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Inhaltsverzeichnis

Widmung
Daniel Barenboim: Vorwort
Vorspiel und »Liebestod«
Daniel Cohen
Nabeel Abboud Ashkar
Blick hinter die Kulissen
Das »Trio infernale« – Matthias Glander, Tabaré Perlas und Axel Wilczok
Dissonanzen erlaubt
Sharon Cohen
Georges Yammine
Nassib Al Ahmadieh
Der Maestro
Die Fußballmannschaft des Orchesters
Yuval Shapiro und Bassam Mussad
Guy Eshed
Tyme Khleifi
Mit dem Divan Orchestra im Flugzeug
Alberto und Pablo Martos
Eine gewaltige kollektive Energie
Meirav Kadichevski
Eine west-östliche Familie
Mohamed Saleh Ibrahim
Asaf Maoz
Die Diskussion geht weiter
Talib Zaki
»Ihr spielt nicht für euren Lebensunterhalt, ihr spielt für euer Leben«
Guy Braunstein
Ein Anschlag auf die klassische Musik
Karim Said
Staatenlos
Yasmin
Alle Wege führen nach Rom
Edward Saids Dankesrede anlässlich der Verleihung des Prinz-von-Asturien-Preises
Mariam C. Said: Mein Engagement bei der Barenboim-Said-Stiftung und beim West-Eastern Divan Orchestra
Zeittafel
Copyright

Edward Saids Dankesrede anlässlich der Verleihung des Prinz-von-Asturien-Preises

Es ist für mich eine außerordentliche Ehre, mit diesem renommierten Preis ausgezeichnet zu werden und dies mit meinem lieben Freund und Kollegen Daniel Barenboim teilen zu können. Mir fehlen die Worte, um meinen Dank an die Jury des Prinz-von-Asturien-Preises auszudrücken, die uns für dieses wunderbare Zeichen der Anerkennung ausgewählt hat. Aber ich möchte gern den übrigen Preisträgern gratulieren, deren herausragende Leistungen in den Künsten und Wissenschaften hier heute gleichermaßen gewürdigt werden.

 

Die heutige Welt ist geprägt von Kontroversen, die sich um nationale Identitäten und Nationalismen drehen. Seit Jahren bestimmen sie nun schon die Nachrichten, viele von ihnen gehen auf die Auflösung der großen Weltreiche zurück, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte. Viel zu oft verschärften die übernommenen Strukturen der imperialen Aufteilung, wie in Indien und in Palästina, die bereits bestehenden, örtlichen Spannungen und schienen nichts zu bewirken. Muslimische und hinduistische Nationalisten kämpfen bis heute, und jegliche Art von Frieden liegt für palästinensische Araber und israelische Juden immer noch in weiter Ferne. Das Konzept und die Praxis der Koexistenz und der Gleichberechtigung scheinen so weit weg, dass sie töricht utopisch anmuten. Die Vorstellungen von Identität sind weit davon entfernt, erreicht und ausgefüllt zu werden, aber in der Auseinandersetzung mit anderen münden sie direkt in die fürchterliche Gewalt des Kriegs und in langwierige Fehden. Auch nicht offen ausgetragene Konflikte um Identität schwelen vor sich hin und verstärken bestehende Verletzungen und das Gefühl der andauernden Ungerechtigkeit, was oft zur absoluten Kriegsbereitschaft führt.

Trotzdem denken beide am Kampf um ihre Identitäten beteiligten Parteien, dass die Gerechtigkeit auf ihrer Seite steht. Aber wo ist die Gerechtigkeit? Soll der Kampf immer weitergehen, selbst wenn eine Seite weitaus mächtiger als der Gegner ist? Geht es darum, ungerechten Praktiken Widerstand zu leisten und weiterhin die Aufmerksamkeit auf den Missbrauch der politischen und der Menschenrechte zu lenken? Oder geht es darum, eine überlegene Position einzunehmen und vorzugeben, dass die Identitätsfrage gar nicht von Interesse sei?

Dem Ganzen liegt das Problem zugrunde, dass es unmöglich ist, neutral zu sein oder solche Spannungen von einer hohen Warte aus zu betrachten. Ganz gleichgültig, wie unbeteiligt wir sein möchten, hier geht es für jeden Menschen auf die eine oder andere Art um Leben oder Tod. Jeder von uns gehört einer Gemeinschaft an, die ihr eigenes nationales Erzählmuster, ihre Sprache, Geschichte, ihre eigenen Traditionen, Gründungsideen und Heldenfiguren besitzt. Diese Faktoren liefern den Stoff, aus dem alle Identitäten geformt werden, auch wenn sich nicht alle Identitäten angegriffen und ständigem Druck ausgesetzt fühlen. Außerdem stimmt es, dass keine Identität für ewig festgelegt ist, denn die der Geschichte und der Kultur inhärente Dynamik gewährleistet ihre konstante Weiterentwicklung, Veränderung und Reflexion. Aber im schlimmsten Fall beanspruchen entweder einzelne Personen oder ganze Gruppen für sich, dass sie die wahren Repräsentanten einer Identität sind, dass nur sie den Glauben richtig auslegen, dass nur sie die wirklichen Träger der Geschichte eines Volkes sind, dass nur sie selbst eine gegebene Identität, sei sie nun islamisch, jüdisch, arabisch, amerikanisch oder europäisch, personifizieren. Derart maßlose Überzeugungen führen nicht nur zu Fanatismus und Fundamentalismus, sondern auch zu der absoluten Unfähigkeit, dem anderen Verständnis oder Mitgefühl entgegenbringen zu können.

Eines der überaus bestechenden Kennzeichen der spanischen Identität ist für mich, dass sich Spanien als Nation erfolgreich mit der Vielfalt – und den widerstreitenden Gegensätzen  – in der Geschichte seiner eigenen komplexen Identität auseinandergesetzt hat. Die Gesamtheit der islamischen, jüdischen und christlichen Geschichte in Spanien stellt ein Modell für die Koexistenz von Traditionen und Anschauungen dar. Es hätte zu einem endlosen Bürgerkrieg führen können  – aber die Anerkennung einer plurikulturellen Vergangenheit erwies sich als Quelle der Hoffnung und der Inspiration, und nicht der Abspaltung und Zwietracht. Die Aspekte, die einst in Spaniens langer Geschichte unterdrückt oder geleugnet wurden, haben dank der schöpferischen Anstrengungen von herausragenden Köpfen wie Americo Castro und Juan Goytisolo ihre fällige Würdigung erfahren.

 

Für mich als einem in Jerusalem gebürtigen Palästinenser wurden 1948 mit der Gründung von Israel meine eigene nationale Geschichte und die Gesellschaft meiner Vorfahren zerstört. Seitdem – also den größten Teil meines Lebens – habe ich mich auf meine Weise an dem Kampf beteiligt, nicht nur Gerechtigkeit und Entschädigung für mein Volk zu erwirken, sondern auch die Hoffnung auf Selbstbestimmung lebendig zu halten. Unsere moderne Geschichte als ein Volk ist von nicht anerkanntem Leid und kontinuierlicher Enteignung geprägt. Als ein Amerikaner, der ein privilegiertes Leben führt und an der Columbia University forscht – wo ich als Professor unglaublich glücklich gewesen bin –, gelangte ich sehr bald zu der Einsicht, dass ich vor der Alternative stand, entweder wie so viele andere meiner Familienangehörigen, die 1948 zu heimatlosen Flüchtlingen erklärt wurden, meine Vergangenheit zu vergessen, oder mich persönlich der Aufgabe zu widmen, die Traumata des Leids und der Enteignung durch Schriften, Vorträge und Zeugnisablegen über die Tragödie von Palästina zu lindern. Ich kann mit Stolz sagen, dass ich mich für die zweite Option entschied und damit gegen eine militaristische und imperiale amerikanische Politik. Statt an den Einsatz von Waffen habe ich immer an das Primat der Sachdiskussion, der Offenheit und der Aufrichtigkeit geglaubt, und zwar nicht im Interesse der Ausgrenzung, sondern der Einbeziehung.

Wie lassen sich die Gegebenheiten eines unterdrückten, mannigfach missbrauchten Volks, dessen politische Rechte und Menschenrechte ignoriert wurden, mit den Gegebenheiten eines anderen Volkes vereinbaren, dessen Geschichte der Verfolgung und des Genozids sich meines Erachtens unrechtmäßig über die Anwesenheit eines indigenen Volks auf seinem Marsch in Richtung Selbstbestimmung hinweggesetzt hat? Das war die zentrale Frage. Und sie führte zur Zusammenarbeit mit vielen Menschen, vielen Kollegen und gleichgesinnten Freunden, Arabern und Juden, Nichtarabern und Nichtjuden, deren Leidenschaft für Gerechtigkeit sie mit dem palästinensischen Volk zusammenbrachte, das seit fünfunddreißig Jahren unter der israelischen Militärbesatzung leidet. Sowohl dieses Leid als auch die Enteignung der gesamten palästinensischen Nation im Exil schrien nach Anerkennung und Gerechtigkeit.

Es ist ein harter Kampf gewesen, und wir sind weit davon entfernt, uns seinem Ende zu nähern. Mutige palästinensische Männer und Frauen, die trotz der Ausgangssperren, Hauszerstörungen, Ermordungen, Massenverhaftungen und Landenteignungen weiterleben, bringen täglich Opfer. Aber wir benötigen immer noch die moralische Unterstützung, wir müssen den Ideenreichtum der ganzen Welt gewinnen, wir müssen denjenigen, die glauben, Palästina/Israel sei das Land für nur ein einziges Volk, beweisen, dass es ein Land für zwei Völker ist, die einander weder vernichten noch vertreiben können, sondern die sich als Ebenbürtige mit den gleichen Rechten für ein Zusammenleben in Frieden und Sicherheit einander annähern müssen. Für mich ist es deshalb essenziell, die Energie und das Engagement der Israelis und nichtisraelischen Juden zu würdigen, die die Grenzen der Konvention, der Konformität und der behaupteten Identität überwunden und ihre moralische Beteiligung an einer Sache, die in so vielerlei Hinsicht auch ihre eigene ist, erkannt haben. Ich möchte hiermit meine Hochachtung vor Daniel Barenboim bekunden, der als ganz persönliches Zeichen menschlicher Solidarität mit Palästinensern und anderen Arabern sein eigenes herausragendes musikalisches Können einsetzt.

 

So merkwürdig es auch scheinen mag, die Kultur im Allgemeinen und die Musik im Besonderen können dem Identitätskonflikt ein alternatives Modell zur Verfügung stellen. Ich kann hier nur als Palästinenser sprechen, aber es hat mich oft beeindruckt, wie kümmerlich und entbehrungsreich unser Leben gewesen ist, nur weil wir als Volk, das seiner Staatsangehörigkeit beraubt ist, all unsere Kraft auf das sofortige Ziel gerichtet haben, nämlich die Unabhängigkeit auf dem schnellstmöglichen Weg zu erreichen. Das ist selbstverständlich nachvollziehbar. Aber da gibt es etwas, das ich die Langzeitpolitik der Kultur nennen möchte, die einen weiteren Raum für die Reflexion und letztendlich für das Einvernehmen anstelle unendlicher Spannung und Unstimmigkeit anbietet. Literatur und Musik eröffnen einen derartigen Raum, weil diese Künste im Wesentlichen nicht antagonistisch sind, sondern auf Zusammenarbeit, Empfänglichkeit, Neuschöpfung und auf kollektiver Interpretation beruhen. Niemand schreibt oder musiziert, nur um sich selbst zu lesen oder zu hören: Es gibt immer einen Leser oder einen Zuhörer, und mit der Zeit wird das Publikum größer. Mein Freund Daniel Barenboim und ich haben diesen Kurs eher aus humanistischen denn aus politischen Gründen eingeschlagen, wir gingen davon aus, dass Unwissen und ständige Selbstbehauptung keine Strategien für ein zukunftsfähiges Überleben sind. Mithilfe von Disziplin und Einsatz haben wir versucht, unsere Gemeinschaften in Einklang zu bringen, ohne uns trügerischen Hoffnungen hinzugeben und ohne unsere Prinzipien zu verraten. Es ist ermutigend zu sehen, wie viele junge Menschen darauf reagiert haben und wie junge Palästinenser, selbst in diesen widrigen Zeiten, sich dafür entschieden haben, Musik zu studieren, ein Instrument zu erlernen, ihre Kunst auszuüben.

Wer weiß, wie weit wir kommen werden? Wer weiß, wessen Denkweisen wir womöglich ändern können? Das Schöne an diesen Fragen ist: Man kann sie nicht zur Seite schieben, und es gibt keine einfachen Antworten darauf. Doch Ihre Anerkennung unserer Bemühungen bringt uns einen entscheidenden Schritt nach vorn.

Oviedo, 25. Oktober 2002

 (Übersetzt von Stefanie Karg und Heike Peetz)

Mariam C. Said: Mein Engagement bei der Barenboim-Said-Stiftung und beim West-Eastern Divan Orchestra

Lange Zeit habe ich als aufmerksame Zeugin die Entwicklung dieses Projekts verfolgt, das mein verstorbener Ehemann Edward Said gemeinsam mit Daniel Barenboim aufgebaut hat.

Edward war an Leukämie erkrankt, und im Sommer 2003 ging es ihm nach seiner Behandlung nicht gut, aber dennoch bestand er darauf, am Workshop in Pilas bei Sevilla teilzunehmen. Am Ende des Workshops sollte das West-Eastern Divan Orchestra auf Tournee gehen, und ein Auftritt war in der marokkanischen Hauptstadt Rabat geplant. Edward hatte beabsichtigt, das Orchester auch nach Rabat zu begleiten. Als er krank wurde, kam die Idee auf, dass ich an seiner Stelle reiste. Edward diktierte mir, was ich dort in seinem Namen sagen sollte. Ich lieh mir seinen Füllfederhalter und schrieb all seine Worte auf. Es war ein türkis-silberner Montegrappa 1912, den er sehr schätzte. Ich gab ihm den Füller zurück. Er hielt ihn eine Sekunde in der Hand, dann sagte er: »Behalte ihn, er gehört jetzt dir.« Im Nachhinein betrachtet war das der Moment, in dem Edward mir einen Teil seines Aufgabenbereichs in diesem Projekt übertrug. Mit dem Verlesen seiner Botschaft am Ende des Konzerts in Rabat begann mein direktes Engagement beim West-Eastern Divan Orchestra.

Nach Edwards Tod dämmerte mir allmählich, dass das Projekt nicht überleben würde, wenn ich meine Rolle auf eine symbolische Vertretung für Edward beschränkte. Ich war in jedem Fall entschlossen, an diesem Projekt festzuhalten. Für seinen erfolgreichen Fortbestand brauchte Daniel Barenboim meine Unterstützung, denn jemand musste die arabische Seite vertreten.

2004 unternahm ich die notwendigen Schritte, um die Gründung der Barenboim-Said-Stiftung in den USA sicherzustellen. In dem Jahr fuhr ich auch zum Workshop, beteiligte mich an den Diskussionen und begleitete die Konzertreise.

Ich besuche den Workshop jeden Sommer. Ich habe die Aufgabe übernommen, die Diskussionen während des Workshops zu organisieren und zu koordinieren. Auf Daniels Anregung hin begann ich, die Dozenten auf ihren Vorspielreisen zu begleiten und den Vorspielen der arabischen Musiker beizuwohnen. Meine Hauptarbeit besteht darin, Kontakte zwischen den arabischen Institutionen und der Stiftung herzustellen. Ich bin die Ansprechpartnerin für die arabischen Länder, und den arabischen Orchestermitgliedern stehe ich vertrauensvoll mit Hilfe und Rat zur Seite.

Ich engagiere mich in der Stiftung auch bei den Programmen für musikalische Erziehung in Palästina/Israel, dem Music Centre und Musikkindergarten in Ramallah und dem Barenboim-Said-Conservatory in Nazareth. Ich verfolge die Entwicklung dieser Einrichtungen und beteilige mich in vielen Bereichen an ihrer Arbeit. Und ich bemühe mich, sie wenigstens einmal im Jahr zu besuchen.

Unser höchstes Ziel ist, in allen arabischen Hauptstädten und in Israel aufzutreten. Im Hinblick auf dieses Ziel arbeite ich intensiv an der Organisation der Konzerte in den arabischen Hauptstädten. Aber aufgrund der unsicheren politischen Lage in der Region konnte dieses Ziel bislang nicht verwirklicht werden. Ich versuche dennoch, daran festzuhalten und es eines Tages umzusetzen.

In den letzten drei Jahren habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, den Dokumentarfilm Knowledge is the Beginning über die Geschichte der Stiftung und über das Orchester in Universitäten und anderen Institutionen in der ganzen Welt vorzustellen. In der Hoffnung, die Mauern niederzureißen, die Völker trennen und die Koexistenz zunichte machen, werde ich die Botschaft dieses humanistischen Projekts unermüdlich verbreiten.

New York, 11. November 2008

Zeittafel

1947 Resolution 181 der UN-Vollversammlung über einen Teilungsplan für Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat (29.11.)
1948 Gründung des Staates Israel in Tel Aviv durch die Unabhängigkeitserklärung von David Ben Gurion (14. 5.)
1948/49 1. arabisch-israelischer Krieg (Unabhängigkeitskrieg)
1949 Wahl von David Ben Gurion zum ersten Ministerpräsidenten (14.2.)
Waffenstillstandsabkommen mit den arabischen Staaten (Februar – Juli)
Erster Staatspräsident: Chaim Weizmann (16. 4.)
Aufnahme Israels in die UNO (11. 5.)
1950 Israel erklärt (West-)Jerusalem zur Hauptstadt (23. 1.).
Jordanien annektiert das Westjordanland und Ost-Jerusalem (10.9.).
1956 Französisch-britisch-israelischer Sinai-Krieg (29. 10. – 5. 11.)
1963 David Ben Gurion tritt als Ministerpräsident zurück (16. 6.).
Sein Nachfolger wird Levi Eschkol (26. 6.).
1967 Sechstagekrieg Israels gegen Ägypten, Syrien und Jordanien
Einnahme von Ost-Jerusalem, Besetzung der Sinaihalbinsel, des Westjordanlandes, der Golanhöhen und des Gazastreifens durch Israel (5. 6. – 10. 6.)
1969 Golda Meir wird Ministerpräsidentin (15. 12.).
1969/1970 »Zermürbungskrieg« zwischen Israel und Ägypten
1973 Jom-Kippur-Krieg Ägyptens und Syriens gegen Israel (6. – 26. 10.)
UN-Nahostkonferenz in Genf (21./22. 12.)
1974 Jizchak Rabin wird Ministerpräsident (3. 6.).
1975 Beginn des Bürgerkriegs im Libanon
1977 Menachem Begin wird Ministerpräsident (20. 6.).
1979 Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel (26. 3.)
1980 Ausbruch des Kriegs zwischen Iran und Irak (1. Golfkrieg) (17.9.)
1981 Knessetbeschluss über die Annexion der Golanhöhen (14. 12.)
1982 Rückgabe Sinais an Ägypten (25.4.)
Beginn des israelischen Libanon-Feldzugs (6. 6.)
1983 Menachem Begin tritt zurück (28. 8.).
Jizchak Schamir wird Ministerpräsident (10. 10.).
1985 (Teil-)Rückzug der israelischen Armee aus dem Libanon (Februar – Juni)
1987 Beginn der 1. Intifada (8./9.12.)
1988 Ende des Kriegs zwischen Iran und Irak (18. 7.)
Rückzug Jordaniens aus dem Westjordanland (31. 7.)
Frühe 90er Jahre Erstes Treffen zwischen Daniel Barenboim und dem palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said in einer Hotellobby in London. Es entstehen eine intensive Freundschaft und der Wunsch, musikalisch zusammenzuarbeiten.
1990–1991 Golfkrise und 2. Golfkrieg – Irakische Offensive in Kuwait (18. 1. – 25. 2.)
1991 Nahost-Friedenskonferenz in Madrid (30. 10–2. 11.)
1993 Unterzeichnung der israelisch-palästinensischen Grundsatzerklärung über Selbstverwaltung der PLO (Oslo I) (13. 9.)
1994 Autonomieabkommen für Gaza und Jericho und Rückzug der israelischen Armee aus diesen Gebieten (4. 5.)
Friedensvertrag Israel – Jordanien (26. 10.)
1995 »Abkommen von Taba«: Interimsabkommen Israel – PLO über Ausdehnung der palästinensischen Selbstverwaltung im Westjordanland (Oslo II) (28. 9.)
Ermordung von Ministerpräsident Jizchak Rabin (4. 11.)
1996 Wahlen im Westjordanland, im Gazastreifen sowie in Ost-Jerusalem zum Palästinensischen Rat (20.1.)
Israelische Militäraktion »Früchte des Zorns« im Südlibanon (11. – 27. 4.)
1999 Wahl von Ehud Barak zum Ministerpräsidenten (17. 5.)
Februar 1999 Hervorgegangen aus Barenboims und Saids Vision eines friedlichen Zusammenlebens im Nahen Osten gibt Daniel Barenboim zum ersten Mal ein Klavierkonzert an der palästinensischen Birzeit-Universität in Ramallah (Westjordanland).
August 1999 Mit dem Ziel, den Dialog zwischen den Kulturen des Nahen Ostens zu fördern, rufen Daniel Barenboim und Edward Said in Weimar (europäische Kulturhauptstadt 1999) das West-Eastern Divan Orchestra ins Leben.
Bei diesem ersten Workshop dürfen die jungen Musiker an einer Meisterklasse mit dem Cellisten Yo-Yo Ma teilnehmen. Das Orchester und der Workshop sind benannt nach Goethes Gedichtsammlung West-östlicher Divan.
2000 Rückzug Israels aus dem Südlibanon beendet (24. 5.)
Israelisch-palästinensische Gespräche in Camp David scheitern (11. – 25. 7.).
Ausbruch der 2. Intifada (Al-Aqsa-Intifada) (28. 9.)
Gipfel von Sharm el Sheikh (16. – 18. 10.)
Ehud Barak tritt als Ministerpräsident zurück (9. 12.).
Sommer 2000 Der zweite Workshop des West-Eastern Divan Orchestra findet wieder in Weimar statt, diesem historischen Ort großer künstlerischer Schöpfungskraft.
2001 Ariel Scharon wird Ministerpräsident (6.2.).
Sommer 2001 Das West-Eastern Divan Orchestra hält seinen dritten Workshop in Chicago auf dem Campus der Northwestern University ab.
2002 Saudi-arabischer Friedensplan (26. 2.)
Israelische Militäroperationen »Schutzschild« und »Entschlossenes Handeln« in den palästinensischen Autonomiegebieten (März/April/Juni)
Sommer 2002 In Pilas bei Sevilla wird der vierte Workshop des West-Eastern Divan Orchestras abgehalten und findet dort seinen dauerhaften Standort. Unterstützt von der andalusischen Regionalregierung kommt das Orchester nun regelmäßig in Pilas zu Probenphasen zusammen, jeweils gefolgt von einer Konzerttournee.
Oktober 2002 Der palästinensische Bratschist des Orchesters, Ramzi Aburedwan, gründet die Musikschule Al Kamandjâti, in der junge Musiker vor allem aus den Flüchtlingslagern unterrichtet werden.
Oktober 2003 Edward Said und Daniel Barenboim werden für ihre Arbeit mit dem Orchester mit dem Prinz-von-Asturien-Preis für Eintracht ausgezeichnet.
2003 Das Nahostquartett (UN, USA, EU, Russland) legt einen Friedensplan vor (»Road Map«) (30. 4.).
Beginn des Baus von Sperranlagen zwischen Israel und dem Westjordanland
Sommer 2003 Fünfter Workshop des West-Eastern Divan Orchestras in Pilas mit Europatournee. Das Orchester spielt anschließend zum ersten Mal in einem arabischen Land – in Rabat, Marokko.
September 2003 Nach dem Tod von Edward Said (25. 9.) führen Daniel Barenboim und Saids Witwe Mariam das Projekt weiter.
2004 Tod von Yassir Arafat (11. 11.)
Nachfolger wird Mahmud Abbas.
Sommer 2004 Sechster Workshop in Pilas mit Konzerttournee nach Berlin, Genf und London (BBC Proms). Die Barenboim-Said-Stiftung wird unter der Direktorin Muriel Páez ins Leben gerufen. Die Stiftung betreut neben dem West-Eastern Divan Orchestra verschiedene Projekte zur musikalischen Bildung und eine Orchesterakademie in Sevilla.
2005 Israelischer Abzug aus dem Gazastreifen beendet (12. 9.)
Sommer 2005 Trotz zahlreicher organisatorischer und politischer Hürden gibt das Orchester zum ersten Mal ein Konzert in Palästina. Das Livekonzert aus Ramallahs Kulturpalast zieht weltweite Aufmerksamkeit auf sich. Gespielt wird Brahms’ Vierte Symphonie und Beethovens Fünfte.
Im Rahmen des siebten Workshops finden weitere Konzerte in Montevideo, São Paulo, Buenos Aires und Edinburgh statt. Das Orchester spielt zum ersten Mal Wagner.
2. Libanonkrieg (12.7. – 14.8.)
Sommer 2006 Beim achten Workshop des West-Eastern Divan Orchestras fehlen fünfzehn arabische Musiker wegen des Kriegs im Libanon. Elena Cheah und weitere westliche Musiker ergänzen das Orchester.
September 2006 Eröffnung des Barenboim-Said-Conservatory in Nazareth. Nabeel Abboud Ashkar, ein Geiger des Orchesters, leitet die Musikschule, an der vierzig Schüler unterrichtet werden.
Dezember 2006 Das West-Eastern Divan Orchestra gibt zusätzliche Konzerte in New York (Carnegie Hall) und Chicago (Harris Hall) und beendet die Tour mit einem Abschiedskonzert für Kofi Annan bei den Vereinten Nationen.
2007 Wahl von Schimon Peres zum Staatspräsidenten (28.5.)
Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen (Mitte Juni)
Internationale Nahostkonferenz in Anapolis (27. 11.)
Sommer 2007 Das West-Eastern Divan Orchestra ist als »Orchestra in Residence« bei den Salzburger Festspielen. Im Rahmen seines neunten Workshops gibt das Orchester weitere Konzerte in Luzern, Madrid, Brüssel und Berlin. Zum ersten Mal wird Arnold Schönberg gespielt.
2008 60. Jahrestag der Gründung Israels (14. 5.)
Sechsmonatiger Waffenstillstand zwischen Hamas und Israel (Juni – Dezember)
Sommer 2008 Der zehnte Workshop findet wieder in Pilas statt; ein anschließendes geplantes Konzert in Amman muss durch Konzerte in Ravello ersetzt werden. Weitere Konzerte kommen in London, Köln, Kopenhagen, Oslo, Stockholm, Berlin und Paris zur Aufführung.
2008/2009 Israelische Militäroffensive im Gazastreifen (27. 12. – 7. 1.)
2009 Gaza-Wiederaufbaukonferenz Sharm el Sheikh (1./2. 3.)
2009 Das West-Eastern Divan Orchestra feiert sein zehnjähriges Bestehen mit Jubiläumstourneen im Januar und August. Konzerte finden statt in Doha, Moskau, Wien, Mailand, San Sebastián, Salzburg und London. Erstmalige Konzerte in Katar und Kairo müssen aus Sicherheitsgründen abgesagt werden. Zwei Ersatzkonzerte in Berlin sind sofort ausverkauft. Ebenfalls im August gibt das Orchester auf Einladung von Wolfgang Wagner ein Konzert in Bayreuth.

Vorspiel und »Liebestod«

Ein Orchester ist immer ein Mikrokosmos der Gesellschaft. Dieses besondere Orchester ist der Mikrokosmos einer Gesellschaft, die es niemals gegeben hat und die es vielleicht niemals geben wird. Im West-Eastern Divan Orchestra, das 1999 in Weimar gegründet wurde, spielen Musiker aus Israel, Palästina, Jordanien, dem Libanon, Syrien, Ägypten, der Türkei, aus dem Iran und aus Spanien. Es trifft jeden Sommer für mehr als einen Monat zusammen, um Nahostthemen zu diskutieren, zu proben und Konzerte zu geben. Ein Monat scheint kein langer Zeitraum zu sein, aber dieser Monat besteht aus sehr anstrengenden Proben und Auftritten, vielen sozialen Kontakten und sehr wenig Schlaf. Jeder einzelne Moment ist mit einer außerordentlichen Energie aufgeladen. Die Zeit dehnt sich nicht nur, sondern sie nimmt eine andere Qualität an. Die Musiker arbeiten und leben einen Monat lang unter äußerst beengten Bedingungen mit Kollegen zusammen, die vielleicht aus Ländern kommen, die sie niemals werden betreten können.

Jedes Jahr finden für neue Mitglieder Vorspiele statt, aber viele Musiker werden immer wieder eingeladen. Damit wurde es dem Orchester möglich, sich über die Jahre hinweg sowohl musikalisch als auch sozial zu entwickeln und zu reifen. Die Musiker, die in diesem Buch über ihre Erfahrungen berichten, sind keineswegs wichtiger oder unwichtiger als andere Musiker des Orchesters aus seiner Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Jeder Musiker eröffnet mit seiner Geschichte einen Blick in die Seele des Orchesters, die für Außenstehende unvorstellbar ist: Die Seele des Orchesters ist eine Originalkomposition in ständigem Wandel, die gemeinsam von allen Mitgliedern geschrieben wird, die seine Einzigartigkeit besser wiedergeben können als jeder andere.

 

Ich schätze mich äußerst glücklich, so viel Zeit mit dem Divan Orchestra verbracht zu haben. Meine Mitwirkung ergab sich durch eine Reihe von Zufällen. Ich komme nicht aus einem der oben genannten Länder. Ich wurde in den USA geboren. 1999 lebte ich bereits in Deutschland, aber von dem Orchester erfuhr ich erst 2005, nachdem ich einen Ein-Jahres-Vertrag als Solocellistin an der Staatskapelle Berlin erhalten hatte, dem Orchester der Deutschen Staatsoper. Maestro Daniel Barenboim hatte viele meiner neuen Kollegen dafür gewonnen, die jungen Divan-Musiker zu unterrichten, und sie erzählten mir von dem Orchester. Das Projekt faszinierte mich, und ich hoffte, eines Tages den Workshop besuchen zu können, um das Orchester zu hören und seine Mitglieder kennenzulernen.

2006 ging mein Wunsch dank eines unglücklichen Ereignisses in Erfüllung. Eine Woche vor dem Termin, der für den Workshop angesetzt war, brach im Libanon der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah aus. Die libanesischen Musiker saßen plötzlich in ihrem eigenen Land fest, und einige andere arabische Musiker hielten es unter diesen Umständen für unmöglich, am Workshop teilzunehmen. Insgesamt fehlten fünfzehn Musiker, ein beachtlicher Prozentsatz für ein Orchester von achtzig oder neunzig Mitgliedern. Zunächst bestand noch die Hoffnung, dass bald ein Waffenstillstand ausgehandelt würde und die fehlenden Musiker anreisen könnten. Aber als Tage und dann Wochen verstrichen, schien dieser Fall immer unwahrscheinlicher. Die Probenzeiten waren fast vorüber, die Konzerttournee sollte beginnen, und das Orchester war immer noch nicht vollständig. Man entschied, die Tournee mithilfe von einigen wenigen fremden Berufsmusikern durchzuführen. Da ich Interesse an dem Projekt gezeigt hatte, gehörte ich zu den Musikern, zu denen Tabaré Perlas Kontakt aufnahm, Barenboims persönlicher Assistent und der Organisator des West-Eastern Divan Orchestras.

In diesem Sommer gab es immer noch arabische Musiker aus Palästina, Ägypten und Jordanien beim Divan Workshop, aber die Ausgewogenheit war gestört. Die wenigen Berufsmusiker, die im letzten Moment einsprangen, konnten das musikalische Gleichgewicht des Orchesters vielleicht wiederherstellen, nicht aber das soziale, wie mir bald klar wurde.

Am 6. August 2006 kam ich nachmittags im Gästehaus Lantana in Pilas an, dem Veranstaltungsort des Workshops. Das ehemalige Kloster in der Nähe von Sevilla wirkt wie ein Universitätscampus en miniature, mit Unterkünften, Probenräumen und einer Cafeteria in verschiedenen Gebäuden. Zitronenbäume spenden ausreichend Schatten, um auf dem im Hochsommer stacheligen Rasen zwischen den Gebäuden zu sitzen, und hinter dem Parkplatz befindet sich ein Swimmingpool mit olympischen Dimensionen.

Das spartanische, mit Linoleum ausgelegte Zimmer, das mir zugedacht war, lag zum Parkplatz hin, und ich konnte die Hitzeschwaden vom Asphalt aufsteigen sehen. Ich hatte nicht viel Zeit zum Auspacken, denn für diesen Abend war eine Probe in der Stierkampfarena von Sevilla angesetzt, wo das Orchester zwei Tage später auftreten sollte. Ich schaute mich auf dem Campus um, und mich überkam das Gefühl, als wäre ich zu spät in einem Sommerlager angekommen, in dem die anderen Jugendlichen längst wussten, wie alles läuft. Als ich beispielsweise den Flur entlangging, sah ich durch einige geöffnete Türen die Matratzen auf dem Boden liegen, die von den Zimmerbewohnern offensichtlich aus den Metallrahmen gehoben worden waren. Als ich später in meinem Zimmer auf einem der knarrenden, alten Doppelbetten saß, wusste ich, warum.

Ich kam früh bei der Plaza de Toros an. Ich wollte mich ein wenig umsehen, da ich noch nie zuvor in einer Stierkampfarena gewesen war. Es war nicht gerade die nächstliegende Wahl als Aufführungsort von Beethovens Neunter Symphonie, aber sie hatte den Vorteil, mehreren tausend Zuschauern Platz bieten zu können. Mitten in der Plaza de Toros, dort, wo normalerweise die Stierkämpfe stattfinden, hatte man eine Bühne aufgebaut. Bald trafen die Orchesterbusse ein, und die Musiker begannen auszupacken und ihre Instrumentenkästen ordentlich aufgereiht an die Stierboxen zu lehnen.

Vor meiner Ankunft gab es nur eine ungerade Anzahl von Cellisten im Orchester, deshalb saß eine Jugendliche aus Ramallah allein am letzten Pult. Ich setzte mich neben sie, und wir unterhielten uns. Sie spielte erst seit eineinhalb Jahren Cello, aber sie hatte es geschafft, die Beethoven-Symphonie so gut zu üben, dass sie mit dem Orchester auf Tournee gehen konnte. Sie war vierzehn Jahre alt und hatte Geige gespielt, bevor sie zum Cello wechselte, aber die Musik war nicht ihr Ein und Alles: Sie wollte Ärztin werden.

Während der ersten gemeinsamen Probentage hatte es wegen eines Schmuckanhängers in Form des aktuellen israelischen Staates, den sie an einer Halskette trug, beträchtlichen Ärger in der Cellogruppe gegeben. Quer über diesen Anhänger stand das Wort »Palästina«. Aufgrund des Kriegs gab es in diesem Jahr mehr Israelis als Spanier oder Araber in der Cellogruppe, und diese fühlten sich von der Halskette zutiefst beleidigt. Sie bestanden darauf, dass sie sie ablegte.

Als ich sie kennenlernte, gab es keinen Schmuckanhänger mehr, aber die Erinnerung an die Streitigkeiten war noch im Gedächtnis aller verhaftet. Anscheinend waren einige der anderen dankbar dafür, dass nun eine Außenstehende neben ihr saß.

Die Probe ging bald los, und ich beobachtete meine Pultnachbarin aus der Nähe. Es wäre interessanter gewesen, beim ersten Mal dem ganzen Orchester zuzuhören, aber wegen der fehlenden natürlichen Akustik war es schwierig, irgendetwas anderes außer den Instrumenten in der direkten Umgebung wahrzunehmen. Gleichzeitig war ich neugierig, wie eine relative Anfängerin mit Beethovens Neunter Symphonie zurechtkäme, eine Herausforderung, die ich mir kaum vorstellen konnte.

Sie meisterte diese Aufgabe außerordentlich gut. Offensichtlich lagen bestimmte Passagen jenseits ihrer Fähigkeiten mit dem Instrument, aber sie wusste genau, wann sie voll ausspielen und wann sie sich ein wenig zurücknehmen musste, um die Gruppe nicht mit falschen Tönen zu irritieren. Sie verlor nie den Anschluss.

Nachdem wir die Symphonie durchgespielt hatten, stellte Barenboim eine Anti-Kriegs-Erklärung vor, die er gemeinsam mit Edward Saids Witwe Mariam aufgesetzt hatte. Er meinte, das Orchester sei es sich und den nicht anwesenden Musikern schuldig, eine Erklärung in den Konzertprogrammen abzudrucken, solange der Krieg anhielt. Er las sie dem Orchester laut vor:

»In diesem Jahr steht unser Projekt in scharfem Kontrast zu der Grausamkeit und der Brutalität, die so viele unschuldige Zivilisten der Möglichkeit beraubt, in einer Weise weiterzuleben, wie es ihren Idealen und Träumen entspricht. Die Zerstörung von lebensnotwendiger Infrastruktur durch Israel im Libanon und im Gazastreifen, die eine Million Menschen entwurzelt und unzählige zivile Opfer gefordert hat, und die wahllose Bombardierung der Zivilbevölkerung im Norden Israels durch die Hisbollah stehen unseren Vorstellungen diametral entgegen. Ebenso widersprechen die Ablehnung eines sofortigen Waffenstillstands und die Weigerung, Verhandlungen aufzunehmen, um ein für alle Mal den Konflikt umfassend zu lösen, den grundlegenden Wesenszügen unseres Projekts zutiefst.«

Während Barenboim die Erklärung verlas, sah ich mich um und versuchte, die Reaktionen der Musiker einzuschätzen. Ich konnte keine einzige eindeutige Reaktion erkennen. Danach bat Barenboim das Orchester zu überlegen, ob sie gedruckt werden solle, und ihm mitzuteilen, ob möglicherweise Veränderungen vorgenommen werden sollen. Er nahm das nachfolgende Schweigen als ein Zeichen der Zustimmung und entließ das Orchester für diesen Abend. Es war schon recht spät geworden, und einige hatten es eilig, den Bus zu nehmen und zum Abendessen nach Pilas zurückzukehren. Als ich die Bühne verließ, sah ich jedoch eine Gruppe Musiker, die sich, in hitzige Diskussionen verstrickt, um Barenboim scharte. Erst später fand ich heraus, dass es sich um Israelis handelte.

Am nächsten Tag wurde beim Mittagessen die Erklärung immer noch leidenschaftlich diskutiert. Ein junger Israeli fühlte sich in die Ecke gedrängt: »Ich bin mit dieser Erklärung nicht einverstanden, aber ist meine einzige Alternative, das Orchester zu verlassen? Ich möchte mir nicht nur deswegen die gesamte Konzerttournee entgehen lassen!« Eine andere israelische Jugendliche sagte zu mir gewandt: »Ich bin nicht gegen den Krieg, ich unterstütze meine Regierung!«

Ich fragte mich im Stillen, wie es möglich war, einen Krieg gegen die eigenen Kollegen und den Krieg überhaupt zu unterstützen, während man selbst an einem Workshop teilnimmt, dessen einzige Aussage zum israelisch-palästinensischen Konflikt lautet, dass es keine militärische Lösung gibt. Es war nur der erste von vielen persönlichen Widersprüchen, die ich bei den Mitgliedern dieses absolut ungewöhnlichen Orchesters entdecken sollte.

 

Direkt nach dem Mittagessen, während wir immer noch die Erklärung diskutierten, begaben sich alle zum Probenraum, wo wir die Zugabe einstudieren wollten: das Vorspiel und den »Liebestod« aus der Wagner-Oper Tristan und Isolde. Waltraud Meier, die das Divan-Projekt sehr engagiert unterstützte, saß bereits, von einer kleinen Besuchergruppe umgeben, in dem Raum. Sie befand sich hier in Pilas, um mit dem Orchester die Beethoven-Symphonie zu proben und aufzuführen. Als wir mit dem Vorspiel begannen, zeigte ihr Gesichtsausdruck, dass man ihr nicht gesagt hatte, was wir proben würden. Ihr Blick wirkte zunächst schockiert, als wäre sie aus Versehen in das Wohnzimmer eines Fremden geraten, wich aber allmählich einer ungläubigen Akzeptanz. Offensichtlich kämpfte die Sopranistin mit den Tränen. Ich saß im Orchester neben einer jungen Israelin und musste selbst meine Tränen zurückhalten, während die Spannung immer größer wurde.

Ich hatte diese Oper oft gespielt, unter Christian Thielemann an der Deutschen Oper Berlin und unter Barenboim an der Berliner Staatsoper. Jede einzelne Aufführung ist mir in denkwürdiger Erinnerung geblieben, aber dieses Mal war es anders. »Warum?«, fragte ich mich selbst, während ich spielte und den immer üppigeren harmonischen Wogen lauschte. Projizierte ich gerade meine eigenen sentimentalen Vorstellungen von Frieden und Zusammenarbeit auf das Orchester und die Musik? Führte ich gerade einen nichtmusikalischen Aspekt in meine Wahrnehmung der Musik ein und wollte etwas hören, das gar nicht existierte? Als wir weiterspielten, verstand ich, dass die Antwort »Nein« hieß. Ich hörte in jeder einzelnen Phrase eine gewisse absichtsvolle Einheit, ein Verständnis für die angestaute und ungelöste Spannung, eine sinnliche Beziehung zu dem endlos anhaltenden Klang, und ein wahrnehmbares Einfühlungsvermögen in die Modulationen des Stücks. Das alles war keine Fantasie, es war wirklich. Es war auch ohne die Zuhilfenahme eines nichtmusikalischen Gefühls völlig überwältigend.

Dann begann Waltraud Meier zu singen. Sie blickte zum Orchester und öffnete ihre Arme in unsere Richtung, als würde sie uns alle mit ihrer Stimme umfangen. In der Oper birgt dieser Moment immer ein atemberaubendes Gefühl, ja sogar Erleichterung, wenn man zu Beginn des »Liebestods« die Tremolo-Akkorde und die Stimme der Sängerin aufsteigen hört. Aber im Opernhaus hatte ich das immer nur vom Orchestergraben aus gehört, und ganz gleich, wie großartig die Sängerin war, sie war weit entfernt und richtete sich über unsere Köpfe hinweg an das Publikum im Dunkeln. Nun hatte ich die vermutlich großartigste Isolde aller Zeiten vor Augen, die mit uns sang, zu uns und für uns. Uns: In genau diesem Moment begann ich mich unbewusst mit den israelischen, arabischen und spanischen Musikern zu identifizieren, die um mich herum spielten.

Man musste sich einfach mit einer Gruppe von Menschen identifizieren, die so vollendet musizierte. Ich spielte mit ihnen und fühlte mich instinktiv musikalisch mit ihnen vereint. Waltraud Meiers Stimme umfing tatsächlich unseren Klang, vermischte sich mit dem Orchester und stand darüber, sie erhob sie über jedem einzelnen Crescendo und nahm jedes einzelne Diminuendo vorweg. Diese Geschlossenheit hatte ich nie zuvor gehört. Als es vorbei war, war ich für die Anwesenheit der kleinen Besuchergruppe dankbar, die nach einer respektvollen Stille zu klatschen begann. Applaus war der einzige Klang, der den Bann der Musik schmerzlos brechen konnte.

Nach dieser Probe wusste ich, dass ich im Divan Orchestra angekommen war. Nun war ich ein Teil von ihm, ob ich wollte oder nicht.

 

Im Jahr 2007 war der Workshop Bestandteil der Salzburger Festspiele, und das Divan Orchestra stand im Mittelpunkt zahlreicher Festspielereignisse. Ich kehrte im Sommer wieder zu dem Orchester zurück, um eine Gruppe von palästinensischen Kindern aus Nazareth, Ramallah und anderen Gebieten des Westjordanlandes zu unterrichten. Die Arbeit mit diesen Kindern ergänzte den Workshop der »Big Kids«. Für die Kinder war es eine Gelegenheit, Intensivunterricht zu erhalten und das Orchester bei den Proben und Aufführungen zu beobachten.

Einmal gab es eine Podiumsdiskussion mit acht oder neun Mitgliedern vom West-Eastern Divan Orchestra, und jeder dieser Musiker sagte ein paar Worte über seinen kulturellen Hintergrund und seinen Beitrag zum Workshop. Als sie sich der Reihe nach vorstellten und die Fragen aus dem Publikum beantworteten, sah ich ein schönes Bild aufsteigen: ein Gewebe, das von vielen Einzelpersönlichkeiten aus verfeindeten Nationen geschaffen worden war, die gelernt hatten, irgendwie miteinander zusammenzuleben, und dabei immer die richtige Balance zwischen Aufrichtigkeit und Diplomatie, Konfrontation und Versöhnung, Gefühl und Logik suchten. Beim Anblick dieser Musiker auf der Bühne dachte ich all die anderen hinzu, die sich zu diesem Zeitpunkt nicht auf der Bühne befanden, von denen jede und jeder Einzelne seine eigene Geschichte mit dem Divan Orchestra hatte. In diesem Moment entschied ich, dass diese Geschichten erzählt werden sollten.

Ich begann mich mit den Musikern zu unterhalten, von denen ich wusste, dass sie viel zu berichten hatten, und überlasse ihnen hier weitgehend persönlich das Wort. Einige der Musiker sind geborene Geschichtenerzähler, andere nicht. Manchmal erzähle ich ihre Geschichten auch in der dritten Person, das erlaubt mir, Ereignisse von innen und von außen zugleich zu beschreiben. Durch eine hin und wieder vorgenommene Veränderung des Fokus konnte ich letztlich alle einbeziehen, die etwas beizutragen hatten.

Natürlich fiel es vielen der hier porträtierten jungen Musiker nicht leicht, ihre Meinungen und Ansichten schwarz auf weiß gedruckt zu sehen, vor allem wenn sie inzwischen eine andere als die hier dargestellte Position vertreten. Der Leser möge insofern stillschweigend davon ausgehen, dass sich die persönliche Meinung bestimmter Musiker in der Zeit bis zur Drucklegung verändert haben könnte und dass in der Zwischenzeit viele neue Aspekte hinzugetreten sind. Dieses Buch ist ganz einfach die Momentaufnahme eines Projekts, das einen kontinuierlichen Wandel erlebt. Die Geschichte des West-Eastern Divan Orchestras wird weitergesponnen werden  – und das hoffentlich noch sehr lange.