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Petra Gerster
Christian Nürnberger

Charakter

Worauf es bei Bildung wirklich ankommt


Edel eBooks

1. Warum es ohne Charakter nicht geht

Im Sommer 2008 wurde die Kaste der Manager von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gegen öffentliche Kritik verteidigt.3 Der Anlass: Die Siemens-Spitze zahlte Schmiergelder, bei der Telekom gab es einen Schnüffelskandal, der Ex-Post-Chef Klaus Zumwinkel wurde vor Fernsehkameras von einer Staatsanwältin abgeführt und wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe angeklagt – und die Öffentlichkeit begann, über die «Moral der Manager» zu diskutieren.

Politiker, Bischöfe, Autoren von Leitartikeln, sogar Wirtschaftsjournalisten und mittelständische Unternehmer gaben kritische Statements zum bunten Treiben der Manager ab und fragten nach deren charakterlicher Eignung für Führungspositionen. Und da schrieb die FAS: Bitte aufhören mit dem Moralisieren, Manager brauchen keine Moral.

Begründung: «Die Marktwirtschaft schafft Wohlstand und erweitert durch Innovation und Wachstum die menschlichen Freiheitsoptionen unabhängig von der Frage, ob die handelnden Akteure einen guten oder schlechten Charakter haben. Eine Gesellschaft muss nicht erst moralisch gebessert werden, um wirtschaftlich zu funktionieren.»4

Dann kam der 15. September 2008, der Tag, an dem in New York die Investment Bank Lehman Brothers zusammenbrach. Seitdem passieren Dinge, die unter dem etwas harmlosen Begriff «Finanzkrise» subsumiert wurden und uns noch lange beschäftigen werden. Zu diesen Dingen gehört auch die Griechenland- und die Eurokrise, und während wir dieses Buch im Sommer 2010 zu Ende bringen, beginnt in Deutschland und Europa das Sparen bei denen, die an dieser Krise vollkommen unschuldig sind, und es sind Schulden gemacht worden, die noch unsere Enkel abtragen werden.

Heute würde vermutlich keine Zeitung mehr zu schreiben wagen, der Charakter von Managern brauche uns nicht zu interessieren. Denn was sich in den letzten Jahren an den Weltbörsen zugetragen hat, war etwas weit Gravierenderes als nur deren Verwandlung in ein globales Spielkasino. Im Spielkasino riskieren die Spieler ihr eigenes Geld. An den Börsen haben die Zocker Geld verspielt, das ihnen nicht gehörte. Im Spielkasino verliert man Geld, sonst nichts. Durch die Machenschaften an den Börsen verlieren Menschen ihre Arbeitsplätze, mittelständische Unternehmer ihre Unternehmen, Arbeitnehmer ihre soziale Sicherheit, Regierungen Gestaltungsmöglichkeiten, und verschuldete Städte und Gemeinden büßen an Lebensqualität ein. Allein schon aufgrund dieser Erfahrung haben wir uns für die Moral und den Charakter der Manager zu interessieren.

Es kommen aber noch ein paar weitere Vorfälle hinzu, die sich zeitgleich ereigneten, die Öffentlichkeit erregten und einen indirekten, aber sehr intimen Bezug zur Finanzkrise haben: In Konstanz wurde eine 58-jährige Altenpflegerin fristlos gekündigt, weil sie sechs für den Müll bestimmte Maultaschen mitgenommen hatte. Beim Baugewerbeverband in Dortmund sollten zwei Sekretärinnen gehen, weil sie insgesamt vier Brötchenhälften und eine Frikadelle von einem Büfett genommen hatten. Eine Metallfirma in Oberhausen feuerte einen Mitarbeiter, weil er sein Handy am Arbeitsplatz aufgeladen hatte. In Remscheid musste eine Supermarktverkäuferin gehen, weil sie Damenbinden im Wert von 59 Cent aus dem Regal nahm. Und in Hannover entließ die Caritas eine schwerbehinderte Pflegehelferin, weil sie eine Portion Teewurst aus der Heimküche gegessen hatte.5 Am berühmtesten wurde der Fall der Supermarktkassiererin Emmely, der wegen der Unterschlagung von zwei Leergut-Bons im Wert von 1,30 Euro gekündigt worden war.

In allen Fällen argumentierten die Arbeitgeber mit dem «Vertrauensverhältnis», das durch die Vorfälle «zerrüttet» worden sei. Verständnis für diese Sichtweise bekundete auch die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG), Ingrid Schmidt. «Es gibt keine Bagatellen», sagte sie im Interview mit der «Süddeutschen Zeitung». Arbeitnehmer, die ihrem Arbeitgeber etwas entwenden, zeigten ein Verhalten, das «mit fehlendem Anstand» zu tun habe.

Wenn also kleine Angestellte Pfandbons oder Maultaschen an sich nehmen, nennt man das Betrug und schweren Vertrauensbruch und bestraft es mit Entzug der Existenzgrundlage. Wenn schwerreiche Investmentbanker das Geld anderer Leute verzocken, Milliardenschäden anrichten und ganze Bankhäuser in den Orkus schicken, dann bezeichnet man das als «Systemfehler», für den jene, die ihr hohes Gehalt mit ihrer hohen Verantwortung rechtfertigen, persönlich nicht verantwortlich sind.

Wir teilen durchaus die strenge Sicht der BAG-Präsidentin Ingrid Schmidt. Man sollte von jedem erwarten, dass er sich auch bei Kleinigkeiten korrekt verhält. Dafür sollte man dann aber auch erwarten dürfen, dass sich Banker und Manager ebenso korrekt verhalten, wie es die Bundesrichterin von der Supermarktkassiererin verlangt.

Dass dem nicht so ist, hängt mit der im Vorwort gemachten Feststellung zusammen, dass unsere nationalstaatlich verfassten Demokratien nicht mehr so ganz auf die Wirklichkeit passen. Das Volk, der Souverän in allen demokratischen Verfassungen, ist in Zeiten der Globalisierung nicht mehr so souverän, wie es sein sollte. Daher beschleicht immer mehr Bürger das Gefühl, dass nicht mehr sie es sind, die in freien Wahlen darüber bestimmen, wie sie leben und arbeiten wollen, sondern der Markt. Dem kann es egal sein, wer unter ihm als Kanzler oder Präsident die sogenannten Sachzwänge vollstreckt und deren Opfer nachsorgend betreut. Die Märkte haben die eigentliche Gestaltungsmacht, aber leider keinen Plan von der Zukunft, sondern nur kurzfristige Gewinninteressen, die uns langfristig in eine Zukunft führen, die niemand gewollt haben wird.

Demokratisch gewählte nationale Regierungen sind der Komplexität weltweit vernetzter, voneinander abhängiger und sich gegenseitig beeinflussender Volkswirtschaften nicht mehr gewachsen. Alan Greenspan hat die Europäer nicht gefragt, ob sie seine Politik des billigen Geldes gutheißen. Der deutsche Steuerzahler ist nicht schuld an der amerikanischen Immobilienblase und dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, er kann nichts dafür, dass Typen mit Harvard-Abschluss und MBA die Börse zu einem Kasino umfunktionierten und das Geld verzockten, das bei ihm jetzt eingesammelt wird. Man hat bis vor kurzem nicht gewusst, wie stark deutsche Landesbanken in diese üblen Geschäfte verstrickt waren. Wir werden für die Schuldenpolitik aller griechischen Regierungen in die Pflicht genommen, und der Alleinerziehenden wird nun gesagt, dass sie auf den versprochenen Kita-Platz warten muss. Nicht nur für Kitas fehlt das Geld. An allen Ecken und Enden, im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden muss gespart werden wie noch nie, und zugleich steigen Gebühren, Sozialabgaben und sehr wahrscheinlich auch wieder die Steuern.

Wir sind nicht mehr Herr im eigenen Haus. Daher fällt es Politikern zunehmend schwerer, steuernd und gestaltend in das Weltgeschehen einzugreifen. Die viel zu vielen Kameras, die sich auf die Präsidenten, Kanzler, Minister und Ministerpräsidenten richten, zeigen hochverschuldete Könige ohne Macht, abhängig von Medien, Stimmungen, Lobbyisten, Parteifunktionären, Koalitionspartnern, Provinzfürsten, anderen Regierungen und Investitionsentscheidungen.

Wenn Europas Regierungen am Monatsende alle Beamtengehälter und -pensionen bezahlt haben, wenn Sozialtransfers, Zinsen, Tilgung und alle weiteren Fixkosten überwiesen wurden, dann bleibt kein Euro mehr übrig für die Gestaltung der Zukunft. Dafür müssen sie neue Schulden machen.

Aber selbst wenn sie keine Schulden hätten, wären die meisten Staaten nur noch eingeschränkt fähig, die Zukunft zu gestalten, denn siebenundzwanzig europäische Nationen haben sich zu einem Staatenbund namens EU zusammengeschlossen und damit Teile ihrer Souveränität nach Brüssel abgetreten. Dort, und nicht mehr in Berlin, Paris, London und den übrigen Hauptstädten der teilsouveränen Staaten, werden jetzt, für den EU-Bürger schwer kontrollierbar, Entscheidungen mit weitreichenden Folgen getroffen. Dort müssten eigentlich die vielen Fernsehteams ihre Kameras auf die EU-Kommissare, EU-Bürokraten und vor allem die zehntausend Lobbyisten um sie herum richten – jene unbekannten Gesichter, welche die Zukunft stärker bestimmen als die bekannten Politiker in den nationalen Hauptstädten.

Daher stehen wir heute vor einer Jahrhundertaufgabe: der Rückeroberung der Gestaltungsmacht durch den in den Verfassungen eigentlichen Souverän, das Volk. Ob und wie das unter den Bedingungen der Globalisierung gelingen kann, wissen wir noch nicht, aber versucht werden muss es. Erfolge, wenn es sie je geben sollte, werden jedoch Jahrzehnte auf sich warten lassen.

Bis dahin müssen aber weiterhin Probleme gelöst, Gefahren gebannt, Regeln eingehalten werden, und genau deshalb kommt es ab sofort auf jeden Einzelnen an. Nationale Regierungen sind jetzt auf unser aller Hilfe angewiesen. Nicht nur auf die Mächtigen und Reichen dieser Welt kommt es an, sondern auch auf uns Normalbürger, die vielen kleinen Lohnsteuerzahler, Sozialversicherten, Konsumenten, Sparer und Kleinanleger. Von unserem Anstand und Charakter wird abhängen, ob wir die Probleme in den Griff bekommen.

So gut wie jede banale Konsumentscheidung – für oder gegen das Ei vom Huhn aus Käfighaltung, für oder gegen Himbeeren im Winter, für billigen Atom- oder teuren Ökostrom, für Billigware aus China oder teure Qualität aus regionaler Produktion, für oder gegen Rindfleisch aus Argentinien – hat Folgen für die Welt und kommt daher einem politischen Akt gleich.

Ob wir die explodierenden Gesundheitskosten in den Griff kriegen, hängt nicht nur vom jeweiligen Gesundheitsminister ab, sondern auch davon, ob jeder Einzelne sich gesund ernährt, sich ausreichend bewegt und die Gesundheitsdienste nur dann beansprucht, wenn er sie wirklich braucht. Es hängt davon ab, ob jeder einzelne Arzt korrekt abrechnet und sich bei der Verschreibung von Medikamenten und Therapien nicht von den Bestechungsgeschenken der Pharmalobby leiten lässt, sondern vom medizinisch Gebotenen. Es hängt davon ab, ob es gelingt, jeden Einzelnen so gut auszubilden, dass er seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen und in die Sozialkassen einzahlen kann, statt diese zu belasten. Es hängt davon ab, ob es gelingt, Menschen so zu erziehen, dass sie bestrebt sind, durch Eigeninitiative möglichst schnell auf eigenen Beinen zu stehen. Dazu gehört dann aber auch die Bereitschaft der Arbeitgeber, anständige Löhne zu zahlen.

Der soziale Frieden in jedem Gemeinwesen hängt davon ab, dass der erarbeitete Wohlstand ebenso wie die Lasten und Pflichten einigermaßen gerecht verteilt sind. Auf Gesellschaften, in denen Löhnen und Gehältern weder nach oben noch nach unten Grenzen gesetzt sind, ruht kein Segen.

Wir brauchen mündige Bürger, die einsehen, dass es nicht reicht, alle vier Jahre ein Kreuz zu machen und sich dann zurückzulehnen. Es ist zu bequem, sich über unfähige Politiker zu beklagen, ohne selbst aktiv zu werden. Man muss auch selber Verantwortung übernehmen für sich, für andere, fürs Ganze.

2. Das neue Mantra: Bildung gleich Euro

Es ist wahrscheinlich nur wenigen bewusst, daher sei es hier ausgesprochen: Wir, die Nachkriegsgeborenen von Westeuropa, sind die Glückskinder der Weltgeschichte. Wenn wir auf unser Leben zurückblicken, können wir sagen, nie etwas anderes kennengelernt zu haben als Frieden und Freiheit bei wachsendem Wohlstand.

Wie anders war das bei der Generation unserer Eltern und Großeltern. Zwei Weltkriege, zwei Inflationen, Hunger, Not, zerbombte Städte, Vermisste, im Krieg gefallene Väter, Ehemänner und Brüder, an Leib und Seele Versehrte Kriegsheimkehrer. Wer als Kind Flucht und Vertreibung oder die Bombennächte in den Luftschutzbunkern überlebt hat, ist oft noch heute traumatisiert davon. Überall in Europa hatte diese Generation Ähnliches erlebt und erlitten. Und wer jüdischen Glaubens war, dessen Leben endete mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer von Deutschen betriebenen Gaskammer.

Von dem schönen Leben, das wir seit Jahrzehnten führen dürfen, hatten diese Vorkriegsgeborenen nie zu träumen gewagt. Und für drei Viertel der heutigen Weltbevölkerung bleibt unsere Lebensweise ein unerfüllbarer Traum. Was uns als selbstverständlich erscheint, ist vor historischem Hintergrund und angesichts der globalen Gegenwart ein extrem unwahrscheinlicher Ausnahmezustand. Wir sind Bewohner einer Oase inmitten einer großen Wüste. Sicher, auch hier geht es nicht allen gleichermaßen gut, aber allen geht es besser als früheren Generationen und als denen, die anderswo ihr Leben fristen.

Drei Wunder haben sich zwischen 1945 und heute in Europa ereignet. Das erste: Wir haben die viele Jahrtausende alte Institution des Krieges überwunden, zumindest innerhalb der EU. Dass Deutsche und Franzosen jemals wieder aufeinander schießen, ist nach heutigem Ermessen ausgeschlossen. Wer das vor hundert Jahren prophezeit hätte, der hätte sich als Utopist lächerlich gemacht. Heute erscheint uns diese Leistung als so selbstverständlich, dass unser Verdruss über die Brüsseler Eurokratie größer ist als die Freude über den Frieden in Europa. Seit 1989, als die Grenze zwischen zwei waffenstarrenden Blöcken ohne Blutvergießen fiel, gehören auch große Teile Osteuropas dazu.

Das zweite Wunder ist auf dem Weg seiner Verwirklichung: die volle Gleichberechtigung der Frau. Die ehemalige Verfassungsrichterin Jutta Limbach hat das vor Jahren auf folgenden Nenner gebracht: Im Gegensatz zu ihren Urgroßmüttern dürfen Frauen von heute politische Versammlungen besuchen, wählen und gewählt werden, Universitäten besuchen, Ärztinnen, Richterinnen, Professorinnen werden. Im Gegensatz zu ihren Großmüttern haben Frauen von heute bei ihrer Heirat das Recht, ihren Mädchennamen zu behalten. Im Gegensatz zu ihren Müttern werden Frauen von heute so gefördert, dass sie gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilnehmen können. Dieser Prozess ist natürlich noch nicht vollendet. Noch immer stellen sich Frauen Hürden in den Weg, aber genügend Frauen kämpfen dagegen an, und wie weit sie es dabei gebracht haben, lehrt ein Vergleich mit arabischen oder asiatischen Ländern.

Das dritte Wunder erscheint uns als so selbstverständlich, dass uns sein einstmals utopischer Charakter gar nicht mehr bewusst ist: die volle Teilhabe der Arbeitnehmer an politischen Entscheidungsprozessen, an Kultur und Bildung, und die möglichst gerechte Verteilung des durch Arbeit erwirtschafteten Wohlstands. So gut wie alles, was die ersten Arbeitervereine zur Zeit des Dreiklassenwahlrechts als Ziele in ihre Programme hineingeschrieben haben, ist heute verwirklicht.

Hartz-IV-Empfängern wird diese Beschreibung unserer Realität möglicherweise als Schönfärberei erscheinen – aber circa eine Milliarde Menschen auf dieser Welt würden sofort mit ihnen tauschen. Dieser Milliarde fehlt es an sauberem Trinkwasser und Nahrung, an menschenwürdigen Behausungen, an einem funktionierenden Gesundheitssystem, sozialem Frieden, einer rechtsstaatlichen Justiz und einer freien Presse, es fehlt ihr an Schulen, Straßen und einem öffentlichen Nahverkehr, es fehlt ihr an Strom, Licht, Parks, Erholungsräumen und an Schutz vor kriminellen Banden, Ausbeutern und Betrügern. Es fehlt ihr an allem, was hierzulande auch für Hartz-IV-Empfänger selbstverständlich ist.

Es ist also gewiss keine Übertreibung: Wir, die Nachkriegsgeborenen der westlichen Hemisphäre, haben den weltgeschichtlich günstigsten Zeitpunkt und Ort erwischt, den man sich zum Leben nur denken kann. Keine Generation vor uns hatte größeres Glück als wir. Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Sicherheit sind ganz junge, schwererkämpfte Ausnahmeerscheinungen in der Weltgeschichte, und wir gehören zu den ersten Nutznießern.

Wenn wir trotzdem nicht täglich in Jubel über diese erstaunliche Tatsache ausbrechen, dann nicht nur, weil uns das alles als zu selbstverständlich und nicht genug erscheint, sondern weil bei unserem Vergleich mit der Vergangenheit und der Gegenwart noch ein entscheidender Aspekt fehlt: die Zukunft unserer Kinder.

Unsere Eltern hatten zu uns immer gesagt: Ihr sollt es einmal besser haben als wir. Und tatsächlich haben wir es besser, als sie es je hatten. Aber unseren Kindern müssten wir, wenn wir ehrlich wären, sagen: Ihr werdet es sehr wahrscheinlich einmal schlechter haben als wir.

Während die Älteren zielstrebig auf ihren Vorruhestand hinarbeiten und ein Rentnerleben auf Mallorca planen, machen Zehnjährige unter heftiger Anteilnahme ihrer Eltern «Grundschulabitur», hetzen durch das G8-Gymnasium, erwerben zügig ihren Bachelor und satteln den Master obendrauf, auf dass sie flexibel und mobil jederzeit allen wechselnden Anforderungen einer globalisierten Wirtschaft gerecht werden und die Sicherheit unserer Renten garantieren können. Auch die Kosten all der Krankheiten, von denen immer mehr und immer ältere Menschen geplagt werden, die neunzig bis hundert Jahre leben, müssen von einer relativ kleinen Gruppe der Jüngeren bezahlt werden, nicht zu vergessen die Schuldenberge, die wir künftigen Generationen hinterlassen.

Gleichzeitig legen wir gutversorgten Älteren den Jüngeren immer mehr Eigenverantwortung nahe. Die Jungen sollen für ihr eigenes Alter lieber selber vorsorgen und sich gut gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit versichern, denn auf den Staat werden sie sich kaum noch verlassen können. Wobei wir dem Hauptschüler die Antwort schuldig bleiben auf die Frage, wie er für sich selber sorgen soll, wenn er noch nicht mal eine Lehrstelle bekommt. Und dem hochqualifizierten Uni-Absolventen, der sich von Praktikum zu Praktikum hangelt, sich vom Einjahresvertrag zum Zwei- und Dreijahresvertrag vorarbeitet, während er fragt, wie er all das schaffen soll, was wir ihm aufbürden, sagen wir: Das ist dein Problem, und vergiss bitte nicht, Kinder in die Welt zu setzen, damit die Renten und das Wirtschaftswachstum gesichert sind.

Wir Älteren übergeben den Jüngeren eine übervölkerte, waffenstarrende, vom Klimawandel bedrohte und von Wasser- und Rohstoffknappheit geschüttelte Welt voller Konflikte zwischen Ethnien, Religionen und Kulturen. Wir setzen sie einem Wettbewerb aus, der viele überfordert, krank und labil macht und auch Eltern verunsichert.

Wir müssen unser Bild also korrigieren. Die Welt, die wir unseren Kindern übergeben, ist an ihren Grenzen und teilweise auch schon im Innern von Verwahrlosung bedroht, mit Schulden überfrachtet und auch mit Schuld beladen – Schuld gegenüber den Ausgeschlossenen, Schuld gegenüber der Natur, auf deren Ausbeutung ein Großteil unseres Wohlstands beruht, Schuld gegenüber künftigen Generationen, deren Ressourcen wir verbraucht haben, Schuld wegen unserer imperialistischen und kolonialistischen Vergangenheit, die ebenfalls zu unserem heutigen Wohlstand beigetragen und die Erben der ehemaligen Kolonien von ihm ausgeschlossen hat.

Es wäre schöner, wenn unsere Oase, die wir den nächsten Generationen vererben, intakt, auf Expansion programmiert und auf Frieden mit der Natur gegründet wäre. Das haben wir nicht geschafft.

Wie können wir diese Oase dennoch erhalten? Die Eliten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft meinen, das Rezept gefunden zu haben, ein Rezept, das geradezu als Wundermittel gehandelt wird: Bildung. Mehr Bildung, bessere Bildung werde jungen Menschen helfen, von unserer Oase so viel wie möglich in die Zukunft zu retten. Auch die ganz großen politischen Vorschläge setzen also beim Einzelnen an. Bei den jungen Menschen, bei unseren Kindern und Enkelkindern.

Das sehen wir grundsätzlich auch so. Nur sehen wir nicht, wo nach der Finanz- und Eurokrise noch das dafür nötige Geld herkommen soll. Aber vor allem sehen wir nicht, wie das, was seit rund einem Jahrzehnt von der Mehrheit unserer Eliten in Deutschland, Europa, den USA bis hin zur OECD als «mehr Bildung» oder gar als «bessere Bildung» verkauft wird, unsere Oase retten soll: Denn es handelt sich um verzweckte Bildung, Bildung als Magd der Wirtschaft, als Set von Kompetenzen, als Anpassung an den Weltmarkt, als die Fähigkeit, sich ökonomisch gegen Inder und Chinesen zu behaupten.

Innovationen durch Bildung, internationale Wettbewerbsfähigkeit durch Bildung, Wohlstand und Zukunftssicherung durch Bildung – so lauten die neuen Hoffnungswerte, und sogar die Grünen hatten im Bundestagswahlkampf 2009 die Parole «Wachstum durch Bildung» plakatiert. Da herrscht eine erstaunliche Einigkeit von links bis rechts und von der Politik bis zur Wirtschaft und zur Wissenschaft. Kaum hatte die im September 2009 neugewählte Regierung ihre Amtsgeschäfte übernommen, forderte deren Sachverständigenrat eine «Bildungsoffensive»,6 um höheres Wachstum zu erreichen. Klaus Kleinfeld, Chef des US-Aluminiumkonzerns Alcoa und früher Vorstandsvorsitzender bei Siemens, nennt «Bildung den entscheidenden Wohlstandsbringer», denn die Konkurrenz hervorragend ausgebildeter ausländischer Spitzenkräfte wachse, und da müssten wir mithalten.7 Und wenn sich das Münchner ifo-Institut um Deutschlands Zukunft sorgt, weil laut einer Studie jeder fünfte Schüler im Alter von fünfzehn Jahren beim Rechnen und Lesen über das Grundschulniveau nicht hinauskommt, und der hohe Anteil leistungsschwacher Schüler eine Bremse für das deutsche Wirtschaftswachstum darstellt8, so darf sich das Institut der breiten Zustimmung sicher sein.

Immerzu und allerorten kann man hören: Wir sind ein rohstoffarmes Land, darum müssen wir auf den Rohstoff setzen, den man selber machen kann: «Brain». Für dessen Produktion sind Schulen und Universitäten zuständig, überdies auch Familien, Kindertagesstätten und Kindergärten. Also lasst uns hier investieren, dann werden sich die meisten Probleme von selbst lösen, heißt es. Bildung ist hier ein reines Zukunftsbewältigungsinstrument. Kinder gelten als Investitionsobjekte.

Die OECD rechnete in einer ihrer zahlreichen Studien vor, dass die jetzt lebende Schülergeneration durch ein paar Punkte mehr beim PISA-Test im Lauf ihres Berufslebens acht Billionen Dollar mehr erwirtschaften könnte. Bildung = Dollar – platter, kürzer und prägnanter als in dieser OECD-Studie9 kann man den zur Herrschaft gekommenen Glauben an das Mantra der Bildung nicht mehr auf den Punkt bringen.

Diesem Aberglauben widersprechen wir. In der gegenwärtig herrschenden Bildungsideologie sehen wir das Problem, dessen Lösung zu sein sie vorgibt. Der Notwendigkeit, sich im Wettbewerb gegen Inder und Chinesen zu behaupten, widersprechen wir gar nicht, und wir werden in diesem Buch einiges sagen über den Weg zu diesem Ziel. Am ökonomischen Erfolg unseres Landes sind wir genauso interessiert wie Politiker, Manager und Unternehmer. Aber diesen Erfolg sehen wir gerade durch die beinahe schon zwangsneurotische Fixierung aufs Wirtschaftswachstum gefährdet. Gerade weil ökonomische Ziele oberste Priorität genießen, werden wir sie und eine gute Zukunft für unsere Kinder verfehlen.

Darum möchten wir in diesem Buch die Blickrichtung umdrehen und die Köpfe der Eliten für einen ganz einfachen, ganz selbstverständlichen Gedanken gewinnen: Sorgt euch zuerst um das Wohl der Kinder. Kümmert euch um deren Leib, Geist, Seele und Charakter! Das wird auch der Wirtschaft zugutekommen.

Sie braucht keine angepassten Ja-Sager, sondern starke, widerständige Menschen mit eigenen Ansichten, Werten und Visionen. Sie braucht kreative, originelle Charakterköpfe. Die kann man nicht züchten. Aber man kann die Grundlagen dafür bereitstellen.

Dies muss die Politik tun, dies kann in jeder Familie geschehen. In den letzten zwanzig Jahren war dies häufig fast nur noch mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts, gegen den Staat und die Wirtschaft, durchsetzbar. Das höchste Gericht im Staat musste diesen in der Vergangenheit immer wieder zwingen, Kindern und Familien wenigstens finanziell das Minimum dessen zu gewähren, was Familien zum Überleben brauchen. Andere Lebensnotwendigkeiten, wie etwa Liebe, Zuwendung, Zeit, Geborgenheit, Spiel, Sport, Musik, echte Bildung oder ein Fernsehen, das die Hirne von Kindern und Jugendlichen nicht vergiftet, sind leider vor keinem Gericht einklagbar und für viele Kinder nicht mehr selbstverständlich.

Je mehr wir aus lauter Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit unsere Kinder vernachlässigen, desto mehr Sorgenkinder werden wir bekommen, desto größer werden unsere wirtschaftlichen Probleme sein. Es gilt aber auch: Je mehr wir aus lauter Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit unsere Kinder pushen, schon im Kindergarten dem Wettbewerb aussetzen, sie nicht mehr Kind sein lassen, desto schwerer werden sie es haben, sich normal und gesund zu entwickeln.

Wer Kinder und Jugendliche «zukunftssicher» machen will, indem er versucht, sie wettbewerbsfähig zu machen, wird nicht einmal das erreichen, denn wer sich nur ökonomisch behaupten kann, wird unfähig sein, jene anderen Herausforderungen zu bestehen, von denen das Leben voll ist – und manche davon haben ein ganz anderes, persönlicheres Kaliber als der Kampf um Marktanteile.

Auf ökonomischen Erfolg programmierte Eliten werden den Wert unserer Oase mit deren Geldwert verwechseln und daher die wirklichen Innovationen, die nötig sind, um unsere Oase zu erhalten und auszubauen, nicht ersinnen und dem Vordringen der Wüste nichts entgegenzusetzen haben.

Die Gleichung «Bildung gleich Euro» ist nicht nur primitiv und dumm, sie ist auch zutiefst inhuman. Ihre Inhumanität zeigt sich in der scheinbar berechtigten Sorge des ifo-Instituts um die lese- und rechenschwachen Kinder. Denn in Wirklichkeit bereitet dem Institut ja nicht etwa die bedrückende, aussichtslose Situation dieser Kinder Anlass zur Sorge, sondern die Tatsache, dass diese Kinder «Wachstumsbremsen» sind. Es geht nicht um die Probleme der Kinder, sondern um die Probleme der Wirtschaft.

In anderen Zusammenhängen werden Kinder als künftige Rentenzahler, Produzenten und Konsumenten beschrieben, als Kostenfaktoren, als Problemgruppe, als Bildungsprodukte, die der ständigen «Qualitätssicherung» und «Evaluation» bedürfen. Nur um die kindliche Seele, um persönliches Glück und Chancen geht es nie. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln zu ihrem Nachwuchs ein Verhältnis, das dem Verhältnis des Bauern zu seinem Vieh gleicht. Wir bekommen es, überspitzt gesagt, mit einer ökonomischen Form von Kindesmissbrauch zu tun.

Das ganze von diesem Verwertungsinteresse gesteuerte Denken entlarvt sich schon an seinem Vokabular: Input, Output, Prozessmanagement, Benchmarking, Qualitätssicherung, Standardisierung, Soft Skills, Kompetenzen, Exzellenzcluster, Effizienz. Solches Geschwurbel tropft aus den Mündern unserer tonangebenden Bildungsmanager in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Wer so spricht, mag kompetent sein für die Produktion von Schrauben, Autos und Computern, in unserem Zusammenhang aber beweisen die Benutzer dieses aus dem zeitgenössischen Wörterbuch des ökonomischen Unmenschen stammenden Vokabulars vor allem ihre Inkompetenz für kindliche Seelen, für Erziehung und Bildung.

Um die Jahrtausendwende hatten wir gegen die Vorstellung von der Schule als Fabrik gekämpft. Wir wollten kein Bildungssystem, in das man vorne ein Kind hineinschiebt und hinten einen Ingenieur oder Betriebswirt herauszieht.10 Diesen Kampf scheinen wir verloren zu haben. Die Verfechter der Bildungsfabrik, die heutigen Bildungsforscher oder Pädagogen sind nicht mehr automatisch Anwälte und Beschützer unserer Kinder.

Im Gegenteil. Erziehungswissenschaftler wie etwa Jürgen Oelkers, Professor an der Universität Zürich und Experte für Schulreformen, formulieren forsch, worum es «bei Schule» geht: «in erster Linie darum, Abschlüsse zu erwerben und Absolventen für den Arbeitsmarkt zu produzieren. Wir brauchen ein System, das elastisch genug ist, einerseits zum Abitur zu führen, andererseits den Lehrstellenmarkt zu bedienen.»11 Der Geist, der aus solchen Worten spricht, das Bildungsverständnis, das ihnen zugrunde liegt, das ist derzeit die eigentliche Gefahr für die Zukunft unserer Kinder.

Die tüchtigen Nützlichkeitsautomaten, die unsere Bildungsfabriken ausstoßen sollen, werden den Wert und die geistigen Grundlagen unserer Oase gar nicht erkennen und daher weder willens noch fähig sein, sie zu erhalten. Geschweige denn, sie auszubauen und für die Ausgeschlossenen zu öffnen. Denn dafür bedarf es neben Wissen, Tüchtigkeit, Fleiß und Disziplin auch Verantwortungsgefühl, Haltung, Charakter, Empathie, Herzensbildung, Leidenschaft und ein Gespür für die Rangfolge unterschiedlicher Werte.

Daher wird es einen großen Unterschied machen, ob wir Lehrer zu reinen Wissensvermittlern und emotionslosen Organisatoren von Lernprozessen ausbilden oder ob wir Wert legen auf Lehrerpersönlichkeiten, die über eine innere Haltung verfügen und bemüht sind, so mit ihren Schülern umzugehen, dass sich auch bei ihnen eine innere Haltung bilden kann. Es wird auch einen Unterschied machen, ob wir bei der Auswahl unseres Führungspersonals nur auf dessen fachliche, wirtschaftlichtechnische Ausbildung achten oder auch auf eine allgemeine Bildung, charakterliche Eignung und Persönlichkeit.

Verhängnisvoll ist es auch, wenn Eltern sich vor ihrem Erziehungsauftrag drücken und die Charakterbildung an Kindergarten und Schule delegieren. Noch verhängnisvoller ist es allerdings – und das ist bereits Realität und Ansicht vieler Politiker –, wenn Kindergarten und Schule die Aufgabe vollständig an die Eltern zurückdelegieren. Die logische Folge ist, dass sich am Ende niemand mehr verantwortlich fühlt.

Unsere Kinder werden trotzdem erzogen, allerdings von Leuten wie Dieter Bohlen und Heidi Klum, von Marketingmanagern, Werbeagenturen, Computerspiele-Herstellern und Internet-Geschäftemachern. Die Produkte dieser Erziehung werden unsere Oase nicht erhalten, sondern weiter austrocknen lassen.

3. Goethe schützt vor Goebbels nicht

Das Land, das den Idealvorstellungen heutiger Eliten entspricht, hat es schon einmal gegeben, wird aber nie wieder kommen. Es war das Deutschland vor dem Jahr 1933. Bis zu diesem Jahr war Deutschland eine global geachtete Wirtschafts-, Wissenschafts-, Technologie- und Militärmacht und eine bewunderte Kulturnation, deren Kunst, Musik und Literatur international geschätzt wurden. Seit 1945 ist es eine relativ unbedeutende Mittelmacht, die heute nur im Verbund mit den anderen europäischen Klein- und Mittelmächten noch etwas in der Welt erreichen kann.

Während der zwölf Jahre dazwischen hat dieses Land seine größten Geister und kreativsten Menschen ins Ausland getrieben, in Gefängnissen und Konzentrationslagern ermordet oder im Krieg aufgerieben.

Das Verstörende an dieser Selbstzerstörung ist: An «Bildung», wie sie heute von unseren Eliten verstanden und lautstark gefordert wird, hatte es dieser ungeheuer erfolgreichen Wissenschafts- und Kulturnation nicht gefehlt. Ihre Universitäten waren Horte der Gelehrsamkeit, zahlreichen damaligen Fakultäten würde man heute das Label «Exzellenz-Center» aufpappen. Unter «Made in Germany» hatte man im Ausland nicht nur deutsche Wertarbeit, deutschen Fleiß und deutsche Disziplin verstanden, sondern auch eine in der Welt seltene Befruchtung von Geist und Geld, Erfindungsreichtum und Wagemut.

Die deutsche Ingenieurskunst vor 1933 war legendär. Ob Hoch- oder Tiefbau, Elektrotechnik, Chemie, Pharmazie, Maschinenbau, Werkstofftechnik, Optik oder Flugzeugbau – in all diesen Sparten spielten deutsche Ingenieure ganz vorne mit, und Konrad Zuse baute den ersten funktionstüchtigen Computer der Welt. Wo immer auf der Welt ein ehrgeiziges technisches Projekt realisiert wurde, waren deutsche Ingenieure dabei. Das Wort «Innovation» kannten sie nicht, «Schlüsseltechnologien» wurden damals nicht wortreich beschworen und mit staatlicher Hilfe mühsam auf den Weg gebracht, sondern vom gesamten 19. Jahrhundert bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von mutigen Technikern entwickelt und in der ganzen Welt erfolgreich vermarktet.

Oft trug die jeweilige Technik den Namen ihres deutschen Erfinders – wie etwa der Otto-Motor, der Diesel-Motor, das Zeiss-Mikroskop oder die Röntgenstrahlen. Elektrischer Widerstand wird bis heute in Ohm gemessen, benannt nach dem Physiker Georg Simon Ohm (1789 bis 1854). Frequenzen misst man in Hertz, benannt nach dem deutschen Physiker Heinrich Rudolf Hertz (1857 bis 1894).

Überhaupt glänzte die deutsche Naturwissenschaft mit weltberühmten Namen wie Albert Einstein, Otto Hahn, Werner Heisenberg, Lise Meitner, Max Planck oder Wilhelm Conrad Röntgen. Ihnen verdankt die deutsche Grundlagenforschung einen Spitzenplatz in der Welt. Der Ausstoß an Nobelpreisträgern war beachtlich. Um nur ein paar Zahlen zu nennen: Zwischen 1902 und 1933 gingen gerade mal zwei Chemie-Nobelpreise in die USA, die deutschen Chemiker holten vierzehn. Den Physik-Nobelpreis bekamen im gleichen Zeitraum die Amerikaner dreimal, die Deutschen elfmal. Nach 1933 drehte sich dieses Verhältnis um: Fünfzehn deutschen Chemie-Nobelpreisträgern stehen inzwischen vierundfünfzig amerikanische gegenüber, auf sechzehn deutsche Physik-Nobelpreisträger kommen achtundsiebzig amerikanische.

Auch die deutsche Medizin spielte in der Weltliga. Robert Koch hat in Berlin 1882 den Erreger der Tuberkulose entdeckt. Rudolf Virchow entwickelte in Berlin die moderne Pathologie. Ernst Ferdinand Sauerbruch war einer der bedeutendsten Chirurgen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

In den deutschsprachigen Geisteswissenschaften ist es nicht anders. Ihre große Zeit endete 1933. Bis dahin brachte sie so berühmte Philosophen wie Martin Heidegger, Edmund Husserl oder Max Scheler hervor, und mit den Werken von Theologen wie Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer, Rudolf Karl Bultmann, Friedrich Gogarten oder Adolf von Harnack muss sich noch heute jeder Theologiestudent auseinandersetzen.

Der Philosoph und Physiker Max Bense hatte versucht, Naturwissenschaft, Kunst und Philosophie zusammen zu denken. Er war einer der Ersten, die über Kybernetik, Rückkopplung und Information nachdachten und damit zur Entwicklung des Computers beitrugen. Und er war einer der ganz wenigen, die das Verhältnis von Mensch und Maschine philosophisch zu durchdringen versuchten. In seiner Dissertation über «Quantenmechanik und Daseinsrelativität» verteidigte er Albert Einstein gegen die nationalsozialistischen Eiferer der «Deutschen Physik» und verbaute sich damit eine Universitätskarriere. Erst nach dem Krieg durfte er wieder forschen und lehren.

Noch dramatischer ist der Bruch von 1933 auf kulturellem Gebiet zu beobachten. Die deutschsprachigen Schriftsteller produzierten vor Hitler Weltliteratur. Überall bekannt, oft übersetzt waren Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Ödön von Horváth, Franz Kafka, Thomas Mann, Heinrich Mann, Robert Musil, Erich Maria Remarque, Rainer Maria Rilke, Joseph Roth, Arthur Schnitzler, Franz Werfel, Stefan Zweig. Dann wurden ihre Bücher von den Nazis öffentlich verbrannt. Ähnliches widerfuhr den Malern. Die Bilder von Künstlern wie Gustav Klimt, Otto Dix, Max Ernst, George Grosz, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, August Macke, Franz Marc, Oskar Kokoschka hängen heute in den berühmtesten Museen der Welt, aber die Nazis verboten ihre Kunst und diffamierten sie als «entartet». Die Musik von Komponisten wie Alban Berg, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Paul Hindemith, Hanns Eisler wird auf der ganzen Welt gespielt, unter den Nazis waren diese Komponisten verfemt, galt ihre Musik als «zersetzend», «entartet», «jüdisch», «unerwünscht».

Die Babelsberger Filmstudios konkurrierten mit Hollywood auf Augenhöhe. Beim Übergang vom Stumm- zum Tonfilm waren die Deutschen führend, hier spielten sich Technik und Kunst gegenseitig in die Hände. In Babelsberg stand vor dem Krieg das modernste Tonstudio der Welt, in dem Filme wie Fritz Langs «Metropolis» oder Josef von Sternbergs «Der blaue Engel» mit Marlene Dietrich entstanden. Fritz Lang emigrierte in die USA, Marlene Dietrich folgte Josef von Sternberg ebenfalls nach Amerika und wurde dort ein Weltstar.

Deutsch war eine Weltsprache. Wer es im Ausland zu etwas bringen wollte, bemühte sich um Deutschkenntnisse. Wer es sehr weit bringen wollte, ging zum Studieren nach Deutschland. Ohne groß zu übertreiben, ließe sich behaupten: Bis 1933 lag «Harvard» nicht an der Ostküste Amerikas, sondern an der Spree in Berlin und nannte sich Kaiser-Wilhelm-Institut. Oder Charité, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Humboldt-Universität.

Dorthin pilgerten Studenten aus aller Welt, dort spielte die Musik. Bis 1933 wurde die Weltkultur in Europa gemacht, und ein sehr großer Teil davon im deutschsprachigen Raum. Heutige Kultusminister, Bildungspolitiker und Universitätspräsidenten würden bersten vor Stolz, wenn sie solch eine Erfolgsbilanz vorlegen könnten.

Aber dieses blühende Geistesleben im deutschen Kulturraum ist unter den Stiefeln der Nazis innerhalb von zwölf Jahren so gründlich zertrampelt worden, dass dieser sich bis heute nicht ganz erholt hat. Unter Jubel war die so überaus tüchtige und gebildete Kulturnation der Deutschen Hitler in den totalen Krieg gefolgt. Im Namen des Deutschtums wurde Deutschland erledigt. Mit all ihrem «Brain», ihrer Bildung und exzellenten Wissenschaft, ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit, ihren Schlüsseltechnologien und Innovationen wussten die deutschen Eliten nichts Besseres anzufangen, als ihren eigenen Untergang herbeizuführen, die Welt in Schutt und Asche zu legen und Verbrechen zu begehen, die man auf immer mit Deutschland verbinden wird.

Wie war das möglich? Wie konnte man in Weimar Goethe verehren und zugleich zehn Kilometer nordwestlich in Buchenwald eine Mordmaschine errichten? Wie konnte man Spitzenforschung betreiben, ohne zu fragen, wem man mit seiner Wissenschaft und Kunst dient, für welche Ziele das eigene Wissen und Können benutzt und welche Zukunft damit gemacht wird?

Hatte es an Ethik gemangelt? Fehlten Vorbilder, Autoritäten? Haperte es bei der «Werte-Vermittlung»? Versagten die Religionen? War das Bildungssystem zu einseitig ökonomisch und technokratisch orientiert und zu wenig humanistisch?

Nichts davon trifft zu. Beide christlichen Kirchen erfreuten sich deutlich höherer Mitgliederzahlen als heute, Religionsunterricht wurde fleißig erteilt. Taufe, Kommunion, Firmung, Konfirmation, kirchliche Trauung und kirchliches Begräbnis gehörten zur deutschen Standardbiographie.

Der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels wurde auf einem «Gymnasium des Internates der Armen Brüder vom Heiligen Franziskus» christlich erzogen, hat später Literatur und Philosophie studiert und galt als der Schöngeist des Hitler-Regimes. Der SS-Führer und Reichsinnenminister Heinrich Himmler war Absolvent des humanistischen Wilhelmsgymnasiums in München, sein Vater leitete als Rektor das humanistische Wittelsbacher-Gymnasium in München. Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess verbrachte seine Schulzeit in einem evangelischen Internat, der SA-Chef Ernst Röhm im humanistischen Maximiliansgymnasium in München. So könnte man noch viele aufzählen, die christlich-humanistisch erzogen wurden, sich einer erstklassigen Bildung erfreuten und sich trotzdem zu barbarischen Massenmördern entwickelten.

Sie hatten Goethe-Verse auswendig gelernt und Schiller-Gedichte. Sie hatten Dürer-Bilder betrachtet, Bach-Choräle gesungen und Beethoven-Sonaten gehört. Sie hatten Jesusworte auswendig gelernt und in ihrem Leben anschließend das Gegenteil dessen getan, was diese Worte besagten.

Nicht einmal die Bischöfe und Pfarrer, die das Wort Gottes viele Jahre studiert und Griechisch, Hebräisch und Latein gelernt hatten, fühlten sich aufgerufen, dieses Wort Gottes zu beherzigen und gegen Hitler zu kämpfen. Im Gegenteil. Kaum war Hitler an der Macht, hingen die «Deutschen Christen» ihre Kirchen mit Hakenkreuzfahnen voll, warfen die konvertierten Judenchristen aus der Kirche und predigten von der Kanzel, dass Hitler zu gehorchen die erste Christenpflicht sei.

Worin die Gründe für diese deutsche Katastrophe lagen, darüber ist viel nachgedacht und geforscht worden. Eines darf seitdem als gesichert gelten: Bildung schützt vor Dummheit nicht, nicht einmal vor Barbarei. Selbst Ethik, Humanismus, eine christliche Erziehung bieten nicht automatisch Schutz davor. Alles, was sich heutige Politiker, Bildungsforscher, Professoren, Manager und Unternehmer für unser Land erträumen, hatte Deutschland schon einmal gehabt, und es war alles andere als eine Garantie für die Zukunft.

Als ebenso gesichert darf seitdem gelten: Ein Mangel an Bildung verhindert Klugheit und Charakter nicht. Den Beweis liefert der Schreinergeselle Georg Elser. Lange vor der Anti-Hitler-Verschwörung der Wehrmachts-Offiziere um Stauffenberg und lange vor der Organisation des zivilen Widerstands durch Helmut James Graf Moltke und dessen Kreisauer Kreis wusste dieser Georg Elser, was von Hitler zu halten und gegen ihn zu tun sei.

Darum bastelte er ganz allein eine Bombe und deponierte sie im Münchner Bürgerbräukeller. Am 8. November 1939, fünf Jahre vor dem Stauffenberg-Attentat, explodierte sie. Leider hatte Hitler wegen eines dummen Zufalls den Saal schon vorher verlassen. Sonst hätte die Weltgeschichte wahrscheinlich einen völlig anderen Verlauf genommen, sechs Millionen Juden wären nicht ermordet worden, der Zweite Weltkrieg wäre nicht ausgebrochen, und das nur wegen eines einfachen Mannes, des einfachen Schreiners Georg Elser, der lediglich die Volksschule besucht hatte.

Den jahrelangen Anschauungsunterricht, den andere nötig gehabt hatten, um sich – wie etwa der gebildete Stefan-George-Jünger Stauffenberg – angesichts der Verbrechen der deutschen Wehrmacht in Russland allmählich von Hitler abzuwenden und schließlich das NS-Regime zu bekämpfen, hatte Georg Elser nicht gebraucht. Mitverschwörer, komplizierte Generalstabspläne, philosophische Erwägungen und langwierige Diskussionen über viele Jahre, das alles war für diesen Schreiner nicht nötig. Er hatte Hitler gesehen und gehört, er hatte sich durch seine Nähe zum Kommunismus eine politische Meinung gebildet und damit genug gewusst. Elser kam zu dem Schluss, dass ein Tyrannenmord in diesem Fall ethisch geboten sei.

Geboren 1903 im württembergischen Hermaringen, wuchs Georg Elser in Königsbronn in schwierigen Verhältnissen auf. Der Vater trank, die Familie verarmte. In Königsbronn absolvierte er sieben Volksschuljahre. «Ich war ein mittelmäßiger Schüler», hat er später über sich selbst gesagt. Gute Noten hatte er im Zeichnen, Schönschreiben und Rechnen, schlechtere im Diktat, Aufsatz und anderen Fächern, in Religion befriedigend. «Schläge bekam ich nicht mehr als die anderen und immer nur dann, wenn ich meine Hausaufgaben nicht richtig gelernt hatte. ... Soviel ich mich erinnern kann, haben sich meine Eltern um die Zeugnisse, die ich aus der Schule heimbrachte, wenig gekümmert. ... Dadurch, dass ich bei den landwirtschaftlichen Arbeiten zu Hause mithelfen musste, wurde mir das Lernen ziemlich erschwert.»

Wie ist es möglich, dass so ein einfacher Handwerker zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, Millionen weit gebildeterer Deutscher dies aber nicht vermochten? Wie kann es sein, dass so einer mehr politischen Verstand, mehr Mut und Tatkraft beweist als die gesamte akademische Elite?

Es ist ein Rätsel, dessen Lösung wir nicht kennen. Für unsere Bildungsdebatte lässt sich aber daraus zumindest schon mal lernen, dass wir sehr genau fragen müssen, worauf es wirklich ankommt bei der Bildung. Denn wenn die Art von Bildung, die in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts «state of the art» war, die große Katastrophe nicht verhindern konnte – wie können wir dann sicher sein, dass zweisprachige Kindergärten, G8-Gymnasien, Bologna-Universitäten, Exzellenz-Cluster und MBA-Kaderschmieden die Art von Bildung liefern, die uns in eine gute Zukunft führt?

Diktaturen wie das Dritte Reich scheiden die Geister, teilen die Menschen ein in Täter und Opfer, in Mitläufer und Widerständler, in Gleichgültige und Leidende. Das Interessante daran ist, dass der Bildungsabschluss keine Prognose darüber zulässt, zu welcher dieser Gruppen ein Mensch gehören wird. In allen Diktaturen gibt es unter den Tätern Gebildete und Ungebildete, unter den Opfern auch. Dasselbe gilt für die große Mehrheit der Mitläufer und Gleichgültigen. Es gilt für die Widerständler, die heimlich oder offen gegen Diktaturen rebellieren, ihr Leben riskieren, und es gilt für die Ängstlichen, die beschämt unter dem Unrecht gelitten haben. In jeder dieser Gruppen trifft man Angehörige aller Bildungsschichten.

Bildung ist also keine Garantie gegen Irrtum, Feigheit, Brutalität, Diktatur und Massenmord. Nicht einmal Religion, Ethik, Humanismus scheinen eine Gewähr dafür zu bieten, dass ein Land eine gute Zukunft hat.

Erst wenn man sich dieser Tatsache bewusst wird und sie vor dem Hintergrund unserer Geschichte reflektiert, erkennt man das ganze Ausmaß an Dummheit, das in der Gleichung «Bildung gleich Euro» steckt. Der heute vorherrschende Glaube, dass es genüge, «exzellent» zu sein, damit diese Zukunft exzellent werde, ist falsch, ist eine fatale Ideologie.

4. Schicksal und Charakter

Weltkrieg, Inflation, millionenfacher Tod, millionenfaches Leid – das war die Kollektiv-Erfahrung der Generation unserer Eltern und Großeltern. Ohne Zweifel haben viele gelitten.