Cover

Friedrich Christian Delius

Mogadischu Fensterplatz

Werkausgabe in Einzelbänden

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Friedrich Christian Delius

Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, in Hessen aufgewachsen, lebt heute in Berlin. Mit seinen zeitkritischen Romanen und Erzählungen, aber auch als Lyriker wurde Delius zu einem der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren. Seine Bücher wurden in 18 Sprachen übersetzt. Bereits vielfach ausgezeichnet, erhielt Delius zuletzt den Fontane-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis sowie den Georg-Büchner-Preis 2011.

Im Februar 2013, aus Anlass des 70. Geburtstags des Autors, hat der Rowohlt Verlag eine Werkausgabe in Einzelbänden begonnen:

 

Bildnis der Mutter als junge Frau. Erzählung

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. Erzählung

Amerikahaus und der Tanz um die Frauen. Erzählung

Als die Bücher noch geholfen haben. Biografische Skizzen

 

Mein Jahr als Mörder. Roman

Ein Held der inneren Sicherheit. Roman

Selbstporträt mit Luftbrücke. Roman

Himmelfahrt eines Staatsfeindes. Roman

Adenauerplatz. Roman

 

Die Birnen von Ribbeck. Erzählung

Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus. Erzählung

Die Flatterzunge. Erzählung

Die Frau, für die ich den Computer erfand. Roman

Der Königsmacher. Roman

 

Wir Unternehmer/Unsere Siemens-Welt/Einige Argumente zur Verteidigung der Gemüseesser. Satiren

Die Minute mit Paul McCartney. Memo-Arien

Unsichtbare Blitze. Ausgewählte Gedichte

Über dieses Buch

«Delius’ Roman setzt dort ein, wo die Nachrichten einst endeten. (…) Spannend erzählt, ist ‹Mogadischu Fensterplatz› mehr als ein Thriller.» (Neue Zürcher Zeitung).

 

Die junge Biologin Andrea Boländer sitzt fünf Tage und Nächte als Geisel in einem entführten Flugzeug gefangen, gezwungen zur Passivität und zum Beobachten auf ihrem Fensterplatz Reihe zehn. Über den politischen Zusammenhang kann sie nur spekulieren. Provoziert von einem skandalös bürokratischen Fragebogen des deutschen Versorgungsamtes an die «Opfer von Gewalttaten» nach ihrer Befreiung, nimmt sich Andrea vor, die erlebten Schrecken minuziös zu beschreiben und in der Erinnerung zu wiederholen: die Todesangst, die Ungewissheit der ablaufenden Ultimaten, die unglaubliche Befreiung – das ganze absurde, blutige Theater des Terrorismus.

Delius protokolliert den Alptraum einer modernen Gefangenschaft – zwischen Terror, Politik, und Medien. Nach «Ein Held der inneren Sicherheit» ist «Mogadischu Fensterplatz» der zweite Teil einer Chronik des Jahres 1977, des Wendepunkts der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2014

Copyright © 1987 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-26763-5 (Neuausgabe, August 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-52051-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-52041-7

Die veröffentlichten Aussagen ehemaliger Geiseln, insbesondere der Passagiere des Lufthansa-Flugzeugs «Landshut», förderten die Arbeit an diesem Buch. Das aber gibt, selbstverständlich, nur eine Version wieder – die des Autors.

Eins

Ich werde den Antrag nicht ausfüllen. Name, Staatsangehörigkeit, Beruf, das ist schnell beantwortet, aber wenn ich gefragt werde, Welche Körperschäden haben Sie durch eine Gewalttat (§ 1 OEG) erlitten?, dann kann ich nur sagen: nein, so nicht. Denn ich weiß nicht, ob ich wirklich Schaden genommen habe, ob die Körperschäden zu beschreiben oder zu messen sind und ob ich sie mit Geld gemildert haben möchte.

Die andern Fragen sind noch verrückter. Was tun sie mir da an mit ihrem Antrag auf Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für die Opfer von Gewalttaten (OEG)! Den Tatort nennen, als wüssten den nicht alle Leute seit Wochen auswendig! Meine mögliche Verwandtschaft zum Täter angeben, seine Adresse sogar, und am Ende wünscht man Auskunft, ob ich schon einen Behinderten- oder Beschädigten-Ausweis beantragt habe. Nein, ich bin nicht behindert, bin nicht beschädigt von dieser Reise zurückgekehrt, im Gegenteil! Es war ein Umweg und sonst nichts!

Kein Beamter soll mich versorgen, kein Psychologe beleidigen, von Journalisten und Polizisten lass ich mich nicht länger auspressen. Zu lange habe ich mitgespielt. Die Aufmerksamkeit hat mir geschmeichelt, die Trinkgelder waren auch nicht schlecht, aber jeden Tag wurden meine Antworten routinierter, schneller, falscher. Jeden Tag mehr Verkürzungen, Beschönigungen, Klagen. Und jetzt dieser Antrag! Ich muss von vorn beginnen, noch einmal. Warum regt so ein albernes Formblatt mich auf, reißt mich zurück, lädt das Gedächtnis auf, schwemmt die Bilder, Grimassen und Laute heran, brennt mir den Gestank auf die Haut und schließt mich wieder ein in das Flugzeug?

 

 

Weit entfernt sehe ich eine andere Andrea Boländer, die vor fünf Wochen mit leichtem Gepäck in Palma einstieg, den Fensterplatz besetzte in der Reihe 10, nach dem Start sich zurücklehnte und einen Brief begann, Lieber Stefan, und drei oder vier ungeschickte Sätze schrieb, das Blatt vom Block riss mit der Absicht, das Nötige in einem Satz zu sagen, der aufhören sollte mit dem Wort «aus».

 

 

Plötzlich Schreie wie Blitze, ganz nah, von allen Seiten, schrille, zänkische Mädchenstimmen, hartes, unverständliches Befehlsgebrüll, kratzendes Englisch, polternde Schritte, die Schreie gleichzeitig vorn und hinten, immer lauter und bellend. Die Gedanken beschäftigt mit dem einen, schlagenden Satz für den Brief, nur das Gehör war schon hellwach mitten in der neuen Situation, von der ich noch nichts begriff, es sortierte die verschiedenen Heftigkeiten und Tonlagen der Geräusche: Angstkreischen, Zetern, Frauenschreie, Männergebrüll, Schreckensrufe. Nichts davon passte in ein Flugzeug. Die überraschende und anhaltende Detonation menschlichen Lärms sagte mir zuerst nichts, sie zeigte nur an, dass etwas Unerhörtes geschehen war oder beginnen sollte. Hands up! Hands up! Hands up!, das war das einzige und ständig wiederholte Gebrüll, das immer deutlicher alles andere übertönte.

Hände, lauter Hände, einzeln und paarweise, Arme, immer mehr Arme wurden zögernd in die Höhe gereckt, vorsichtig angewinkelt, als sei noch nicht sicher, ob der Befehl ein Befehl ist. Ich klemmte den Schreibblock mit dem Kugelschreiber ins Netz vor mir und gab, beinah ohne Angst und Hast, den Befehl an die Muskeln weiter. Sie gehorchten. Der Anfang einer Schwimmbewegung. Ich reihte mich ein. Schwamm reglos mit. Alle Passagiere, die ich von meinem Platz aus sehen konnte, hatten die Arme nach oben gestreckt. Die Protestrufe ebbten ab, die deutschen Schrecklaute verschwanden, aufgeregte und ängstliche Äußerungen eines winzigen Widerstands, aber es blieben die Kommandostimmen von Frauen und das Gebell eines jungen Mannes und hallten wider im Ohr und wurden wiederholt in der einzigen Sprache, die von nun an galt, Hands up! Hands up! Don’t move!

Eine der schreienden Frauen schritt an uns vorbei und hielt in ihrer Hand einen metallenen, faustgroßen Gegenstand, den ich nur in Filmen gesehen hatte und sofort erkannte, eine Handgranate. Ihr gellendes Gekreische Don’t move! Hands up! Don’t move! machte mir mehr Angst als die Granate, die sie wie ein Pfand hochhielt oder wie ein Beweisstück, als hätte sie sonst nichts, was ihr die Kraft geben könnte zu schreien mit einer erregten, explodierenden Stimme, die tatsächlich eher aus der Granate als aus dem Mund zu dringen schien. Und das war nur eine von mehreren Stimmen, denen wir einige zehn Sekunden lang und damit schon entschieden zu lange gehorchten, von Befehlen und Waffen überwältigt, zurückgedrückt in die Sessel und aufgehängt an den eigenen Händen.

Von vorn wurden Leute durch den Mittelgang getrieben, Stewardessen darunter, und weiter nach hinten gedrängt, ein junger Mann mit Pistole befahl die Richtung. Sie wurden gegeneinandergedrückt, wehrten sich mit verzögerten Schritten und versuchten, Körper an Körper stehend, im Gedrängel Schutz zu finden. Niemand wollte im Schussfeld der Pistole sein. Die Leute hielten die Hände hoch, aber nur halbhoch, in Kopfhöhe, denn sie mussten sich gleichzeitig festhalten beim Geschobenwerden. Das aufgerissene Gesicht einer Frau in meinem Alter, die sich empören wollte, aber nur irrend und geschlagen um sich blickte und Hilfe suchte in einem andern Gesicht, traf meinen Blick. Sie begriff nichts oder begriff doch alles, sie ahnte vielleicht, dass es jetzt nicht mehr darauf ankam, was wir begriffen. Sie, so schien es mir, sah mich genau so an wie ich sie, zwei Gesichter, die einander als Spiegel dienten und im gleichen Moment darüber erschraken. Es war wie in einer dunkel bekannten und plötzlich hart aufleuchtenden Filmszene, und erst mein kaltes Zittern verriet mir, dass wir nicht im Kino saßen. Eine abgewürgte Angst lief durch den Körper. Ich holte Luft, um gegen die Salve der Schreie der Bewaffneten anzuschreien. Aber die Gesichtsmuskeln waren steif geworden, die Kiefer öffneten sich nicht, die Stimmbänder blockiert und trocken, und zwischen den Zahnreihen hörte das Zittern nicht auf.

Die Hände hoch, wusste ich nicht, wohin mit dem Kopf. Mal hielt ich ihn geduckt, mal neugierig gereckt. Mit einer halben Drehung nach hinten konnte ich das Gedränge im Mittelgang sehen, die Leute wurden einzeln auf die freien Plätze im Heck befohlen. Wieder stießen neue Schreie auf die Echos der kurz zuvor gehörten Schreie, sodass es nicht die kleinsten Pausen gab und keine Gelegenheit, die eigene Reaktion zu überdenken.

Wir in der Reihe 10, ungefähr in der vorderen Mitte der Maschine, konnten sitzen bleiben. Wir wurden nicht getrieben, getreten, geboxt mit Faust und Pistolenlauf. Doch die Befehlsschreie kamen mir, obwohl sie mir nicht galten, so schlimm vor wie Hiebe. Sie trafen wie Schüsse, Schüsse, die durch die Ohren drangen, das Hirn löcherten, Schüsse, die keine Wunden zurückließen und doch auf eine ärgerliche Weise schmerzten und den Schmerz verstärkten, den die Ohren im Dauerfeuer des wiederholten Hands up! Don’t move! Hands up! auszuhalten hatten, ein Befehl, der überdies unnötig und absurd wurde, da wir längst alle gehorchten und in beflissener Ängstlichkeit die Arme hochreckten wie ungelenke Anfänger eines Gymnastikkurses.

Einer der Bewaffneten trieb einen Mann vor sich her, den Piloten, in dunkelblauer Uniform mit goldnen Armstreifen unter den erhobenen Händen. Er war blass, ergeben, erstarrt. Sofort sah ich das Cockpit leer, keine Hand am Steuerknüppel, niemand vor den Instrumenten und dem Funkgerät, wer fliegt uns denn jetzt, niemand, gleich stürzen wir, ein Selbstmordkommando, gleich stürzen wir, ab in die Tiefe, torkeln hinunter auf Felsen, aufs Meer, zerschellen auf Wasserbeton, bloß nicht ersaufen müssen, von Wellen erschlagen, ersaufen. Es rettete mich der Gedanke, dass mindestens zwei, vielleicht drei Männer die Maschine steuerten. Einer von ihnen war offenbar entbehrlich. Das Flugzeug glitt weiter über die Wolken hinweg, ruhig, mit zuverlässig pfeifenden Düsen. Als der Pilot oder Kopilot, das wusste ich in diesem Augenblick nicht, an uns vorbeigeführt wurde wie ein trauriger, gefangener Häuptling, sagte er leise:

– Alles tun, was die sagen! Alles tun, was die sagen!

Die Worte beruhigten mich, weil sie vernünftig klangen und weil es meine Sprache war, angenehm, vertraut, als hätte ich viele Tage in einem fremden Sprachgebiet gelebt. Gleichzeitig nahmen sie mir die Hoffnung, es könnte alles vielleicht doch nur ein Traum sein, ein Scherz, eine Übung. Die Pistole im Rücken der Uniform war erstaunlich klein. Die Augen der Passagiere folgten der Pistole, dem Piloten, dem brüllenden Mann, der mit der Waffe das Tempo der Bewegungen diktierte, und gingen dann ruckartig zu den Gesichtern der Nachbarn, als suchten sie, weit aufgerissen in einer fast verlegenen Hilflosigkeit, einen Halt wenigstens in der Nähe. Die Gesichter hatten sehr schnell alles Maskenhafte verloren, keines schien mehr getrimmt auf Schönheit, Erfolg, Urlaubslaune, so offen und ungeschminkt lag in ihnen allen der Schock. In der Erstarrung, die sich wie ein Mantel um die schüchterne Angst legte, war mir, als rückten auch die Uhrzeiger nicht weiter. Ich suchte Schutz und drückte mich an die Wand.

Mehrere Leute wurden umgesetzt, größere Kinder nach vorn geschubst, junge Männer von den Gangplätzen entfernt und auf Fensterplätze geschickt. Das zierliche Mädchen, das in meiner Reihe am Gang saß, wurde neben mich befohlen, und auf ihren Platz kam eine ältere Frau, die ihren Körper vor das heruntergeklappte Tischchen zwängen musste.

Die meisten Passagiere waren beim Essen gestört worden, sie hielten nun die Hände weit über die Tabletts hinauf in die Höhe. Die Bestecke der Leute links neben mir in der Reihe 10 lagen griffbereit an den Hühnchenknochen. Das Zellophanpapier über den Nachtischschälchen war noch nicht aufgerissen. Ich hatte das Essen abgelehnt, weil ich nach dem späten Frühstück keinen Hunger hatte und endlich den Brief schreiben wollte. Nun bekam ich plötzlich Appetit auf das Süße, das da unangetastet unter der Plastikverpackung in meiner Reichweite lag. Ich hätte sofort zugegriffen, selbst wenn es der schäbigste Vanillepudding gewesen wäre, hätte am liebsten drei oder vier Schälchen auf einmal geleert, hielt aber weiter, so tapfer wie feige, die Hände hoch, spürte das Süße oder die Einbildung des Süßen in der Nase, auf der Zunge, und dieser Geschmack linderte die Schreie.

Alles geschah blitzschnell. Stimmen, Bewegungen, Blicke kreuzten sich, prallten gegeneinander und zerfielen, neue Bilder schoben alles durcheinander, und leisere Befehle wie You should be quiet! oder Hey, put your hands up! klangen beinah milde. Nach außen hin wurden die Passagiere immer ruhiger, und Panik, so schien es, zeigten nur die Bewaffneten, schreiend, gestikulierend, es ging ihnen alles zu langsam. Einer rannte durch die Maschine, hielt hier einem die Faust vors Gesicht, dort die Pistole, kommandierte, schlug und keifte, bis er endlich vorn verschwand.

 

 

Sechseinhalb Zeilen lässt der Antrag für die Genaue Schilderung des Tathergangs. Mit sechseinhalb Zeilen kann ich nicht einmal das Durcheinander der ersten lärmenden Sekunden schildern, in denen sich die Ereignisse gegenseitig überlagerten, auslöschten, überboten.

Ein Schlag aufs Trommelfell, ich riss den Mund auf, ein Schrei aus dem Lautsprecher. Eine männliche Stimme, heftig und überraschend nah in unerträglicher Lautstärke. Fast hätte ich die Hände heruntergenommen, um die Ohren zuzuhalten, aber ich streckte sie, erschrocken über meinen Reflex, rasch wieder hoch und ließ geduckt das Gebrüll über mich ergehen wie den Krach eines Tieffliegers. Ein Tiefflieger verschwindet, aber dieser Krach blieb über uns und hieb auf das Trommelfell ein, nichts war zu verstehen, nur furchtbares Englisch, in einem rauen, drohenden Akzent. Ich meinte Wortfetzen herauszuhören wie Follow the instructions, shot, executed. Endlich schien der Mann zu merken, dass seine Anstrengung umsonst war. Er befahl eine Stewardess zu sich. Von hinten kam Schluchzen. Dann schrie er wieder los und versuchte seine Ansage leiser und verständlicher zu machen. Aber er schaffte es kaum, die erregte Stimme kippte ihm wieder in bellendes Geschrei hinauf.

Er nannte sich Captain und fügte einen unverständlichen Namen an. Er brüllte etwas wie: This airplane is under my command! Er sagte: Whoever refuses to follow my command will be executed immediately! Er wiederholte: Will be executed immediately! Die Stewardess übersetzte: Wer meinen Anweisungen nicht Folge leistet, wird erschossen. Sie übersetzte die Wiederholung nicht und sprach die Ausrufungszeichen nicht mit, sie bemühte sich, den gewohnten Stewardessenton beizubehalten.

– Tun Sie bitte, meine Damen und Herren, was Captain Jassid sagt.

Sogleich ging es weiter, in englischer Brüllsprache: Wer die Hände nicht über den Kopf hält, wird erschossen! Wir hielten die Hände schon viele Minuten lang hoch wie befohlen, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie wir das noch länger aushalten sollten. Er brüllte: Wer redet, wird sofort erschossen! Er machte eine Pause, als wollte er horchen, ob jemand zu widersprechen wagte. Wer nicht sofort das Rollo am Fenster schließt, wird erschossen! Ich überlegte einen Augenblick, wie ich mit erhobenen Händen das Rollo herunterziehen sollte. Auch andere auf den Fensterplätzen schienen zu zögern, dann wurde der Mann am Mikrophon deutlicher: Alle, die am Fenster sitzen, sollen die Rollos schließen und sofort wieder die Hände über den Kopf halten! Wir warteten auf die Übersetzung und zogen gehorsam die Rollos herunter, und ich nahm nicht einmal die Gelegenheit wahr, noch einen Blick auf ein Wolkengebirge oder hinab auf das Meerblau zu speichern. Ich folgte eilig dem Befehl wie die anderen, war beinah erleichtert, die aufdringliche Helle, den unendlichen, ärgerlich freien Raum hinter dem Guckloch wegschieben zu können und meine geschützte Ecke dunkel zu haben. Der Schreihals schien mit uns zufrieden zu sein, in milderem Ton sagte er: Wer redet, wer auch nur ein Wort redet, wird erschossen! Als die Stewardess das übersetzt hatte, klang unser Schweigen anders als in den Pausen vorher. Ich merkte, wie ich nickte, stumm mein Einverständnis gab.

Und jetzt die Bestecke! Wer nicht sofort alle Essbestecke in den Mittelgang wirft, wird erschossen! Ich sah auf das Besteck meiner Nachbarin, das noch auf dem Tablett am Gangplatz über den Knien der älteren Dame lag. Wir fixierten das kurze Messer, den Teelöffel, die schmale Gabel. Die Dame am Gang fühlte sich offenbar nicht zuständig, sie wandte den Blick nach vorn, als gehe von dem fremden Essbesteck eine Gefahr aus oder als wolle sie prüfen, was die anderen Leute taten. Meine Nachbarin zögerte, nach dem Besteck hinüberzugreifen, sie sah ratlos hin, dann fragend zu mir. Erst jetzt entdeckte ich, dass das Plastikmesser und die Plastikgabel schon abgewischt und ordentlich am Tablettrand lagen, als hätte die Benutzerin sie gerade in die Handtasche packen wollen zum Andenken an eine Lufthansareise oder als Mitbringsel für Kinder. Die anderen Passagiere gegenüber hatten Messer und Gabel und Löffel längst in den Gang geworfen, plötzlich griffen beide Frauen neben mir entschlossen zu, vielleicht um die Gelegenheit zu nutzen, einem der Arme für einen kurzen Moment etwas Bewegung zu verschaffen, und die Jüngere war schneller, vielleicht weil sie sich von mir ertappt fühlte. Als ich das Besteck auf dem kotbraunen Läufer im Mittelgang verstreut liegen sah, die spitzen Zinken und geschliffenen Schneiden, begriff ich endlich den Befehl. Es waren Waffen. Es wären Waffen gewesen, wenn irgendeiner der Passagiere imstande gewesen wäre, ein brüchiges kleines Messer, eine Gabel ins Auge oder ins Herz eines Angreifers zu stoßen. Nun lagen diese lächerlichen und unbrauchbaren Waffen da wie achtlos hingeworfenes, billiges Beutegut nach einem verlorenen Feldzug. Wir hatten nicht einmal gekämpft und schon verloren, da lag wieder ein Beweis.

 

 

Im Antrag steht etwas von Abwehr. Sind Sie bei der Abwehr des rechtswidrigen Angriffs von anderen Personen unterstützt worden? Ja – nein. Gegebenenfalls von wem? Wer kann, wer will begreifen, dass wir uns nicht einmal gewehrt haben? Ich habe keinen Angriff abgewehrt, es hat mir niemand geholfen. Auch ich habe keiner Person geholfen, nicht einmal meiner Nachbarin, nicht einmal mit ein paar Worten. Stumm haben wir die Gewalt über uns ergehen lassen, reglos, eingerollt, stumm.

 

 

Ein Kind weinte, es redete im Weinen. Wird der Kerl das Kind anbrüllen, schlagen, erschießen? Ich hätte ihm alles zugetraut. Er befahl vier älteren Frauen, das Besteck aufzuheben und nach vorn in die Erste Klasse zu bringen. Die Frau, die für den Mittelbereich eingeteilt war, sah niemanden an, blickte verschämt auf den Boden, krümmte den Körper und bückte sich, während hinter ihr eines der Mädchen mit der Handgranate stand, wurfbereit, jede Bewegung kontrollierend. Das Kind weinte leiser. Dann mussten die Esstabletts eingesammelt und nach vorn gebracht werden. Die Hände der Frau, die das Tablett in unserer Reihe wegnahm, zitterten, ich fürchtete, sie werde es nicht festhalten, sie werde nicht mehr als zwei Tabletts tragen können, alles fallen lassen oder stürzen, aber sie ging mit vier oder fünf davon. Ich trauerte den Süßspeisen nach.

Das Kind weinte nicht mehr. Die Stille der Düsengeräusche wurde nur vom Klappern der Tabletts unterbrochen, bis eine ältere männliche Stimme von vorn durch die Kabine krähte:

– Was fällt Ihnen ein! Ich habe noch nicht aufgegessen!

Ich streckte die Arme weiter nach oben, um den Kopf unauffällig höher heben zu können. Don’t talk! Don’t talk! Shut up! Don’t move! Eins der Handgranatenmädchen herrschte den Alten an und die Frau, die nicht wusste, ob sie dem Befehl folgen und das Tablett wegnehmen sollte.

Der Alte ließ sich nicht einschüchtern oder verstand nichts, er protestierte sogar heftiger:

– Was fällt Ihnen ein! Ich bin noch nicht fertig! Ich will weiteressen! Lassen Sie mich in Ruhe!

Ein Tumult, ein überraschender Widerstand brach auf, der Anführer verließ das Mikrophon und brüllte, die dolmetschende Stewardess kam hinzu. Man redete hin und her, und die Stimme des Alten stach immer seltener von den anderen ab. Nach kurzer Verhandlung ging jeder wieder auf seinen Platz, der Alte schwieg.

Sofort waren die Schreie aus dem Bordlautsprecher wieder da, böser und härter als vorher. Wer Waffen dabeihat, legt sie in den Gang! Niemand rührte sich. Alle harten Gegenstände, Messer, Feuerzeuge, Kämme, raus damit! Pause. Wer jetzt noch Waffen bei sich hat, wird erschossen! Die Männer wurden aufgefordert, einer nach dem andern, in den Gang zu treten. Sie wurden durchsucht. Manche geschlagen. Minuten, die nur unterbrochen waren vom klatschenden Geräusch einer Hand, die in ein Gesicht traf. Der Captain schrie What’s that? What’s that? Er hielt eine Nagelfeile hoch. That’s a weapon! Weapon!, schrie er und schlug wieder zu. Bei jedem Schlag zuckte ich zusammen, als täte es mir weh, und es tat mir weh, ich saß wie gelähmt und versuchte, die hochgestreckten Arme gegen die Ohren zu pressen. Das Mädchen neben mir lehnte seinen Oberarm an meinen. Wir sahen nicht hin, wenn geschlagen wurde, wir hörten nur das hässliche Klatschen von Fleisch und Knochen gegen Fleisch und Knochen, begleitet von Schreien, die nicht die Schreie der Geschlagenen waren, sondern die Schreie der Schläger. Frauen blieben von der Durchsuchung verschont. Uns trauten sie offenbar keine Angriffsabsichten und keine versteckten Taschenmesser zu.

Der selbsternannte Captain war mit seinen Kommandos noch nicht fertig. Jeder wirft seinen Ausweis auf den Gang! Und alle zionistischen Waren, raus damit! Ich warf den Ausweis hin und überlegte, was er mit zionistischen Waren meinte. Wir kamen nicht aus Israel. Orangen hatte ich nicht dabei. Ich erinnerte mich nicht, in letzter Zeit Waren mit dem Aufdruck Made in Israel gesehen oder gekauft zu haben. Woher sollte ich plötzlich die Herkunft der Gegenstände kennen, mit denen ich mich umgab? Und warum sagte er nicht israelisch, wenn er israelisch meinte? Oder meinte er Waren, die irgendwo in der Welt von Juden gefertigt oder verkauft wurden?

Schon folgte der nächste Befehl. Das Handgepäck sollte bereitgehalten werden zum Einsammeln. Ich nahm meine rostrote Leinentasche auf den Schoß. Alles tun, was die sagen. Die Zeitung und den Schreibblock mit dem Kugelschreiber im Netz vor mir prüfte ich kurz und entschied, dass das alles nicht zum Handgepäck gehörte. Ich befolgte den Befehl nicht hundertprozentig. Zum ersten Mal in diesen chaotischen, von einer neuen Ordnung diktierten Minuten spürte ich den Wunsch nach einem winzigen Widerstand, und ich wusste, ich würde nur die Dumme spielen können, wenn man mir mit Vorwürfen oder Schlägen käme. Aber der Wunsch war stärker, die wenigen Sachen bei mir zu haben, die ich mir für den dreistündigen Flug zurechtgelegt hatte. Die Bereitschaft zu einem ersten, kleinen Risiko war für einen Augenblick größer als die Angst. Von vorn die Brüllstimme: We don’t want your money, lady! We don’t need your jewels! Keep it! Keep it! Die kleinere der beiden Frauen umklammerte die Handgranate in der einen Hand und nahm meine Tasche in die andere, ich spürte ihren Blick. Du bist also auch dabei! Das war nicht einmal böse gemeint, fast wie der Begrüßungsblick des Flugpersonals beim Betreten der Maschine. Unter der Granate baumelte der herausgezogene Sicherungsstift. Sie ging stumm zur nächsten Reihe vor und ließ sich weiter beladen. Ich dachte, die kennst du doch! Du kennst eine, die so aussieht wie die da!

Captain Jassid schrie durch die Lautsprecher, wir sollten weiter die Arme hochhalten, aber wir dürften sie auch auf die Lehne des Vordersitzes stützen. Nach der Übersetzung folgten keine weiteren Anweisungen. Ich wollte die Arme sofort nach vorn sinken lassen, aber sie waren schon so schwer und wie gebrochen in einen Befehl gegipst, dass sie nur verzögert reagierten, bis sie aus der wackligen Starre fielen. Heftig krallte und spannte ich die Finger, bis das Blut wieder zu kreisen begann und wie eine feine Spur nachlassenden Schmerzes von den Armen aus durch den Körper und bis in den Kopf zog.

 

 

Der geordnete Ablauf der einzelnen Etappen dieses Überfalls hielt mich so in Atem, dass die Fragen nach dem Warum immer wieder zurückgedrängt oder von neuen Ereignissen überlagert wurden. Alles, was da geschah, war so irreal wie eine Traumszene, die in einen Albtraum umkippte. Das Irreale aber wurde mit größter Sorgfalt abgewickelt. Wie sie uns plünderten, einschüchterten, wehrlos machten, das hatte eine Ordnung, eine Logik, die sich kaum von der Logik der Anweisungen für Notlandungen unterschied. Eher verblüfft als hilflos war ich meinen Beobachtungen und Empfindungen ausgeliefert. Alles ging zu schnell und zu langsam zugleich. Erst allmählich stellte sich der Begriff für all diese Vorgänge ein, Entführung. Es ist tatsächlich eine Entführung, was hier stattfindet! Und diese Leute da, das also sind Entführer!

 

 

Im Magen ein Würgen. Ich wollte die Hand auf den Bauch legen. Etwas essen. Der Magen gab dem Kopf das Signal, endlich Fragen zuzulassen. Der Kopf stellte sich dumm, kam noch nicht darüber hinweg, dass er gefangen gehalten war von Pistolen, Handgranaten und Befehlsschreien. Der Kopf wusste nicht weiter. Alles tun, was die sagen. Niemand wusste, wer die vier Bewaffneten waren, was sie wollten und was sie ausgerechnet von uns wollten. Aus ihrer dunkleren Hautfarbe und aus dem Befehl, zionistische Waren abzugeben, ließ sich schließen, dass es sich um Araber handelte, vielleicht Palästinenser. Auch der Name Jassid wies in diese Richtung. Aber was konnten die vier mit einer Lufthansamaschine voll Urlaubern vorhaben?

Die Angst kam schubweise. Sie rollte mit diesen Fragen heran, die in den ersten Minuten oder Viertelstunden blitzartig, dann immer wuchtiger und nacheinander durch Magen und Kopf schossen. Schnell schoben sie mich auf das Ende zu. Die schöne Sicherheit des Gedankens: Tod, Schluss, Aus.

FASTEN SEAT BELT – bei jeder kleinen Turbulenz in der Luft kommt die Aufforderung zum Anschnallen, aber nun, da wir geradeaus in den Tod fliegen, leuchten die Signale nicht auf! Nicht die schussbereiten Waffen, nicht die turnstundenhafte Ordnung unserer aufgereihten, hilflosen Hände, nicht diese Lähmung war es, die mich an den Tod denken ließ. FASTEN SEAT BELT, das war das höhnische Menetekel, wir werden sterben und sind nicht einmal angeschnallt! Ich war ganz nüchtern, als mir zum ersten Mal der Gedanke kam, wir werden sterben, es dauert ein paar Minuten, und alles ist vorbei. Ich hatte Angst davor, unangeschnallt abzustürzen, aber fürchtete kaum den Tod. Ich rettete mich hin zu der Vorstellung, was ist, wenn ich tot bin, was ist dann? Einfach tot sein und lauter Fehler gemacht. Nicht einmal Stefan den Laufpass gegeben, den Brief viel zu lange hinausgezögert. Schon vor der Reise hätte ich sagen können, mach dir bitte keine Hoffnungen mehr. Nichts als Unordnung werde ich hinterlassen. Ach, es war alles egal. Wenn ich tot bin, wird er weinen? Hätte er geweint, wenn er den Brief bekommen hätte? Nein. Und Rainer, wird der weinen? Beide weinen, die ungleichen Freunde, aber jeder anders, und wie wird das aussehen? Ich dachte kaum an die Eltern, die Kollegen, die Freundinnen. Stefan und Rainer weinten im Wettstreit miteinander, als kämpften sie zum letzten oder zum ersten Mal um mich. Ich wäre gern dabei gewesen. Im schwarzen Anzug Rainer vor dem Spiegel, er rasiert sich, welches Rasierwasser hat er auf der Haut bei meiner Beerdigung? Ich sah im Spiegel mich, ihm über die Schulter blickend, der Spiegel beschlug. So klammerte ich mich an die Vorstellungen vom Ende, an die schmeichelnden Phantasien, andere um mich trauern zu sehen. Nein, ich hatte mich noch nicht aufgegeben, im Gegenteil, der Gedanke an mein Begräbnis hielt mich am Leben. Sonne schien auf dem Friedhof. Ich hielt die Schaufel fest, ich gab sie nicht aus der Hand. Es war die einzige Schaufel, die Zeremonie geriet durcheinander, wurde unterbrochen, die Leute liefen lachend zum Ausgang und warfen sich in die Autos.

 

 

Ich könnte sagen, ich bin tot gewesen, viele Male tot in diesen fünf Tagen, das wäre keine Übertreibung. Aber es käme mir übertrieben vor, von Körperschäden viel Aufhebens zu machen. Zwei Zeilen für die Frage Welche Körperschäden haben Sie durch eine Gewalttat erlitten? Habe ich gelitten, und was habe ich erlitten? Zu solchen Wörtern greifen die Herren aus den Ämtern, wenn sie mal nicht bürokratisch sein wollen!

 

 

Die schmerzenden Arme erhoben, nicht angeschnallt, ohne Gepäck, im letzten Hemd, rechts das vom Rollo abgedeckte Fenster, nein, kein Sargfenster. Nach links alles offen. Ich war nicht allein, mein Arm berührte den Arm meiner Nachbarin, ein Mädchen von siebzehn oder achtzehn Jahren. Ich traute mich nicht, das Sprechverbot zu übertreten und flüsternd nach ihrem Namen zu fragen. Alles tun, was die sagen. Sie seufzte mehr als ich, sie zitterte mehr, sie war jünger, blonder, hübscher als ich, nichts wusste ich von ihr, aber sie schien mir langsamer im Begreifen, und ich war plötzlich sicher, sie wird vor mir verrückt werden.

Bloß nicht verrückt werden! Du bist nicht persönlich gemeint. Bleib ruhig. Alles tun, was die sagen. Alles tun, was die sagen. Du bist nur ein Objekt für diese Leute. Wenn du eine Chance hast, dann die: Möglichst gelassen bleiben. So tun, als wärst du schon tot. Als wäre alles Schlimme hinter dir. Als könne dir nichts mehr passieren. Schlaf oder schau hin. Bleib die du bist, die Forscherin. Auch wenn es nichts mit deiner Zoologie zu tun hat, ein Experiment ist es auf jeden Fall. Alles tun, was die sagen. Alles beobachten und im Gedächtnis speichern, was du hörst, was du siehst, was du fühlst in deinen Nervenzellen!

 

 

Mit der Vernunft immer geradeaus, mit den Beruhigungsformeln allein im Kabinenschlauch, mit dem Forschertrost zwischen die starr nach vorn gerichteten Sessel gepfercht. Alles tun, was die sagen. Die Vernunft ließ mir keine Ruhe und wollte wenigstens die Richtung wissen. Die Fenster zugezogen, es gab nicht den geringsten Hinweis, ob wir über das Meer, über die Alpen, über deutsche Felder hinwegflogen oder längst abgedreht waren nach Süden, nach Osten oder sonstwohin. Mit neunhundert Kilometern in der Stunde schossen wir in eine unbekannte Richtung, gefesselt in einer geräumigen und doch viel zu engen Rakete, aus der Welt herauskatapultiert, abhängig nur von den Treibstoffvorräten, ziellos und abgehoben, vergessen und eingesperrt in der Atmosphäre, im Luftraum irgendwo über Europa. So ist das, in der Luft zu hängen, sagte die Vernunft. Die unermessliche Fallhöhe unter den Füßen, gefangen im unsichersten aller Elemente schwebend, nichts Festes zum Greifen, kein Boden zum Stehen, keine Möglichkeit anzuhalten, zur Schnelligkeit verdammt, und keine Chance zu entkommen. EXIT. Die Tür so nah. EXIT für Fallschirmspringer. Alles tun, was die sagen. Entweder entkamen wir alle oder es entkam keiner. Wir gehörten alle zusammen, Freund und Feind. Wenn wir nicht abstürzen wollten, hatten wir auf die Entführer Rücksicht zu nehmen, und sie auf uns. Die Jungen und Mädchen mit den Handgranaten, sie müssen besonders vorsichtig sein, sagte die Vernunft. Ihre Waffen können sie hier oben gar nicht benutzen. Trotzdem sah ich es genau vor mir, das Loch in der Bordwand, ein Schussloch, ein Granatenloch, die eisige, sauerstoffarme Luft dringt ein, die Maschine taumelt, wir werden im Sturz zerfetzt vom Luftstoß, vom Aufschlag aufs Meer oder auf einen albernen Felsen, ich sah das Loch, spürte den Luftzug, fiel unangeschnallt und stürzte, wieder einmal kopfüber aufs Ende zu. Im Fallen der Trost, die Waffen sind wirklich sinnlos, viel zu gefährlich. Solange wir in der Luft bleiben, kann nicht viel passieren. Alles tun, was die sagen. Alles tun, was die sagen.

Die Arme schmerzten so heftig, dass ich nur auf mich und meinen Körper sah und die vernünftigen Vorsätze wieder vergaß. Kein Blut in den Händen, die immer schwerer wurden. Dann und wann streckte ich die Finger, ballte sie zur Faust, spreizte sie wieder und versuchte so, das Blut besser zirkulieren zu lassen. Es kribbelte nicht mehr in den Armen, sie blieben wie abgestorben. Ich fühlte mich von ihrem Gewicht erschlagen. Zwei oder drei Meter entfernt stand die wachsame Entführerin, die jeden anherrschte, der die erschöpften Arme für einen Augenblick sinken ließ. Hands up! Put your hands up! In Reihen geordnet hintereinandersitzend mit leeren, kraftlos gestreckten Gliedern – das Bild kam mir bereits vertraut vor. Wir gaben unseren Körpern den Anschein einer soldatischen Ordnung oder einer Unordnung, wie sie die Geschlagenen, die leicht Verwundeten an den Tag legen, die nicht mehr im Gleichschritt, aber noch in einem einheitlichen Gefüge marschierenden oder schlurfenden Kriegsgefangenen.

Gefangen, aber mit welchen Unterschieden! Wir saßen und durften uns nicht bewegen. Wir hatten nicht geschossen, wir marschierten nicht. Wir hatten an alles andere als an Krieg gedacht, an Gefangenschaft und Bombennächte. Mit der Scheckkarte sind wir in ein Reisebüro geschlendert und nach Mallorca geflogen. Wir wollten Ruhe, Sonne, Abwechslung. Und jetzt auf engstem Raum zusammengepfercht, der nur in Zentimetern zu messen war. Der Abstand von Rückenlehne zu Rückenlehne, achtzig Zentimeter vielleicht. Auf schmale Polstersitze gezwängt, millimeternah am Sitznachbarn. Von Beinfreiheit keine Rede, die Füße steckten wie in einem Kasten. Wenn ich sie einmal, die Hacken aneinander, nach außen wendete, war die ganze Bewegungsfläche schon ausgefüllt. Unmöglich, die Beine hochzuziehen, anzuwinkeln oder in anderer Weise zu bewegen, und so wurden sie schwerer und schwerer. Wenn ich die Arme ganz hoch reckte, wichen die Schmerzen für einen Moment, und ich erreichte die Deckenverkleidung, tastete die Luftdüse ab, den Lampenschalter, und vermied es, den Rufknopf zu berühren. Leicht war meine Zelle auszumessen, nach links hin offen und begrenzt von zwei Menschen und hinter dem Mittelgang noch einmal drei, bis zur Wand gegenüber also sechs Passagiere auf vielleicht vier Metern aufgereiht. So hockten wir und warteten nach nur einer Stunde Gefangenschaft schon auf nichts anderes als auf eine kleine Erleichterung.

Jede Regung, jedes kleinste Körpergefühl war abhängig von denen, die uns in ihrer Gewalt hatten. Die Schmerzen, die Empfindungen, alles wurde von ihnen diktiert. Alles tun, was die sagen. Ich konnte nichts tun, nichts ändern, ich hatte nur meine vernünftigen Vorsätze. Ich war froh, nicht Stewardess zu sein und nicht die Verantwortung der Piloten zu haben, die versuchen mussten, Einfluss auf die Entführer zu gewinnen. Ich hatte keine Aufgaben, keine Rechte, keine Stimme, ich konnte denken und wünschen, was ich wollte, es war völlig unerheblich.

 

 

In der Skinnerbox lief die Ratte herum, eben eingesetzt in den Käfig, eingesperrt zwischen Holz, Metall und Glas, und hinter dem Glas das Kameraauge. Sie tappte, schnupperte, prüfte alle Winkel ihres Kastens ab. Die Ratte brauchte Stunden, um sich an die Enge zu gewöhnen, Stunden, um die Hebel zu entdecken. Wie lange brauchte sie, um herauszufinden, dass beim Drücken eines bestimmten Hebels Futter in den Napf fiel? Wie lange brauchte sie, bis sie gelernt hatte, ihre Entdeckung zu wiederholen und sich mittels Hebeldrücken regelmäßig Nahrung zu verschaffen? Wie lange brauchte sie, um sich heimisch zu fühlen in ihrem Kasten? Die Ratte lief mir schwarz-weiß vor die Augen wie in dem Film für Biologiestudenten des ersten Semesters.

 

 

Nah vor mir, in der Mitte der Maschine, war eine der beiden jungen Frauen postiert. Mit großen, hündisch wachsamen Augen stand sie da, einsatzbereit mit ihrer Granate, die sie mal in die Rechte, mal in die Linke nahm, immer hochgereckt und wurfbereit, in drohender Haltung. Die schwarzen Haare hingen ihr auf die Schultern. Sie war groß und stämmig, ein mürrisches Wesen, unberechenbar. Ihr Gesicht wirkte fast traurig, trotz aller Aufmerksamkeit nicht verkrampft, und es gelang mir nicht, eine Antwort darin zu finden, was sie mit uns vorhatten. Je länger ich sie beobachtete, desto weniger Hass entdeckte ich in ihren Zügen. In dem jungen Gesicht fielen die dicklichen Wangen auf. Wie ihre Komplizen war sie wenige Jahre jünger als ich. Anfang bis Mitte zwanzig.

Ganz vorn stand der zweite Mann, mit Pistole. Er wirkte weniger aufgeregt als die andern. Er brüllte weniger, er schien fast schüchtern. Er sah auffällig aus, dieser Pirat in seinem pastellgrünen Anzug, eher ein Dressman, mit blitzend blauen Augen, schwarzem Haar. Einer, den jede Gans als gut aussehend bezeichnen würde, mit einem Charme, der auch mir gefiel. Aber je länger ich ihn betrachtete, desto mehr fiel das Routinierte seines Gehabes auf, die gefährliche Glätte eines Filmschauspielers, das unsympathisch Perfekte. Wie er sein Brusthaar vorzeigte, so gekonnt unaufdringlich, das Hemd nur so weit offen, wie es für eine Andeutung erforderlich war, das verriet einen, der es nötig hat anzugeben und der deshalb der Gefährlichste, der Kälteste von allen werden konnte.

Sie redeten sich untereinander mit Nummern an. Number sixteen, go there! Number thirty-one, wait! Das passte zu ihrer Befehlssprache, aber es beunruhigte mich mehr und mehr. Der Verzicht auf Namen bedeutete etwas, das mit den Regeln der Konspiration allein nicht zu erklären war. Sie hätten sich ja auch mit Decknamen anreden können oder mit den Nummern eins bis vier. Aber sie gebrauchten so undurchschaubare Zahlen wie 16, 22, 28 und 31. Was für Personen sind das, die auf ihre Namen verzichten?

Teile eines fernen Apparats, dem sie gehorchten? Waren wir gar nicht vom Wohlwollen oder den finsteren Plänen dieser vier Entführer abhängig, sondern von ganz anderen Hintermännern, die ihre Nummern 16, 22, 28, 31 auf uns losließen?

Eine ganze Weile hatte ich gehofft, die Entführer wollten nichts anderes als Geld, etliche Millionen Mark oder Dollar. Nun landet endlich und lasst euch von irgendwem die Millionen auszahlen, damit wir bald wieder frei sind! Ich gönn euch die Millionen, ihr seid so jung, ihr habt etwas erreicht, haut endlich ab und verjubelt eure Millionen! Ich wünschte ihnen alles Gute, nur um nicht über das Naheliegende spekulieren zu müssen, einen Überfall von Palästinensern. Aber die Nummern störten, sie verrieten einen politischen Hintergrund, sie passten zu der drohenden Frage nach den sogenannten zionistischen Waren. Die Ahnung, in ein politisches Drama hineingezogen zu werden, war nicht länger zu verdrängen. Von vorn, aus dem Cockpit oder der ersten Klasse, war hin und wieder die Schreistimme des Anführers zu hören. Vielleicht diktierte er unserem Kapitän das Ziel oder verhandelte mit Flughafenleuten über die Route, die Forderungen, die Landung. Ich war froh, ihn wenigstens nicht zu sehen, diesen Schreihals mit dem irren Blick.