Herausgegeben von Thomas Brandt, Reinhard Hohlfeld, Johannes Noth und Heinz Reichmann.
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1. Auflage 2014
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ISBN 978-3-17-020397-6
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Im Andenken an meinen Vater
Prof. Dr. med. Amadeo C. Nacimiento (1933–2013)
Patienten mit traumatisch bedingten Rückenmarkslähmungen werden sowohl in der Akut- als auch in der Rehabilitationsphase in hochspezialisierten Querschnittzentren behandelt. Hier ist der Schwerpunkt der medizinischen Versorgung vorwiegend unfallchirurgisch/orthopädisch ausgerichtet, zumal initial operative Maßnahmen im Vordergrund stehen. Die breit gefächerten interdisziplinären und multiprofessionellen Behandlungskonzepte haben sich in diesen Zentren über Jahrzehnte enorm weiterentwickelt und maßgeblich zur verbesserten Lebensqualität der meist jungen Patienten mit Rückenmarksverletzungen beigetragen. Die Pionierarbeiten von Ludwig Guttmann, der nach dem zweiten Weltkrieg die Grundlagen für die moderne Komplexbehandlung querschnittsgelähmter Patienten entwickelt hat, sind heute noch hochaktuell.
Die Abkoppelung der Querschnittzentren von der Akutneurologie in den Krankenhäusern der Maximal- und Regelversorgung hat dazu geführt, dass die in der Akutneurologie tätigen Ärztinnen und Ärzte mit den spezifischen Problemen und konservativen Behandlungsmethoden nach akuter Querschnittslähmung wenig vertraut sind. Andererseits werden in Querschnittzentren Patienten mit nicht-traumatischen Rückenmarkerkrankungen in relativ geringer Anzahl und ausschließlich in der Rehabilitationsphase betreut. Dementsprechend fehlt hier häufig der tiefere Einblick in die vielfältigen Manifestationen und Entwicklungen entzündlicher, vaskulärer, metabolischer und degenerativer Myelopathien.
Das vorliegende, kurz gefasste Lehrbuch befasst sich mit neurologischen, neuroradiologischen und neurochirurgischen Aspekten spinaler Erkrankungen. Im Vordergrund steht die differenzialdiagnostische Vorgehensweise bei nicht-traumatischen Rückenmarkerkrankungen. Der Zugang zur richtigen Diagnose erschließt sich in erster Linie aus der Anamnese und dem klinischneurologischen Befund. Nur auf dieser Grundlage kann die spinale Kernspintomografie mit ihrer hochauflösenden Bildgebung gezielt und sinnvoll genutzt werden, um Krankheitsprozesse sowohl im Rückenmark als auch in den angrenzenden Strukturen exakt zu lokalisieren und häufig auch mit ihren pathophysiologischen Mechanismen sichtbar zu machen. Bei Ausschöpfung und guter Abstimmung der klinischen und apparativen Diagnostik gelingt es, ungewöhnliche und vermeintlich seltene Rückenmarkerkrankungen zu diagnostizieren. Dies soll an einigen Kasuistiken veranschaulicht werden.
Das akute Rückenmarkstrauma wird in diesem Buch hinsichtlich der chirurgischen Therapie nicht näher erörtert; vielmehr werden die allgemeinen konservativen Behandlungskonzepte nach spinalem Trauma, insbesondere im Kontext der Rehabilitation ausführlicher dargestellt. Auf diese Weise haben wir versucht, eine Brücke zwischen Neurologie im Akutkrankenhaus und klinischer Paraplegiologie in Querschnittzentren zu schlagen. Wir hoffen, dass wir damit für beide Seiten interessante Einblicke eröffnen können.
Wir danken Herrn Dr. Kämmerling (Ltd. Oberarzt im Ruhestand, Querschnitt-Abteilung der BG Unfallklinik Duisburg) für seinen Beitrag zum Kapitel »Rehabilitation« und Herrn Dr. Wormland (Ltd. Oberarzt der Neurologischen Klinik am Klinikum Duisburg) für seine Mitwirkung bei den Erläuterungen zur klinisch-neurophysiologischen Diagnostik.
Herrn Dr. Feldkamp (Oberarzt der Klinik für Pädiatrie am Klinikum Duisburg) gilt unser Dank für die Unterstützung bei der Aufarbeitung pädiatrischer Krankheitsfälle.
Wir danken Herrn Prof. Dr. Noth (Emeritierter Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Aachen) für das nachfolgende Begleitwort.
Duisburg und Lingen, im Juni 2013 |
Wilhelm Nacimiento |
Das Rückenmark unterscheidet sich trotz der gemeinsamen zellulären und bindegewebigen Strukturen in einigen Punkten grundsätzlich vom Gehirn. Der knöcherne Spinalkanal engt das Rückenmark noch mehr ein als die Schädelkalotte das Gehirn, so dass schon sehr kleine Raumforderungen innerhalb des Spinalkanals in kurzer Zeit zu irreversiblen Schädigungen des Rückenmarks führen können. Die Wirbelsäule ist starken mechanischen Beanspruchungen ausgesetzt, so dass degenerativ bedingte Nerven- und Myelonkompressionen zu den häufigsten Erkrankungen in Deutschland zählen. Schließlich erfordert die Diagnostik und Therapie von Rückenmarkerkrankungen eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit, wie sie auf keinem anderen Gebiet der Neurologie in diesem Maß erforderlich ist. Deshalb ist es mehr als berechtigt, die Rückenmarkerkrankungen in einem speziellen Band unter besonderer Berücksichtigung der interdisziplinären Aspekte darzustellen, wie es den Autoren des vorliegenden Bandes in hervorragender Weise gelungen ist.
Unverkennbar ist die Handschrift der Autoren, die neben den beeindruckenden klinischen Erfahrungen auf dem Gebiet der Rückenmarkerkrankungen auch profunde neuroanatomische, pathophysiologische und neuroradiologische Kenntnisse besitzen, ohne die ein Verständnis der spinalen Krankheitsentitäten nicht möglich wäre. Der Band berücksichtigt auch die neuesten, sich rasch entwickelnden interventionellen neuroradiologischen Verfahren zur Behandlung der vaskulären Erkrankungen des Rückenmarks, die die Prognose von Patienten mit arteriovenösen Malformationen und Fisteln entscheidend verbessert haben. Auch das Kapitel über die Behandlung von Patienten mit akuten und chronischen Querschnittsyndromen verdient besondere Beachtung.
Ich wünsche dem Band eine weite Verbreitung zum Wohle unserer Patienten.
Aachen, Juni 2013 |
Johannes Noth |
Die im Rückenmark deszendierenden Bahnen haben ihren Ursprung in supraspinalen Zentren und ermöglichen die Umsetzung der zerebral gesteuerten Motorik; aszendierende Bahnen leiten afferente Informationen aus der Peripherie (d. h. aus Haut-, Gelenk und Muskelrezeptoren) dem Gehirn zu. Darüber hinaus enthält das Rückenmark ein komplexes intrinsisches neuronales Netzwerk, das zur Verarbeitung von supraspinal deszendierenden und segmental afferenten Projektionen in der Lage ist. Auf diese Weise können auf spinaler Ebene nicht nur segmental integrierte Reflexe, wie Muskeleigen- und Flexorreflexe, sondern auch komplexe motorische Abläufe und sogar Lokomotionsaktivität generiert werden. Mit der phylogenetischen Entwicklung differenzierter Willkürmotorik hat die zerebrale Beeinflussung der spinalen motorischen Zentren über deszendierende Bahnen beim Menschen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Außerdem werden sensible Informationen teilweise noch vor ihrer Weiterleitung nach zerebral auf spinaler Ebene moduliert. So können z. B. Schmerzreize, die über C-Fasern der Hinterwurzeln spinale Neurone erreichen, durch deszendierende Systeme derart beeinflusst werden, dass die bewusste Schmerzwahrnehmung abgeschwächt oder sogar aufgehoben wird.
Die aus Rückenmarkerkrankungen resultierenden klinischen Syndrome können nur bei Kenntnis der im Folgenden skizzierten anatomischen Organisation topografisch zugeordnet und klinisch interpretiert werden:
Das Rückenmark erstreckt sich im knöchernen Spinalkanal, umgeben von Meningen und epiduralem Fettgewebe, mit acht zervikalen, zwölf thorakalen und jeweils fünf lumbalen bzw. sakralen Segmenten vom kranio-zervikalen Übergang bis in Höhe des zweiten Lendenwirbelkörpers. Unterhalb des Conus medullaris findet sich, eingebettet im liquorgefüllten Durasack, die Cauda equina, die sich aus lumbalen und sakralen Vorder- und Hinterwurzeln zusammensetzt. Während im zervikalen Spinalkanal Wirbelkörper- und Segmenthöhe annähernd übereinstimmen, findet distal eine zunehmende Verlagerung der Wurzelaustritte nach kaudal statt. In der weißen Substanz des Rückenmarks verlaufen die Nervenfasern der absteigenden, aufsteigenden und propriospinalen Bahnen; der anatomische Aufbau wird in Abbildung 1 illustriert. In der schmetterlingsförmig konfigurierten grauen Substanz sind die neuronalen Kerne lokalisiert, die nach zytoarchitektonischen Kriterien in die Laminae I–X unterteilt werden. Das Hinterhorn (Laminae I–IV) enthält vorwiegend sensible Nervenzellen, die Intermediärregion (Laminae V–VII) Interneurone und propriospinale Neurone und das Vorderhorn (Lamina IX) Motoneurone. Vegetative Nervenzellen finden sich in der Lamina X und im Nucleus intermediolateralis. Grundlegende Kenntnisse der Anatomie deszendierender und aszendierender spinaler Projektionen sind eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis klinischer Syndrome nach Rückenmarksläsionen. Die aus klinischer Sicht wichtigsten aszendierenden und deszendierenden spinalen Projektionen werden im Folgenden nach einer kurzen Erläuterung der propriospinalen Systeme erläutert.
Abb. 1: Querschnitt des Rückenmarks mit der Topografie der langen auf- und absteigenden Bahnen in der weißen Substanz sowie der Laminae nach Rexed in der grauen Substanz (Quelle: Kunze (Hrsg.), Praxis der Neurologie, 2. Aufl., S. 273 © 1998 Georg Thieme Verlag).
Dieser sogenannte Eigenapparat des Rückenmarks dient in erster Linie der intersegmentalen Verschaltung und besteht aus einem Netzwerk intrinsischer spinaler Neuronen, die synaptische Eingänge aus supraspinal dezendierenden und segmental afferenten Projektionen erhalten. Die Axone der kurzen propriospinalen Neurone verlaufen in der unmittelbaren Umgebung der grauen Substanz und verbinden benachbarte Segmente miteinander, während die langen propriospinalen Systeme zahlreiche Segmente umfassen und unter anderem lumbale und zervikale Rückenmarksabschnitte miteinander verbinden. Grundsätzlich dienen propriospinale Neurone der intersegmentalen Verknüpfung und spinale Interneurone der intrasegmentalen Verbindung, während spinale Projektionssysteme den Informationstransfer zu den zerebralen Zentren sicherstellen. Eine solche strenge Funktionstrennung ist jedoch nicht immer möglich, weil zahlreiche spinale Nervenzellen durch entsprechende Axonkollateralen zwei oder sämtliche dieser Eigenschaften in sich vereinen.
Die sensiblen Qualitäten Schmerz und Temperatur werden über den Tractus spinothalamicus geleitet; Berührung, Lageempfindung, Zweipunktdiskrimination und Vibration über die Fasciculi cuneatus und gracilis. Diese sensiblen Qualitäten werden bewusst wahrgenommen, während propriozeptive Informationen, die über spinozerebelläre Projektionen weitergeleitet werden, wesentlich zur motorischen Koordination beitragen, jedoch nicht bewusst wahrgenommen werden.
Die im Hinterhorn lokalisierten Ursprungsneurone dieser Bahnen erhalten ihren afferenten Input über Hinterwurzelfasern, kreuzen in der vorderen grauen Kommissur etwa zwei Segmente höher auf die kontralaterale Seite und projizieren im Seitenstrang somatotopisch gegliedert in erster Linie zum Nucleus ventralis posterolateralis des Thalamus, wo die Umschaltung zum sensiblen Kortex des Gyrus postzentralis stattfindet. Der Verlauf des Tractus spinothalamicus lateralis ist in Abbildung 2 dargestellt. Aufgrund der aszendierenden Kreuzung auf spinaler Ebene führt eine einseitige Läsion dieser Bahn zu einer kontralateralen Beeinträchtigung der Schmerz- und Temperaturwahrnehmung etwa zwei Segmente unterhalb der Läsionsstelle.
Diese im Hinterstrang gelegenen und ebenfalls somatotopisch gegliederten Systeme bestehen aus Hinterwurzelaxonen, die größtenteils ohne Umschaltung auf spinaler Ebene direkt bis zu den Hinterstrangkernen an der Dorsalseite der Medulla oblongata projizieren. Die Fasern aus lumbosacralen Segmenten verlaufen im medialen Fasciculus gracilis, die zervikalen Afferenzen im lateral gelegenen Nucleus cuneatus zu den jeweils gleichnamigen Hinterstrangkernen. Die zweiten Neurone der Hinterstrangkerne projizieren über kreuzende Axone im lemniscalen System des Hirnstamms zum kontralateralen Thalamus (vorwiegend zum Nucleus ventralis posterolateralis), von wo aus das dritte Neuron über thalamokortikale Fasern synaptischen Kontakt zum sensiblen Kortex aufnimmt. Der Verlauf dieser Bahn ist in Abbildung 3 dargestellt. Da die Hinterstrangbahnen auf spinaler Ebene ipsilateral verlaufen,
Abb. 2: Schmematische Darstellung des Tractus spinothalamicus lateralis (Quelle: Kunze (Hrsg.), Praxis der Neurologie, 2. Aufl., S. 274 © 1998 Georg Thieme Verlag).
verursacht eine einseitige Läsion ipsilaterale Sensibilitätsstörungen für Berührung, Vibration, Lageempfindung und Zweipunktdiskrimination.
Die Ursprungsneurone des Tractus spinocerebellaris posterior sind in der Clarke-Säule lokalisiert, die sich über die Segmente C 8 bis L 2 erstreckt, und erhalten synaptischen Input von Axonkollateralen der Ia-Hinterwurzelafferenzen. Diese ausschließlich ipsilateral lokalisierte Bahn projiziert über die unteren Kleinhirnschenkel zum Spinozerebellum. Der Verlauf des Tractus spinocerebellaris posterior ist in Abbildung 4 dargestellt. Einseitige Läsionen dieser Bahn verursachen eine ipsilaterale Extremitätenataxie, die klinisch von den Folgen einer zerebellären Läsion im Projektionsbereich der spinozerebellären Afferenzen nicht zu unterscheiden ist. Der Tractus spinocerebellaris anterior ist beim Menschen in funktioneller Hinsicht von untergeordneter Bedeutung.
Die absteigenden Bahnen entspringen im motorischen Kortex und in Hirnstammkernen, die ihrerseits von kortikalen, subkortikalen und zerebellären
Abb. 3: Hinterstrangbahnen (Fasiculus cuneatus und gracilis) in schematischer Darstellung (Quelle: Kunze (Hrsg.), Praxis der Neurologie, 2. Aufl., S. 274 © 1998 Georg Thieme Verlag).
Zentren kontrolliert werden. Als pyramidales System wird der aus dem motorischen Kortex entspringende und über die Pyramidenkreuzung nach spinal projizierende Tractus corticospinalis bezeichnet. Als extrapyramidales System werden die von Hirnstammkernen ausgehenden Projektionen zum Rückenmark zusammengefasst. Der überwiegende Anteil der deszendierenden Bahnen projiziert zu spinalen Interneuronen, die den motorischen Vorderhornzellen vorgeschaltet sind. Lediglich die in den lateralen Kerngruppen des Vorderhorns lokalisierten Motoneurone erhalten einen signifikanten monosynaptischen Input aus kortikospinalen Projektionen.
Diese für die Willkürmotorik besonders wichtige efferente Bahn hat ihren Ursprung in den Betz-Riesenzellen des motorischen Kortex im Gyrus präzentralis, aber auch in Neuronen des prämotorischen und sensorischen Kortex. Die Anatomie dieser Projektion ist in Abbildung 5 illustriert. Von der motorischen Rinde verläuft die Pyramidenbahn somatotopisch gegliedert durch die innere Kapsel, den mittleren Abschnitt des Mittelhirnschenkels und den ventralen Anteil der Brücke zur Basis der Medulla oblongata, wo ca. 90 % der Fasern nach kontralateral kreuzen und als Tractus
Abb. 4: Schmematische Darstellung des Tractus spinocerebellaris (Quelle: Kunze (Hrsg.), Praxis der Neurologie, 2. Aufl., S.274 © 1998 Georg Thieme Verlag).
corticospinalis lateralis im dorsolateralen Funiculus zu spinalen Interneuronen und motorischen Vorderhornzellen synaptischen Kontakt aufnehmen. Die Fasern des auf Hirnstammebene nicht kreuzenden Tractus corticospinalis anterior verlaufen im Funiculus anterior und kreuzen auf Segmentebene in der weißen vorderen Kommissur. Einseitige spinale Läsionen der Pyramidenbahn verursachen eine ipsilaterale zentrale Lähmung unterhalb der Schädigung.
Diese Systeme werden über motorische Regelkreise, an denen Kortex, Basalganglien, Kleinhirn und vestibuläre Kerne beteiligt sind, gesteuert und beeinflussen über komplexe Mechanismen die spinale Motorik. Funktionell wichtige Bahnen des extrapyramidalen Systems sind die Tractus vestibulospinalis, tectospinalis, reticulospinalis und rubrospinalis.
Die spinal integrierten vegetativen Funktionen umfassen Komponenten des Sympathicus und des Parasympathicus.
Abb. 5a, b: Verlauf der Pyramidenbahn (a) sowie Darstellung der motorischen Rinde (b) (nach Duus) (Quelle: Kunze (Hrsg.), Praxis der Neurologie, 2. Aufl., S.275 © 1998 Georg Thieme Verlag).
Die zentrale Sympathicusbahn entspringt im Hypothalamus und verläuft ipsilateral im Funiculus lateralis zum Nucleus intermediolateralis. Dieses Kerngebiet erstreckt sich von Th 1 bis L 2 und enthält präganglionäre Sympathicusnervenzellen, deren Axone über die Vorderwurzeln den ipsilateralen Seitenstrang erreichen, dort teilweise synaptischen Kontakt zu den Ganglienzellen aufnehmen und teilweise zu den prävertebralen Ganglien (Ganglion coeliacum, mesentericus superius et inferius) weiter projizieren. Die beiden Seitenstränge und die prävertebralen Ganglien sind für die gesamte Sympathicusversorgung von Organen, Haut und Gefäßen verantwortlich.
Die thorakalen und abdominalen Organe (mit Ausnahme des distalen Kolons) erhalten ihre parasympathische Innervation über den Nervus vagus. Distale Abschnitte des Kolons und die Beckenorgane werden vom sakralen Parasympathicuskern versorgt, der sich von S 2 bis S 5 erstreckt und seinen supraspinalen Input von Hypothalamus und Hirnstammkernen erhält.
Die Versorgung des Rückenmarks erfolgt im Wesentlichen über drei longitudinale Hauptachsen, die aus der unpaaren A. spinalis anterior und den paarigen Aa. spinales posteriores bestehen. Die an der Myelonoberfläche gelegenen Arterien werden auch als extrinsische Myelonarterien, die in das Myelon penetrierenden Arterien als intrinsische Myelonarterien bezeichnet.
Die A. spinalis anterior wird meist durch Zuflüsse aus den distalen Vertebralarterien gespeist, ebenso wie die A. spinales posteriores, die jedoch auch aus den Aa. cerebelli posteriores inferiores hervorgehen können. Bei beiden Gefäßen handelt es sich jedoch nicht um kontinuierlich verlaufende einzelne Arterien, sondern um komplexe Anastomosensysteme, die im Verlauf nach kaudal weitere Zuflüsse aus den segmentalen Radikulararterien erhalten. Als relativ konstanter Hauptzufluss zur A. spinalis anterior ist hier die A. radicularis magna (Adamkiewicz) zu erwähnen, die in 85 % aus einer der Segmentarterien Th 9 bis L 2 hervorgeht, und zwar in typischer Weise auf der linken Seite.
Zusätzlich zu den longitudinalen Verbindungen zwischen den Zuflüssen auf unterschiedlicher Segmenthöhe umspannen zudem multiple Anastomosen zwischen der A. spinalis anterior und posterior das Rückenmark in Form der sog. Corona radiata. Bezogen auf die arterielle Versorgung des Rückenmarksquerschnitts lassen sich dabei ein zentrifugales und ein zentripetales System unterscheiden ( Abb. 6):
Aus der A. spinalis anterior gehen auf Segmenthöhe jeweils multiple Sulkokommissuralarterien hervor, die zentral in die Fissura mediana eintreten und von hier aus zentrifugal die vorderen etwa zwei Drittel der grauen Substanz teils unilateral, teils bilateral versorgen. Die A. spinalis anterior versorgt damit im Wesentlichen die Vorderhörner, den Tractus spinothalamicus lateralis sowie Teile der Pyramidenbahn.
Die Aa. spinales posteriores verlaufen medial der dorsalen Nervenwurzeln und bilden ein paarig angelegtes longitudinales dorsales Versorgungssystem des Rückenmarks. Sie verzweigen sich an der Oberfläche des Myelons in ein dichtes arterielles Gefäßnetz, welches über die sogenannten Aa. spinales posterolaterales zentripetal die Hinterstränge, die Hinterwurzeln und das hintere Drittel der grauen Substanz versorgt.
Abb. 6: Schematische Darstellung der arteriellen Gefäßversorgung des Rückenmarks. Von ventral erfolgt eine zentrifugale Versorgung des Rückenmarks über die aus der A. spinalis anterior entspringenden Sulkokommissuralarterien. Von dorsal ist die Versorgung dagegen zentripetal und erfolgt über Äste der Aa. spinales posteriores und ihres umfangreichen Anastomosennetzes, die von der Oberfläche ins Rückenmark eintreten (Quelle: Kunze (Hrsg.), Praxis der Neurologie, 2. Aufl., S. 288 © 1998 Georg Thieme Verlag).
Die rückenmarksversorgenden Arterien sind in der fetalen Entwicklung primär segmental angelegt. Im Laufe der frühen embryonalen Entwicklung (bis zum vierten Monat) ist eine Involution dieser Zuflüsse bis auf wenige hauptversorgende Gefäße eingetreten. Dies gilt insbesondere für die thorakolumbale Region, in der in der Regel als einziger Hauptzufluss zur A. spinalis anterior die A. radicularis magna (Adamkiewicz) übrig bleibt.
Überbleibsel der embryonalen segmentalen Versorgung sind die paarigen Interkostal- und Lumbalarterien. Das segmentale arterielle Muster wird in der Zervikalregion durch die Entwicklung der A. vertebralis und in der Sakralregion durch die Iliakalarterien modifiziert.
Das obere Halsmark wird vorwiegend über spinale Äste der A. vertebralis versorgt. Die A. spinalis anterior wird hierbei kranio-kaudal aus dem Endabschnitt der A. vertebralis versorgt. Im oberen Halsmark können entwicklungsbedingt jedoch auch zwei getrennte Aa. spinales anteriores vorliegen. Die posterolateralen Arterien des Halsmarks entspringen der distalen A. vertebralis oder der proximalen A. cerebelli inferior posterior mit kaudaler Flussrichtung. Die segmentalen Äste der A. vertebralis versorgen hauptsächlich Muskulatur und Knochengewebe in der Zervikalregion. Variabel können einzelne Segmentarterien der A. vertebralis, die A. spinalis anterior bzw. die Aa. spinalis posteriores mit versorgen. Ein hauptversorgender Ast der A. spinalis anterior kann darüberhinaus aus dem Truncus costozervikalis oder direkt von der A. subclavia bzw. der A. cervicalis profunda entspringen. Eine Versorgung des unteren Zervikalmarkes kann darüberhinaus über Äste der A. cervicalis profunda (aus dem Truncus cervicalis) oder der A. cervicalis ascendens (aus dem Truncus thyreocervicalis) erfolgen. Über die A. intercostalis suprema ist eine Versorgung der Radiculararaterien von C 7, C 8 sowie Th 8 bis Th 3 möglich. Sie entspringen dem Truncus costozervikalis oder gehen direkt aus der A. subclavia ab.
Im Thorakalbereich entspringen gewöhnlich neun paarige Interkostalarterien aus der Aorta; ihr proximaler dorsaler Ast (Truncus radiomedullaris) teilt sich in einen spinalen Ast auf, der über die vordere und hintere Radiculararterien das Myelon versorgt. Darüber erfolgt in diesem Bereich über weitere Äste die Versorgung der Dura sowie knöcherner Strukturen und der Nervenwurzeln. Über die anastomosierenden Äste der Interkostalarterien ist ein Kollateralfluss in kontralaterale sowie darüber und darunter gelegene Segmente möglich.
Im lumbalen Bereich liegen gewöhnlich vier paarige Lumbalarterien der Aorta vor. Ihre Kollateralversorgung ist wie bei den Intercostalaterien möglich. Vereinzelt versorgt eine Lumbalarterie die A. spinalis anterior oder Aa. spinalis postolateralis. Weiter kaudal ist eine spinale Versorgung über Zuflüsse lumbosacral bzw. aus dem Beckenbereich möglich, hier insbesondere über die hintere Aufteilung der A. iliaca interna in die Aa. sacralis lateralis mit spinalen Ästen über die vorderen Foramina sacralia. Desweiteren ist eine Versorgung über die aus der A. iliaca interna entspringende A. iliolumbalis bzw. über die A. sacralis medial kollateralisierend möglich.
Merke
Aufgrund der vielfältigen und variablen arteriellen Versorgung des Rückenmarks ist die bildgebende Gefäßdarstellung mittels Digitaler Subtraktionsangiografie (DSA) sehr aufwändig; sie erfordert die selektive Katheterisierung nicht nur sämtlicher Segmentarterien, sondern auch der infrage kommenden zervikalen und sakralen versorgenden Gefäße.
Die venöse Drainage des Rückenmarks ist im Vergleich zum arteriellen System sehr viel variabler angelegt und weist darüber hinaus einige Besonderheiten auf. Die Drainage aus dem Parenchym erfolgt vorwiegend über ein radiäres System von horizontal verlaufenden Venen, die im Bereich der Pia mater in die großen longitudinal orientierten Venen drainieren. Hierbei ist als konstantestes Gefäß eine mit der A. spinalis anterior parallel verlaufende Vene über die Fissura mediana anterior ausgeprägt. Eine weniger konstante longitudinale Vene findet sich median an der Dorsalseite des Rückenmarks. Diese Venen sind in einem Konvolut von oberflächlichen Venen plexusartig miteinander verbunden. Auch im Parenchym sind die venösen Anastomosen mit unterschiedlichem Kaliber weitaus umfangreicher anzutreffen als im arteriellen System. Der Abfluss aus dem Venengeflecht in der Umgebung des Rückenmarks erfolgt über Wurzelvenen in den Wirbelplexus. Kraniozervikal gibt es Verbindungen zu den Venen der hinteren Schädelgrube. Der Blutrückfluss aus den extraduralen Venen in die subarachnoidalen Blutleiter wird nicht durch Venenklappen verhindert, sondern durch einen deutlichen Kalibersprung in einem Zickzack-Verlauf der Venen innerhalb des Durablattes.
Duus P (1990) Neurologisch-topische Diagnostik: Anatomie, Physiologie und Klinik. Stuttgart: Thieme.
Ginsberg L (2011) The bare essentials: Disorders of the spinal cord and roots. Pract Neurol 11:259–267.
Lamin S, Bhattacharya JJ (2003) Vascular anatomy of the spinal cord and cord ischaemia. Pract Neurol 3:92–95.