Der Tatort und die Philosophie

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Tropen

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Originalausgabe

© 2014 by J.G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Herburg Weiland, München

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50327-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10653-4

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2014 der Printausgabe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in dr Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Die Welt ist alles, was der Fall ist.

Ludwig Wittgenstein,
Tractatus logico-philosophicus

Inhaltsverzeichnis

Der Tatort und die Philosophie – Der Wahrheit auf der Spur
von Wolfram Eilenberger

I. Vorspann

Warum Tatort? – Theodor W. Adorno, der Krimi und die Kultur des 20. Jahrhunderts
von Adam Soboczynski

Du sollst nicht töten! – Emmanuel Levinas und die Ethik des Tatort-Vorspanns
von Wolfram Eilenberger

Auf zur Jagd! – Friedrich Nietzsche und die Tatort-Musik als Geburt der Tragödie
von Florian Werner

II. Ermittler

Ermitteln als Arbeit – Hartmut Rosa, Byung-Chul Han und entfremdete Kommissare
von Ulrich Noller und Jürgen Wiebicke

Kommissare in Selbstauflösung – Gilles Deleuze und das Ende des männlichen Sinns
von Cord Riechelmann

Aus Liebe zum Tod – Alain Badiou und ermittelnde Singles
von Ariadne von Schirach

Entscheidende Einfälle – William James und die Kreativität des Bewusstseins
von Gert Scobel

III. Täter

Kein Alibi, keine Ausrede – Siegfried Kracauer und der Tod des kriminellen Subjekts
von Fritz Breithaupt

Mitleid mit Tätern? – Edith Stein und die Kraft der Empathie
von Susanne Schmetkamp

Woher kommt das Böse? – Hannah Arendt und die Ästhetik des Mordens
von Svenja Flaßpöhler

IV. Motive

Vom Bürger zum Mörder? – Odo Marquard als Philosoph des Tatorts
von Ekkehard Knörer

Immer wieder sonntags – Marshall McLuhan und die Message des Tatorts
von Stefan Münker

Ein Fall dauert 90 Minuten – Edmund Husserl und die Zeit des Tatorts
von Armin Nassehi

Autorenverzeichnis

Der Tatort und die Philosophie

Der Wahrheit auf der Spur

Wolfram Eilenberger

Immer wieder sonntags, so will es die Tradition, werden die Übel unserer Welt gemeinsam gedeutet, bedacht, besprochen und vor allem: erfolgreich bekämpft. Über viele Jahrhunderte vollzog sich dieser kollektive Läuterungsprozess am Sonntagmorgen, 10 Uhr, in den Kirchen unseres Landes. Heute geschieht dies mehrheitlich sonntagabends, um 20 Uhr, vor dem Fernseher. Tatsächlich hat sich der Tatort, das mit Abstand erfolgreichste Krimiformat des deutschsprachigen Fernsehens, im Verlauf der letzten 40 Jahre als ein gesellschaftsdeckendes Reinigungs- und auch Reflexionsritual etabliert. Es geht dabei ja durchaus nicht nur um Fragen nach Täter oder Tod, sondern, grundlegender noch, um die zentralen Begriffe unseres Zusammenlebens: Schuld, Verantwortung, Gerechtigkeit, Freiheit, Vergebung. Begriffe und damit verbundene Probleme, die auch den Kern der Philosophie als Tugend des Denkens bilden. Was läge also näher, als das mögliche Verhältnis des Tatorts zur Philosophie ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen, beide in ebenso ernsthafter wie spielerischer Absicht miteinander ins Gespräch zu bringen? Genau diesem Impuls sind die 14 Denkerinnen und Denker dieses Bandes in je eigener Weise gefolgt.

Wir Kinder des Tatorts

Sämtliche der hier versammelten Autoren gehören aus biographischer Sicht der »Generation Tatort« an, denn sie wurden alle um das Jahr 1970 geboren (dem Jahr der Tatort-Erstausstrahlung). Ihre erinnerte Lebenszeit kommt mit der Laufzeit des Tatorts zur Deckung. Die philosophische Auseinandersetzung mit der Krimireihe nimmt deshalb auch existentielle Züge an, ja führt bei dem einen oder anderen Autor zu einer Reflexion der eigenen Selbstwerdung in der Tatort-Republik Deutschland. Eine zweite inhaltliche Besonderheit besteht darin, dass sich die philosophische Durchdringung des Tatorts in diesem Band ausschließlich im gedanklichen Dialog mit großen Denkern des 20. Jahrhunderts vollzieht. So ermöglicht die vorliegende Sammlung nicht zuletzt eine Einführung in die wesentlichen philosophischen Autoren und Denkschulen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts – von der Phänomenologie bis zur Postmoderne, vom Pragmatismus bis zur Kritischen Theorie.

Aufklärung, bitte

Eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Tatort kann mit der Frage beginnen, wie der kometenhafte Aufstieg der vergleichsweise jungen Gattung der Kriminalgeschichte zum dominanten Format der westlichen Populärkultur zu erklären wäre. Der philosophische Epochenbegriff der »Aufklärung« bietet hier einen plausiblen Erklärungsansatz. Aufklärung, in den Worten Immanuel Kants, meinte »den Auszug des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Sie bedeutete die nachhaltige Mobilisierung der menschlichen Vernunft gegen die irrationalen Kräfte des Gefühls, der Tradition und des Mythos. Aufklärung, das ist der Kampf des Lichts gegen das Dunkle und damit nicht zuletzt des Guten gegen das Böse. Wirklich vernünftige Menschen morden nicht. Was anderes aber inszeniert der Tatort jeden Sonntag als den absehbaren Siegeszug einer moralischen Vernunftordnung gegen die triebhaften Kräfte der Unvernunft? Zunächst verborgene Ursachen und Gründe werden ans Licht gebracht, schlüssige Erklärungsketten geknüpft und so der wahrhaft Schuldige – ohne Rücksicht auf seinen Stand oder seine Herkunft – einer gerechten Strafe zugeführt: Aufklärung par excellence.

Im Angesicht des Bösen

Allerdings haben gerade die Denker des 20. Jahrhunderts betont, in welchen Weisen das philosophische Verlangen nach totaler Aufklärung und Vernunftherrschaft selbst konkret lebensfeindliche, gewaltsame, ja todbringende Impulse in sich trägt. So zeigt Florian Werner mithilfe von Friedrich Nietzsche eindrucksvoll auf, wie der Widerstreit zwischen Vernunft und Trieb bereits Klaus Doldingers klassische Tatort-Melodie prägt und strukturiert. Die Tatort-Musik wird durch Werners Text »Auf zur Jagd!« als musikalische Inszenierung des ewigen Kampfes zwischen den »apollinischen« und »dionysischen« Kräften im Herzen unserer Kultur erlebbar. Auch Adam Soboczynskis Essay »Warum Tatort?« ist mit Theodor W. Adorno einem der großen Aufklärungskritiker des 20. Jahrhunderts gewidmet. Nach Soboczynski geht die Freilegung des gewaltsamen, ja faschistischen Potentials einer total gewordenen Vernunft in Adornos Kulturphilosophie mit einer kurzschlüssigen Verdammung des Krimigenres sowie sämtlicher Formen massentauglicher Populärkultur einher.

Von den Grenzen fragender Vernunft handelt auch Wolfram Eilenbergers Untersuchung »Du sollst nicht töten!«. Mit dem französischen Philosophen Emmanuel Levinas wird der legendäre Tatort-Vorspann als Inszenierung einer ethischen Urerfahrung gedeutet, die noch vor aller Ratio und Argumentation das unbedingte Lebensrecht anderer Menschen erkennbar werden lässt. Grundlegend aufklärerisch, nämlich mit der letztlich jeden Tatort bedingenden Frage »Woher kommt das Böse?«, setzt der Text von Svenja Flaßpöhler an. In Auseinandersetzung mit Hannah Arendts These von der »Banalität des Bösen« wirft Flaßpöhler die Frage auf, ob die Tatort-typische Psychologisierung und Personalisierung des Bösen (ein meist selbst traumatisierter Täter wird gefasst) in der heutigen Zeit nicht eine fundamentale Verfehlung der wahren, nämlich systemischen und damit gesichtslosen Ursachen des Bösen bedeuten muss.

Tod des Subjekts

Ein weiteres zentrales Motiv der Philosophie des 20. Jahrhunderts, das eine enge Verbindung zur Logik des Tatorts stiftet, ist der sogenannte Tod des Subjekts. Philosophiegeschichtlich ist damit die in den 1950er Jahren einsetzende Kritik am »selbstbestimmten Vernunftsubjekt« als angenommenem Ursprung allen Sinns sowie aller gesellschaftlichen Ordnung gemeint. Anstatt in sich einheitlich und rein rational, so die an Karl Marx und Sigmund Freud anknüpfende philosophische Kritik, ist dieses Subjekt in Wahrheit innerlich zerrissen und vielstimmig; anstatt voll souverän und selbstbestimmt ist es ein Produkt oder gar Opfer sozialer Prägungsprozesse; anstatt selbstbewusstes Zentrum seines eigenen Lebenssinns nichts als eine Funktionsstelle in einem anonymen Strukturgeschehen, das in Wahrheit niemand beherrscht und beherrschen kann.

Die fortschreitende philosophische Schwächung des (zumeist als männlich imaginierten) Subjekts lässt sich auch in der Entwicklung des Tatorts aufzeigen, und zwar in Bezug sowohl auf die Täter wie auch die Ermittler. Fritz Breithaupts Analyse »Kein Alibi, keine Ausrede« entdeckt in jüngeren Tatort-Folgen – mithilfe der Philosophen Siegfried Kracauer und Richard Rorty – gar den ganz neuen Typus des »ausredelosen Täters«. Es handelt sich um Individuen, die in ihrer Selbstwerdung derart geschwächt und gehemmt wurden, dass sie nicht einmal mehr in der Lage sind, sich oder anderen eine plausible Geschichte über die möglichen Gründe ihres Handelns zu erzählen. Was aber wird aus dem Krimigenre in Zeiten werden, in denen unter Verdacht stehende Personen die Fähigkeit verloren haben, ein überzeugendes Alibi, eine überzeugende Ausrede zu erfinden?

Ähnlichen Verfallsmotiven folgt auch Cord Riechelmann, der den existentiellen Sinnlosigkeitsverdacht zahlreicher Tatort-Kommissare mithilfe des französischen Philosophen Gilles Deleuze untersucht. Für Riechelmann wie auch zahlreiche andere Autoren dieses Bandes stellt dabei der von Joachim Król gespielte Frankfurter Kommissar Frank Steier die philosophisch bis heute konsequenteste Umsetzung einer geschwächten Ermittlersubjektivität dar. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass dieser Trend zum schwachen, geschlechtslosen Subjekt im Tatort schon bald von neuen, besonders scharf konturierten und klassisch starken Ermittlerpersönlichkeiten gekontert werden wird – Til Schweiger lässt grüßen.

Wie Susanne Schmetkamp in ihrem Beitrag »Mitleid mit Tätern?« zeigt, stand die Frage nach einer mitfühlenden, empathischen Einswerdung von an sich klar getrennten Subjekten bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts im Zentrum des philosophischen Interesses. Nach Schmetkamp entwickelte dabei die Philosophin Edith Stein ein Einfühlungsmodell, das bis heute plausibel erklären kann, wie sich die Zuschauer einer fiktionalen Handlung voll mit den dargestellten Charakteren (also auch Mördern!) identifizieren können, ohne dabei selbst von moralisch fragwürdigen Impulsen und Anwandlungen erfasst zu werden.

Gestörte Beziehungen, verstummende Welten

Jedes Verbrechen bedeutet die Störung einer etablierten Ordnung. In der Mehrzahl der Fälle werden diese Verbrechen von Personen begangen, deren Verhältnis zu sich selbst, ihren Mitmenschen oder aber ihrer Umwelt in besonders schwerer Weise gestört ist. Ariadne von Schirach geht unter dem Titel »Aus Liebe zum Tod« deshalb der Frage nach, inwiefern die offenbare Beziehungsunfähigkeit zeitgenössischer Tatort-Ermittler mit ihrer tiefen, berufsbedingten Treue zum Ereignis des Mordes verbunden ist. Ergänzend dazu widmen sich Jürgen Wiebicke und Ulrich Noller in ihrem Text »Ermitteln als Arbeit« den fundamental gestörten Selbst- und Weltverhältnissen der Tatort-Kommissare. Permanente Ermittlungsarbeit und ständige Abrufbereitschaft führen, so die These, bei diesem Personenkreis im Sinne des Philosophen Hartmut Rosa zu einem stressbedingten »Verstummen der Welt« sowie zu einer tiefen Selbstentfremdung, deren psychische Langzeitfolgen nur die wenigsten Kommissare erfolgreich vermeiden konnten. Die Mehrheit der ermittelnden Helden bleibt gefangen in einer sich fortwährend erneuernden und überbietenden Ermüdungsschleife, deren depressionsfördernde Dynamik der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han zum Zentrum seiner philosophischen Gesellschaftskritik gemacht hat.

Für beide Texte sind die lebensweltlichen Probleme der Tatort-Kommissare Folge von Druckverhältnissen, denen in Wahrheit jeder Arbeitnehmer im digitalen Spätkapitalismus mehr oder minder stark unterworfen ist: permanent auf Abruf, permanent im Einsatz, permanent auf dem Sprung zum nächsten Fall. Wir sind Tatort.

Nur gut, dass Gert Scobel, aufbauend auf dem lebensbejahenden Pragmatismus des amerikanischen Psychologen und Philosophen William James, unter der Überschrift »Entscheidende Einfälle« auch eine positive Vision des modernen, in plurale Sinn- und Handlungswelten verstrickten Subjekts zu entwickeln weiß. Für Scobel ist das Anforderungsprofil eines idealen Ermittlers bei genauerer Betrachtung gar deckungsgleich mit dem eines idealen Philosophen. Beide Berufungen verlangen nach vielfältigen Erfahrungshorizonten, nach Offenheit, Erdnähe, Neugier und Wahrheitsliebe.

Spuren deutscher Zukunft

Im Laufe seines mehr als 40-jährigen Bestehens hat sich der Tatort nicht nur als ein verlässlicher Indikator deutscher Befindlichkeit erwiesen, sondern ist selbst ein fester Bestandteil und sogar medialer Motor (bundes)deutscher Geschichte geworden. Kein Fernsehereignis, mit Ausnahme von Fußball-Übertragungen, hat über die Jahrzehnte eine ähnlich hohe soziale Verbindlichkeit bewahren können. Den Tatort denken heißt immer auch: Deutschland denken.

Für Ekkehard Knörer steht die föderale, allein durch wenige starre Identitätsanker geeinte Krimireihe deshalb für nicht weniger als eine deutsche Gesellschaftsutopie. Als Hauptzeugen seiner These ruft Knörer unter dem Titel »Vom Bürger zum Mörder?« den Philosophen Odo Marquard in den Stand. Marquards ebenso traditionsbewusstes wie welthaltiges, ebenso bürgerliches wie ironiefreudiges Denken kommt nach Knörer dem Betriebsgeheimnis des Tatorts (und unserer Republik) von allen zeitgenössischen Philosophien am nächsten. Wie eng Wirkung und Faszination des Tatorts an seine (sich ständig verändernden) Rezeptionsbedingungen als Fernsehereignis gebunden sind, arbeitet Stefan Münker unter dem Titel »Immer wieder sonntags« heraus. Mit Marshall McLuhan und damit dem einflussreichsten Medientheoretiker des 20. Jahrhunderts sieht Münker die eigentliche »Message« des Tatorts nicht etwa in der Aufklärung von Morden, sondern in dessen medial bedingter Fähigkeit zur Schaffung einer stabilen Gemeinschaft von räumlich getrennten Zuschauern, die sich in dieser Tatort-Erfahrung überhaupt erst als Teil einer (politischen) Gemeinschaft erkennen.

Mit dem spezifischen Verhältnis von Sein und Zeit im Tatort beschäftigt sich schließlich auch Armin Nassehi unter dem Titel »Ein Fall dauert 90 Minuten«. Nassehi nutzt Edmund Husserls phänomenologische Analysen des inneren Zeitbewusstseins, um zu zeigen, inwiefern unsere Wahrnehmung des Tatorts, sei es auf persönlicher oder gesellschaftlicher Ebene, immer schon von Rückgriffen in die Vergangenheit wie auch Vorgriffen in die Zukunft bedingt ist. Wer den Tatort sieht, blickt deshalb immer in eine uns mögliche Zukunft.

Wir sind alle schuldig

Dieser Band hat keine eindeutige Moral und verfolgt kein vorgegebenes Ermittlungsziel. Er will öffnen und nicht schließen, fragen, anstatt zu antworten, erhellen, anstatt zu belehren. Auf den Weg gebracht wurde er von der Überzeugung, dass es keinen Anlass und Gegenstand unseres Lebens gibt, dem ein inspiriertes, weltnahes und lebensfrohes Philosophieren nicht neue, relevante und damit denkwürdige Aspekte abzugewinnen vermöchte. Der Tatort, unser Krimimeister aus Deutschland, erwies sich als ein besonders vielversprechendes und spannungsreiches Gegenwartsphänomen, um diese Überzeugung denkend ins Werk zu setzen.

Mein besonderer Dank gilt, neben den Beitragenden, Christoph Selzer und Christian Jerger für ihre Geduld, Flexibilität und Sorgfalt.

Berlin, im Januar 2014

Wolfram Eilenberger

I. Vorspann

Warum Tatort?

Theodor W. Adorno, der Krimi und die Kultur des 20. Jahrhunderts

Adam Soboczynski

Auf den ersten Blick ist der Erfolg des Tatorts nicht selbstverständlich. Jeden Sonntag setzen sich zwischen sieben und dreizehn Millionen Zuschauer vor die Fernseher, um eine völlig vorhersehbare Handlung zu konsumieren: Es gibt einen Mord und ein Ermittlerteam, es gibt das Rätsel, wer der Mörder ist, und es gibt eine Auflösung dieses Rätsels. Nie geht es um die Frage, ob der Täter gefasst wird, sondern lediglich um die Frage, wie genau er gefasst wird: mit welcher Verhörstrategie und Aufklärungslogik. Dass er gefasst wird, steht immer schon fest. So besehen, zeichnet den Tatort nicht maßgeblich aus, dass er spannend ist. Beinahe im Gegenteil: Es zeichnet ihn aus, dass sein Ausgang vorherbestimmt ist.

Die Leiche, die am See, im Sanatorium oder im Bordell gefunden wird, mag übel zugerichtet sein, und sie darf durchaus verstören. Rache, Wollust und Gier bringen die Welt regelmäßig in Unordnung. Nicht selten werden dabei aktuelle gesellschaftliche Probleme mitverhandelt: Frauen- und Drogenhandel, Kindesmissbrauch, Umweltverschmutzung, Korruption im Baugewerbe und allerlei mehr. Doch so wenig Zweifel daran besteht, dass der dünne Firnis der Zivilisation durch die nie zu stillende Mord- und Korruptionslust des Menschen verletzt wird und das Böse – ob nun in schlecht beleuchteten Seitengassen Münchens oder auf den Waldwegen nördlich von Stuttgart – nur darauf wartet, sich machtvoll entfalten zu dürfen, so sicher ist gleichzeitig, dass der Rechtsstaat und die aufklärerische Vernunft am Ende triumphieren.

Innerhalb der engen Gattungsgrenzen ist eine gewisse Vielfalt regelrecht zwingend. Im Laufe der Jahrzehnte – der Tatort läuft seit 1970 – spiegelten die Kommissare und ihre Ermittlungsmethoden variantenreich den Zeitgeist. Der Zollfahnder Kressin, gespielt von Sieghardt Rupp, ermittelte in den 1970er Jahren in zotiger und verführungsfreudiger James-Bond-Manier, die heute als frauenfeindlich gelten dürfte (besonders populär war seinerzeit die Tatort-Folge »Kressin stoppt den Nordexpress« von 1971, in der mit schlüpfriger Heiterkeit Herrenmagazine über die dänisch-deutsche Grenze geschmuggelt werden). Einen kleinen Skandal erregte 1977 der Tatort »Reifezeugnis« von Wolfgang Petersen, in dem eine Schülerin, dargestellt von der damals 16-jährigen Nastassja Kinski, eine Affäre mit ihrem Lehrer eingeht – ein Film, der mit seiner softpornographischen Rührseligkeit ganz auf die Lolita-Phantasien im Zuge der sexuellen Befreiung setzte. Schimanski (Götz George) bediente die Ruhrpott-Romantik, eine ganze Reihe von Kommissaren setzten wiederum über die Jahrzehnte hinweg auf ihre seriöse Abgeklärtheit, auf Aktenkundigkeit und biedere Reife (unter anderem die Kommissare Bienzle, Brinkmann, Finke und Hirth).

Erst Ende der 1970er Jahre wurde eine Kommissarin eingeführt. Mittlerweile ermitteln in zwölf Städten Frauen – eine Quote, die den real existierenden Geschlechterverhältnissen in Kommissariaten wohl noch lange nicht entsprechen dürfte. Der zeitgenössischen Forderung nach Kooperation und Teamwork wird wiederum insofern entgegengekommen, als heute gern zwei gleichberechtigte Ermittler die Verbrecherjagd betreiben – in München beispielsweise die Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr, in Köln Max Ballauf und Freddy Schenk. Ein gewisses Gegengift zur derzeit sehr populären gesellschaftskritischen und volkspädagogischen Ausrichtung des Tatorts bilden die auf Action getrimmten Fälle des Ermittlers Nick Tschiller (Til Schweiger) in Hamburg. Einen guten Schuss Klamauk, der nicht unumstritten ist, zeichnet hingegen seit einiger Zeit der Tatort aus Münster mit den Darstellern Axel Prahl und Jan Josef Liefers auf.

Die Dialektik der Aufklärung

Nun dürfen die Vielfalt der Kommissare, die mannigfaltigen Tötungs- und Ermittlungsarten, die jeweils zeitgenössischen sozialen Bezüge nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Tatort eine zutiefst beruhigende Fernsehserie ist. Ihr Erfolg beruht auf dem jede Woche aufs Neue zelebrierten Sieg der Vernunft über die dunkle Gewalt, der Staatsgewalt über die Kriminellen, der Ordnung über die Unübersichtlichkeit. Die Varianz ist immer eingehegt. Damit darf die Serie als herausragendes Beispiel der »Kulturindustrie« gelten – ein Begriff, den Theodor W. Adorno prägte, um die Gleichförmigkeit kultureller und künstlerischer Produkte in der Moderne zu analysieren. Bekannt geworden ist er durch das Kapitel »Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug« im gemeinsam mit Max Horkheimer abgefassten Essayband Dialektik der Aufklärung. Dieser ist aus Gesprächen hervorgegangen, die die beiden Vertreter der Frankfurter Schule im Exil in Los Angeles zwischen 1939 und 1944 führten, und wurde vor allem im Umfeld der 68er-Bewegung stark rezipiert.

»Kultur heute«, heißt es darin prägnant, »schlägt alles mit Ähnlichkeit.« Massenkulturelle Produkte seien so verwechselbar geworden wie Automarken: »Daß der Unterschied der Chrysler- von der General-Motors-Serie im Grunde illusionär ist, weiß schon jedes Kind, das sich für den Unterschied begeistert.« Handlungsmuster sind von den Fernsehanstalten vorgegeben: »Durchweg ist dem Film sogleich anzusehen, wie er ausgeht, wer belohnt, bestraft, vergessen wird, und vollends in der leichten Musik kann das präparierte Ohr nach den ersten Takten des Schlagers die Fortsetzung raten und fühlt sich glücklich, wenn es wirklich so eintrifft.« Die Austauschbarkeit der Stars, die ewig gleichen Motive und Pointen fußen Adorno zufolge auf einer radikalen Ökonomisierung der Kultur, die vollends dem Tauschprinzip unterworfen ist. Der Rezipient ist zum Kunden herabgewürdigt, dem Quotengerechtes geliefert wird: Als gut gilt, was viele Zuschauer erreicht. Eine Klage, die auch heute, und zwar vor allem gegenüber den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, vorgebracht wird.

Adorno spricht von Industrie, da er die standardisierte Produktionsweise von Filmen, von Literatur und Musik hervorheben möchte, die wohlkalkulierte Spannungsbögen und Cliffhanger wie am Fließband verfertigt. Die Standardisierung zielt auf die »rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen«, das Individuum soll sich mit den gesellschaftlichen Normen abfinden, was im Übrigen in besonderem Maße auf Krimis wie die Tatort-Reihe zutrifft: Der Zuschauer sieht regelmäßig, wie die Institutionen das Grausame und Abweichende der Gesellschaft zur Strecke bringen, er wohnt damit jeden Sonntag einer staatsstabilisierenden Vorführung bei.

Die Standardisierung der Spannung

Kunst in der idealistischen Ästhetik sollte autonom sein, sie war als zweckfrei gedacht und hatte sich der Verwertungslogik des Kapitals zu entziehen. Adorno zufolge aber hat mit dem durchschlagenden Erfolg der Kulturindustrie »der Zweck das Reich der Zwecklosigkeit aufgezehrt«. Marktförmige und staatskonforme Unterhaltungs- und Entspannungszwecke sind dieser Logik zufolge an die Stelle des zweckfreien Kunstgenusses getreten.

Adornos Kritik der Kulturindustrie ist heute wenig populär – zu sehr scheint seine Analyse einer dünkelhaften, großbürgerlichen Pose zu entspringen, die europäische Hochkultur gegen amerikanische Einflüsse, Klassiker des liberalen Zeitalters gegen Jazz, Pop, das Fernsehen, das Radio und das Kino ausspielt. Gewiss, die anklagende Charakterisierung der Kulturindustrie lässt sich mit Leichtigkeit auf den Tatort übertragen: Die allermeisten Plots bestechen gewiss nicht durch allzu extravagante Wendungen, mit denen der Zuschauer irritiert werden könnte. Die Standardisierung von Spannungsmustern dürfte dem vielbeklagten Quotendruck geschuldet sein, mit dem alles Experimentierfreudige zum Risikofaktor gerät. Aber zeigen nicht sowohl Hollywood-Produktionen als auch die populären neueren Fernsehserien aus Amerika (Mad Men, Homeland und so weiter), aber doch auch manche Tatort-Folge, dass sich massenkompatible Unterhaltung und ein gewisser Anspruch vereinen lassen?

Mit der legendären 322. Tatort-Folge aus dem Jahr 1995 »Frau Bu lacht« hat beispielsweise Dominik Graf einen Film geschaffen, der das Genre des Kriminalfilms ziemlich überdehnt – die Ermittler Batic und Leitmayr sabotieren ab einem bestimmten Punkt ihre eigenen Ermittlungen, um den Rachemord an einem Pädophilen ungesühnt zu lassen. Eine ähnliche Ausdehnung des Genres betrieb Schimanski (Götz George). Er hatte sich angesichts des Grauens, das ihm auf der Straße begegnete, zuverlässig nicht im Griff und ging den Verbrechern auch ohne Not an die Gurgel. Nicht das Recht trieb ihn an, sondern Rache, die Rache am Bösen schlechthin, weshalb er nicht nur aus Notwehr zuschlug, sondern weil er es mit gemeinen Kreaturen zu tun hatte. Seine Selbstjustiz rechtfertigte er durch das archaische Gefühl, auf der guten Seite der Macht zu stehen. Der rechtsbrüchige Kommissar ähnelte allerdings damit stark den vom Rechtsstaat abgefallenen Verbrechern.

Nun würde Adorno gerade das Argument, dass manche Fernseh- und Kinofilme auf zwei Ebenen rezipiert werden können – als einfache Unterhaltung und als subversive Kunst –, nicht gelten lassen. Bevor die Kulturindustrie ihren Siegeszug antrat, so Adorno, standen sich leichte und autonome Kunst schroff gegenüber. Burleske Wanderbühnen bildeten den Gegensatz zum elitären Anspruch Schillers und Goethes, »leichte Kunst«, die vom Volk ausging, war das »gesellschaftlich schlechte Gewissen der ernsten«. Der Gegensatz von leichter und ernster Kunst aber »läßt am wenigsten sich versöhnen, indem man die leichte in die ernste aufnimmt oder umgekehrt. Das aber versucht die Kulturindustrie. Die Exzentrizität von Zirkus, Panoptikum und Bordell zur Gesellschaft ist ihr so peinlich wie die von Schönberg und Karl Kraus.« Die avancierteren Tatort-Folgen und die amerikanischen HBO-Serien dürfte Adorno heute mit besonderer Abneigung aburteilen, da sie aus seiner Perspektive auf die falsche Harmonie von Unterhaltung und ästhetischem Genuss setzen. Gerade die gezielte Vermengung von leichter und verfeinerter Kost ist Adorno zufolge das Kennzeichen einer grausamen Normierung von Kunst und Kultur.

Universelle Selbstzerstörung

Die Thesen zur Kulturindustrie zählen zu den bekanntesten und einflussreichsten des deutsch-jüdischen Intellektuellen, der nach seinem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückkehrte und als Direktor des wiedereröffneten Frankfurter Instituts für Sozialforschung auch in den Massenmedien als Gesellschaftsanalytiker stark beachtet wurde. Adorno (1903 1969), der einer großbürgerlichen und musischen Familie entstammte und der in regem Austausch mit Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Herbert Marcuse, Georg Lukács, Bertolt Brecht und Max Horkheimer stand, hat nicht nur mit seiner pessimistischen Geschichtsphilosophie (negative Dialektik) und fachphilosophischen Schriften zu Kant, Hegel, Husserl und Kierkegaard ein weitverzweigtes Werk geschaffen, sondern auch literarisch (Minima Moralia) wie musikalisch (einige Kompositionen) gewirkt.

Die aus heutiger Sicht düster scheinenden Kulturindustrie-Thesen entspringen einerseits der existentiellen Exilerfahrung des Autors, andererseits einer Prämisse, die das Wesen der Aufklärung betrifft. Im ersten Aufsatz der Dialektik der Aufklärung namens »Begriff der Aufklärung« gehen Horkheimer und Adorno von einem instrumentellen Vernunftbegriff aus: Vernunft hat ihnen zufolge in der europäischen Tradition einen Herrschaftscharakter und schlägt im Nationalsozialismus schließlich in Mythologie um. Der universelle Selbstzerstörungsprozess der Aufklärung gipfelt damit zwar im Faschismus, ist dabei aber nicht auf ihn beschränkt. Auch in Demokratien lebt die technisierte Moderne als Ausdruck der instrumentellen Vernunft fort und muss beständig einer Selbstkritik unterzogen werden. Der Eifer, mit dem Adorno massenkulturelle Phänomene geißelt, gründet demnach auf der Annahme, dass der über Jahrhunderte sich vollziehende und als fatal begriffene Aufklärungsprozess nicht an eine bestimmte Staatsform gebunden ist. Die wohl irritierendsten Passagen aus den Minima Moralia und dem Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung sind jene, in denen Phänomene der Populärkultur mit der nationalsozialistischen Propaganda gleichgesetzt werden. Amerikanische »popular songs« und nationalsozialistische Parolen sind ihm letztlich Ausdruck desselben autoritären Konformismus: »Fun ist ein Stahlbad.«

Ein bisschen Angst

Wir sind es heute auch aus philosophischer und kulturtheoretischer Perspektive gewohnt, Populärkultur gelassener zu analysieren und zu rezipieren. Doch bereits die Zeit- und Generationsgenossen Adornos hatten, zumeist indirekt, Einspruch gegen die kulturpessimistische Ausrichtung der Frankfurter Schule erhoben. Der beinahe gleichaltrige Literaturwissenschaftler Richard Alewyn (1902 –1979) – wie Adorno ein Emigrant, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurückgekehrt war – hatte ausgerechnet 1968, zu einem Zeitpunkt, als die Dialektik der Aufklärung mit großer Anteilnahme rezipiert wurde, einen Gegenentwurf zu Adornos Kulturindustrie-Thesen formuliert. In dem seinerzeit vielbeachteten Aufsatz »Anatomie des Detektivromans« feiert er Krimis als eine »Revolte gegen die Trivialität«, da in ihnen die Sehnsucht nach dem Ungewissen und Unwahrscheinlichen (die seltsamen, in der Wirklichkeit so gut wie nie vorkommenden Mordfälle) zum Ausdruck komme. Auch Alewyn ging davon aus, dass der Aufklärung Totalitäres anhaftet: Sie »hatte die ganze Welt zu einem grundsätzlich lückenlosen Kausalnexus erklärt und damit für Geheimnis keinen Raum mehr gelassen«. Und auch Alewyn geht von ihrer Dialektik aus. Aber sie führt bei ihm gerade nicht zu einer blinden Verschmelzung von Rezipient und Kulturindustrie, zu keiner unheilvollen Übereinstimmung von Individuum und kapitalistischen oder staatlichen Normen. Im Gegenteil: Der Zuschauer und Leser kostet mit jedem Krimi an einer in der Realität überaus selten gewordenen Frucht: dem Gewaltverbrechen. Was dem Krimi »noch heute Millionen zivilisierter Leser zuführt, […] [sind] das Bedürfnis nicht nach einer Bestätigung der trivialen Wirklichkeit, sondern nach ihrer Verfremdung« und der Hunger nach »ein bißchen Angst«.

Als kürzlich auf der kleinen Insel Langeoog ein Mordfall ermittelt wurde (Tatort-Folge Nummer 887), konnten die Behörden den Boulevardzeitungen nicht zuverlässig sagen, wann sich auf der bevölkerungsarmen Insel überhaupt je ein Gewaltverbrechen ereignet hat. Je weniger Morde in der Realität, umso mehr in der Fiktion Tatort