Märchen der Provence
Märchen der Welt
Herausgegeben von Marlies Hörger
FISCHER E-Books
Marlies Hörger, 1956 in Ulm geboren, studierte an der Pädagogischen Hochschule in Esslingen, später Studium der Sonderpädagogik.
www.fischerverlage.de
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403125-5
siehe ›Märchen von Drachen‹, herausgegeben von Sigrid Früh, Fischer Taschenbuch, Band 2875
siehe das Nachwort in ›Märchen von Ketzern‹, herausgegeben von Marlies Hörger, Fischer Taschenbuch, Band 10 657
Vor langer Zeit lebte einmal ein junges Mädchen, das Isabeau hieß. Isabeau war sehr unglücklich, denn ihre Mutter war gestorben, und ihr Vater hatte sich wieder verheiratet mit einer Frau namens Séraphine. Diese aber war alt und bösartig, so bösartig, daß die Bewohner sich abwandten, um sie nicht anschauen zu müssen. Die arme Isabeau hatte sehr unter der Boshaftigkeit ihrer Stiefmutter zu leiden. Als ihre Mutter noch lebte, hatte Isabeau sich mit Pierre, einem braven Burschen, verlobt. Pierre war stark und kühn, und er war tüchtig bei der Arbeit und war schon beim ersten Hahnenschrei auf den Beinen. Um ihre Stieftochter zu quälen, verbot die böse Séraphine Pierre, das Haus zu betreten.
Isabeau und Pierre aber hatten einander sehr lieb. Und sie beschlossen, sich trotzdem nach dem abendlichen Angelusläuten hinter der Gartenhecke zu treffen. Doch kaum hatten sie sich umarmt, so sahen sie die böse Séraphine mit einem Stock herbeieilen. Pierre und Isabeau flohen eilends hinweg, aber die böse Stiefmutter erreichte die arme Isabeau und schlug sie ohne Erbarmen. Isabeau fürchtete, von Séraphine noch grausamer geschlagen zu werden, wenn sie nach Hause zurückkehrte, und so wanderte sie immer geradeaus.
Lange wanderte sie, ohne zu schauen, wohin sie ging, und als sie endlich aufschaute, befand sie sich mitten auf einer weiten großen Wiese. Vor Müdigkeit erschöpft, ließ sich Isabeau am Fuße eines Felsblocks nieder, und wieder flossen ihre Tränen, und unterm Weinen schlief sie ein.
Als sie erwachte, stand der Mond hoch am Himmel. Die Sterne funkelten, und Isabeau fürchtete sich, so allein in dieser öden kahlen Ebene. Sie hörte den Schrei einer Eule, des Unglücksvogels, und sie zitterte vor Angst. Sie bebte, als sie Sterne über den Himmel hinwegfliegen sah, denn in ihrem Dorf sagte man, daß die Sternschnuppen die Seelen der Toten wären, die in eine andere Welt gehen.
Da hörte sie in der Stille der Nacht von ferne eine Uhr Mitternacht schlagen. Als der letzte Schlag verklungen war, sah sie die Heide plötzlich zittern und sich bewegen. Zuerst erblickten ihre Augen ein kleines Wesen, nicht größer als ein Kind, welches unter einem Stein hervorschlüpfte. Es hatte einen dicken Kopf und einen langen weißen Bart, der bis zum Boden reichte. Gleich darauf sah sie eine kleine alte Frau. Dann kroch unter jedem Stein, unter jedem Heidekraut ein kleines ähnliches Wesen hervor. Es waren unzählige, so viele, wie Hirsekörner auf einen Scheffel gehen, und alle liefen durcheinander. Auf einmal begannen sie zu tanzen und zu singen:
»Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen!«
Isabeau wollte fliehen. Aber eines der kleinen Wesen nahm sie bei der Hand und sagte: »Hier ist Isabeau, ein Menschenkind. Sie soll mit uns tanzen und singen!«
»Tanze mit uns, tanze mit uns!« riefen alle im Chor.
»Wie soll ich denn mit euch tanzen?« sprach das arme Mädchen. »Ihr singt ja immer dasselbe.«
»Kannst du uns nicht helfen, Isabeau? Wir sind arme Seelen und sind dazu verdammt, von Mitternacht bis zum ersten Strahl der Sonne zu tanzen und zu singen, und das soll so lange geschehen, bis wir unseren Lobgesang zum Preise des Herrn vollendet haben. Schon hundert Jahre tanzen und singen wir also, und wir haben erst das gefunden, was du soeben gehört. Deshalb hilf uns, Isabeau, damit du unsere Leiden beendest!«
Und alle armen Seelen begannen mit flehender Stimme zu rufen: »Hilf uns, Isabeau, hilf uns, hilf uns!«
Isabeau dachte einen Augenblick nach, dann nahm sie eine der armen Seelen und sang:
»Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen
loben Gott den Herrn, loben Gott den Herrn!«
Die kleinen Wesen freuten sich über alle Maßen. Sie fingen in unbändiger Freude wieder an zu tanzen und sangen, was Isabeau sie soeben gelehrt hatte. Sie tanzten und sangen bis zum Morgengrauen. Isabeau wollte vor Müdigkeit umsinken, doch die armen Seelen baten immerfort: »Singe weiter, singe weiter, Isabeau!«
»Heute nicht«, antwortete sie, »doch ehe der Hahn viermal gekräht hat, werde ich wiederkommen.«
Da sprach die Seele, welche die älteste war: »Du hast uns einen Dienst erwiesen, und wir werden dir nun danken. Sprich eine Bitte aus, und wir werden sie dir gewähren, was immer es auch sein mag.«
»Ach, meine Stiefmutter will nicht, daß ich mich mit meinem Liebsten treffe, helft mir doch, daß sie sich entfernen muß, wenn ich bei ihm bin.«
»Nimm diesen Ring. Und immer, wenn du ihn an den Finger streifst, wird deine Stiefmutter gezwungen sein, in den Garten zu gehen und ihren Kohl zu zählen. Und sie muß ihn so lange zählen, wie du willst.«
Isabeau nahm den Ring mit Dank, und sie kehrte zu ihrem Vater zurück. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie nach Hause kam. Da begegnete sie Pierre, der, in der Hoffnung, sie zu sehen, in der Nähe des Hofes auf sie wartete. Doch als die böse Séraphine ihrer gewahr wurde, lief sie mit einem Stock herbei, um sie zu prügeln. Doch Isabeau streifte ihren Ring über, und sogleich ließ die Stiefmutter den Stock fallen, und sie wandte sich mit eiligen Schritten nach dem Garten, um ihren Kohl zu zählen. Vom Garten ging sie auf den Acker, und sie zählte und zählte, und als sie fertig war, fing sie wieder von vorne an. Als sie nach Hause kam, war sie so müde, daß sie Isabeau ganz vergessen hatte. Am nächsten Tag kam Pierre wieder, um seine Verlobte zu besuchen. Isabeau wollte, daß ihr Liebster länger bei ihr bleiben solle. Doch Pierres Charakter war so wankelmütig wie eine Wetterfahne.
Am dritten Tag sprach er zu Isabeau: »Du brauchst deine Stiefmutter nicht mehr zum Kohlzählen zu schicken. Ich mag nicht mehr kommen. Ich gehe heute mit Miette auf den Ball. Sie hat nicht so rote Augen vom Weinen wie du und ist viel hübscher. Adieu, Isabeau.«
Das arme Mädchen weinte und grämte sich sehr.
»Ach, durch diesen Ring habe ich nun meinen Liebsten, Pierre, verloren. Heute abend werde ich ihn den armen Seelen zurückgeben.«
Als es Abend wurde, begab sie sich von neuem auf die Heide. Lange, lange Zeit wanderte sie in der tiefsten Finsternis. Ihr Herz pochte wie sieben Schmiedehämmer, und beim geringsten Geräusch zitterte sie wie Espenlaub. Als sie zu der Stelle kam, an welcher sie vor drei Tagen eingeschlafen war, schlug es wieder Mitternacht. Und alsbald sah sie wieder die armen Seelen, welche sie umringten mit dem Ruf: »Oh, hier ist Isabeau, hier ist Isabeau! Sie wird mit uns tanzen und singen!«
Sie faßten sie bei der Hand und zogen sie in ihren Reigen, indem sie wie das vorige Mal sangen:
»Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen
loben Gott den Herrn, loben Gott den Herrn.«
»Euer Gesang ist noch nicht vollendet«, sprach Isabeau.
»Fahre weiter fort, fahre weiter fort, Isabeau!«
Da sang Isabeau:
»Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen
loben Gott den Herrn, loben Gott den Herrn,
der die Welt erlösen wird.«
Und wieder waren die armen Seelen über alle Maßen froh, und sie begannen, begeistert zu singen und zu tanzen, bis der Morgen dämmerte. Beim ersten Strahl der Morgenröte hörten die armen Seelen zu tanzen auf, und wieder trat die Älteste zu Isabeau und sprach: »Isabeau, du hast uns große Dienste geleistet, bitte uns um was du willst, und dein Wunsch wird dir erfüllt.«
»Ich gebe euch euren Ring zurück, er hat mich unglücklich gemacht, und ich habe durch ihn meinen Verlobten verloren. Er zieht mir ein anderes Mädchen vor, das er hübscher findet als mich. Ich möchte schön sein, schön wie der lichte Tag, damit mich Pierre auf immer liebe.«
Da nahm die alte Seele ein Halsband von ihrem Hals und legte es Isabeau um mit den Worten: »Gehe, kein Menschenkind kann sich mit dir vergleichen. Du bist jetzt schöner als der lichte Tag. Aber vielleicht wirst du uns vergessen in deinem Glück. Und ohne dich können wir niemals unseren Lobgesang vollenden. Komm wieder zu uns, Isabeau, komm wieder zu uns, wir bitten dich!«
»Was auch kommen mag, ehe der Hahn viermal gekräht hat, kehre ich wieder.«
Isabeau machte sich wieder auf den Weg nach Hause, doch sie verirrte sich und kam an einem Bauernhof vorüber, auf welchem man gerade das Korn drosch. Sie bat die Drescher, ihr doch den Weg zu ihrem Dorf zu weisen. Doch kaum hatten die Drescher Isabeau bemerkt, als sie ihre Arbeit im Stich ließen und ihre Flegel zur Erde warfen.
»Oh, seht doch, seht doch, wie schön sie ist, wie schön sie ist! Sie ist schöner als der lichte Tag, sie ist schöner als die Sonne am Himmel!«
Alle umringten sie und boten ihre Hilfe an, sie zu ihrem Vater zurückzubringen. Der eine schlug seinen Wagen vor, der andere seinen Esel, der dritte wollte sie selbst auf seinen Rücken nehmen. Aber die Frauen wurden zornig. Sie bedrohten Isabeau, zeigten ihr die Faust, fuchtelten mit ihren Gabeln und Rechen herum und behandelten sie wie eine lose Straßendirne. Isabeau setzte ihren Weg fort. Doch je weiter sie kam, desto dichter wurde das Gedränge von Bewunderern und Verehrern. Alle Männer, die ihr auf dem Weg begegneten, wurden von ihr angezogen wie das Eisen vom Magneten.
So kam sie endlich in ihr Dorf. Als Pierre sie sah, geriet er sogleich in große Bewunderung. Trotz ihres Ärgers freute sich Isabeau darüber sehr. Als die böse Séraphine sah, wie ihre Stieftochter bewundert wurde, geriet sie in heftigen Zorn. Sie stürzte sich auf Isabeau, um sie zu schlagen. Aber als sie das schöne Halsband gewahrte, riß sie es ab und legte es sich selbst um den Hals. Im Nu sah sich die böse Alte trotz ihres runzeligen Gesichts und ihres wackligen Kopfes von allen Männern, die zugegen waren, umringt. Sie stürzten sich auf sie, um ihr nahe zu sein. Sie drückten und stießen sie, so daß die böse Alte zerschlagen und halbtot an den Rand des Dorfbrunnens gedrängt wurde. Da merkte sie endlich, daß das Halsband, welches sie trug, all ihre Leiden verursachte. Sie riß das Halsband ab und warf es in den Brunnen. Und sogleich wich der Zauber. Die Männer lachten und verspotteten die häßliche Alte, die sie einen Augenblick zuvor noch bewundert hatten. Das böse Weib aber eilte nach Hause zurück und rächte sich an Isabeau für die erduldete Schmach. Auch Pierre überhäufte Isabeau mit Vorwürfen. Er warf ihr vor, daß sie nächtens umherstreune und Hunderte von Männern hinter sich herziehe.
»Übrigens, ich werde nicht wiederkommen, denn ich besuche jetzt ein junges Mädchen, welches reicher ist als du.«
Isabeau weinte und weinte. Sie weinte den ganzen Tag und die ganze Nacht.
»Ach, die Gaben der Seelen haben mir nicht zum Glück gereicht. Nächste Nacht werde ich zu ihnen zurückkehren und sie um Reichtum bitten.«
Abends, als alles schlafen gegangen war, wanderte Isabeau zum drittenmal auf die große Heide. Beim Mitternachtsschlag erschienen die armen Seelen wieder.
»Oh, Isabeau, Isabeau! Hast du unseren Lobgesang vollendet? Singe, Isabeau, singe doch wieder!«
Und wiederum begannen sie, um das junge Mädchen zu tanzen, indem sie dabei wie das vorige Mal sangen:
»Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen
loben Gott den Herrn, loben Gott den Herrn,
der die Welt erlösen wird.«
Von Zeit zu Zeit unterbrachen sie sich und riefen: »Singe, Isabeau, singe weiter, vollende unseren Lobgesang!«
Lange, lange dachte Isabeau nach. Endlich sang sie:
»Alle frommen Seelen, alle frommen Seelen
loben Gott den Herrn, loben Gott den Herrn,
der die Welt erlösen wird,
die Guten und die Bösen.«
Alle armen Seelen sangen diese Worte Isabeaus nach. Plötzlich hielten sie in ihrem Tanz inne und brachen in Freudenrufe aus. Die ganze Heide schien in einem Zittern des Glücks zu erbeben.
»Dank dir, Isabeau, Dank dir. Unser Lobgesang ist vollendet. Du hast uns erlöst, und wir dürfen nun in die ewige Glückseligkeit eingehen. Bitte uns um etwas, Isabeau. Bitte uns um was du willst, und dein Wunsch soll in Erfüllung gehen.«
»Um die Liebe meines Pierre zu besitzen, möchte ich Reichtum.«
»Du sollst ihn haben, du sollst ihn haben! Du sollst reich sein, reicher als der König!«
Und eine der kleinen Seelen berührte Isabeaus Hand.
»Geh, Menschenkind, und jede deiner Tränen wird von nun an eine Perle sein oder ein Diamant von unermeßlichem Werte.«
Dann trat ein Greis mit langem weißen Bart hinzu. Er hielt in der Hand einen kleinen Gegenstand, eine bescheidene Nadel.
»Nimm diese Nadel. Solange du sie an dein Mieder steckst, wird dir Pierre mit treuer Liebe zugetan sein. Leb wohl, Isabeau.«
Die Morgenröte dämmerte herauf, und die Schar der armen Seelen erhob sich wie ein Nebel zum Himmel. Sie stiegen empor und verschwanden im glühenden Azur des Firmaments.
Isabeau kehrte zu ihrem Vater zurück. Sie war glücklich, da Pierre zu ihr zurückkehren würde. Doch kaum hatte sie das Haus betreten, da stürzte sich ihre Stiefmutter mit geballten Fäusten auf sie und begann, sie zu schlagen und zu schmähen. Isabeau weinte und siehe, ihre Tränen rieselten in Perlen und Diamanten verwandelt auf den Boden. Die böse Séraphine begann wie verrückt vor Freude über den Anblick des Reichtums und mit Wut auf ihre Stieftochter immer mehr loszuprügeln und schrie: »Weine, weine, du Unselige, weine weiter, weine heftiger!«
Sie holte, um die kostbaren Tränen zu sammeln, den Eimer, den Zuber, und alle waren bald voll von Perlen und Diamanten. In diesem Augenblick ging Pierre vorüber und fühlte sich wunderbar angezogen von Isabeau. Er betrat das Haus, und ohne die Reichtümer, die er mit Füßen trat, zu beachten, erblickte er nur eins, wie seine Liebste von der Stiefmutter grausam geschlagen wurde. Da ergriff ihn ein ungeheurer Zorn. Er stürzte sich auf die böse Alte, packte sie bei der Gurgel und hielt sie fest. Doch die Alte rief ihm zu: »Prügle sie, Pierre, prügle sie! Sie weint Perlen und Diamanten!«
Doch Pierre hielt die Alte immer noch fest. Und rasend vor Zorn, da sie ihre Stieftochter nicht mehr schlagen konnte, um noch mehr Reichtümer zu erlangen, erstickte sie und fiel tot zu Boden.
Wenige Wochen später heiratete Pierre Isabeau. Sie waren sehr glücklich. Sie waren die reichsten Leute des Landes, und sie hatten vierzehn Kinder. Niemals verspürte Pierre das Verlangen, sein Vermögen dadurch zu mehren, daß er seine Frau zum Weinen brachte. Und bis zu seinem Tod war er Isabeau in treuer Liebe zugetan.
Es war einmal ein armer Fischer. Alle Tage ging er an den Fluß, um dort Fische zu fangen, und doch ging ihm nur selten einer ins Netz. Darüber wurde seine Frau sehr zornig, und sie sprach eines Tages zu ihm: »Wenn du nicht bald etwas fängst, werden wir Hungers sterben müssen. Sieh zu, daß du heute Fische bringst!«
»Fange ich auch diesmal nichts, so will ich nicht länger Fischer sein«, antwortete der Mann.
Am anderen Tage begab er sich zum Fluß, und siehe, beim ersten Zuge fing er einen großen, goldenen Fisch. Der Fisch aber hob an zu sprechen und bat: »Fischer, ach guter Fischer, schenke mir mein Leben, und du wirst jeden Tag so viele Fische fangen, wie du nur willst.«
Da warf der Fischer den goldenen Fisch wieder in die Wellen zurück. Mit dem ersten Netz, das er nun auswarf, fing er so viele Fische, daß sie das Netz kaum fassen konnte.
Seine Frau aber fragte ihn: »Wie kommt es, daß du seit langer Zeit auf Fischfang gegangen bist und doch selten etwas heimbrachtest und heute so viele Fische herbeischleppst?«
»Ich will es dir sagen. Ich habe einen großen, goldenen Fisch gefangen, der sagte mir, daß ich, wenn ich ihn freiließe, jeden Tag so viele Fische fangen könnte, wie ich nur wollte.«
»Wenn du diesen Fisch morgen wieder fängst, so bringe ihn mir, denn ich will und muß ihn verspeisen.«
Am anderen Tag begab sich der Fischer zum Fluß, und siehe, wiederum ging ihm der große, goldene Fisch ins Netz. Auch diesmal sprach er: »Fischer, ach guter Fischer, schenke mir mein Leben, und du wirst jeden Tag so viele Fische fangen, wie du nur willst!«
»Was soll ich tun? Meine Frau hat mir gesagt, ich darf dich nicht loslassen. Sie sagte, sie wolle dich verspeisen.«
»So sei es, wie sie gesagt. Wenn sie mich verspeist haben wird, so wird sie um Mitternacht drei schöne Knaben gebären. Zu gleicher Zeit wird die Stute im Stall drei Füllen werfen und die Hündin drei schöne Hündchen. Diese drei Hunde sollen ›Schnellwiederwind‹ und ›Überalldurch‹ und ›Bricheisen‹ genannt werden. Meine Gräten aber soll deine Frau in eine Büchse legen und mit etwas Wasser auf den Kamin stellen. Wenn das Wasser in der Büchse sich rot verfärbt, dann stehen einem der Knaben außergewöhnliche Dinge bevor.«
Alles geschah, wie es der goldene Fisch vorhergesagt hatte. Um Mitternacht gebar die Frau drei schöne Knaben; die Stute warf drei Füllen und die Hündin drei Hündchen. Als nun die Knaben zu Jünglingen herangewachsen waren, wollte der Erstgeborene in die weite Welt hinausziehen. Da wurde das Wasser in der Büchse rot. Der Jüngling aber nahm sich eine Gräte, schwang sich auf sein Roß, rief nach seinem Hund und sprengte davon. Aus der Gräte aber war ein starker Wurfspeer geworden.
Eines Tages gelangte er in ein Land, in dem alle Häuser mit Trauerflor behängt waren und die Menschen weinend umhergingen. Da fragte er den Wirt in der Herberge nach der Ursache der allgemeinen Betrübnis.
»Ach Fremder, eine Bestie, ein Drache mit sieben Köpfen haust in unserer Nähe, und er versetzt das ganze Land in Angst und Schrecken. Dieses Jahr verlangte das Untier, daß wir ihm eine Jungfrau opfern sollen. Das Los ist auf die Königstochter gefallen, es gibt keine Rettung für sie.«
»Hat denn noch keiner versucht, den Drachen zu töten?«
»Viele sind aufgestanden, doch keiner kam zurück.«
Am anderen Tage wurde die Königstochter in einem Trauerzug bis zum Eingang der Drachenhöhle geleitet. Der Jüngling ritt zu ihr und sprach: »Steigt mit mir auf mein Pferd, ich will das Untier besiegen!«
»Ihr werdet mit mir verschlungen werden, rettet Euch!«
»Fürchtet Euch nicht, ich werde den Drachen töten.«
Da stieg die Königstochter hinter dem Jüngling auf das Pferd. Die Pforte der Drachenhöhle öffnete sich, und das Ungeheuer wollte Roß und Reiter verschlingen. Da stürzte sich der Hund auf ihn. Der Jüngling nahm seinen Wurfspeer und durchbohrte damit einen der sieben Drachenköpfe.
Da brüllte der Drache: »Ich bin stärker als je, du hast mir einen Kopf abgeschlagen, aber es bleiben mir immer noch sechs.«
Wiederum stürzte sich der Hund auf das Ungeheuer, wiederum nahm der Jüngling seinen Speer, und diesmal durchbohrte er einen zweiten Kopf des Drachen.
Da brüllte der Drache: »Ich bin stärker als je, du hast mir zwei Köpfe abgeschlagen, aber es bleiben mir immer noch fünf.«
Noch weitere viermal stürzte sich der Hund auf den Drachen, und ebensooft durchbohrte der Jüngling einen der Drachenköpfe.
Als dem Ungeheuer nunmehr nur noch ein Kopf übrigblieb, rief es: »Ich bin stärker als je, ich werde dich fressen, dich, die Königstochter, dein Pferd und deinen Hund!«
Aber noch einmal stürzte sich der Hund auf den Drachen, noch einmal nahm der Jüngling seinen Wurfspeer und es gelang ihm, auch den letzten Drachenkopf zu durchbohren. Da sank der Drache tot zu Boden. Der Jüngling schnitt aus den sieben Drachenköpfen die Zungen heraus und wickelte sie in das Taschentuch der Königstochter.
Voller Freude und Dankbarkeit fragte die Königstochter den Jüngling, ob er nicht ihr Gemahl werden wolle. Gerne willigte er ein, sprach aber, zuvor müsse er noch eine weite Reise unternehmen. In einem Jahr und einem Tag aber werde er zurückkehren und dann solle die Hochzeit sein.
Als die Königstochter zum Schloß ihres Vaters zurückkehren wollte, begegnete sie im Wald drei Köhlern.
»Wie kommt es, daß Ihr nicht von der Bestie mit den sieben Köpfen verschlungen worden seid? Wer hat Euch das Leben gerettet?« fragte der Köhlerssohn.
»Ein junger Reiter mit seinem Roß und seinem Hund, der hat den Drachen getötet.«
»Wenn Ihr nicht sagt, ich, der Köhlerssohn sei es gewesen, so schlage ich Euch mit meinem Beil den Kopf ab!«
Dann ergriff er die Jungfrau, und sie mußte ihm zeigen, wo die Drachenköpfe lagen. Der Köhlerssohn steckte diese in einen Sack und zog mit der Jungfrau, seinem Vater und seinem Oheim zum königlichen Schloß.
Wie staunten aber alle, als sie die Jungfrau noch am Leben sahen. Sie mußte ihrem Vater sagen, der Köhlerssohn sei es gewesen, der sie vor dem Drachen errettet hatte. Aus Dankbarkeit ließ der König den Köhlerssohn in den Palast kommen und versprach ihm seine Tochter zur Frau. Die Jungfrau aber sprach, sie könne den jungen Köhler noch nicht heiraten, weil er ihr zu schwarz wäre. Man solle zuerst für hundert Franc Seife kaufen und ihn alle Tage einseifen und waschen. Nach sechs Monaten war all die Seife aufgebraucht. Da sprach der König zu seiner Tochter, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, da sie den Köhlerssohn heiraten müsse.
Die Jungfrau aber bat: »Lieber Vater, man muß nochmals für hundert Franc Seife kaufen, denn noch ist er mir nicht weiß genug.«
Wiederum kaufte man für hundert Franc Seife, und wiederum wurde der junge Köhler alle Tage eingeseift.
Als das Jahr um war, kam der Reiter zu demselben Wirt zurück. Diesmal war alles festlich geschmückt, und lachend und singend gingen die Leute umher. Da fragte der Jüngling den Wirt nach der Ursache des allgemeinen Jubels.
»Ach Fremder, heute feiert die Königstochter das Hochzeitsfest mit dem Köhlerssohn, der den Drachen getötet und ihr das Leben gerettet hat.«
Der Jüngling schwieg, gab seinem Hund einen Brief ins Maul und schickte ihn zum Palast. Dort kratzte der Hund um die Frühstücksstunde mit der Pfote am Fuße der Prinzessin.
Da riefen alle erstaunt: »Welch ein prächtiger Hund! Wie kommt er hierher?«