Richard Surface

DAS VERMÄCHTNIS

Thriller

Aus dem Englischen

von Zoë Beck

Teil I

Kapitel 1

München – 21. Februar 2003

Sie banden die Hände des alten Mannes mit Kabelbindern hinter seinem Rücken fest, brachten eine Metallklammer an und zerrten ihn in den Park hinter dem Museum. Es ging alles sehr schnell.

Früher am Abend hatten sie die beiden Straßenlampen, die am nächsten standen, mit Leinenbeuteln verhängt. Es herrschte jetzt vollkommene Dunkelheit – abgesehen von einer mondbeschienenen Stahlskulptur mit dem Titel „Moderner Baum III“. Über einen „Ast“ dieses Baums, in mehr als sechs Metern Höhe, war ein Nylonseil geschlungen. Sie hakten die Metallklammer an das Seil und drehten an dem langen Griff der Kurbel des Flaschenzugs, der am Fuß der Skulptur verankert war. Die Hände des Mannes wurden hochgerissen, als er in die Luft gezogen wurde. Sein gesamtes Gewicht hing nun an seinen Armen. Als er oben war, lösten sie die Rücklaufsperre. Der Mann fiel sechs Meter in die Tiefe, doch kurz bevor er auf den Boden aufschlug, rissen die Männer den Kurbelgriff herum und stoppten das Seil. Es ertönten ein ohrenbetäubendes Kreischen und das Geräusch brechender Knochen. Sie lösten die Rücklaufsperre, und der Mann fiel ins Gras.

Ein junger Mann mit glattem, langem Haar hockte sich neben ihn. „Wo ist es?“

Ein dünner, klagender Ton war die einzige Antwort.

„Läsionen am Plexus des Oberarms. Verletzungen der Nerven, Bänder und Sehnen. Es wird nicht besser, alter Mann.“

Er öffnete eine kleine Ledertasche und holte etwas hervor. „Siehst du das?“ Er hielt dem Mann eine Spritze vor das Gesicht. Die Nadel schimmerte im Mondlicht. „Das ist die Erlösung. Ein sanfter Tod. Sag uns, wo es ist und wie wir drankommen.“

Der Mann auf dem Boden schloss die Augen.

Noch drei Mal zogen sie ihn hoch und ließen ihn wieder fallen. Sie wechselten sich an der Kurbel ab, weil das Hochziehen schwer war, selbst mit dem langen Hebel. Beim fünften Mal übertraf der Schmerzensschrei schließlich alle vorangegangenen.

„Jetzt hat es die Achsel zerrissen“, sagte der junge Mann und ließ seinen Blick über die nutzlos herabhängenden Gliedmaßen und die nackte Angst im Gesicht des Mannes wandern. „Das hab’ ich gemeint, als ich gesagt habe, dass es nicht besser wird. Sagst du’s mir jetzt?“

Die Augenlider des alten Mannes flatterten, und seine Lippen bewegten sich lautlos.

Der Jüngere ging zu seinem Kollegen am Flaschenzug, um sich mit ihm zu beraten. Dann kehrte er zu der reglosen Gestalt im Gras zurück.

„Nachdem es mit dem physiologischen Ansatz nicht geklappt hat, probieren wir jetzt den psychologischen“, sagte er und nahm die Spritze in die Hand. Die Nadel zeigte gen Himmel. Er drückte leicht den Kolben, und eine winzige braune Blase formte sich auf der Spitze. „Ich beziehe mich auf die seelischen Qualen, die aus dem Wissen heraus entstehen, dass wir uns deinen Enkel vornehmen, wenn wir mit dir fertig sind.“

Der Alte blinzelte, dann schloss er die Augen.

„Gabriel. Der Engel Gabriel“, sagte der junge Mann, fuhr mit zwei Fingern über den Hals des Alten, wischte Dreck und Schweiß weg, um die Arterie freizulegen. „Die letzte Chance, ihn zu retten.“

Er wartete, dann warf er seinem Kollegen einen Blick zu, der kurz nickte.

„Eine Schande, dass Gabriel so viel früher zu den Engeln gehen wird als die siebenundsiebzig Lenze, die du genossen hast, alter Mann.“

Er führte die Nadel ein.

„Verdammtes Vermächtnis“, sagte er.

Dann drückte er auf den Kolben.

Kapitel 2

Amsterdam – 21. Februar 2003

Es war Mitternacht, aber die Fahrräder strömten noch immer durch die Stadt. Ihre Fahrer kämpften gegen den von der Nordsee herüberpeitschenden Wind und Regen an. Für einsame Herzen mit Geld und einer Neigung zum Selbstbetrug herrschte in der ruhigen Wohnstraße an einem der Kanäle südlich des Hauptbahnhofs eine andere Gangart. In einem alten Stadthaus, dessen Schild „Yab Yom“ so dezent war, dass man die Stufen hinaufgehen musste, um es zu lesen, hatte sich Arthur Whyte so auf einem Barhocker platziert, dass er den Flur, der zur Treppe führte, im Auge behielt. Über die Treppe gelangte man zu den Privaträumen. In einem der Zimmer saß ein Süd-Molukke auf dem Rand einer kreisrunden Badewanne, in der einen Hand einen Joint, in der anderen die dicken Zöpfe eines rumänischen Mädchens. Draußen hörte es auf zu regnen, aber der Wind blies weiter. Die Stadt schimmerte nass und dunkel. Der Molukke blies Rauch aus, der in einer violetten Wolke über den Schaumblasen auf der Wasseroberfläche hängen blieb. Als der Mann vor der Tür ein Geräusch hörte, spannte er sich an. Er wandte sich von dem Mädchen ab, beruhigte sich aber, als sich leise Schritte den Flur hinabbewegten. Unten öffnete der Manager des „Yab Yoms“ Männern in Lederjacken die Tür. Ihr slawischer Akzent drang bis zur Bar durch und ließ die Mädchen, die dort standen oder lustlos tanzten, innehalten.

„Wollen Sie austrinken, Sir?“, fragte der Barkeeper. Er nickte zum Rundbogen, wo der Manager stand und Whyte eisig anstarrte.

„Ich bin nicht wirklich durstig“, sagte Whyte.

Der Manager hörte es und kam zur Bar.

„Aber vielleicht hungrig“, sagte er. „Vielleicht sollten Sie eine Wahl treffen und nach oben gehen.“

Whyte warf ihm einen Blick zu, der den Manager dazu brachte, einen Schritt zurückzutreten und sich mit leicht auseinander gestellten Beinen hinzupflanzen. Der Manager war ein ehemaliger Profi-Stuntman. Er trug eine weite Jacke über affenartigen Armen.

„Ich habe Ihnen am Eingang die Regeln erklärt. Ein Getränk, dann rauf oder raus. Außerdem sind Sie schlecht für’s Geschäft. Die anderen Gäste kommen nicht her, um sich böse anglotzen zu lassen.“

Whyte spürte, wie sein Mund trocken wurde. Er erhob sich und stellte sich vor den Manager. Dabei achtete er darauf, ob dieser Anstalten machte, auf ihn loszugehen. Hinter ihm, wo der Barkeeper stand, ertönte ein metallisches Kratzen. Der Manager schien seine Möglichkeiten auszuloten. Dann hob er langsam seine mächtige Faust und sah auf die Uhr.

„Sagen wir, zwanzig Minuten.“

Whyte setzte sich wieder auf den Barhocker und versuchte, sich auf den Molukken im oberen Stockwerk zu konzentrieren. Sein Name war Ruud Bobel, ein neunundzwanzigjähriger Laufbursche, dessen Arbeitgeber Whyte und seinen Partnern noch eine Provision in Höhe von Vierzigtausend für den Cima schuldete, der jahrhundertelang die Accademia in Venedig geschmückt hatte – oder vielmehr deren Keller –, bevor er erst kürzlich „befreit“ wurde.

Ein Mineralwasser später blieb der Flur noch immer leer. Whyte fühlte eine stechende Anspannung in seine Schultern kriechen. Er war davon überzeugt, dass Bobel noch ein letztes Mal alles aufbot, bevor er mit seiner Crack-Sucht und Whytes Vierzigtausend nach Indonesien verschwand. Whytes Partner, Max Schopenhauer, hätte sich normalerweise am anderen Ende darum gekümmert. Niemand bestahl die Adrianobrüder, am allerwenigsten einer ihrer Untergebenen. Aber Max beantwortete keinen von Whytes Anrufen, und das Netzwerk der Adrianobrüder erstreckte sich nicht bis Jakarta. Whyte musste die Sache selbst in die Hand nehmen. Nur wo?

Er entschied sich für hier und jetzt. Er trank sein Wasser aus, stand auf und nickte dem Manager zu, der im Flur an der Rezeption stand. Whytes marineblauer Anzug war maßgeschneidert, das Button-Down-Hemd hing lose über seinem flachen Bauch, die hochglanzpolierten Schuhe hatten Kreppsolen. Am Rücken unter dem Jackett war eine Kaliber .25 mit Klettverschluss an seinem Gürtel befestigt. Er wünschte sich, er könnte mit seinem alten BMW auf der Autobahn München-Innsbruck nach Süden zu dem umgebauten Bauernhof in Lucca fahren, wo sein Malatelier auf ihn wartete. Aber man konnte sich erst seiner wahren Bestimmung widmen, wenn man seine Schulden bezahlt hatte. Und dafür brauchte Whyte die Vierzigtausend. Und einen Gläubiger, der endlich wieder ans Telefon ging.

Der Barkeeper hob die Augenbrauen und nickte in Richtung einer Blonden in einem geschmackvollen schwarzen Kleid, die Whyte seit zehn Minuten von der Tanzfläche her betrachtete.

Whyte reagierte nicht. Er könnte mit dem Mädchen als Tarnung raufgehen, aber er wollte Kollateralschäden vermeiden. Dann hörte er leise Schritte auf der mit Teppich belegten Treppe. Er wandte sich wieder der Bar zu. Bobel passierte den Rundbogen und ging direkt zur Rezeption, um seine Rechnung zu bezahlen. Er wirkte unruhig, als er ein Bündel Euroscheine aus der Tasche zog.

„Sagen Sie dem Manager“, sagte Whyte zum Barkeeper, „falls es draußen laut wird in den nächsten paar Minuten, soll er nicht die Polizei rufen. Verstanden?“

„Polizisten sind hier nur Kundschaft.“

„Und sagen Sie der Blonden … nein, vergessen Sie’s.“

„Dass Sie wiederkommen?“

„Ich zahle nie.“

„Wir zahlen alle, Sir“, sagte der Barkeeper und trocknete ein Glas ab.

Whyte betrachtete ihn für einen Moment. In seinem Magen pulsierte es vor Aufregung.

Er hörte, wie sich die Eingangstür öffnete. Er ging schnell in den Flur und trat hinaus auf die Straße. Die Tür hielt er fest, um sie leise hinter sich zu schließen. Tiefhängende Wolken spiegelten die Lichter der Stadt, aber die Straße und der Kanal waren dunkel. Ruud Bobel ging links hinunter und sah träge den Enten im Wasser zu. Aber Whyte wusste, dass Bobel ihn entdeckt hatte und sich gerade überlegte, ob er sich der Sache stellen oder fliehen sollte – in das voll besetzte Restaurant auf der anderen Seite der Brücke oder ein Stück weiter zum Taxistand am Hauptbahnhof.

Lautlos glitt Whyte die Stufen hinunter und den Bürgersteig entlang. Es waren ausreichend parkende Wagen zwischen ihm und Bobel, der langsamer geworden war, um sich umzusehen. Vielleicht zweifelte er daran, verfolgt zu werden.

Whyte überquerte die Straße und sprang zwischen zwei geparkten Mopeds hervor. Bobel wirbelte herum und wich zurück. Er hob seine Arme in einer angedeuteten Geste der Selbstverteidigung, als Whyte ihm die .25er vor das Gesicht hielt. „So mag ich das“, sagte Whyte. „Lass die Hände, wo ich sie sehen kann. Du weißt ja, wie das geht.“ Bobel erstarrte einen Moment, aber dann schien er sich zu erinnern und entspannte sich. Er ließ sich von Whyte am Arm zurück über die Straße leiten. Bobel trug spitze Schuhe, eine Cargohose mit aufgesetzten Taschen und eine schwarze Windjacke aus Nylon, auf deren Vorderseite „Lakers“ stand. Sein Gesicht war schmutzig braun, und Dreadlocks fielen über seine Stirn. Er roch nach Hasch und billigem Badeschaum. Ein Grinsen verzog die eine Seite seines Mundes. „Hey, Engländer, du willst diese Spielzeugpistole mit ’ner Krallenhand bedienen?“

Whyte machte ein enttäuschtes Gesicht. „Das ist aber der völlig falsche Ton“, sagte er. „Der entbehrt jeder taktvollen Note, die man gern hören möchte. Und besonders clever ist es auch nicht, weil diese Klauenhand ein Eigenleben hat, und wenn du sie wieder beleidigst, könnte sie sich krampfartig zusammenziehen und ein nettes fünfundzwanzig Millimeterloch mitten in das ‚k‘ auf deinem hässlichen Oberteil schießen. Wenn ich mich also nicht auf deine Intelligenz verlassen kann, muss ich dir wohl ganz genau erklären, wie tief die Scheiße ist, in der du gerade steckst. Pass auf! Du bist hier der Depp, der den Riesenfehler gemacht hat. Es gibt zwei Möglichkeiten: Du gibst mir das Geld, oder du kommst mit zu den Adrianobrüdern, die dir die Haut mit Kneifzangen abziehen werden, um nachzusehen, ob du es darunter versteckt hast.“

„Die haben mich abgehängt. Ich hab’ nie Geld gesehen. Sind einfach mit dem Teil abgehauen.“ Bobel sah verletzt aus. „Du bist doch jetzt nur hinter mir her, weil ich das schwächste Glied bin.“

„Nein, weil du dir von meiner Provision für tausend Euro einen blasen lässt. Außerdem bist du ein mieser Zuhälter mit einer Vierzehnjährigen in deinem Stall, die du von einem Albaner gekauft hast. Deshalb haben dich Arrigo und Luciano rausgeworfen. Und jetzt hast du jemanden reingelegt, mit dem sie Geschäfte machen – mich.“

„Ich würde mal sagen, mein Wort gegen ihrs. Das ist wohl ’ne Hängepartie.“ Bobel streckte die Hände mit den Handflächen nach oben aus. Er sah über Whytes Schulter hinweg die Straße hinunter.

Whyte spürte ein Brennen in den Sehnen, die von seinem rechten Handgelenk wegführten. Er wechselte die .25er in seine Linke und versuchte, den Ärger unten zu halten, der sich gerade hinter seinen Augen aufbaute. Er wusste, dass dieser nichts mit Ruud Bobel zu tun hatte … Es passte nicht zu Max, seinem Partner, nicht erreichbar zu sein. Nicht wenn Whyte ihn wirklich brauchte. Max war immer da.

Nur jetzt nicht.

„Mach die Taschen leer.“

„Wozu?“

Whyte zielte mit der Mündung der .25er auf Bobels rechtes Auge. Bobel kramte durch seine Jacke und präsentierte zwei Hände voller Kleingeld, Schlüssel, Plastikmundstücke für die Wasserpfeife und Visitenkarten.

„Wo steht das?“, fragte Whyte, nahm den Autoschlüssel und ließ ihn vor Bobels Gesicht baumeln.

„Parkplatz am Hauptbahnhof. Willst mir wohl die Bremsflüssigkeit rauslassen. Mann, das hat die Kleine gerade schon mit mir gemacht.“ Bobels Grinsen zeigte einen goldenen Zahn.

Whyte drückte auf den Knopf auf dem Schlüsselbund, und Lichter eines Peugeot, der zehn Meter entfernt geparkt war, leuchteten auf. Er stieß Bobel vor sich her zu dem Wagen. „Oh, Ruud, Lügen haben kurze Beine, weißt du? Hoffen wir mal, dass ich meine Scheinchen da drin finde. Dann kannst du nach Hause, und ich kann nach Hause, muss dich nicht an den Laternenpfosten binden und Adrianos Vertreter vor Ort anrufen, damit er dich abholt.“

„Das ist Belästigung. Ich hab’ deinen Scheiß nicht. Du verdirbst mir echt ’nen schönen Abend.“

Whyte öffnete die Beifahrertür und dann das Handschuhfach. Er sah unter den Vordersitzen und im Kofferraum nach, schloss die Tür, riss sie dann wieder auf. Eine Reisebroschüre, auf der „Antigua“ stand, klemmte zwischen den beiden Vordersitzen. Darauf hatte jemand „Van der Valk“ und eine Telefonnummer gekritzelt.

„Das ist ein Flughafenhotel“, sagte Whyte. „Triffst du da jemanden?“

„Ja, meinen Steuerberater. Was stimmt nicht mit dir, Mann?“

Hinter sich hörte Whyte das Klacken von Metallabsätzen auf dem Gehweg. „Ich bring dich zu den Adrianos. Findest du das lustig?“

Bobel ließ sich mit einem Mal auf alle viere fallen. Im selben Moment hörte Whyte, wie jemand von hinten auf ihn zugerannt kam. Er drehte sich gerade in dem Moment um, als zwei kräftige Fäuste in seine Brust schlugen. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf ein großes, schwarzes Gesicht mit einem roten Kopftuch darüber, bevor er nach hinten flog. Seine Waden knallten gegen Bobels Oberkörper, und er überschlug sich rückwärts. Er stürzte so hart auf den Bürgersteig, dass er davon abprallte und unter einen Wagen rutschte. Mit der Lende schlug er gegen den Reifen. Als er völlig benommen dort lag und versuchte, wieder Luft in seine Lungen zu bekommen, hörte er Autotüren schlagen und einen Motor anspringen. Er zwang sich auf die Beine und sah gerade noch den Peugeot die Straße entlangbrettern. Die Bremsen quietschten, als er um die Ecke bog.

Der Manager und ein paar Frauen standen in der offenen Tür des „Yab Yom“ und sahen Whyte an. Die Blonde in dem schwarzen Kleid stöckelte die Stufen hinunter, ging auf die Straße, hob die .25er auf und brachte sie ihm. Der Griff baumelte zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger. Whyte stand auf dem Gehweg und klopfte nachdenklich sein zerrissenes Hemd sauber. Er verfluchte sich dafür, von zwei minderbemittelten Typen reingelegt worden zu sein und vierzigtausend Euro auf Wiedersehen sagen zu müssen.

Der Blonden tätschelte er kurz die Schulter, dann stolperte er davon. Zehn Minuten später saß er zusammengesunken auf einer Bank am Kanal und drehte die .25er in der Hand. Zwei Enten flogen vorbei, eine ein Stück vor der anderen, und zeichneten V-Formen aus dunklem Wasser in die Algen. Seine Augen brannten, und in seinen Ohren klang das gespenstische Geräusch eines Cricketschlägers, der auf Gelenke und Muskeln traf. Seine Gelenke, seine Muskeln. Whyte dachte an dieses Ereignis, das so viele Jahre zurücklag. Es war der Tag, an dem er seinen Partner kennengelernt hatte. Er würde nach München fahren, um ihn zu finden.

Er steckte seine .25er wieder ins Holster, zog sein Handy raus, rieb mit dem Daumen über die zerkratzte Oberfläche und schaltete es ein. Sofort piepte die Mailbox. Er hielt das Handy ins Laternenlicht, um zu sehen, wer angerufen hatte.

„Max“, murmelte er und drückte den Knopf für die Mailbox.

„Arthur …“ Die Stimme war nur ein Flüstern. Einen Moment herrschte Stille, dann hörte er, wie jemand wegrannte. Ein hartes, klapperndes Geräusch folgte, dann starb die Verbindung.

Pistoia – 22. Februar 2003

Gabriel Schopenhauer saß im Bett. Das Handy hatte er ans Ohr gedrückt, die Stirn gerunzelt. Seinen Großvater zu erreichen war immer schwierig, aber diesmal hörte er nur das monotone Signal, das ertönte, wenn eine Nummer nicht mehr existierte. Er fluchte und warf das Handy auf die Decke. Von draußen drang das Geräusch eines Dieselmotors herein. Er schlug die Decke zurück und ging zum Fenster. Ein schwarzer Fiat Sedan fuhr langsam über die Piazza, als würde er eine bestimmte Adresse suchen. Ein Priester eilte an dem achteckigen Brunnen vorbei und teilte dabei ein Meer aus Tauben, das sich hinter ihm wieder schloss. War schon Zeit für die Messe? Gabriel sah auf die Uhr. Er hatte lange geschlafen.

Eins von Emilys Kunstgeschichtsbüchern lag auf dem Fenstersims. Er nahm es in die Hand, etwas, das er nur tat, wenn sie nicht in der Nähe war. Natürlich wusste sie, dass er dyslektisch war. Aber in ihrer Gegenwart las er niemals. Denn wenn er las, hielt er das Buch nur wenige Zentimeter vor der Nase und folgte mit dem Zeigefinger den Wörtern. Er war verdammt nochmal ihr Ehemann und kein Stümper, der seine Muttersprache mit der Bedächtigkeit entzifferte wie ein Ägyptologe Hieroglyphen.

Er konnte hören, wie sie unten Saft machte. Die Akustik eines italienischen Palazzos mochte der Polyphonie von Palestrinas Kompositionen alle Ehre machen, aber moderne Gerätschaften klangen wie Presslufthammer, die sich durch das Fundament fraßen. Gabriel spürte das hohe Jaulen in seinem Backenzahn. Als es aufhörte, stellte er sich vor, wie sie den Kopf zurücklegte, um zu trinken, wobei ihr schwarzes Haar mit den roten Reflexen frei über die Schultern floss. Emily, die Gesundheitsfanatikerin. Sie aß wenig, trank wenig Alkohol, und ihr geschmeidiger Körper wirkte zehn Jahre jünger als ihre dreiunddreißig.

Er sah auf das Bett. Die andere Decke war glatt bis unter das Kissen gezogen. Hatte sie überhaupt hier geschlafen? Sie arbeitete oft bis tief in die Nacht an ihren Forschungen über Renaissancearchitektur, während er sich in der Bibliothek mit seinen Modellbrücken abrackerte und dabei die Zeit vergaß.

Draußen hielt ein Wagen.

Gabriel trat auf die Galerie und wollte gerade etwas nach unten rufen, als er sah, wie sie unter ihm den Steinboden überquerte und die Treppe hinaufkam. Sie trug ein Tablett mit einem Glas Saft und einem Zuckerbrötchen aus dem Café Fredo. Sie bewegte sich mit der auf die Körpermitte ausgerichteten Haltung einer Tänzerin, den Bauch angespannt unter Rippentop und Boxershorts. Sie ließ ihren Kopf kreisen.

„Warst du gestern Nacht im Bett?“, fragte er.

„Bin beim Lesen auf dem Sofa eingeschlafen. Ich kann dir sagen, das macht vielleicht ’nen steifen Hals.“

„Ich kann Großvater nicht erreichen.“

„War das schon mal anders? Trink deinen Saft, solange er noch frisch ist.“

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und öffnete die Lippen für einen Kuss, als es unten an der Holztür klopfte.

„Scheiße, wer ist das?“

„Ich geh schon“, sagte er.

„Du bist doch nur halb angezogen.“ Sie gab ihm das Tablett und sprang leichtfüßig die Treppen hinunter.

Du auch, dachte er. Meine wunderschöne Frau. Wer auch immer auf der anderen Seite der Tür stand, konnte sich auf eine angenehme Überraschung gefasst machen. Gabriel durchquerte das Schlafzimmer, ging zum Fenster und nippte an seinem Saft. Der schwarze Fiat parkte unten, daneben standen ein Carabiniere und zwei Männer in Anzügen, die auf unangenehme Weise offiziell wirkten.

Kapitel 3

München – 22. Februar 2003

Gabriel Schopenhauer blieb vor der Doppeltür im Gebäude des Münchner Instituts für Rechtsmedizin in der Nußbaumstraße stehen, starrte sie an und wartete. Detective Inspector Roark ging an ihm vorbei, warf ihm einen kurzen, ernsten Blick zu und stieß die Türen auf. Um ihn herum nahm Gabriel helles Licht und metallische Oberflächen wahr, aber alles, was er sah, war eine Leiche auf einer Bahre. Die Leiche war mit einem Tuch bedeckt, aber jemand in einem weißen Kittel zog es herunter, damit er das Gesicht sehen konnte. Gabriel kam näher. Sein ganzer Körper verkrampfte sich, als kämpfe ein Gift in ihm. Er schlug eine Hand über Mund und Nase, unterdrückte einen Schrei, konnte aber die Tränen nicht aufhalten. Sie liefen ihm über Wangen und Finger und verschleierten seinen Blick. Jemand berührte seine Schulter, und er schreckte zurück. Zwei Hände legten das Tuch über das Gesicht, und Gabriel schlug sie weg. Er riss das Tuch wieder herunter und legte damit nicht nur das Gesicht, sondern auch den Oberkörper frei. Als er ihn sah, rang er nach Luft. Die Schultern des Toten waren schwarzblau verfärbt und auf die doppelte Größe angeschwollen. Die Haut an den Oberarmen hing schlaff und lose herunter, als hätten sich die Knochen darin aufgelöst. Gabriel hielt sich eine Hand an die Stirn, als müsse er seine Augen vor grellem Licht schützen.

Hinter ihm räusperte sich DI Roark. „Mr. Schopenhauer …“

Gabriel streckte die Hand aus und berührte die wächserne Haut an der Schläfe. Er schloss für einen Moment die Augen. Dann drehte er sich um und schritt zur Tür.

Eine halbe Stunde später saß er in einem Vernehmungsraum der Kriminalpolizei in der Ettstraße und starrte mit leerem Blick auf den dampfenden Kaffee, der vor ihm auf dem Holztisch stand. Ihm gegenüber saßen DI Roark, der ihn vom Flughafen „Franz Josef Strauß“ abgeholt hatte, und Hauptkommissar Brandl, Leiter der Mordkommission. Brandl trug einen imponierenden Schnauzer und ein hellbraunes, kurzärmeliges Hemd, das akkurat gebügelt und perfekt sauber war. Seine kräftigen Arme ruhten auf dem Tisch. Stirnrunzelnd sah er auf den Schreibblock, der vor ihm lag. DI Roark war mit einem Aufnahmegerät beschäftigt. Er hatte blondiertes Haar und grüne, schräg nach oben verlaufende Augen, die seinem Gesicht etwas von asiatischer Unergründlichkeit gaben. Gerade öffnete sich die Tür, und ein großer Mann von beeindruckender Statur kam herein. Er ignorierte den anderen Stuhl am Tisch und ging zur Wand, als wäre er Zuschauer, nicht Teilnehmer. Er nickte Gabriel kurz zu und schwieg.

„Das“, sagte Detective Inspector Roark, „ist Monsieur le Commandant de la police judiciaire Savarin, er leitet bei der Interpol die Abteilung für Kunstdiebstahl.“ Er drückte auf den Aufnahmeknopf. „22. Februar 2003, als Zeuge vernommen wird Gabriel Schopenhauer, neunundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Pistoia, Italien, in Anwesenheit von Hauptkommissar Brandl von der Kripo München und Commandant de la police judiciaire Savarin sowie Detective Inspector Roark von der Abteilung für Kunstdiebstahl bei der Interpol.“ Er sah Gabriel an. „Mr. Schopenhauer“, sein Mundwinkel zuckte, „der Tod ihres Großvaters … schreckliche Sache. Unser Beileid. Hauptkommissar Brandl leitet die Ermittlungen in Deutschland. Interpol ist hier, um die grenzübergreifenden Aktivitäten zu koordinieren. Maximilian Schopenhauer war in vielen Ländern zu Hause, und wir glauben, dass uns unsere Ermittlungen nach Italien, Österreich und möglicherweise auch nach Großbritannien führen werden.“ Roark hielt kurz inne. „Ich weiß, dass dies eine schwere Zeit für Sie ist, aber wir…“

„Wer hat das getan?“, fragte Gabriel leise.

Der Hauptkommissar räusperte sich. „Sprechen Sie deutsch?“

„Nur ganz schlecht“, antwortete Gabriel auf Deutsch und wechselte wieder ins Englische. „Also, wer hat das getan?“

„Das wissen wir noch nicht“, sagte der Kommissar mit einem amerikanischen Akzent. „Aber wir von der Mordkommission tun alles, was in unserer Macht steht, um diese Männer …“

„Was wissen Sie?“, fragte Gabriel.

„Ziemlich wenig“, sagte Roark. „Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Dann lassen wir Sie wieder zum Flughafen bringen.“ Seine Augen wanderten über Gabriels Gesicht. „Vertrauen Sie der Münchner Kriminalpolizei und Interpol! Wir werden die Mörder fassen! Alles, was Sie tun können, ist uns dabei zu helfen, unsere Arbeit zu machen.“

Gabriel warf Roark einen Blick zu, der ihn nervös zusammenzucken ließ. In diesem Moment war der einzige klare Gedanke, den Gabriel fassen konnte, der Entschluss, die in ihm hochkochende Wut resolut zu unterdrücken. Niemand konnte auch nur verstehen, wie es war, wenn ein Enkel seine zerbrechliche Welt um eine verlorene Generation aufbaute, weil Vater und Mutter allein vom Großvater ersetzt worden waren. Sein Rettungsanker war von einem Wahnsinnigen zerstört worden.

Jetzt hob er den Blick und sah Commandant Savarin an. Dieser Mann hatte seine Gedanken gelesen, und von dem Schimmern boshafter Zustimmung, das er in seinen Augen las, bekam er feuchte Hände. Brandl wandte sich zu Savarin um. Sein Schnauzer schien sich bei dessen Anblick zu sträuben.

„Mr. Schopenhauer“, sagte Brandl und drehte sich wieder zu ihm. „Wir wissen so viel: Die Leiche Ihres Großvaters wurde auf dem Gelände der Alten Pinakothek gefunden. Der geschätzte Todeszeitpunkt liegt zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht der vergangenen Nacht. Im Garten der Pinakothek stehen ein paar Statuen, sonst nichts. In der Gegend gibt es keine Restaurants. Nachts ist es dort dunkel und einsam. Kein Ort, an dem sich Ihr Großvater hätte aufhalten sollen.“

„Vielleicht war er auf dem Heimweg. Er wohnt ja nicht sehr weit entfernt.“

„Ja, in der Prinz-Ludwig-Straße.“

„Wie ist er gestorben?“

Brandl warf einen Blick auf seinen Block. „Vorläufig gehen wir davon aus … Es gibt einen braun umrandeten, punktuellen Einstich im Hals. Vermutlich eine Nadel. Das bedeutet höchstwahrscheinlich Gift.“ Er hielt inne. Seine Augen verengten sich verärgert. „Wann haben Sie Ihren Großvater zuletzt gesehen?“

„Das ist lange her … letztes Jahr“, sagte Gabriel und hörte die Worte, als hätte sie jemand anderes gesagt. „In Lech … Österreich … Arlberg. Großvater hat …“ Sein Mund war so trocken, dass seine Lippen zusammenklebten. „Gift?“

„Ihr Großvater hat dort ein Haus. In Lech“, vervollständigte Brandl den vorletzten Satz Gabriels.

„Wir haben aber telefoniert. Oder uns gemailt. Aber nicht in den letzten Tagen.“ Gabriel wollte die Kaffeetasse nehmen, aber seine Hand zitterte so sehr, dass er sie wieder zurückzog. „Gift? Sind Sie sicher?“

Brandl räusperte sich und ignorierte die Frage. „Könnten Sie uns die Namen von den Bekannten Ihres Großvaters geben? Jeder, der Ihnen einfällt: Geschäftspartner, Klienten, Freunde …“

Gabriel beugte sich jetzt vor. Unter seinem Stuhl hatte er die Füße gekreuzt, seine Hände umklammerten die Knie. „Sie sprachen von Männern.“

„Bitte?“

„Mördern, Plural. Nicht Mörder, Singular. Woher wissen Sie das?“

Brandl neigte den Kopf und schrieb eifrig etwas auf seinen Block.

Roark beugte sich über den Tisch. „Hat Ihr Großvater jemals von etwas sehr Wertvollem gesprochen, das sich in seinem Besitz befindet? Etwas, das eines Tages Ihnen gehören würde?“

Gabriel sah ihn verständnislos an und schüttelte den Kopf. „Der einundzwanzigste Februar“, fuhr Roark fort. „Gestern. Das war der Geburtstag Ihres Großvaters. Haben Sie ihn da angerufen?“

„Er ruft sonst immer mich an seinem Geburtstag an.“ Gabriels Stimme stockte. „Und er schickt mir ein Geschenk. Ich mache dasselbe an meinem.“

Roark sagte: „Hat Ihr Großvater jemals über seine Geschäfte gesprochen?“

„Er war Kunsthändler.“

„Nicht irgendein Kunsthändler“, sagte Roark. „Der Kunsthändler. Für die Stars: Getty, später dann Kitchener. Das waren die Wichtigsten. Wie sah es mit anderen Klienten aus?“

„Abteilung für Kunstdiebstahl“, sagte Gabriel und sah Roark an, um Blickkontakt mit Savarin zu vermeiden. „Was bedeutet das? Gestohlene Gemälde? Wie der Vermeer aus dem Bostoner Museum?“

Roark sagte: „Neuerdings bedeutet es: ‚Kultur für alle‘.“

Drei Augenpaare beobachteten ihn. „Was?“, sagte er und fühlte, wie ihm der Schweiß aus den Achselhöhlen am Körper herunterlief. Er blinzelte. „Sie vermuten, dass mein Großvater von Leuten ermordet wurde, die was mit Kunstraub zu tun haben?“

Es entstand eine lange Pause. Brandl runzelte die Stirn und Roark lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Wir vermuten“, sagte Roark endlich, „dass Ihr Großvater etwas mit Kunstraub zu tun hatte.“

Gabriel fühlte, wie sich der Boden unter ihm bewegte.

„… und dass er eine bedeutende Geldsumme aus all seinen illegalen Transaktionen über die Jahre beiseite geschafft hat, und dass jetzt Sie, sein einziger lebender Verwandter, alles erben werden. Es sei denn, wir finden das Geld. Und wenn wir es finden, wird es uns hoffentlich zu den Leuten führen, mit denen er Geschäfte gemacht hat …“

„Sie lügen“, sagte Gabriel durch aufeinandergepresste Zähne.

„… und wir hoffen, dass wir durch diese Leute die Kunstwerke finden …“

„Das ist nicht wahr.“

„… und sie wieder ihren rechtmäßigen Besitzern zuführen können. Meist sind es Museen. Vielleicht sogar das Isabella Stewart Gardner Museum in Boston.“

„Sie lügen!“, bellte Gabriel und sprang auf. Dabei stieß er seinen Stuhl um.

In der Stille, die nun folgte, ging Savarin langsam um den Tisch herum, baute sich vor Gabriel auf und betrachtete ihn wie etwas in einer Glasvitrine.

Die grünen Augen von Roark schossen zwischen Gabriel und seinem Chef hin und her. „Mr. Schopenhauer“, sagte er schnell, „Ihr Großvater ist ziemlich sicher vergiftet worden, aber bevor er starb, wurde er gefoltert. Das bedeutet, jemand wollte etwas von ihm wissen. Und genau danach suchen wir …“

Gabriel richtete seinen Blick auf ihn. „Seine Schultern?“

„Das wollen Sie nicht wissen“, sagte Roark.

Gabriel tastete hinter sich nach seinem Stuhl, hob ihn auf und setzte sich wieder hin.

Savarin trat auf ihn zu. „Strappado“, sagte er. „Während der Inquisition wurde ausgiebig davon Gebrauch gemacht. Man nimmt dafür ein Seil. Der Schmerz war so qualvoll, dass allein die Androhung den härtesten Mann brach.“

Savarin beugte sich herunter, um Gabriel ins Gesicht zu sehen. Sein Atem roch sauer; seine Lippen waren feucht. Roark lehnte sich mit verschränkten Armen und fast geschlossenen Augen zurück. Brandl starrte Savarin an.

„Das war nicht irgendein Straßenraub“, sagte Savarin. Seine Worte streiften Gabriels Wange wie Nebel, der aus einem Moor aufstieg. „Das war bis ins Detail geplant von jemandem, den wir den Henker nennen. Ein gebildeter Sadist – zusammen mit anderen Sadisten, wie Sie ganz richtig angemerkt haben. Für Strappado braucht man mindestens zwei Personen. Und je schwerer das Objekt, desto effektiver ist Strappado. Savonarola, zum Beispiel, wurde gebrochen. Interessanterweise hatten die Schwächlinge bessere Chancen. Strappado hat bei Machiavelli nicht funktioniert. Man kann keine gekochte Nudel brechen.“

Gabriel starrte auf den Boden zwischen seinen Füßen. Er fühlte, wie sich das Blut in seinen Wangen sammelte. Er hörte, wie Brandls Stuhl zurückgeschoben wurde.

Savarins Stimme klang nun weicher und näher. Von seinem übelriechenden Atem verkrampften sich Gabriels Nasenflügel. „Max Schopenhauer war hart.“

„Schluss!“

Gabriel sah auf.

Der Hauptkommissar war aufgesprungen, sein Gesicht war gerötet. Savarin warf ihm einen ungerührten Blick zu und klappte sein Handy auf. „Wir verlieren nur Zeit, Mr. Schopenhauer“, sagte er und checkte seine Nachrichten.

In dem Moment flog die Tür auf. Ein Beamter winkte Brandl dringlich zu sich, der ohne ein Wort ging, gefolgt von den beiden Interpolbeamten. Auf dem Flur wurden stakkatoartig Anweisungen gebellt. Das Geräusch eiliger Schritte folgte. Wenige Minuten später kam Roark zurück in den Raum, setzte sich und schaute nachdenklich auf das Aufnahmegerät.

„Wie hat er das gemeint“, fragte Gabriel und zeigte zur Tür, „dass wir Zeit verlieren?“

„‚Kultur für alle‘“, antwortete Roark nach einer Weile. Er schien abgelenkt zu sein und über etwas nachzudenken.

„Das haben Sie vorhin schon gesagt. Als müsste ich wissen, was es bedeutet. Aber das weiß ich nicht.“

Roark nahm einen Stift und tippte damit auf den Tisch. „Ich vermute mal“, sagte er schließlich, „dass Sie absolut im Dunkeln tappen, was Ihren Großvater angeht.“ Er ließ den Stift fallen. „Was ist mit der Wohnung in der Prinz-Ludwig-Straße?“

„Was soll damit sein?“, blaffte Gabriel. Dann fügte er leise hinzu: „Haben Sie ihn da …“

Roark schüttelte den Kopf. „Für Strappado“, sagte er, „braucht man eine hohe Decke mit einem Haken. Oder einen Baum. Oder eine moderne, baumähnliche Skulptur.“ Roark rieb sich die Augen mit den Handrücken. „So eine“, fuhr er fort, „wie es sie im Garten der Alten Pinakothek gibt. Hauptkommissar Brandl hat Ihnen schon gesagt, dass wir die Leiche dort gefunden haben.“ Gabriel schoss hoch. „Kommt er …“, sagte Gabriel und zeigte wieder auf die Tür.

„Savarin. Le Monsieur Commandant de la police judiciaire Georges Savarin.“

„Kommt Savarin nochmal wieder?“

„Der ist weg“, sagte Roark. „In der Prinz-Ludwig-Straße.“ Seine Finger schwebten über dem Ausschalter des Aufnahmegeräts. „Hatte Ihr Großvater irgendeine Art Tonbandgerät in seiner Wohnung?“

Gabriel schien ihn nicht zu hören. Er ging einen Schritt auf die Tür zu, dann wandte er sich an Roark. „Was?“

„Es ist nah genug.“ Roark dachte laut. „Die Prinz-Ludwig-Straße ist nah genug, um Signale von der Pinakothek aufzunehmen.“

„Wie komme ich zum Flughafen?“

„Die Rechtsmedizin hat Abdrücke auf der Brust Ihres Großvaters gefunden. Klebeband, verstehen Sie? Er hat einen Sender getragen.“

Gabriel ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. Roark sagte mit schwerer Stimme in den Rekorder: „Maximilian Schopenhauer hat seinen eigenen Tod aufgezeichnet. An seinem Geburtstag.“

Der Inspector sah Gabriel direkt an. Seine grünen Augen schienen einen Moment lang groß und verletzlich. „Was für ein Geschenk!“

Der Ausknopf klickte mit einem dumpfen, schneidenden Geräusch, wie ein Messer, das ein Seil durchtrennt.

Das Polizeiauto vermied die Baustellen des Altstadtrings. Als sie vom Karlsplatz in die Barer Straße einbogen, hörte Gabriel die Glocken der Frauenkirche. Er drehte sich im Beifahrersitz um und sah die grünen Zwiebeltürme, die hinter den Dächern der modernen Gebäude aufragten. Sein Großvater hatte ihn einmal mit dorthin zur Messe genommen. Er erinnerte sich an die Weihrauchschwaden, die während Mozarts Lacrimosa aufgestiegen waren, als würden sie von einem unsichtbaren Chor hinaufgezogen. Jetzt lag die Leiche seines Großvaters nicht weit entfernt in der Rechtsmedizin und wurde von einem Fremden in einem weißen Kittel seziert. Und der widerwärtige Savarin sezierte seine Wohnung, um … was? Nach Geld zu suchen?

„Bringen Sie mich in die Prinz-Ludwig-Straße.“

Der Fahrer warf ihm einen strengen Blick zu. „Nee“, sagte er. „Wir fahren zum Flughafen.“ Er lehnte halb an der Tür, eine Hand nur am Lenkrad, und trat die Kupplung.

Gabriel starrte ihn kurz an. „Prinz-Ludwig-Straße“, wiederholte er. Als der Fahrer nicht reagierte, schnallte sich Gabriel ab und öffnete die Tür.

„Scheiße!“ Der Fahrer stieg auf die Bremse, und der Wagen knallte gegen die Bordsteinkante. Hinter ihnen quietschten Bremsen, und empörtes Hupen war zu hören. Der Fahrer drehte sich rasch um, aber Gabriel war schon ausgestiegen und schlenderte die Straße entlang zum Karolinenplatz.

Zehn Minuten später stand er in der Lobby des Wohnhauses, in dem sein Großvater gelebt hatte. Roark fuhr gerade in einem Streifenwagen vor. Der Inspector schüttelte den Kopf, als er ihn sah, wirkte aber nicht überrascht.

Gabriel durchschritt den Flur zur Erdgeschosswohnung seines Großvaters. Die Eingangstür war angelehnt. Er ging hinein und direkt auf Savarin zu. Dieser unterhielt sich gerade mit einem uniformierten Beamten und einem besorgt wirkenden Mann mittleren Alters, in dem Gabriel den Hausverwalter erkannte.

„Ich will, dass Sie sofort diese Wohnung verlassen“, sagte Gabriel.

Der Commandant warf ihm einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder dem Hausverwalter zu, den er mit einem seiner Wurstfinger antippte und dabei Englisch sprach. Der uniformierte Beamte übersetzte schnell. Am anderen Ende des Wohnzimmers beugten sich Brandl und ein forensischer Techniker über ein Aufnahmegerät. Zwei Spurensicherer mit weißen Handschuhen durchschritten Schulter an Schulter den Raum, die Köpfe gesenkt und die Blicke auf den Teppich geheftet. Als sie Gabriels Stimme hörten, unterbrach jeder seine Tätigkeit und sah ihn an.

Savarin bildete die Ausnahme. Dessen Aufmerksamkeit war auf seinen Untergebenen gerichtet, der gerade durch die Tür trat. „Roark“, rief er ihm zu, „rufen Sie in Lyon an. Das Aufnahmegerät ist eingeschaltet, aber die Kassette fehlt. Und raten Sie mal, wer vor zwei Stunden hier war.“

Inspector Roark musste nicht lange nachdenken. „Whyte?“

Der Commandant nickte knapp. Roark zog sogleich sein Handy heraus und sprach eindringlich hinein, während er wieder im Flur verschwand: „Nachname Whyte, mit y. GPS auf seinem Handy. Das ist in der Akte … Können Sie gern versuchen, aber ich meine mich zu erinnern, dass er Bargeld benutzt, keine Kreditkarten …“

Gabriels Blick ruhte weiter auf Savarin, der sich endlich zu ihm wandte und mit übertriebener Höflichkeit sagte: „Also. Was wollten Sie gleich noch sagen?“

„Interpol hat keine Befugnisse in Deutschland – oder anderswo. Das gilt auch für die Wohnung meines Großvaters“, sagte Gabriel. „Sie können also verschwinden. Machen Sie draußen auf dem Flur mit Ihrem irischen Kollegen doch ein paar Telefonate.“

Der Leiter der Abteilung für Kunstdiebstahl warf ihm einen eisigen Blick zu. Dieser Blick sollte vermutlich den kalten Stahl, der sein gallisches Temperament überzog, vermitteln. Gabriel fragte sich, ob der Mann vorm Spiegel übte. Die deutschen Beamten hielten inne und warteten darauf, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fiel. Alle außer Brandl, der seine kräftigen Arme vor der Brust verschränkt hatte und Gabriel durch den Raum zunickte. Der Hausverwalter trat nervös blinzelnd einen Schritt zurück.

„Sie werden jetzt gehen“, sagte Gabriel. „Sonst wird morgen ein Anwalt in Lyon anrufen und eine formelle Beschwerde bei Ihren Vorgesetzten von Interpol einreichen.“

Savarins Augenbrauen schossen hoch.

„Natürlich, Mr. Schopenhauer“, sagte er sanft, legte einen baumstammgroßen Arm um Gabriels Schultern und steuerte ihn von den anderen fort. Laut sagte er: „Tut mir leid, wenn ich vorhin im Vernehmungsraum etwas grob mit Ihnen war. Sie haben jedes Recht, empört zu sein. Und es stimmt absolut, dass Interpol kein Mandat hat, um normale polizeiliche Ermittlungen durchzuführen. Wir sind nur hier, wie Detective Inspector Roark es erklärt hat, um zu koordinieren.“

Gabriel ließ sich außer Hörweite der anderen bringen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich die Beamten entspannten und mit ihrer zeitlupenartigen Untersuchung des Teppichs fortfuhren. Dann bemerkte er Savarins Mund nah an seinem Ohr.

„Ihr Großvater war der Kunstdieb des Jahrhunderts …“, sagte er leise.

Gabriel stieß seinen Arm weg. Der Commandant zog ein gutmütiges Gesicht für die anderen im Raum, falls sie herübersahen.

„… und ich werde es der Welt beweisen“, sagte er. Seine Lippen bewegten sich kaum. Er tätschelte freundschaftlich Gabriels Schulter, nickte Brandl kühl zu und verließ die Wohnung.

Gabriel starrte ihm nach. Der Geruch des Mannes schien sich in seiner Nase festgesetzt zu haben. Einen Moment später bemerkte er, dass Brandl neben ihm stand.

„Ja“, sagte er und klang zynisch, „so ein ‚Commandant‘ …“ Er sprach den Titel aus, als würde er sich dabei die Zunge schmutzig machen. „Er lässt sich entschuldigen. Das sollte er wohl.“ Brandl trat von einem Fuß auf den anderen. „Mr. Schopenhauer, dieser Arthur Whyte … Er hat einen Schlüssel zu dieser Wohnung, hat uns der Hausverwalter gesagt. Kennen Sie ihn?“

„Vom Namen her“, sagte Gabriel und beobachtete immer noch die Eingangstür. „Der Geschäftspartner meines Großvaters.“

Der forensische Techniker winkte Brandl aufgeregt vom Schreibtisch aus zu.

„Hansi“, rief er durch den Raum und zeigte auf die Seite des Aufnahmegeräts. „Da gibt’s einen Rufweiterleitungsknopf.“

Brandl spielte an seinem Schnauzer und sah Gabriel auf eine Weise an, die ihn nervös machte. Dann wandte er sich wieder an den Techniker.

„Rufweiterleitung?“

Er hetzte zurück zum Schreibtisch, und Gabriel begab sich in eine entlegene Ecke des Wohnzimmers. Er ließ seinen Blick durch das schweifen, was für ihn immer Großvaters Büro gewesen war – mit einem angeschlossenen Schlafquartier. Zu Hause, das war der Bungalow in Lech, wo das Sonnenlicht auf den silbergerahmten Familienfotos funkelte, die Frau Köberl, ihre langjährige Haushälterin, täglich polierte … Wie dieses, dachte er überrascht, als er ein gerahmtes Foto auf einem Beistelltischchen bemerkte. Und dann schrak er zusammen, als er es erkannte: Großvater und er. Sie standen vor einer Steintreppe, und Großvater hatte noch all seine Haare. Glückliche Tage in Rom. Wie lange war es her? Sein halbes Leben? Der Anblick seiner heiteren Miene traf ihn wie ein Schlag, und er legte den Rahmen mit dem Foto nach unten auf den Tisch. Dann starrte er auf die Adern auf seinem Handrücken, eine Konzentrationsübung, die ihm vor vielen Jahren von seinem „Lernbehinderungstutor“ beigebracht worden war. Konzentriere dich auf die Daten. Mache dir die Fakten klar … Die Steintreppe auf dem Foto war sehr lang gewesen, erinnerte er sich. Sie führte hinauf zu einer Kirche neben diesem bombastischen weißen Denkmal, das aussah wie eine Hochzeitstorte … Vittoriano, das Monumento a Vittorio Emanuele II., das war’s. Die Kirche am Ende der Treppe war merkwürdig, erinnerte er sich. Sie hatte eine raue Backsteinfassade ohne die üblichen barocken Ornamente. Er hatte den Namen der Kirche vergessen. Es war ein seltsamer Name …

Gabriel steckte sich das Foto in die Manteltasche.

Ein paar Minuten später stand er draußen auf dem Bürgersteig und fühlte sich ausgelaugt. Er empfand nicht einmal mehr Trauer. Dass Brandl ihm nachgekommen war, hatte er nicht bemerkt.

„Ich versichere Ihnen, dass wir von der Kripo Ihren Großvater als Opfer ansehen. Sonst nichts“, sagte er und winkte den Streifenwagen herbei. Das Auto setzte sich in Bewegung und fuhr vor. Brandl öffnete die Beifahrertür und schritt zur Seite, um Gabriel einsteigen zu lassen. „Wir tun, was wir können“, sagte er und presste die Lippen zusammen, bevor er fortfuhr: „Ich denke, Sie sollten sich von diesem … Savarin fernhalten.“ Sanft schloss er die Tür.