Charles R. Cross

Jimi Hendrix

Hinter den Spiegeln

Aus dem Englischen von Conny Lösch

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www.hannibal-verlag.de

Impressum

Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Room Full of Mirrors – A Biography of Jimi Hendrix“

© 2005 by Charles R. Cross

Published by Arrangement with Charles R. Cross

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

© 2006 der deutschen Ausgabe: Koch International GmbH/Hannibal, A-6600 Höfen

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Lektorat: Hollow Skai

E-Book: www.buchsatz.com

Coverfoto: © Monitor Picture Library/Retna Picture Library

ISBN 978-3-85445-440-3

Auch als Hardcover erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-264-5

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich ­geschützt und darf ohne eine schriftliche Genehmigung nicht verwendet oder reproduziert werden. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen und die Einspeicherung und Ver­arbeitung in elektronischen Systemen.

Inhalt

Widmung

Vorbemerkung des Autors

Prolog: Room Full of Mirrors

1. Besser als vorher

2. Bucket of Blood

3. Überdurchschnittlich schlau

4. Der Schwarze Ritter

5. Johnny Guitar

6. Tall Cool One

7. Spanish Castle Magic

8. Wilder Feger

9. Kopfjäger

10. Harlem World

11. Ein Traum in Farbe

12. Mein Sorgenkind

Bildstrecke

13. Der schwarze Dylan

14. Wild Man of Borneo

15. Free Feeling

16. Vom Gerücht zur Legende

17. Black Noise

18. New Music Spacequake

19. Als Erster auf dem Mond

20. Electric Church Music

21. Glück und Erfolg

22. Gypsy, Sun and Rainbows

23. Der König im Garten

24. Magic Boy

25. Wilder blauer Engel

26. The Story of Life

27. Der Zug ist abgefahren

Epilog: Langer schwarzer Cadillac

Quellen

Danksagung

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Widmung

Für meinen Vater – als ich klein war, hielt er mich im Arm und las mir „Prinz Eisenherz“-Comics vor.

Vorbemerkung des Autors

Biografen treiben sich oftmals auf Friedhöfen herum und notieren Grab­inschriften, selten jedoch stehen sie, wie es mir während der Arbeit an diesem Buch vergönnt war, neben einem Friedhofsangestellten, der mit der Schippe in der Hand ein verloren geglaubtes Grab hebt. Das Wiederauffinden der letzten Ruhestätte der Mutter von Jimi Hendrix war der ernüchterndste Moment in den vier Jahren, die ich an diesem Buch schrieb: ein Ereignis, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Es kam nur deshalb dazu, weil ich nicht glauben wollte, dass das Grab von Lucille Hendrix Mitchell nicht auf den Lageplänen des Greenwood Memorial Park verzeichnet ist, und ich so lange bei der Friedhofsverwaltung insistiert habe, bis endlich ein Arbeiter mit Schaufel und uraltem Lageplan geschickt wurde, der die Reihen verwitterter Grabsteine absuchte. Biografen, die sich mit bereits Verstorbenen beschäftigen, sind in gewisser Hinsicht ohnehin Totengräber und ähneln auch ein klein wenig Doktor Frankenstein. Wir wollen die Menschen, deren Leben wir uns zum Thema gemacht haben, wieder lebendig machen, wenn auch nur vorübergehend, auf den Seiten eines Buchs. Normalerweise haben wir es uns zum Ziel gesetzt, unsere Hauptfiguren wiederzubeleben. Selten suchen wir nach sterblichen Überresten oder verwitterten Urnen. Man ist nicht darauf vorbereitet, auf einem matschigen Friedhof zu stehen und zuzusehen, wie ein Friedhofswärter mit der nachlässigen Geste eines geübten Archäologen den Spaten in die Erde sticht.

Wenn eine Art ausgleichende Gerechtigkeit in diesem Abenteuer lag, dann deshalb, weil diese in vielerlei Hinsicht verwickelte Biografie genau dreißig Jahre früher von eben jenem Friedhof ihren Ausgang nahm. Auf dem Greenwood Memorial Cemetery, wenige Meilen südlich von Seattle, erwies ich als Fan im Teenageralter zum ersten Mal einem der legendärsten Musiker der Welt­geschichte meine Verehrung. Wie jeder andere Pilger wollte ich das Grab von Jimi Hendrix nicht ohne die Texte meiner Lieblingssongs besuchen – „Purple Haze“, „Wind Cries Mary“, Jimis brillante Version von Dylans „All Along The Watchtower“ gingen mir durch den Kopf. Verschrammte Alben der Jimi Hendrix Experience bildeten den Soundtrack meiner Jugend, wie von einer ganzen Generation. Mein Vater hörte Electric Ladyland so oft durch die Wände meines Jugendzimmers, dass er genau wusste, wann er an meine Tür hämmern musste – kurz bevor die Fuzzbox zum Einsatz kam.

Als ich im Teenageralter an Jimis Grab stand, kannte ich nur wenige Einzelheiten seiner Geschichte, doch sein Leben war so außergewöhnlich und verlief in solch extremen Bahnen, dass es viel Stoff zur Mythenbildung bot. Viele der Presseberichte aus den Siebzigerjahren machten Hendrix zu einem Gitarrengott, und als Ikone verlor er an Menschlichkeit. Er wurde, wie auf einem Poster an meiner Wand, ein in schwarzes Licht getauchtes Sinnbild mit einem unglaublich großen Afro und einem Heiligenschein darüber. Er schien unergründbar, so fremd, als käme er von einem anderen Stern. Das Mysteriöse an Hendrix war einerseits eine Folge seines Genies, das Jahrzehnte später noch nicht seinesgleichen gefunden hat, und andererseits das Ergebnis eines von Plattenfirmen erzeugten Hypes.

Mit diesem Buch habe ich in vier Jahren und mit dreihundertfünfundzwanzig Interviews den Versuch unternommen, den Code zu knacken und das in schwarzes Licht getauchte Sinnbild auf meinem Poster wieder in das Porträt eines Mannes zu verwandeln. Obwohl ich erst 2001 mit dem eigentlichen Schreiben begonnen habe, fing ich bereits seit meinem ersten Besuch am Grab in den Siebzigerjahren an, in Gedanken zu formulieren. Als Autor, der sich auf die Musik des Nordwestens spezialisiert hat, wusste ich immer, dass mir das Thema Hendrix eines Tages bevorstehen würde, so, wie ein Schauspieler am Beginn seiner Karriere weiß, dass ihn der Shakespeare’sche Kanon erwartet.

Zum ersten Mal über Jimi geschrieben habe ich Anfang der Achtziger, als ihm zu Ehren in Seattle ein Denkmal errichtet werden sollte. Obwohl es ein paar tolle Ideen gab, einen öffentlichen Park oder eine Straße nach ihm zu benennen, ging die Ehrung in den Achtzigern in der „Just Say No“-Drogenhysterie unter. Ein Fernsehkommentator vertrat den Standpunkt, Jimi zu ehren würde bedeuten, einen „Drogensüchtigen“ zu verherrlichen. Die Initiative scheiterte, und stattdessen wurde ein Kompromiss gefunden: Ein „beheizter Stein“, auf dem Jimis Name stand, wurde in einem der afrikanischen Savanne nachempfundenen Gehege des Zoos von Seattle aufgestellt. Dieser Umstand veranlasste mich, einen Artikel zu schreiben, in dem ich den Stein als rassistisch und fremdenfeindlich bezeichnete und als Beleg dafür wertete, dass die afroamerikanische musikalische Tradition und Kultur im vornehmlich weißen Seattle miss­achtet werden. Der Zoofelsen, der sich bis heute dort befindet, wobei das Heizelement bei meinem letzten Besuch defekt war, wertete das Grab von Jimi Hendrix in seiner Bedeutung auf, da kaum jemand einen Zoo für einen geeigneten Ort der Trauer oder der Verehrung für Jimi betrachtete.

Jimis Vater Al Hendrix bin ich zum ersten Mal Ende der Achtzigerjahre begegnet und habe ihn bei mehreren Gelegenheiten zur Geschichte und zum Vermächtnis seines Sohnes befragt. Eine meiner ersten Fragen an Al bezog sich auf Jimis Grab: Wieso ziert den Grabstein des besten linkshändigen Gitarristen der Rockgeschichte das eingravierte Bild einer Rechtshändergitarre? Al behauptete, es sei ein Fehler des Steinmetzen gewesen. Al war nicht unbedingt detailverliebt, was die Geschichte seines verstorbenen Sohnes anging.

Er war so nett, mich zu sich nach Hause einzuladen, wo er eine Art Museum für Jimi errichtet hatte. Kein Elternteil möchte ein Kind beerdigen müssen, und es war Als ungnädiges Schicksal, seinen Erstgeborenen um drei Jahrzehnte zu überleben. Die Wände seines Hauses waren bedeckt mit Goldenen Schallplatten und vergrößerten Fotografien von Jimi. Dort, zwischen den Familienfotos von Jimi als Baby oder in einer Armeeuniform, befanden sich auch mehrere Bilder, die in keiner Fotocollage über die Sechzigerjahre fehlen dürfen: Jimi, der beim Monterey Pop Festival seine Gitarre auf der Bühne anzündet, Jimi in seiner weißen Fransenjacke auf der Bühne in Woodstock, Jimi mit seinem samtenen Schmetterlingsanzug auf der Isle of Wight. Es gab wenige Bilder von Jimis Bruder Leon an der Wand, dafür aber bizarrerweise ein riesiges Gemälde von Als totem Schäferhund. An einer anderen Kellerwand hing ein Bild, das ich bereits kannte: Es war dasselbe Poster des in schwarzes Licht getauchten gottgleichen Jimi, das ich als Jugendlicher besessen hatte.

Ich habe Al Hendrix nie gefragt, weshalb das Grab von Jimis Mutter fast fünfzig Jahre nicht mehr aufzufinden war, und Al starb 2002. In den Jahren, die es gedauert hat, dieses Buch fertig zu stellen, starben mindestens fünf meiner Interviewpartner, darunter auch der Bassist der Jimi Hendrix Experience, Noel Redding. Ich stellte Noel bei fast einem Dutzend verschiedener Gelegenheiten Fragen. In dem Gespräch, das ich nur zwei Wochen vor seinem plötzlichen Tod im Mai 2003 mit ihm führte, sprach er zum letzten Mal ausführlich über seine Geschichte. Es gab Momente beim Schreiben dieses Buchs, in denen ich den Eindruck hatte, dass uns die Geschichten aus Jimis Zeit allmählich entgleiten und dass es gerade diese Flüchtigkeit ist, die umfangreiche Recherchen sowohl heikler als auch notwendiger macht.

Andererseits aber führte ich auch Unterhaltungen und besuchte Orte, an denen Jimi Hendrix lebendig wirkte. Auf der Jackson Street in Seattle, dem historischen Zentrum des afroamerikanischen Nachtlebens im Nordwesten, zwischen Ladenfronten, die vor fünfzig Jahren noch Clubs bargen, in denen Größen wie Ray Charles, Quincy Jones und Jimi auftraten, findet man Bruchstücke eines Lebens, das vielen noch deutlich in Erinnerung geblieben ist. In einer Straße, die von der Dreiundzwanzigsten Avenue abzweigt, steht auf einem ansonsten freien Baugrundstück das Haus, in dem Jimi aufwuchs. Es wurde erhalten, um es eventuell künftig unter Denkmalschutz zu stellen. Macht man Halt im Blumenladen an der Ecke, trifft man dort hinter dem Verkaufstresen auf ältere Damen, die sich noch aus der Leschi Elementary School an Jimi erinnern. Im Starbuck’s gegenüber sitzt ein grauhaariger Gentleman und schlürft jeden Morgen seinen Kaffee; er hatte einst mit Jimis Mutter Lucille den Jitterbug getanzt. Und im Altersheim an der Ecke sitzt die achtundachtzigjährige Dorothy Harding im Rollstuhl und erzählt, wie sie auf Jimi als Baby aufgepasst hat und von der stürmischen Nacht, in der er geboren wurde.

Innerhalb der schwarzen Gemeinde von Seattle kannten und kennen die meisten Jimi Hendrix als „Buster“ – sein Rufname in der Familie. Ich habe mir aus Gründen der Stringenz und um Verwechslungen mit seinem Jugendfreund Jimmy Williams zu vermeiden, der in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielt, die erzählerische Freiheit erlaubt und Hendrix konsequent in allen Lebensphasen „Jimi“ genannt. Hendrix schrieb seinen Namen erst ab seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr „Jimi“, doch für diejenigen, die ihn in Seattle kannten, blieb er stets „Buster“.

Meine Suche nach Buster führte mich viele Male in die Jackson Street und auch in die finsteren Ecken von London, San Francisco, Los Angeles, Harlem, Greenwich Village und anderen Orten überall auf der Welt. Sie führte mich in biernasse Tanzsäle in Nordengland, wo die Experience einst spielten, und in feuchte Keller in Seattle, in denen Jimi Hendrix mit den Jungs aus dem Viertel Gitarre übte. Sie führte mich zu den staubigen Akten des Einwohnermeldeamts und auf Friedhöfe wie den Greenwood Memorial, wo ich zusah, wie die Schaufel schließlich auf Lucille Hendrix’ Stein von der Wohlfahrtsbehörde stieß – kein Grabstein, sondern wirklich nur ein Backstein, über dem eine gut dreißig Zenti­meter dicke Schicht Erde lag. Nachdem der Friedhofsarbeiter lange genug gegraben hatte, war das Grab von Jimis Mutter zum ersten Mal seit mehreren Jahrzehnten wieder freigelegt. Als Jimis Bruder Leon den Stein, der die Totenstätte kennzeichnete, zum ersten Mal sah, weinte er. Leon hatte nie den genauen Ort gekannt, an dem die Überreste seiner Mutter bestattet waren.

Im Keller von Al Hendrix gab es ein anderes Erinnerungsstück an Jimi Hendrix, das auf gewisse Weise beerdigt war. Es lag versteckt in einer Ecke und wurde nur für die wahrhaft Gläubigen hervorgezogen. Es war ein sechzig mal einhundertzwanzig Zentimeter großer Spiegel, den Jimi selbst gebastelt hatte. Al konnte sich Daten schon immer schlecht merken, aber auch Jimis Bruder Leon behauptete, Jimi habe den Spiegel irgendwann 1969 gebastelt. „Der war in Jimis New Yorker Wohnung“, erinnert sich Leon, „und wurde, nachdem Jimi gestorben war, zu meinem Vater geschafft.“

In dem Rahmen sitzen zirka fünfzig in Gips eingelassene Spiegelscherben, genau so, wie sie in dem Moment, in dem der Spiegel brach, angeordnet gewesen sein mussten. Die Scherben deuten alle in die Mitte, wo ein unversehrtes, tellergroßes, rundes Spiegelstück angebracht war. „Das“, sagte Al Hendrix, als er das an Salvador Dalí erinnernde Kunstwerk aus der Ecke zog, „war Jimis ‚Room Full Of Mirrors‘.“

„Room Full Of Mirrors“ ist der Titel eines Songs, den Hendrix 1968 zu schreiben begann. Er notierte mehrere frühe Textentwürfe zu der Melodie und nahm verschiedene Fassungen davon auf. Zu Jimis Lebzeiten wurde der Song nie offiziell veröffentlicht, aber Hendrix dachte daran, ihn auf sein viertes Studioalbum zu nehmen. Wie dieser Song zeigt, besaß Jimi ein außergewöhnliches Maß an Selbsterkenntnis und eine fast unheimliche Fähigkeit, emotionale Wahrheiten in Musik auszudrücken. Obwohl das Publikum bei Hendrix-Konzerten seine theatralischen Hits wie „Purple Haze“ forderte, zog es Jimi privat eher zu nachdenklicheren, stilleren Songs wie „Room Full Of Mirrors“ oder den Bluesstandards, mit denen er aufgewachsen war.

Der Song „Room Full Of Mirrors“ erzählt die Geschichte eines Mannes, der in einer selbstreflexiven Welt gefangen ist, die er als so überwältigend empfindet, dass sie ihn bis in seine Träume hinein verfolgt. Er befreit sich, indem er die Spiegel zerschlägt, verletzt sich dabei allerdings und wendet sich an einen „Engel“, der ihm die Freiheit schenken kann. Hält man den greifbaren Ausdruck dieser Vorstellung in Händen – den zerbrochenen Spiegel, den Jimis Vater im Keller aufbewahrt –, denkt man unwillkürlich an die Komplexität des Mannes, der diesen Song schrieb, und an den Tag, an dem Jimi Hendrix sein Spiegelbild in jenen fünfzig Scherben betrachtete. „All I could see was me“, sang er in dem Song, „alles, was ich sehen konnte, war ich selbst.“

Charles R. Cross

Seattle, Washington, April 2005

Prolog

Room Full of Mirrors

Liverpool, England

9. April 1967

„I used to live in a room full of mirrors, all I could see was me.“

Jimi Hendrix, „Room Full Of Mirrors“

„Tut mir leid, Freunde, solche wie euch bedienen wir hier nicht. Ich hab auch meine Vorschriften.“

Die Worte entsprangen dem Mund eines brummigen Seebären mit zittrigen Händen. Noch während er die Zurückweisung aussprach, wandte er sich ab und zapfte für einen anderen Gast ein Bier. Er hatte zunächst gar nicht richtig hingesehen – nicht mehr als einen kurzen Kennerblick auf die beiden Männer geworfen, die nun vor ihm standen und keinen blassen Schimmer hatten, weshalb sie nicht bedient wurden. Es war ausgesprochen merkwürdig, denn es handelte sich um einen jener typischen englischen Pubs, in denen jeder bedient wird: Männer, die längst zu betrunken sind, um noch gerade zu stehen, Kinder und sogar entflohene Sträflinge in Handschellen, sofern es ihnen gelingt, Bargeld über den Tresen zu schieben.

Einer der zurückgewiesenen Männer war der einundzwanzigjährige Noel Redding, Bassist der Jimi Hendrix Experience. Noel war in Folkestone geboren, einer Stadt im Südosten Englands, und kannte Pubs und deren schlecht gelaunte Wirte bereits sein Leben lang. Noch nie war er weggeschickt worden, wenn er ein Getränk bestellen wollte, höchstens nach der Sperrstunde. Aber noch wurde nicht geschlossen, und Redding konnte sich nicht vorstellen, was den Barmann veranlasst haben mochte, so zu reagieren. „Ich hab ernsthaft überlegt“, erinnert sich Noel Jahre später, „ob der Kerl vielleicht unsere Single ‚Hey Joe‘ scheiße fand.“

Sowohl Noel als auch sein Begleiter, Jimi Hendrix, hatten lilafarbene Schals um die Hälse geschlungen und trugen stolz zerfranste Kraushaarfrisuren, die sich wie Heiligenscheine um ihre Köpfe legten. Noel hatte grellviolette Schlaghosen an, während Jimis eng anliegende Beinkleider aus weinrotem Samt gefertigt waren. Jimi trug dazu ein Piratenhemd mit Rüschen, das sich auf der Brust üppig bauschte, und über der Jacke ein schwarzes Cape. Die einzigen Leute, die sich so kleideten, waren Schauspieler aus einem Theaterstück des achtzehnten Jahrhunderts – oder eben Rockstars. Und dennoch hatten Noel und Jimi hunderte von Pubs in ähnlich abgefahrener Aufmachung besucht und waren nicht abgewiesen worden. In London erzielten sie damit eher den gegenteiligen Effekt: Hatte man sie erst einmal erkannt, wurden sie wie Mitglieder der königlichen Familie behandelt und verehrt.

England war ganz verschossen in den damals vierundzwanzigjährigen Jimi. In den sechs Monaten, die er in Großbritannien gelebt hatte, war er in vielen Pubs Ehrengast gewesen, und sogar der von ihm bewunderte Paul McCartney hatte ihm einmal ein Bier ausgegeben. Legendäre Musiker, die er seit Langem anbetete – Eric Clapton, Pete Townshend und Brian Jones von den Rolling ­Stones –, nahmen ihn als Gleichgesinnten und Freund in ihrer Mitte auf. Die Presse pries ihn als aufstrebenden Rockstar und verlieh ihm Titel wie „Der wilde Mann von Borneo“ und „Der schwarze Elvis“. Zwischen zwei Sets schnell ein Bier zu trinken, was Noel und er gerade vorhatten, war nur dann ein Problem, wenn Jimi von seinen zahlreichen Fans umschwärmt wurde. Weil sie eben jenen Fans aus dem Weg gehen wollten, die Jimi in der Regel sexuell unwiderstehlich fanden, hatten sich Noel und er in den eher abseits gelegenen Pub verzogen. Sie befanden sich in Liverpool, wo man natürlich vor allem für die Beatles eingenommen war, aber nicht bedient zu werden wäre für einen aufsteigenden Superstar überall in Großbritannien eine überraschende Erfahrung gewesen. „Es war ein typischer englischer Pub“, erinnert sich Noel. „Voll mit Werft­arbeitern, Ladenbesitzern und solchen Leuten.“

Wie er Noel später anvertraute, war Jimis erster Gedanke, dass er wegen seiner Hautfarbe diskriminiert wurde. Als Afroamerikaner, der einen Teil seines Lebens im Süden der Vereinigten Staaten verbracht hatte, wusste Jimi, wie es ist, Dienstleistungen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit verweigert zu bekommen. Von dort kannte er Rassendiskriminierung, Trinkbrunnen mit der Aufschrift „Nur für Weiße“ und andere Demütigungen. Einmal waren die Fens­terscheiben seines Wohnhauses in Nashville, Tennessee, zerschossen worden, nur weil er schwarz war. Er war drei beinharte Jahre lang auf dem Chitlin’ Circuit aufgetreten – einer Reihe ganz bestimmter Kaschemmen, Eiskeller und Bars, in denen vor hauptsächlich afroamerikanischem Publikum Rhythm & Blues gespielt wurde. Allein um zu diesen Auftrittsorten zu gelangen, mussten umherreisende schwarze Musiker sorgfältig im Voraus planen, wo sie essen oder eine Toilette benutzen wollten, da diese schlichten Dinge in bestimmten Teilen des weißen Amerika Schwarzen vorenthalten wurden. Die Soullegende Solomon Burke war mit Jimi im Bus auf dem Chitlin’ Circuit unterwegs und erinnert sich, wie die Band am einzigen Restaurant einer ländlichen Kleinstadt Halt machte. Da sie wussten, dass Afroamerikaner in dem Restaurant nicht bedient wurden, schickten sie den weißen Bassisten hinein, damit er für alle Mahlzeiten zum Mitnehmen besorgte. Der weiße Musiker war nur noch ungefähr drei Meter vom Bus entfernt, als ihm eines der Essenspäckchen aus der Hand zu rutschen drohte und Jimi nach draußen eilte, um ihm zu helfen. „Die weißen Geschäftsführer des Ladens kapierten, für wen das Essen bestimmt war“, erinnert sich Burke. Hendrix und Burke sahen entsetzt, wie die Männer Äxte schwingend hinter dem Tresen hervorkamen. „Sie haben das ganze Essen genommen und auf den Boden geworfen“, erzählt Burke. „Wir haben uns nicht gewehrt, weil wir wussten, dass sie uns umgebracht hätten, und sie wären damit durchgekommen, denn wahrscheinlich war der Sheriff sowieso auf ihrer Seite.“

In England war Jimi von rassistischer Diskriminierung verschont geblieben; er hatte festgestellt, dass Klasse und Akzent die entscheidenden Grad­messer der britischen Gesellschaft darstellten. In den Staaten hatte seine ethnische Zugehörigkeit seine Karriere behindert, besonders, weil er über die akzeptierten Grenzen des Rock und R & B hinausging. In England verliehen ihm seine Hautfarbe und sein amerikanischer Akzent jedoch eher etwas Exotisches. Als afroamerikanischer Yankee war er ein unverwechselbarer Außenseiter und wurde deshalb verehrt. „Er war der erste amerikanische Schwarze, den ich je kennen gelernt habe“, erinnert sich Noel Redding. „Das allein machte ihn schon interessant.“ Sting, der 1967 als Teenager die Tournee der Jimi ­Hendrix Experience erlebt hatte, schrieb später, er habe bei dem Konzert „zum ersten Mal einen Schwarzen gesehen“.

Jimis zweiter Impuls an jenem Tag in dem Liverpooler Pub war, an seiner Aufmachung zu zweifeln. Er trug eine antike Militärjacke, ein Relikt aus den glorreichen Zeiten des britischen Empire. Er hatte die üppig verzierte Jacke auf einem Londoner Flohmarkt gekauft: Auf der Brust glänzten dreiundsechzig Goldknöpfe, raffinierte Goldstickereien schmückten Ärmel und Brust, und der Kragen hätte jeden Träger dandyhaft wirken lassen. „Wegen der Jacke hatte er schon mal Probleme gekriegt“, erinnert sich Kathy Etchingham, Jimis damalige Freundin. „Rentner haben gesehen, wie der wilde schwarze Mann in der Jacke die Straße entlanglief, und natürlich haben sie kapiert, dass der nicht bei den Husaren gewesen war.“ Englische Kriegsveteranen einer bestimmten Altersgruppe zögerten nicht, Jimi ihr Missfallen kundzutun, und da sie Top of the Pops nicht gesehen hatten, wussten sie auch nicht, dass sie einen Rockstar vor sich hatten. Sämtliche durch die Jacke verursachte Konflikte ließen sich jedoch in der Regel rasch lösen, wenn sich der stets sehr höfliche Jimi entschuldigte und erwähnte, er sei Soldat der One Hundred and First Airborne Division der Armee der Vereinigten Staaten gewesen. Das genügte meist, damit die alten Kameraden verstummten und ihm einen dankbaren Klaps auf die Schulter gaben. 1967 erinnerten sich in Großbritannien noch viele an die legendäre One Hundred and First, die am D-Day unerschrocken und heldenhaft mit Fallschirmen über der Normandie abgesprungen war.

Hendrix allerdings wirkte in seiner Jacke tatsächlich wie ein Held. Er war nur eins siebenundsiebzig groß, wurde aber meist für mindestens eins achtzig gehalten, da ihn sein gigantischer Afro übermenschlich groß erscheinen ließ. Seine schmale, kantige Statur, die wie ein umgekehrtes Dreieck geformt war, verstärkte diese Illusion. Er hatte schmale Hüften, eine schlanke Taille, aber unglaublich breite Schultern und Arme. Seine Finger waren ungewöhnlich lang und sehnig und hatten, wie auch sein gesamter Körper, eine satte karamellfarbene Tönung. Seine Bandkollegen nannten ihn wegen seiner Angewohnheit, die Fenster zu verhängen und tagsüber zu schlafen, scherzhaft „die Fledermaus“, aber der Spitzname passte auch auf seine Vorliebe für Capes, die das Superheldenhafte seines Äußeren unterstrichen. „Wenn wir in London die Straße entlanggingen“, erinnert sich Kathy Etchingham, „sind die Leute manchmal einfach stehen geblieben und haben ihn angestarrt, als wäre er eine Art über­natürliche Erscheinung.“ Er hatte große, mandelförmige braune Augen, die im Licht funkelten. Jimi war sofort der Liebling der britischen Journalisten, doch besonders beteten ihn die Fotografen an, denn wie ein Fotomodell hatte er die Gabe, aus jedem Blickwinkel umwerfend auszusehen. Dazu kam die Sanftheit seines Gesichtsausdrucks, durch die jedes Bild eine Geschichte zu erzählen schien. Selbst in einem an sich so kühlen Medium wie einem Zeitungsfoto strahlte Jimi eine gefährliche und exotische Sexualität aus.

Doch die schillernde Schönheit bedeutete dem Liverpooler Barkeeper mit seinem eiskalten Blick nichts, und sie verhalf Jimi, trotz wiederholter höflicher Bitten und mehrere Pfundnoten auf dem Tresen, nicht zu einem Bier. Jimi mag erwogen haben, dem alten Herrn von seinem wachsenden Ruhm zu erzählen, doch seine Geduld schwand. Obwohl er für seine Ruhe und seine guten Manieren bekannt war, besaß Jimi auch ein feuriges Temperament, das gelegentlich durchbrach, besonders, wenn Alkohol im Spiel war – und dann gnade dem­jenigen, der im Weg stand. „Wenn er wütend wurde“, bemerkt Etchingham, „ging er hoch.“ In dem Pub jedoch hoffte er noch immer auf ein Getränk, was die Chancen senkte, dass er sich auf den alten Mann stürzen würde.

Schließlich stellte Jimi den Barmann leicht stotternd zur Rede – ein Sprachfehler, der noch aus seiner Kindheit stammte und in den er, wenn er nervös war, wieder verfiel. „Liegt es daran“, fragte er aufgebracht, „dass ich schwarz bin?“

Der Barkeeper antworte schnell und sicher. „Nein, um Gottes wil-len, Mann! Habt ihr das Schild an der Tür nicht gelesen?“ Und damit schnappte sich der alte Mann sein Küchenhandtuch und trottete verärgert ans andere Ende der Bar.

Da Rassismus schon mal ausgeschlossen werden konnte, machte sich erneut humorvolle und ungezwungene Stimmung bei Jimi und Noel breit. Sie grinsten sich gegenseitig an wie Schuljungen, die etwas ausgefressen haben und darauf warten, erwischt zu werden. „Wir fingen an zu lachen“, erinnert sich Noel. „Wir hatten keine Ahnung, was wir verbrochen hatten.“ Noel spottete, dass man in Liverpool vielleicht Mitglied der Treegulls sein musste – Noels Spitzname für die Beatles –, um etwas zu trinken zu bekommen. Noel ging ­hinaus, um an der Tür nachzusehen, und entdeckte dort zwei mit Reißnägeln angebrachte Aushänge. Oben hing ein großes Poster, das eine Zirkusvorstellung am anderen Ende der Straße ankündigte, und weiter unten ein hand­geschriebenes Schild, das erklärte, weshalb man Jimi und Noel aus dem Pub gewiesen hatte. Als Noel das zweite Schild entdeckte, bekam er einen Lachkrampf, der ihn in die Knie zwang. Das war ein Jahrhundertbrüller, dachte Noel. Einer von der Sorte, über den sie noch monatelang im Bandbus lachen würden. „Ich dachte“, erinnert sich Noel Jahre später, „ich würde es nicht aushalten, bis ich’s Mitch Mitchell erzählen konnte – der hätte uns das ewig unter die Nase gerieben.“ Als er wieder in den Pub ging, um Jimi aufzuklären, brüllte der sich gerade mit dem Barmann an.

„Ich hab dir gesagt, ich darf euch nicht bedienen!“, beharrte der Barmann. „Wir haben Vorschriften.“ Noel wollte eingreifen, aber jetzt wurde auch der Barkeeper hitzig und setzte seinen Vortrag fort. „Das Schild an der Tür ist eindeutig, und wenn ich einen von euch reinlasse, dann hängt ihr gleich massenweise hier rum, und so kann ich den Laden nicht führen, auf keinen Fall. Der Zirkus ist schon schlimm genug fürs Geschäft. Und auf dem Schild steht ganz deutlich: ‚Clowns ist der Zutritt untersagt!‘“

Noel erinnerte sich, dass Jimi einige Augenblicke brauchte, bis die Bedeutung der Worte bei ihm ankam. Selbst nachdem Noel Jimi die Erklärung ins Ohr geflüstert hatte – „Die Straße hinauf gastiert ein Zirkus, und der Typ will keine Clowns hier haben. Er hält uns für Clowns“ –, schien Jimi noch immer verdutzt, beinahe bestürzt. Als Jimi allmählich den Witz in seinen kosmischen Ausmaßen begriff, erschien ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. Er wurde nicht aus dem Pub geworfen, weil er schwarz war oder weil er eine Militär­jacke trug oder weil er zu ausgeflippt aussah oder sich wie ein Pirat kleidete oder weil er kein Beatle war, sondern weil er auf verdrehte Art und Weise alles das und noch viel mehr war.

In jenem Frühjahr war Jimi der aufregendste Rockstar in ganz Großbritannien; in nur zwei Monaten sollte er dieselbe Militärjacke bei seinem Auftritt auf dem Monterey Pop Festival tragen, das ihm schließlich den Durchbruch bescherte. Dank dieses Konzerts wurde er zum angesagtesten Star weltweit. Beinahe auf den Tag genau zwei Monate später reichte Paul McCartney Jimi nach einem Londoner Konzert einen Joint, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Das war echt geil, Mann.“ Aber an jenem Nachmittag in einem Pub in McCartneys Heimatstadt Liverpool bekam Jimi kein Bier, egal, was er sagte. Der Wirt ließ sich nicht davon überzeugen, dass er einen Popstar vor sich hatte. Das Einzige, was er wusste, war, dass ihm dieser Clown erzählte, er sei mit einer Gruppe unterwegs, die „The Experience“ hieß. Clowns, dachte der Mann, ganz besonders solche mit Afros, waren sehr, sehr schlecht fürs Geschäft.

Kapitel eins

Besser als vorher

Seattle, Washington

Januar 1875 bis November 1942

„Lieber Al! Herzlichen Glückwunsch zu deinem Sohn. Mutter und Kind sind wohlauf. Umstände viel besser als vorher. Lucille lässt schön grüßen.“

— Telegramm von Delores Hall an Al Hendrix

Jimi Hendrix wurde 1942 einen Tag nach Thanksgiving geboren. Die Ankunft des dreitausendneunhundert Gramm schweren Babys wurde von allen als Gottesgeschenk zu Thanksgiving betrachtet. Als seine Tante dem Vater die frohe Botschaft telegrafierte, schrieb sie unter anderem: „Umstände viel besser als vorher.“ Die Bemerkung könnte auch als Motto der Geschichte der Familie Hendrix bis zu jenem Zeitpunkt und im weiteren Sinn auch als hoffnungsfrohe Zusammenfassung der Erfahrungen von Afroamerikanern in den Vereinigten Staaten verstanden werden: Lange Zeit hatte es sehr schlecht ausgesehen, und vielleicht durfte die neue Generation auf eine bessere und gerechtere Welt hoffen. Jimis Verwandte sowohl väterlicher- wie auch mütterlicherseits feierten seine Geburt als Neuanfang. „Er war das süßeste Baby, das man sich vorstellen kann“, erinnert sich Tante Delores Hall. „Er war ein echter Schatz.“

Jimi wurde im Kreißsaal des King County Hospital, des späteren Harborview, in Seattle, Washington, geboren. Vom Krankenhaus aus hatte man einen majestätischen Blick über den großen natürlichen Hafen von Puget Sound. Seattle entwickelte sich 1942 mit zirka dreihundertfünfundsiebzigtausend Einwohnern zu einer der wichtigsten amerikanischen Hafenstädte an der Pazifikküste. In den Kriegsjahren war es eine aufstrebende Industriestadt, in deren Werften Schiffe für die Marine produziert wurden und in der die Boeing Airplane Company die B-17-Bomber in Massenproduktion herstellte, mit denen die Alliierten schließlich den Krieg gewannen. 1942 wurde in den Fabriken rund um die Uhr gearbeitet, und durch den ungeheuren Zustrom von Arbeitern dehnte sich die Stadt aus, was auch deren ethnische Zusammensetzung unwiderruflich veränderte. Bei der Volkszählung 1900 waren nur vierhundertsechs Einwohner Seattles als schwarz gemeldet, was nur einem halben Prozent der Bevölkerung entsprach. In den zehn Jahren zwischen 1940 und 1950 stieg die Zahl der afroamerikanischen Einwohner aufgrund des kriegsbedingt erhöhten Bedarfs an Arbeitskräften und der damit einhergehenden Migration aus dem Süden sprunghaft auf fünfzehntausendsechshundertsechsundsechzig an, und Schwarze bildeten die größte ethnische Minderheit Seattles.

Weder Jimis Mutter noch sein Vater gehörten zu den während des Kriegs Zugezogenen, aber der Zweite Weltkrieg sollte dennoch eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen. Zur Zeit von Jimis Geburt war sein damals dreiundzwanzigjähriger Vater Al Soldat der US-Army und in Fort Rucker, Alabama, stationiert. Al hatte seinen befehlshabenden Offizier um Vaterschaftsurlaub gebeten, um nach Seattle fahren zu können, doch dieser wurde ihm verweigert und er stattdessen eingebuchtet. Seine Vorgesetzten begründeten dies damit, dass sie davon überzeugt seien, er würde sich andernfalls unentschuldigt von der Truppe entfernen, um der Niederkunft seiner Frau beizuwohnen. Al befand sich im Militärgefängnis, als das Glückwunschtelegramm seiner Schwägerin eintraf. Später reichte er Beschwerde ein, weil weiße Soldaten in vergleichbaren Situationen Urlaub bekommen hatten, aber sein Protest stieß auf taube Ohren. Al bekam seinen Sohn erst zu Gesicht, als dieser bereits drei Jahre alt war.

Jimis Mutter, Lucille Jeter Hendrix, war bei seiner Geburt erst siebzehn Jahre alt. In der Woche, in der Al zum Militärdienst eingezogen wurde, stellte Lucille fest, dass sie schwanger war. Sie heirateten am 31. März 1942 im King County Courthouse. Die Zeremonie wurde von einem Friedensrichter geleitet, und sie verbrachten nur drei Tage zusammen als Mann und Frau, bevor Al in See stach. Am Abend vor seiner Abreise feierten sie im Rocking Chair, einem Club, in dem später Ray Charles entdeckt werden sollte. Lucille hatte noch nicht das Alter erreicht, in dem ihr der Genuss von Alkohol gestattet war, doch in den Kriegswirren störte das die Barkeeper nicht. Das Paar trank auf eine ungewisse Zukunft und auf Als unversehrte Rückkehr.

Der schicksalhafte Umstand, dass Al fünftausend Kilometer entfernt war, als das erste Kind des frisch verheirateten Paars zur Welt kam, hinterließ eine Wunde, die während der gesamten Ehe von Al und Lucille nicht heilte. Ihre Trennung war in den turbulenten Zeiten des Zweiten Weltkriegs natürlich nicht ungewöhnlich. Nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor im Dezember 1941 breitete sich verzweifelte Anspannung in Seattle und anderen Städten der Westküste aus, wo die Angst vor einem erneuten japanischen Angriff das Leben tausender vom Krieg auseinander gerissener Familien bestimmte. Am Tag vor Als und Lucilles Hochzeit wurden in Seattle als erster amerikanischer Stadt japanischstämmige Amerikaner versammelt und in Internierungslagern untergebracht. Zum Schluss wurden insgesamt zwölftausendachthundertzweiundneunzig Personen japanischer Abstammung im Staat Washington inhaftiert, darunter auch Freunde und Nachbarn des Paars.

Doch die Beziehung zwischen Al und Lucille wurde nicht nur durch die Kriegsereignisse belastet. Al war klein, aber hübsch, während Lucille eine außergewöhnliche jugendliche Schönheit ausstrahlte, nach der sich die Leute auf der Straße umdrehten. Abgesehen von ihrem Kind, hatten die beiden kaum etwas gemeinsam, worauf sich eine Ehe hätte aufbauen lassen. Beide stammten aus äußerst armen Familien, und Al verließ Seattle mit dem Wissen, dass er nur wenig tun konnte, um Ehefrau und Kind zu ernähren. Ihre Romanze war von kurzer Dauer gewesen – die Ehe wurde von ihren Freunden und ihrer Familie, wenn überhaupt, gerade so gebilligt. Als werdende junge Mutter stand Lucille aufgrund ihres Alters, ihrer Hautfarbe, ihrer sozialen Herkunft und finanziellen Situation vor enormen Schwierigkeiten. Und gerade Lucilles Armut war ausschlaggebend für ein tiefes Misstrauen, das in Al Hendrix wuchs und ihn später veranlasste, an ihrer Loyalität, Treue und seiner Vaterschaft zu zweifeln.

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Vaterschaft und Abstammung waren in der Familie Hendrix bereits seit Generationen heikle Themen. Die Familiengeschichte spiegelte insofern die vieler Nachfahren von Sklaven, als nur sehr wenig darüber in den Annalen der Weißen zu finden war. Jimi Hendrix war der erste schwarze Rockmusiker, der ein vornehmlich weißes Publikum anzog, aber seine eigene ethnische Abstammung war vielfältig, und zu seinen Vorfahren gehörten Indianer und afrikanische Sklaven ebenso wie weiße Sklavenbesitzer.

Jimis Großvater mütterlicherseits war Preston Jeter, geboren am 14. Juli 1875 in Richmond, Virginia. Seine Mutter war Sklavin gewesen, und wie viele ehemalige Sklavinnen in Richmond behielt sie nach dem Bürgerkrieg ihre frühere Stelle als Haushaltshilfe. Prestons Vater war der ehemalige Besitzer seiner Mutter, obwohl nicht bekannt ist, ob Preston das Ergebnis einer Vergewaltigung oder eines einvernehmlichen Akts war – sofern davon im Rahmen einer Beziehung zwischen Sklavin und Herrn überhaupt die Rede sein kann. Nachdem er als junger Mann Zeuge eines Lynchmords geworden war, beschloss Preston, den Süden zu verlassen. Er ging in den Nordwesten, wo die Lebensumstände für Schwarze, wie er gehört hatte, besser sein sollten.

Preston war fünfundzwanzig Jahre alt, als er in Roslyn, Washington, einer kleinen Bergarbeiterstadt einhundertdreißig Kilometer östlich von Seattle in den Cascade Mountains, eintraf. In Roslyn kam es jedoch zu rassistischen Ausschreitungen, die denen des Südens kaum nachstanden. Die Geschäftsführer der Bergbaufirma hatten Afroamerikaner als Streikbrecher gegen die weißen Minenarbeiter eingesetzt. Der County Sheriff schrieb an den Gouverneur und warnte ihn: „Es gibt Verbitterung gegen die Neger. Ich fürchte, es wird Blut fließen.“ Eine Reihe rassistisch motivierter Morde folgte. „Mord ist an der Tagesordnung“, bemerkte ein Einwohner der Stadt.

Um 1908 wurden Afroamerikaner im Allgemeinen toleriert, wenn nicht gar akzeptiert, sie waren inzwischen fester Bestandteil der Bevölkerung Roslyns geworden. Ein Foto aus jenem Jahr zeigt Preston inmitten einer Gruppe schwarzer Bergarbeiter vor dem einzigen Saloon, der ihnen Zutritt gewährte: Big Jim E. Sheppersons Color Club. Dennoch blieb Rassismus an der Tagesordnung, und als eine Mine explodierte und fünfundvierzig Männer, darunter zahlreiche Afroamerikaner, getötet wurden, erlaubten die Weißen nicht, sie auf dem städtischen Friedhof zu beerdigen. Später entstanden in der Stadt vierundzwanzig verschiedene Friedhöfe, für jede ethnische Minderheit und Glaubensgemeinschaft einer.

Nachdem er zehn Jahre in Roslyn verbracht hatte, zog Preston nach Newcastle, Washington, wo er ebenfalls im Bergbau tätig war. 1915 verschlug es ihn dann nach Seattle, wo er als Landschaftsarchitekt arbeitete. Bereits in seinen Vierzigern angekommen, hoffte er nun, endlich eine Frau zu finden. Im Seattle Republican stieß er auf die Anzeige einer jungen Frau, die einen Ehemann suchte.

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Die Frau, welche die Anzeige aufgegeben hatte, war Clarice Lawson, die Großmutter von Jimi Hendrix mütterlicherseits. Clarice war 1894 in Little Rock, Arkansas, geboren worden. Wie bei vielen Afroamerikanern in Arkansas gehörten zu ihren Vorfahren sowohl Sklaven wie auch Cherokee. Clarice erzählte ihren Kindern, die Regierung der Vereinigten Staaten hätte ihre indianischen Vorfahren verfolgt, bis diese von Sklaven versteckt worden seien, die sie teilweise auch geheiratet hätten.

Clarice hatte vier ältere Schwestern, und die fünf Lawson-Töchter reisten regelmäßig ins Louisianadelta, um Baumwolle zu pflücken. Auf einer dieser Fahrten wurde Clarice, die damals zwanzig Jahre alt war, vergewaltigt. Als sie später feststellte, dass sie schwanger war, brachten ihre Schwestern sie rasch in den Westen und suchten einen Ehemann für sie. Sie entschieden sich für Washing­ton, nachdem sie von Bahnarbeitern gehört hatten, dass Schwarze in dieser Region bessere Chancen hätten.

In Seattle schalteten sie eine Anzeige, mit der sie einen Ehemann suchten, wobei sie die Schwangerschaft von Clarice nicht erwähnten. Preston Jeter meldete sich, und obwohl er neunzehn Jahre älter war als Clarice, begannen sie, miteinander auszugehen. Als die Schwestern von Clarice auf eine baldige Hochzeit drängten und Preston einen bestimmten Geldbetrag als Mitgift boten, wurde er misstrauisch und beendete die Beziehung. Clarice bekam das Kind und gab es zur Adoption frei. Die Schwestern boten Preston daraufhin noch mehr Geld, wenn er die nun trauernde Clarice heiraten würde. Er willigte ein, und sie wurden 1915 getraut. Obwohl die Ehe bis zu Prestons Tod dreißig Jahre später hielt, wurde die Beziehung durch die ungewöhnlichen Umstände, unter denen sie einander kennen gelernt hatten, belastet.

Sowohl Preston als auch Clarice waren in den Nordwesten gekommen, weil sie an einem Ort ein neues Leben anfangen wollten, an dem die Hautfarbe eine geringere Rolle spielte als anderswo. Bis zu einem gewissen Grad war das in Seattle durchaus der Fall, wo es immerhin die ausschließlich Weißen vorbehaltenen Trinkwasserbrunnen des rassistischen Südens nicht gab. Im Nordwesten jedoch stießen Afroamerikaner auf eine weniger offensichtliche Form der Diskriminierung, die sie dennoch stark in ihren Möglichkeiten einschränkte. In Seattle lebten Afroamerikaner beinahe ausschließlich in einer Gegend namens Central District, sechseinhalb Quadratkilometer, auf denen sich die ältesten und heruntergekommensten Häuser der Stadt fanden. Außerhalb dieses Viertels vermieteten Hauseigentümer selten an Afroamerikaner, und in vielen Gemeinden war Schwarzen der Kauf von Immobilien gesetzlich verboten.

Obwohl sie die freie Wahl des Wohnorts einschränkte, hatte die faktische Rassentrennung in Seattle auch Vorteile für Schwarze. Im Central District entwickelte sich eine enge Gemeinschaft mit starkem nachbarschaftlichem Zusam­menhalt, was den ethnischen Stolz der Einwohner beförderte. „Es war eine kleine Gemeinschaft. Wenn man jemanden nicht kannte, kannte man mindestens jemanden aus seiner Familie“, erinnert sich Betty Jean Morgan, die ihr Leben lang dort gelebt hat. In dem Viertel waren außerdem amerikanische Ureinwohner, Chinesen, Italiener, Deutsche, Japaner und Filipinos zu Hause. In den Schulen traf sich ein Mischmasch aller möglichen Abstammungen. Es gab so viele ethnische und religiöse Minderheiten – das Viertel war außerdem Zentrum des jüdischen Lebens der Stadt –, dass sich ein damals in den gesamten Vereinigten Staaten einzigartiges multikulturelles Gefüge entwickelte. Die Historikerin Esther Hall Mumford gab ihrem Buch über die Geschichte des schwarzen Seattle den Titel Calabash, in Anspielung auf die afrikanische Tradition, alle möglichen Zutaten zusammen in einem Topf zu kochen, der so groß ist, dass man damit ein ganzes Dorf ernähren könnte – eine passende Metapher für den Central District in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Starke ­soziale Bindungen und ein herzliches Gefühl der Zusammengehörigkeit waren für alle, die dort aufwuchsen, prägend.

Die schwarze Gemeinde in Seattle hatte ihre eigenen Zeitungen, Restaurants, Läden und, was vielleicht am großartigsten erscheinen mag, einen eigenen Unterhaltungsbezirk, der sich um die Jackson Street konzentrierte. In den Nachtclubs und Spielhöllen dort traten landesweit bekannte Jazz- und Bluesmusiker auf. Die Szene war derart lebendig, dass ein Zeitungsredakteur sie mit der State Street in Chicago oder der Beale Street in Memphis verglich. Obwohl Preston und Clarice Jeter die Clubs auf der Jackson Street eher selten besuchten, sollte die bunte und dynamische Unterwelt doch einen wichtigen Einfluss auf die Jugend ihrer Kinder und schließlich auch auf ihren Enkel Jimi Hendrix haben.

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Die größte Herausforderung für Schwarze in Seattle – eine Herausforderung, die alles andere in den Hintergrund rücken ließ – bestand darin, eine faire Anstellung zu finden. Afroamerikaner wurden von der weißen Gesellschaft in Seattle meist toleriert, doch die einzigen Berufe, die Schwarzen offen standen, waren die des Kochs, Kellners oder Kofferträgers. Ähnlich wie in Roslyn fand Preston Jeter während eines Streiks Arbeit im Hafen. Es war ein Job, der normalerweise Weißen vorbehalten war. Clarice fand – wie laut der Volkszählung von 1910 vier­undachtzig Prozent aller afroamerikanischen Frauen Seattles – Arbeit als Hausmädchen. Wie die meisten schwarzen Mütter damals kümmerte sich Clarice um weiße Babys, obwohl sie gleichzeitig eigene Kinder zu versorgen hatte.

Im Verlauf der folgenden zehn Jahre bekam Clarice acht Kinder, von denen zwei im Säuglingsalter starben und zwei zur Adoption freigegeben wurden. Lucille, das jüngste der Jeter-Kinder, wurde 1925 geboren, acht Wochen zu früh. Aufgrund von Komplikationen wegen eines Tumors sowie postnataler Depressionen blieb Clarice bis sechs Monate nach Lucilles Geburt im Krankenhaus. Preston, der damals bereits fünfzig Jahre alt war und selbst unter gesundheitlichen Problemen litt, konnte sich nicht um die Familie kümmern, weshalb Lucilles drei Schwestern, Nancy, Gertrude und Delores, die Sorge um das Baby übernahmen. An einem Tag im Dezember, als Seattle gerade einen seiner seltenen Schneestürme erlebte, brachten Hebammen sie nach Hause. „Sie muss-ten vor unserem Haus ganz vorsichtig den Hügel hinauflaufen“, erinnert sich ­Delores Hall, die damals vier Jahre alt war. „Sie legten sie mir in die Arme und sagten: ‚Pass gut auf sie auf, das ist deine neue Schwester.‘“

Die Jeters hatten in den kommenden Jahren mit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen. Clarice musste immer wieder ins Krankenhaus, litt an körperlichen und mentalen Gesundheitsproblemen, und die Kinder wurden in die Obhut einer deutschen Großfamilie gegeben, die auf einem kleinen Bauernhof nördlich von Greenlake wohnte. In dieser vornehmlich weißen Gegend wurden sie regelmäßig für Zigeuner gehalten, eine andere ethnische Minderheit, die vom weißen Seattle gemieden wurde.

Als Lucille zehn Jahre alt wurde, lebte die Familie wieder zusammen im Central District. Als Jugendliche hatte Lucille bemerkenswert schöne Augen und war sehr gelenkig. „Sie hatte langes, dickes, dunkles und glattes Haar und ein wunderschönes breites Lächeln“, sagte Loreen Lockett, ihre Freundin auf der Junior High. Preston und Clarice waren gegenüber Lucille besonders fürsorglich und erlaubten ihr vor ihrem fünfzehnten Geburtstag nicht, zu Tanzveranstaltungen zu gehen. Lucille war hübsch und temperamentvoll und zog schon damals die Aufmerksamkeit auf sich. „Sie war ein gut aussehendes Mädchen und eine sehr gute Tänzerin“, erinnert sich James Pryor. „Sie hatte sehr helle Haut und schönes Haar. Sie wäre durchgegangen.“ „Durchgehen“ bedeutete in der afroamerikanischen Umgangssprache, dass jemand so helle Haut hatte, dass er als weiß gelten konnte. Das hätte natürlich Betrug bedeutet, gleichzeitig aber auch unzählige Arbeitsmöglichkeiten eröffnet, die Schwarzen verwehrt blieben. Sogar innerhalb der afroamerikanischen Gemeinschaft galten damals helle Haut und glatte Haare als schön, und Lucille besaß beides.

Allen Berichten zufolge war die fünfzehnjährige Lucille anständig und ein bisschen unreif. Sie war musikalisch begabt und konnte singen. Gelegentlich nahm sie an Amateurwettbewerben teil, wo sie einmal fünf Dollar gewann. Ihre größte Freude im Leben war jedoch, mit einem guten Partner zu tanzen. An einem Abend im November 1941 machte Lucille auf dem Weg zu einer Tanzveranstaltung bei einer Klassenkameradin zu Hause Halt. Sie war gerade sechzehn geworden und besuchte die Junior High. Wie jedes andere Schulmädchen war sie aufgeregt vor dem Konzertbesuch. Fats Waller, der legendäre Jazzpianist, war für den Abend angekündigt. Bei ihrer Klassenkameradin war ein junger Mann aus Kanada zu Besuch. „Lucille“, sagte ihre Klassenkameradin, „darf ich dir Al Hendrix vorstellen?“