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Der Rechtsanwalt Sergej Leonidowitsch Magnitzki wurde, nachdem er einen Steuerbetrug riesigen Ausmaßes aufgedeckt hatte, im November 2008 selbst verhaftet – unter der Beschuldigung der Steuerhinterziehung – und starb ungefähr ein Jahr später unter ungeklärten Umständen in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis. Während der Haftzeit wurde ihm medizinische Behandlung verweigert, die später von den Angehörigen beantragte Autopsie des Toten ebenfalls. Der Fall wurde international diskutiert und führte zu diplomatischen Verwicklungen (Anmerkung des Verlages).
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Name und Details der Ereignisse sind geändert.
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Namen und Details geändert, die Geschichte spielt nicht im Karelischen Lager.
oder
Wie ich über meine Eindrücke von einem Konzert mit klassischer Musik hatte schreiben wollen
Viele Male im Gefängnis, später im Lager, dann wieder im Gefängnis und dann wieder im Lager hatte ich den Wunsch, klassische Musik zu hören, live. Irgendwie hatte sich das vorher nicht ergeben, irgendwie war das Leben irrsinnig turbulent gewesen. Außerdem brannte ich darauf, in einer ganz anderen Umgebung etwas lesen und darüber diskutieren zu können – damals war oft ein Blatt Papier mein einziger Gesprächspartner. Heute habe ich überhaupt keine Lust, über mein »damaliges« Leben im Gefängnis zu schreiben. Doch der beharrliche Lektor bat mich um ein Vorwort zu dem Buch, das unter so ganz anderen Umständen entstanden war als die, in denen ich mich jetzt gerade befinde.
Keine leichte Aufgabe. Denn wenn ich das, was ich in den über zehn Jahren meiner Haft geschrieben habe, erneut lese, durchlebe ich unwillkürlich wieder und wieder jenes Leben, von dem ich einmal glaubte, es sei für immer.
Am 25. Oktober 2003, an dem Tag meiner Verhaftung, konnte ich nicht erahnen, dass deren Einzelheiten, so banal und alltäglich wie sie waren, später je jemanden interessieren könnten. Du hast überlebt? Und gut ist. Außerdem betrachtete ich als ein durch und durch technokratischer Mensch und alles andere als ein Schöngeist das Lesen früher als eine Art Pflichtübung, die einem den Zugang zu notwendigen Informationen ermöglicht oder einen zum Nachdenken zwingt. Doch auch heute, Hand aufs Herz, kann ich mir selbst gegenüber offen eingestehen: Was bin ich denn überhaupt für ein Schriftsteller?!
Ob ich mich im Detail an meine Verhaftung erinnere? Eher nein als ja. Genauer gesagt, ich dachte an ganz andere Dinge als die, die den Romanhelden all der wunderbaren Bücher durch den Kopf gehen, die man in der Schule liest. Ich erinnere mich, keine Verärgerung über meine eigene Dickköpfigkeit empfunden zu haben. Eigentlich gab es gar keine Dickköpfigkeit. Und Ratlosigkeit und das Gefühl der Ungewissheit sind mir gänzlich fremd. Ich dachte an meine Eltern, meine Frau und meine Kinder. Ich versuchte zu begreifen, was mit dem Unternehmen geschehen würde. Mit Sicherheit dachte ich daran, dass es in Verhören zum Einsatz psychoaktiver Substanzen kommen könnte wie im Fall meines Kollegen Pitschugin – man schiebt einem mit dem Essen etwas unter und nimmt dann das Video auf. Deshalb versuchte ich in der Anfangszeit nichts zu essen und nur sehr vorsichtig zu trinken. Doch Angst hatte ich keine, soviel ist sicher …
Es kommt mir jetzt gerade merkwürdig vor, die Buchstaben auf dem Computer einzutippen, die Gewohnheit aufzugeben, zwischendurch Notizen auf kleinen Zetteln zu machen.
Man hat mich häufig gefragt, und tut es immer noch, wie oft am Tag, in der Woche, im Monat, im Jahr ich die Möglichkeit hatte, das Internet, einen Computer oder andere moderne Kommunikationsmittel zu nutzen. Die Antwort lautet: In den mehr als zehn Jahren hatte ich solche Möglichkeiten nicht! Einige moderne Führer der Opposition wunderten sich über meine Informiertheit im Verlauf unseres Briefwechsels, ohne sich vorstellen zu können, dass ich in der Zelle weder Computer noch Zugang zum Internet hatte. Sie wunderten sich allerdings nur so lange, bis sie selbst etwa für zehn Tage in Arrest kamen – das reichte völlig, um zu begreifen …
Das, was der Leser jetzt in der Hand hält, ist ein Versuch, einen Einblick in die Welt zu gewähren, zu der die meisten normalen Menschen üblicherweise keinen Zugang haben; eine rückständige Welt, behaglich für die einen, unbehaglich für die anderen, die in meinem Land Seite an Seite mit der Gegenwart existiert, als gäbe es keinen technischen Fortschritt, keine Errungenschaften der Zivilisation. Doch alle in Russland, die Solschenizyn und Schalamow gelesen haben, aber auch die, die von diesen großen Schriftstellern noch nie etwas gehört haben, haben mit der Muttermilch die Lebensweisheit aufgesogen, die jedem Russen tief im Unterbewusstsein verankert ist: »Vor Armut und Gefängnis ist keiner gefeit.«
Mich der inneren Disziplin beugend, die meine Eltern mir schon als Kind beibrachten, und ohne an eine Freilassung in naher Zukunft zu denken, deckte ich mich mit geistiger Arbeit ein, führte umfangreiche Korrespondenz und Ferndispute, schrieb Gefängniserzählungen darüber, was ich selbst sah, darüber, was ich erfuhr und was mit jedem passieren kann. Über das Land, in dem unser wunderbares Volk in Rechtlosigkeit und Armut lebt, aber auch über jenes Russland, auf das man ohne einen Beigeschmack von Scham wird stolz sein können, und das letztlich den Weg der europäischen Zivilisation gehen wird. Unseren gemeinsamen Weg.
Michail Chodorkowski
Nach so vielen Jahren Gefängnis bin ich weit davon entfernt, Menschen, denen ich dort begegnete, zu idealisieren. Doch viele Insassen haben ihre Prinzipien. Ob sie aus der Sicht der Gesellschaft richtig sind? Nicht immer. Aber das sind eben die Prinzipien, für die Menschen bereit sind zu leiden. Und zwar richtig.
Einmal hatte ich die Gelegenheit, einen an sich ganz unscheinbaren jungen Mann namens Nikolaj in die Freiheit zu verabschieden. Nikolaj saß ein wegen des sogenannten ›Volksparagraphen‹ – illegaler Drogenbesitz. Solche wie er machen in Gefängnissen fast die Hälfte der Insassen aus.
Es war klar, dass er zurückkommen wird, denn er hatte schon fünf Jahre seines dreiundzwanzigjährigen Lebens hinter Gittern verbracht. Und er hatte auch weiterhin nicht vor, auf ein solches Leben zu verzichten. Wenn auch offensichtlich nicht dumm, hatte er schon als Kind das Gefühl des Verstoßenseins und Nichtgebrauchtwerdens verinnerlicht, gewohnt, im Kollektiv der Verstoßenen dagegen zu kämpfen.
Ein halbes Jahr vergeht, und ich treffe Kolja wieder, aber mit einer schrecklichen Narbe am Bauch.
»Was ist passiert, Kolja?« – »Ach, schon wieder mit Shit erwischt.«
Kolja zögert kurz, erzählt dann doch seine Geschichte, die später von Augenzeugen bestätigt werden sollte. Als die Ermittler ihn, der er mehrfach gesessen hatte, zwischen die Finger kriegten, beschlossen sie, noch ein weiteres Delikt auf ihn abzuladen. Derartige Gespräche finden oft statt und können ziemlich unverblümt sein: Man würde dir doch nur zwei Jahre obendrauf geben – darum werden wir den Richter bitten. Wenn du irgendeinen Raub auf dich nimmst. Dafür kriegst du Besuch oder Lager deiner Wahl. Meistens geht es dabei um ein Handy, das jemandem aus der Hand gerissen wurde. Ohne lange zu überlegen, sagte Kolja zu. Zur Gegenüberstellung brachte man eine alte Rentnerin, der irgendein Mistkerl die Tasche mit 2000 Rubel geklaut hatte. Die Alte konnte sich natürlich an nichts mehr erinnern und ›erkannte‹ unschwer denjenigen, den die Ermittler ihr vorführten.
Doch da schaltete Kolja plötzlich auf stur: »Nie habe ich einen älteren Menschen beleidigt, nur die gleichaltrigen. Einer Oma das Letzte wegnehmen – nein, das unterschreibe ich nicht. Selbst wenn ihr mich umbringt!« Die Ermittler waren völlig verdattert: »Kolja, vor dem Gesetz ist das doch ein und dasselbe. Dieselbe Summe, dieselbe Zeit hinter Gittern. Was bist du so bockig? Wir können doch nicht wegen deiner Launen alles umschmeißen.«
»Nein«, sagt Kolja. Und dann bringt man ihn, nachdem man ihn ordnungshalber leicht verprügelt hat, zum ›Nachdenken‹ in die Zelle. Nach kurzer Zeit klopft er gegen die Tür. Und als sich die Klappe öffnet, quillt Gedärm hervor. Kolja hat sich aufgeschlitzt, und zwar richtig. Ein echtes Harakiri. Die Narbe ist einen Finger breit und zieht sich über den halben Bauch.
Während die Ärzte herbeieilen, versuchen seine Zellengenossen, die herausgefallenen Gedärme wieder zurückzustopfen … Wie durch ein Wunder wird er gerettet.
Jetzt ist er ein Invalide, aber er bereut es nicht: »Hätte man mir die Tasche der Oma angehängt, wäre ich so oder so gestorben«, sagt Kolja und meint damit seine Selbstachtung.
Ich schaue mir diesen mehrfach verurteilten Menschen an und denke mit Bitterkeit an die vielen Menschen in der Freiheit, denen ihre Ehre viel weniger wert ist. Einem alten Menschen ein paar Tausend wegzunehmen, ist für sie keine besondere Sache. Das wird einfach schöngeredet. Sie kennen keine Scham. Und unwillkürlich verspüre ich Stolz auf Kolja.
Oft wird es einem geradezu unheimlich zumute angesichts der gedankenlosen Verschwendung von Menschenleben. Durch eigene Hand oder das seelenlose System zerstörte Schicksale.
Das Gefängnis ist bekanntlich der Ort, an dem man den ungewöhnlichsten Menschen begegnet. Viele verschiedene Typen mit den interessantesten Schicksalen habe ich im Laufe der Jahre kommen und gehen sehen.
Ich werde versuchen, von einigen Menschen und Begebenheiten zu erzählen, wobei ich Details und Namen aus Rücksicht auf meine Helden etwas verändern werde. Im Kern bleiben die Charaktere und Umstände jedoch so, wie sie mir geschildert wurden oder wie ich sie selbst wahrgenommen habe.
Das Gefängnisschicksal brachte mich mit einem dreißigjährigen Kerl zusammen, der wegen Rauschgifthandels unter Anklage stand.
Sergej hat eine lange Drogenkarriere hinter sich, obwohl man es ihm kaum anmerkt. Er wirkt etwas jünger, als er ist. Er ist sehr lebhaft und gebildet. Nach der Mutter ist er Roma, nach dem Vater Russe, was eine in kultureller Hinsicht sehr interessante Konstellation herbeigeführt hat. Die Mutter musste ihr Lager verlassen. Sie arbeitet als Röntgenologin in einem Krankenhaus.
Der Kerl spricht romanes, kennt die Traditionen, verkehrt in der Diaspora, zählt sich selbst aber nicht dazu. Drogen nimmt er schon lange (wie die meisten jungen Leute in seinem Ort). Doch im Besitz eines starken Willens und medizinischen Grundwissens, das ihm in der Familie vermittelt wurde, achtet er penibel auf die Reinheit des ›Produkts‹, vergisst nicht, sich richtig zu ernähren, und geht regelmäßig ›einen Affen schieben‹, verzichtet also wochenlang auf die Einnahme – und reduziert so die benötigte Dosis.
Von solchen Märchen habe ich schon jede Menge gehört. Ich nicke höflich, und damit ist das Gespräch beendet.
»Die Freiheit, was sonst.«
»Man bietet dir sechs Jahre.«
»Kommt nicht in Frage.«
»Drei Jahre. Und mehr als ein Jahr hast du schon abgesessen, der Rest – vorzeitige Entlassung auf Bewährung.«
»Und?«, frage ich Sergej.
»Nein, Sergej, du hast die richtige Entscheidung getroffen. Anders funktioniert das System nicht.«
So ist das System. So sind die Menschen. Vor der Schwelle. An der Schwelle. Die uns alle irgendwann mal erwartet.