Märchen von Vätern und Töchtern
Märchen der Welt
Herausgegeben von Renate Greinacher
FISCHER E-Books
Renate Greinacher, Jahrgang 1953, studierte in Tübingen, Freiburg und Berlin Literatur- und Geisteswissenschaften (M.A.). Sie war anschließend als freie Journalistin und Redakteurin tätig.
www.fischerverlage.de
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403126-2
In den Märchen dieses Kapitels sind sich Vater und Tochter liebevoll verbunden. Sie vertrauen einander und suchen sich zu helfen. So löst die Tochter das Wort des Vaters ein und macht dadurch ihr Glück. Die Väter in diesen Märchen sind nicht eifersüchtig auf die Tochter und ihren Bräutigam, sondern helfen ihr meist sogar liebevoll bei der Ablösung vom Elternhaus. Als Tochter ihres Vaters ist das Mädchen etwas ganz Besonderes, das sie vor allen anderen auszeichnet. So kann sie Dinge bewirken, an denen andere scheitern.
Es war einmal ein armer Fischer, der lag seit Jahren krank im Bett und konnte seine Glieder nicht rühren. Er wäre vor Hunger gestorben, wenn er nicht eine Tochter, ein schönes junges Mädchen, gehabt hätte, die schon zeitig in der Frühe hinaus zum Fluß ging, der vor ihrer Hütte vorbeifloß und dort Fische fing, die sie in der Stadt verkaufte. Einmal kam ein Storch herangeflogen und setzte sich auf die Hütte des Fischers. Tagelang saß er oben auf dem Dach und sah dem Fischermädchen zu, wie es Fische fing. Wenn die Maid das Netz, mit Fischen schwer beladen, aus dem Wasser zog, da klapperte er ganz lustig mit dem Schnabel und flog zur Maid hinab, die ihm einige Fische zuwarf.
Der Sommer verging und der Herbst nahte seinem Ende. Die Störche und Schwalben flogen fort in ein fremdes Land, wo ewiger Sommer ist, nur der Storch blieb auf der Fischerhütte zurück und sah ruhig seine Kameraden in großen Zügen fortfliegen. Als die Maid einmal wieder sehr viele Fische aus dem Wasser zog, näherte sich ihr der Storch und sprach, was er früher nie getan hatte, wie ein Mensch also: »Ich bleibe auch den Winter über bei dir, wenn du mir jeden Tag einen Fisch oder ein kleines Stückchen Fleisch gibst und mich in eurer Hütte wohnen läßt.«
Die Maid erwiderte darauf: »Ich habe mich so sehr an dich gewöhnt, daß es mir von Herzen leid täte, wenn du fortziehen solltest. Komm nur in die Hütte hinein und ich will gerne alles mit dir teilen, was ich habe.« Da klapperte der Storch einigemal mit dem Schnabel und sagte: »Du bist ein braves Mädchen und verdienst glücklich zu werden!«
Von nun an wohnte der Storch in der Hütte und bekam täglich mehr als genug Fische und Fleisch zu essen. In der Frühe ging er mit dem Mädchen zum Fluß hinaus und sah ihr beim Fischfang zu, abends aber, wenn sich das Mädchen zu ihrem kranken Vater setzte, stand er auf einem Beine vor dem Krankenbett und hörte das Gespräch mit an. So verging die Zeit und Weihnachten näherte sich. Der Schnee lag hoch auf der Erde und Eis bedeckte den Fluß. Da sah es recht traurig in der Fischerhütte aus. Die Fische krochen sich tief in die Löcher hinein und die Maid kam gewöhnlich leer nach Hause.
An einem Abend saßen sie wieder alle beisammen und klagten ihr Leid. Da sprach der Storch: »Ihr seid recht brave und gute Leute! Ich will euch darum meine Geschichte erzählen und euch einen Rat geben, wie ihr euch in der Not helfen sollt. Nun also höret: Weit von hier in einem Lande, wo ewiger Sommer ist, lebte vor tausend und mehr Jahren in einem großen Walde ein gar frommer Mann, der den ganzen Tag hindurch betete und ein großes Feuer schürte, das er nie ausgehen ließ. Jedes Jahr kamen einmal die Leute aus der Umgegend zum frommen Mann in den Wald, brachten ihm Lebensmittel und nahmen sich dafür ein paar Kohlen aus dem Feuer. Ich wohnte in der Nähe des Feuers an einem großen See und wenn ich nicht Fische fing, so stellte ich mich neben dem frommen Mann auf und sah dem Brennen des Feuers zu. Der fromme Mann fand an mir Gefallen und nahm mich zu sich in seine Hütte. Ich lebte bei ihm viele, viele Jahre hindurch, da sagte er einmal: ›Du warst schon so lange Zeit bei mir, daß ich dich nun auch belohnen muß. Du wirst sehr bald sterben, aber das will ich nicht. Du sollst noch viele tausend Jahre lang leben und gute, fromme Menschen glücklich machen. Ich werde dich schlachten und ins Feuer werfen. Wenn dich das Feuer zu Asche verbrannt hat, so wirst du wieder ins Leben zurückkehren und unter deinem linken Flügel eine goldene Feder finden, die stets nachwachsen wird, so oft man sie dir ausreißt. Diese Feder aber lasse dir nur von guten, frommen Menschen ausreißen, die es verdienen, daß sie dadurch glücklich werden, denn alle Steine, die man mit dieser Feder berührt, verwandeln sich in lauteres Gold.‹ Darauf schlachtete er mich und warf mich ins Feuer. Als ich aus dem Feuer wieder lebend emporflog, da suchte ich vergebens den frommen Mann. Er war verschwunden und ich sah ihn nimmer wieder. Ich flog in die Welt hinaus und bin nun bei euch, um durch die goldene Feder auch euch glücklich zu machen. Du bist ein gutes, braves Mädchen, du sollst mir die goldene Feder unter meinem linken Flügel ausreißen und reich und glücklich werden.«
Darauf hob er seinen linken Flügel in die Höhe und die Maid riß ihm die goldene Feder heraus. Sie zeigte sie erfreut ihrem kranken Vater und während sie dieselbe von allen Seiten betrachtete verschwand der Storch und ward von ihnen nimmer gesehen. Vater und Tochter gewannen nun durch die Feder so viel Gold, daß sie gar bald die reichsten Leute im Lande wurden. Der alte Fischer ließ Ärzte zu sich kommen, die ihn gar bald wieder gesund machten und seine Tochter heiratete ein armer Jüngling, den sie schon früher liebte und der sie ebenfalls von Herzen gern hatte.
Und nun ihr Menschen groß und klein,
Hier ist des Märchens Ende!
Mir möcht’ es recht willkommen sein,
Wenn ich solch’ eine Feder fände!
[Zigeunermärchen aus Siebenbürgen]
Es war einmal ein Fürst, der hatte drei heiratsfähige Töchter, und um diese Zeit entspann sich ein Krieg zwischen seinem König und einem andern. Er hob also ein Heer in seinem Reich aus und schickte auch zum Vater jener Mädchen und ließ ihn zum Krieg aufbieten. Und als dieser die Botschaft vernahm, wurde er sehr betrübt, ging in sein Haus und blieb drei Tage in großem Kummer einsam in seinem Zimmer.
Da ging seine älteste Tochter zu ihm und sprach: »Warum bist du so traurig, lieber Vater?« Und jener antwortete: »Was soll ich dir sagen, mein Kind! Unser König will seinen Nachbar mit Krieg überziehen, und er hat mich aufgeboten, mitzugehen.« Da rief das Mädchen: »Ziehe hin und kehre nicht mehr wieder! Ich Ärmste glaubte, du dächtest darüber nach, welchem Manne du mich zur Frau geben solltest.« Und nachdem sie das gesagt hatte, ging sie aus dem Zimmer und ließ ihren Vater allein.
Nach einer Weile kam auch die zweite Tochter zu dem Alten und sprach: »Lieber Vater, was hast du, daß du so traurig bist?« Und der Vater antwortete: »Was fragst du mich? So hat mich auch deine älteste Schwester gefragt, und als ich es ihr sagte, hat sie auf mich geschmäht, und nun kommst auch du; laß mich in Frieden, bis mich der Kummer ins Grab legt.«
»Nein, Väterchen, ich will dich gewiß nicht schmähen, sondern mit dir auf Abhilfe denken.«
»So sprach auch jene anfangs, und dann schmähte sie mich.«
»Nein, lieber Vater, ich werde gewiß nicht so lieblos gegen dich sein.«
»Also höre, was mich quält. Unser König hat Krieg und hat mich dazu aufgeboten, und nun weiß ich nicht, wo ich euch während meiner Abwesenheit lassen soll.«
Da rief das Mädchen: »Ziehe hin und kehre nicht wieder. Ich Ärmste dachte, du wärst darüber betrübt, daß du keinen Mann für mich finden könntest.« Darauf stand sie auf und ließ den Vater allein.
Endlich ging auch die Jüngste, welche Theodora hieß, zum Vater und sprach: »Lieber Vater, warum sitzest du so bekümmert da? Willst du mir es nicht sagen?«
»Geh deiner Wege, ich war dumm genug und sagte es deinen Schwestern, und die schmähten mich dafür.«
»Aber ich werde das gewiß nicht tun, Väterchen.«
»So sprachen auch die andern anfangs, und dann taten sie es doch.«
»Aber wie könnte ich dich denn schmähen? Bist du nicht mein Vater, und ich deine Tochter?«
»Also höre, was mich quält. Unser König hat Krieg mit seinem Nachbar und hat mich aufgeboten, mitzuziehen, und nun weiß ich nicht, wo ich euch unterdessen lassen soll.«
Als die Jüngste das hörte, sprach sie: »Gräme dich nicht, lieber Vater, sondern gib mir deinen Segen und drei Anzüge, und ich ziehe statt deiner in den Krieg.«
Da ließ ihr der Vater drei Mannskleider machen und gab ihr seinen Segen, und dieser Segen verwandelte sich in ein Hündchen und zog mit ihr. Theodora nahm die Kleider und den Segen und zog geradeswegs zur Königsstadt. Als sie zum Schloß des Königs ritt, stand eine Alte vor dem Tor und sprach zu dem Königssohn: »Siehst du den jungen Mann, der da kommt und so schön von Angesicht ist? Das ist gar kein Mann, sondern ein Mädchen, und dafür setze ich meinen Kopf zum Pfand.« Als der Königssohn das hörte, staunte er über ihre Schönheit und ging vor ihr voraus zum König. Als das Mädchen vor diesem erschien, sprach es: »Ich bin ein Kriegsmann und komme infolge deines Aufgebotes aus jener Gegend und jenem Hause.« Der König sprach: »Sag’ uns deinen Namen, damit wir ihn auf die Liste setzen.« Und das Mädchen erwiderte: »Ich heiße Theodor.«
Als das Mädchen hinausgegangen war, sagte der Prinz zum König: »Lieber Vater, der heißt nicht Theodor, sondern Theodorula, und sie hat mein Herz entflammt, denn sie ist kein Mann, sondern ein Mädchen.« Der König wollte es anfangs nicht glauben, als aber der Prinz darauf bestand, sprach er: »Ich will dir sagen, wie du es anfangen mußt, um die Wahrheit zu erfahren, und wie es sich sogleich offenbaren wird, wenn es ein Mädchen ist. Geht zusammen in jene Kaufbude, dort hängen an der einen Wand Schwerter und Pistolen, und an der andern Ringe, Halsbänder und anderes Geschmeide, und wenn es ein Mädchen ist, so wird es sogleich auf die Seite treten, wo die Ringe hängen, wenn es aber nach der Seite geht, wo die Waffen hängen, so ist es ein Mann.« Das Hündchen war aber im Gemach des Königs geblieben und hatte das Gespräch mit angehört, und nun lief es hin und erzählte alles dem Mädchen.
Am andern Morgen sprach der Prinz zu der Jungfrau: »Höre, Theodor, komme einmal mit in jene Bude, dort sind Waffen zu verkaufen.« Sie gingen also dahin, und so wie die Jungfrau eintrat, wandte sie sich sogleich nach der Seite, wo die Waffen waren, betrachtete sie und handelte um sie mit dem Kaufmann. Und als der Prinz sagte: »Wende dich einmal um und sieh’ dir die schönen Ringe und Geschmeide an, die dort hängen.« Da antwortete sie: »Die sind für die Weiber und nicht für uns«, und würdigte sie keines Blickes. Sie kauften also zwei silberbeschlagene Pistolen und gingen wieder heim.
Der Prinz ging nun zum König und erzählte ihm, was er gesehen hatte. Da lachte dieser und sprach: »Habe ich dir nicht gesagt, daß das kein Mädchen ist?« Doch der Prinz antwortete: »Das ist ein Mädchen, Vater, es heißt Theodorula und hat mir das Herz entflammt.« Der Vater sprach: »Ich sage dir, das ist ein Mann. Weil du es aber nicht glauben willst, so versuche es noch einmal. Nimm ihn mit dir und führe ihn in jenes Schloß, das eine Treppe von siebenhundert Staffeln hat, und steige mit ihm hinauf. Wenn es ein Mädchen ist, so werden ihr dabei drei Blutstropfen entfallen, ist es aber ein Mann, so wird das nicht geschehn.« Auch dieses Gespräch hatte das Hündchen mit angehört und lief nun zu dem Mädchen und erzählte ihm alles.
Am anderen Morgen sprach der Prinz zu dem Mädchen: »Höre, Theodor, wir wollen uns einmal jenes Schloß betrachten.« Als sie nun hingingen und zur Treppe kamen, sprach der Prinz zu ihr: »Gehe voraus.« Sie aber antwortete: »Du mußt vorausgehen, denn du bist des Königs Sohn.« Da ging der Prinz voraus, und sie ging hinterdrein, und als sie fast oben waren, fielen die drei Blutstropfen auf die Staffeln und das Hündchen leckte sie auf, so daß sie der Prinz nicht entdecken konnte, wie er sich oben umwandte, um nach ihnen zu sehen. Als sie nun wieder herunterstiegen, da fielen abermals drei Tropfen auf die Staffeln, und das Hündchen leckte sie wieder auf, so daß sie der Prinz nicht sehen konnte, als er sich nach ihnen umwandte.
Darauf ging der Prinz zum König und sprach: »Ich habe kein Blut gesehen.« Da lachte der König und sagte: »Habe ich dir nicht gesagt, daß es ein Mann ist? Aber du willst nicht hören.« Doch der Prinz erwiderte: »Das ist ein Mädchen, das Theodorula heißt und mir das Herz verbrannt hat.«
»So versuche es zum drittenmal«, sprach der König, »lade sie morgen zum Baden ein und da kannst du sehn, ob es ein Mädchen ist oder nicht.« Aber das Hündchen hatte auch dies Gespräch mit angehört und lief nun hin und erzählte es seiner Herrin.
Darauf ging das Mädchen zu einem Schneider und sprach zu ihm: »Mache mir einen Rock mit zweierlei Knöpfen, so daß, wenn ich daran bin, den einen aufzuknüpfen, der andere sich von selbst wieder zuknüpft.«
Am anderen Morgen brachte ihr der Schneider den Rock und sie zog ihn an, und in aller Frühe kam auch der Prinz und sprach: »Höre, Theodor, wollen wir nicht baden gehn?«
»Gut«, erwiderte die Jungfrau, und sie stiegen zu Pferd und ritten ans Meer. Als sie abgestiegen waren, sagte der Prinz zu ihr: »Nun ziehe dich aus.« Und sie erwiderte: »Ziehe dich nur aus, ich werde gleich fertig sein«, und begann einen Knopf aufzuknüpfen und dann den zweiten, aber während sie das tat, knüpfte sich der erste wieder von selbst zu. Als der Prinz sah, daß sie sich auszuziehen anfing, warf er seine Kleider ab und sprang ins Meer. Kaum aber war das geschehen, so schwang sich die Jungfrau aufs Pferd und ritt davon. Da zog der Prinz im Meer seinen Ring vom Finger und warf ihn ihr nach. Er traf das Mädchen an einem ihrer Zähne, brach ihn ab und versilberte zugleich das rückbleibende Stück ein wenig.
Darauf kehrte der Prinz zu seinem Vater zurück, erzählte ihm alles, was vorgegangen war, und rief: »Ich liebe sie und will sie zum Weibe haben.« Da lachte der Vater und sprach: »Was kann ich dir helfen, wenn du sie liebst? Geh hin und suche sie auf und nimm sie zur Frau.«
Der Prinz zögerte nicht lange und brach nach der Stadt auf, in welcher die Jungfrau wohnte. Unterwegs begegnete er einem Hirten und sprach zu ihm: »Höre, Hirt, wenn du mir deine Kleider gibst, so gebe ich dir die meinen.« Der Hirt aber erwiderte: »Warum willst du mir deine kostbaren Kleider geben und dafür meine groben nehmen?« Und jener sprach: »Was kümmert dich das?« Da besann sich der Hirt nicht lange und zog seine Kleider aus, gab sie dem Prinzen und erhielt dafür die seinigen.
Darauf kaufte der Prinz in einem Ort eine Anzahl Spindeln und Spindelknöpfe und ging damit in die Stadt der Theodorula. Als er in die Nähe des Hauses kam, worin sie wohnte, rief er mit lauter Stimme: »Kauft Spindeln und Spindelknöpfe«, bis die drei Schwestern herauskamen, um welche zu kaufen. Und als er sah, daß der einen ein Stück Zahn fehlte und daß der Rand des übrigen Stücks versilbert war, da erkannte er sie daran. Als ihn nun die Mädchen fragten: »Was kosten deine Spindeln?« antwortete er: »Ich verlange kein Geld dafür, sondern ein Maß Hirsen.« Da füllten sie ein Maß mit Hirse und schütteten es ihm in den Quersack; er aber stellte es so an, daß der Sack zu Boden fiel und alle Hirse herauslief. Da setzte er sich auf den Boden und las Korn für Korn auf und steckte es in seinen Quersack. Da sprachen die Mädchen: »Wir wollen dir die Hirse mit dem Besen zusammenkehren, denn wenn du sie Korn um Korn auflesen willst, wirst du niemals damit fertig werden.« Dieser aber sagte: »Nein, mein Schicksal hat es einmal so bestimmt, daß ich die Hirse Korn für Korn auflesen muß.«
Da ließen ihn die Mädchen gewähren und gingen in ihre Stuben. Der Prinz aber las so lange an seiner Hirse, bis es Nacht wurde und er bemerkt hatte, an welchem Ort Theodorula schläft, als sich die Mädchen zur Ruhe begaben. In der Nacht schlich er leise an ihr Bett und warf ein Schlafkraut auf sie, dann nahm er sie auf die Schulter und trug sie fort. Als er in die Nähe seines Schlosses kam, da fingen die Hähne zu krähen an, und da sprach die Jungfrau im Schlafe: »Wie schön krähen diese Hähne! Als ob es die des Königs wären.« Der Prinz aber rief: »Die Hähne gehören dem König und das Schloß gehört dem König und sein Sohn hat dich geholt.«
Da trug er sie zu seinem Vater, hielt Hochzeit mit ihr und hat sie zur Frau bis heute.
[Griechisches Märchen]
Es war einmal ein Kaiser, der hatte drei Töchter. Und da er in die Schlacht gehen sollte, rief er seine Töchter zu sich und sagte ihnen:
»Seht, meine Lieben, ich bin genötigt in den Krieg zu ziehen. Der Feind hat sich mit einem großen Heer gegen uns aufgemacht. Mit großem Schmerz trenne ich mich von euch. Während meiner Abwesenheit nehmt euch zusammen und seid vernünftig, benehmt euch gut und sorgt für die Angelegenheiten des Hauses. Ihr dürft im Garten spazierengehen, in alle Zimmer des Hauses treten, nur in das Zimmer hinten rechts in der Ecke dürft ihr nicht hinein, denn sonst würde es euch schlimm ergehen.«
»Sei ganz ruhig, Vater«, entgegneten sie. »Wir sind dir noch nie ungehorsam gewesen. Zieh’ ohne Sorge, und der Herr gebe dir einen glänzenden Sieg.«
Als alles zum Aufbruch bereit war, gab der Kaiser ihnen die Schlüssel zu allen Zimmern und erinnerte sie noch einmal an die Weisungen, die er ihnen erteilt hatte.
Die Kaisertöchter küßten ihm mit Tränen in den Augen die Hand, wünschten ihm Sieg, und die Älteste von ihnen empfing die Schlüssel aus des Kaisers Hand.
Als die Mädchen sich allein sahen, wußten sie nicht, was sie vor Betrübnis und Langeweile tun sollten. Um sich zu zerstreuen, beschlossen sie, einen Teil des Tages zu arbeiten, einen Teil zu lesen und einen Teil im Garten sich zu vergnügen. So taten sie denn auch, und es erging ihnen wohl dabei.
Der Böse aber störte den Frieden der Mädchen und stiftete Unheil.
»Meine Schwestern«, sagte das älteste Mädchen, »so lang der Tag ist, spinnen, nähen und lesen wir. Wir sind schon seit einigen Tagen allein, es ist kein Eckchen des Gartens mehr, in dem wir nicht schon gewesen wären. Wir sind durch alle Zimmer in unseres Vaters Palast gegangen und haben bewundert, wie schön und reich sie ausgeschmückt sind; warum sollten wir nicht auch in das Zimmer gehen, dessen Eintritt uns der Vater verboten hat?«
»Um Gottes willen, Schwesterlein«, sagte die Jüngste, »ich begreife nicht, wie dir solch Gedanke in den Sinn kommen kann, wie du uns dazu verleiten willst, unseres Vaters Gebot zu übertreten! Als der Vater sagte, wir sollten nicht hineingehen, wird er wohl gewußt haben, was er sagte, und warum er es tat.«
»Wahrhaftig, der Himmel würde nicht gleich einfallen, wenn wir hineingingen«, sagte die Zweitälteste. »Drachen oder andere Untiere, die uns auffräßen, werden sicher nicht drin sein. Und woher soll der Vater erfahren, daß wir hineingegangen sind?«
Indem sie so sprachen und sich ermutigten, gelangten sie bis vor das Zimmer, die Älteste steckte den Schlüssel ins Schloß und knirsch! öffnete sich die Tür.
Die Mädchen traten ein.
Und was sahen sie nun? Das Zimmer hatte keinen Schmuck, in der Mitte desselben aber stand ein großer Tisch mit einem kostbaren Teppich bedeckt und auf ihm lag ein großes, aufgeschlagenes Buch.
Die neugierigen Mädchen wollten wissen, was in dem Buche stände. Die Älteste vor allem, und hier folgt, was sie las:
»Die älteste Tochter dieses Kaisers wird ein Kaisersohn des Ostens heiraten.«
Nun trat auch die Zweite heran und das Blatt umwendend, las sie auch:
»Die zweite Tochter dieses Kaisers wird ein Kaisersohn des Westens heiraten.«
Die Mädchen lachten und freuten sich und schäkerten und scherzten untereinander. Die jüngste Tochter aber wollte nicht hingehen und lesen.
Die Älteren aber ließen ihr keine Ruhe, sondern führten sie auch an den Tisch, und zögernd schlug sie das Blatt um und las:
»Die jüngste Tochter dieses Kaisers wird ein Schwein zur Frau nehmen.«
Wäre der Blitz des Himmels auf sie niedergefahren, hätte er sie nicht schlimmer treffen können, als es diese Worte taten. Sie wäre vor Kummer fast gestorben. Und hätten die Schwestern sie nicht gehalten, würde sie sich beim Umfallen den Kopf zerschlagen haben.
Als sie aus der Ohnmacht, in die sie vor Schreck gefallen war, zu sich kam, fingen ihre Schwestern an, sie zu trösten.
»Wie kannst du denn an all’ das glauben! Wo wäre das je vorgekommen, daß eine Kaisertochter ein Schwein geheiratet hätte!«
»Was bist du für ein Kind«, sagte die andere, »hat der Vater denn nicht genug Soldaten, um dich davor zu bewahren, selbst wenn ein so ekelhaftes Tier käme, um dich zu freien?«
Die jüngste Kaisertochter hätte sich gern überreden lassen und das geglaubt, was ihr die Schwestern sagten, aber sie hatte nicht das Herz dazu. Ihre Gedanken hingen an dem Buch, in dem stand, welch schönes Glück ihren Schwestern zuteil werden sollte, und daß ihr allein etwas geschehen sollte, was bisher noch nicht in der Welt vorgekommen war. Außerdem nagte es ihr am Herzen, daß sie sich die Übertretung des väterlichen Gebotes hatte zuschulden kommen lassen.
Sie fing an zu kränkeln. Und in einigen Tagen hatte sie sich so verändert, daß sie nicht wiederzuerkennen war. Sie war rotwangig und heiter gewesen, jetzt war sie bleich und nichts machte ihr mehr Freude. Sie vermied es, mit den Schwestern im Garten zu spielen, pflückte keine Blumen mehr, um sie sich ins Haar zu stecken, sang nicht mehr mit den anderen beim Spinnen oder beim Nähen.
Währenddem erfocht der Vater der Mädchen, der Kaiser, einen Sieg, wie er ihn nicht erhofft hatte; er besiegte und verjagte den Feind. Und da sein Sinn immer nach seinen Töchtern stand, machte er es möglich, so schnell er irgend konnte nach Hause zurückzukehren. Alle Welt ging ihm entgegen mit Pauken, Trommeln und Pfeifen und freute sich, daß der Kaiser siegreich heimkehrte.