und wurde zu einem großen Bündel. Unverwandt schaute der Prinz den sieben fleißigen Leutchen zu, während Stunde um Stunde verrann. Von ungefähr richtete er endlich seinen Blick auch in die Ferne, und siehe da, auf jeder Hochzinne des Reiches erglühte ein heller Punkt, überall standen Zwerge und hatten Licht gesponnen. Mit tiefer Verwunderung betrachtete der Prinz dieses herrliche Bild. Es schien, als seien die Sterne auf die dunkle Gipfelflur herabgefallen. Schon waren die Täler ganz schwarz geworden, und der Mond beschien nur noch die ragenden Spitzen, dann versank er weit drüben hinter langen, welligen Graten. Die Salwáns aber rasteten nicht, sondern begannen unverweilt mit einer weiteren Arbeit: sie zupften ihre Lichtbündel auseinander und zogen die glänzenden Fäden vom Gipfel über die Abhänge herunter. Dann gingen sie um den Berg herum und hüllten ihn allmählich in ein Lichtnetz ein, und als jede Kante und Spitze übersponnen war, wurden die Maschen enger gezogen, bis endlich alle dunklen Flächen verschwanden und das ganze Gelände gleichmäßig einen matten Schimmer ausstrahlte.
Am nächsten Morgen wollte in den Tälern unten niemand seinen Augen trauen, denn die ringsum aufragenden, ehedem so finsteren Hochzinnen sahen jetzt ganz bleich aus. Ihre helle Farbe stand in seltsamem Gegensatze zu dem schwarz gebliebenen Berggewirre jenseits der Landesgrenzen. Während einer einzigen Nacht hatten die Zwerge sämtliche Felsgipfel des Reiches mit dem Weiß der Mondlandschaft überzogen.
Als der Prinz hochzufrieden im Schloß eintraf, wurde ihm ein Bote vorgeführt, welcher eine traurige Nachricht zu überbringen hatte. Der Mondkönig ließ dem Prinzen mitteilen, daß die Prinzessin lebensgefährlich erkrankt sei und den Wunsch ausgedrückt habe, noch einmal ihren Gemahl zu sehen. Der Prinz entgegnete kein Wort, als der Bote aber abreiste, war der Prinz sein Begleiter. Kaum auf dem Mond angekommen, eilten sie dem schimmernden königlichen Schloß zu. Im Vorsaal sagte man dem Prinzen, daß seine Gemahlin dem Tode nahe sei. Er stürzte zu ihr hinein und rief ihr zu, sie dürfe nicht sterben – jetzt, wo alles Leid ein Ende habe. Die Felsengipfel seines Reiches glänzten wie die Mondberge, sie müsse wieder mit ihm auf die Erde kommen. Er habe eine weiße Welt für sie vorbereitet, wo sie sich nie mehr in Lichtsehnsucht verzehren werde, denn jede seiner heimatlichen Hochzinnen sei zu einer steinernen Flamme geworden, die leuchtend in die Wolken lodre.