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  Alexander Garth– Zweifel hat Gründe - Glaube auch– SCM Hänssler

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ISBN 978-3-7751-7221-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5601-1 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© der deutschen Ausgabe 2014

Die Bibelverse sind folgenden Ausgaben entnommen:
NLB: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.
L: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Hfa: Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica Inc.™.
Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Brunnen Verlags. Alle weiteren Rechte weltweit vorbehalten.
NGÜ: Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.
Wenn keine Bibelausgabe angegeben ist, handelt es sich um eine Übersetzung des Autors.

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

INHALT

Inhalt

Einleitung

Was soll dieses Buch?

Wie die Idee zum Buch entstand

1. Ein verunsichertes Christentum

Eine postchristliche Gesellschaft

Verunsicherte Christen

Die Schweigespirale

2. Zwischen Glauben und Zweifel

Zweifel kommt von zwei

Kleines Lob des Zweifels

Ein Durchgangsstadium

Kein Fundament

Gibt es Gewissheit?

3. Ein radikaler Zweifler

Streitgespräche in meinem Kopf

Warum kann man Gott nicht beweisen?

Kann man das Gegenteil beweisen?

Für die wirklich wichtigen Dinge im Leben gibt es keine Beweise

Zwei Glaubensaussagen

Ich bin ein radikaler Zweifler

Zweifelshilfen

Zweifel am Atheismus

Die Frage nach dem Sinn des Lebens

4. Zweifel im Namen des Leides

Der Fels des Atheismus

Mit Gott Gott abschaffen

Der Mensch als Quelle des Bösen

Gott auf der Anklagebank?

Warum?

Shit happens

Eine fromme Lüge

Warum? Eine Sackgasse!

Wofür?

Der Prediger mit dem verbrannten Gesicht

Eine Alternative zum Glauben?

Gott ist Liebe?

Ein leidender Gott

Die einzig angemessene Antwort auf das Leid der Welt

Das Böse als metaphysische Macht

Der Himmel als radikalste Relativierung des Leides

5. Zweifel im Namen der Toleranz

»Es kann unmöglich nur eine wahre Religion geben«

Alles ist gleich gültig

Das Glaubensbekenntnis der Postmoderne: Alles ist relativ

Ist wirklich alles relativ?

Meinen nicht alle Religionen das Gleiche?

Im Supermarkt der Religionen

Wahre Toleranz

Die Diktatur des Relativismus

Religion ist ein Weg, den man geht

»Ich bring Sie hier raus«

Der Leitstrahl vom Himmel

6. Zweifel im Namen der Freiheit

Glaube macht unfrei?

Die Entdeckung der Freiheit

Orientierungslosigkeit?

»Ich bin meine Freiheit«

Liebe, die unsere Freiheit begrenzt

»Jeder Mensch hat das Recht, selbst zu bestimmen, was für ihn wahr und gut ist«

Die schwierige Sache mit verbindlichen Maßstäben

Humanismus als Maßstab

Freiheit und das Gelingen des Lebens

»Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen«

Glaube, der befreit

Gehorsam?

7. Zweifel im Namen der Wissenschaft

Entweder wissenschaftlich oder religiös

Wissenschaft kontra Gott?

Beweise für Gottes Nichtexistenz?

Die Weltkarriere einer Hypothese

Evolution ohne Gestalter?

Wer schrieb den kompliziertesten Code der Welt?

Wie die Idee vom Menschen zum Urknall führte

Naturwissenschaft kontra Wunder?

Braucht der Glaube Wunder?

Gott und Wunder

8. Zweifel im Namen der kirchlichen Wirklichkeit

Kirche? ~ Nein danke!

Warum gibt es so viele abschreckende Christen?

Ein Krankenhaus für Sünder

Eine ungenießbare Mixtur?

Eine reine Kirche der echten Christen

Zwei Modelle: Offene Gemeinde oder Separation?

Religion mit Imageproblem

Die Kirche und das Böse

Der Generalfehler

All you need is love

9. Zweifel im Namen der Liebe

Liebt Gott Menschen?

Ein Gott, der Völkermord befiehlt?

Jesus kontra Bibel

Liebt Gott mich?

Gott mag Menschen nicht!

Nur die Braven!

Mich doch nicht!

Liebe muss man sich verdienen!

Bedingungslos!

Gekommen aus Liebe

Liebe, die alles gibt

Den Einzelnen

10. Zweifel im Namen eines fragwürdigen Opfertodes

Ein Gott, der seinen Sohn opfert?

Eine abstruse Idee

Der gekreuzigte Gott

Unser Problem mit der Stellvertretung

Der Individualismus des Westens und der Gedanke der Stellvertretung

11. Zweifel im Namen der Abwesenheit Gottes

Gott, wo bist du?

Wenn Gott sich verbirgt

Eine tiefe Kluft

Gott macht sich rar

Leben im Zwischenreich

Keine Beweise!

Worum es wirklich geht

Wenn Gott schweigt

Die dunkle Nacht der Seele

Überwindung des frommen Egoismus

Die fromme Hedonismusfalle

Glaube und Gefühl

Zugang zum Glauben durch spirituelles Erleben

Gott begegnen?

Anmerkungen

EINLEITUNG

Was soll dieses Buch?

Zweifel kommt von zwei. Wer zweifelt, ist hin und her geworfen zwischen Glaube und Unglaube: Gott liebt mich – ach nein, wieso mich? Gott existiert – nein, es ist alles zufällig entstanden. Ich spüre, dass der Glaube mir guttut – nein, das kann man auch psychologisch erklären.

Viele Menschen unserer Kultur können nicht an Gott glauben, und sie haben gute und nachvollziehbare Gründe dafür. Manche fragen sich: Kann man heute überhaupt ein gläubiger Mensch sein? Spricht nicht vieles gegen die Existenz Gottes, zumindest gegen die Existenz eines liebenden Gottes? Und viele, die sich zum Glauben bekennen, erleben, dass man ihren Glaubensüberzeugungen mit Skepsis begegnet. Wer glaubt, muss sich häufig rechtfertigen und wird mit den vielfältigsten Gründen, die gegen den Glauben sprechen, konfrontiert: durch die Medien, in unzähligen Gesprächen mit Kollegen, Freunden und Verwandten. Viele kommen darüber selbst ins Zweifeln. Der Glaube vieler Christen ist von Zweifeln durchsetzt.

Dieses Buch setzt sich mit unterschiedlichen Arten von Zweifeln auseinander: Sind Glaube und Wissenschaft nicht ein einziger Widerspruch? Wie kann ein liebender Gott so viel Leid zulassen? Wie passt der Glaube an Gott mit der Forderung nach einem selbstbestimmten Leben zusammen? Und wenn man erst die Kirche betrachtet in Vergangenheit und Gegenwart – da muss man doch zum Zweifler werden! Verträgt sich der Anspruch des Christentums mit dem Wert der Toleranz? Die Bibel ist voller Wunder, das kann doch unmöglich stimmen!

Das Anliegen dieses Buches ist ein Dreifaches: Es will erstens diesen inneren Dialog mit dem Zweifel beleben und vertiefen. Es möchte Sie ermutigen, Ihre Zweifel zu erkennen und mehr über das Pro und Kontra des Glaubens zu erfahren. Seinen Zweifeln muss man sich stellen, statt sie zu verdrängen. Wir fragen: Wo kommt unser Zweifel eigentlich her, und was sind seine ideengeschichtlichen und ideologischen Vorfahren?

Zweitens möchte das Buch eine Hilfe und Ermutigung sein, aus den Tälern des Zweifels zu den Höhen des Vertrauens zu finden.

Drittens soll das Buch die Sprachfähigkeit über die eigenen Zweifel und die Zweifel unserer Mitmenschen fördern.

Ich kann mir vorstellen, dass es Christen gibt, denen das, was sie hier lesen, nicht fromm genug ist, ja die sich an eini-gen Formulierungen stoßen, weil sie diese zu direkt und vielleicht auch ein wenig respektlos empfinden. Aber dieses Buch ist in großer Solidarität mit Zweiflern und »Ungläubigen« geschrieben worden. Sie sollen ihre Gedanken, ja vielleicht auch ihre Wut über Gott hier wiederfinden und trotzdem zum Vertrauen ermutigt werden. Das Mathematikgenie Blaise Pascal schrieb: »Es gibt zwei Arten vernünftiger Menschen: Diejenigen, die Gott von ganzem Herzen dienen, weil sie ihn kennen. Und die, die Gott von ganzem Herzen suchen, weil sie ihn noch nicht gefunden haben.« Letztlich möchte dieses Buch auch ein Anreiz sein, sich durch das Tal des Zweifels auf die Suche nach dem lebendigen Gott zu machen.

Wie die Idee zum Buch entstand

Mich interessieren gute Argumente, die gegen den Glauben an Gott sprechen. Um möglichst viel über die Gründe der Zweifelnden zu erfahren, startete ich eine Umfrage. »Was ist Ihr Hauptzweifel am Christentum?« Per E-Mail, via Brief und über soziale Netzwerke wie Facebook bekam ich ungefähr 200 Antworten, die ich verschiedenen Themenfeldern zuordnete. Daraus sind dann die Kapitel dieses Buches entstanden.

KAPITEL 1:

Ein
verunsichertes
CHRISTENTUM

Eine postchristliche Gesellschaft

Die westliche Welt befindet sich in einem Prozess der Entchristlichung. Eine christlich begründete Grundübereinstimmung in der Gesellschaft gehört inzwischen der Vergangenheit an. Wir nennen unsere Zeit »postchristlich«, also nachchristlich. »Post« zeigt an, dass wir etwas hinter uns lassen. In der Vergangenheit teilten die Menschen in unserer Kultur einen großen Schatz von gemeinsamen Überzeugungen wie zum Beispiel Gott der Schöpfer, Jesus, der Inbegriff für Mitmenschlichkeit und Werte, die Zehn Gebote als anerkannte Richtschnur für das Verhalten, der barmherzige Samariter als Modell sozialen Miteinanders. Die Zeit, in der die Gesellschaft automatisch auf christlichen Werten basiert, läuft aus. In den Medien werden christliche Überzeugungen als veraltet, überholt und reformbedürftig apostrophiert. Gleichzeitig werden die Versuche vor allem von evangelischen Kirchenvertretern, das Christentum an die Entwicklungen unserer Zeit anzupassen, verhöhnt oder zumindest nicht ernst genommen. Die christliche Glaubensvermittlung in Elternhaus und Schule ist weitgehend weggebrochen. Kinder werden nicht mehr wie früher in den Glauben »hineingeboren«. Im Gegenteil, der Glaube erscheint ihnen als eine fremde Welt, in die sie erst mühsam durch Jugendleiter, Pfarrer, Konfirmandenunterricht oder Jugendkirche hineinsozialisiert werden. Religion im öffentlichen Raum wird immer mehr zurückgedrängt. Glaube ist reine Privatsache geworden. Spiel und Genuss, Konsum und Freizeit werden zu primären Zielen unseres Lebens und zum Religionsersatz. Die Kirchen hierzulande haben sich still damit abgefunden, dass sie immer mehr aus der Mitte der Gesellschaft verdrängt werden. Das liegt nicht nur daran, dass sie immer kleiner werden. Trotz aller Bemühungen »gegen den Trend zu wachsen« (so der Titel eines Impulspapiers der Evangelischen Kirche) schrumpfen die Kirchen noch schneller als die Bevölkerung. Das gilt auch für die meisten Freikirchen. Nicht nur die schwindende Zahl der Mitglieder reduziert den Einfluss der Kirche in der Gesellschaft. Der christliche Glaube scheint an Attraktivität in weiten Teilen der Bevölkerung zu verlieren. Schließlich kann man auch ohne Gott irgendwie ein guter Mensch sein, ohne den ganzen religiösen Überbau. Es fehlt einfach das Verständnis dafür, dass eine Gesellschaft, die sich von ihren religiösen und ethischen Fundamenten verabschiedet, ihre Zukunft verspielt.

Der Politikwissenschaftler Andreas Püttmann nimmt in seinem Buch Gesellschaft ohne Gott: Risiken und Nebenwirkungen der Entchristlichung Deutschlands1 faktenreich die schleichenden gesellschaftlichen Veränderungen und deren mögliche Auswirkungen in den Blick. Er beobachtet eine »Verdunstung« des christlichen Glaubens als gesellschaftlich relevante Größe in Europa. Ein ganzer Kontinent ist dabei, sich von seinem geistlichen und damit langfristig auch von seinem geistigmoralischen Fundament zu verabschieden. Damit verliert das Gemeinwesen seine unabdingbare »Humanitätsressource«. Die Folge dieses grundlegenden Wertewandels ist nach Püttmann eine veränderte Gesellschaft, die kälter, egoistischer, weniger lebensfreundlich und ökonomisch instabil sein wird.

Verunsicherte Christen

Christliche Überzeugungen werden schon heute nur von einer Minderheit geteilt. Obgleich (noch) weit über 50 Prozent der Menschen in Deutschland einer Kirche angehören, können sich doch nur wenige Kirchenmitglieder mit zentralen Aussagen des christlichen Glaubens identifizieren, wie sie zum Beispiel im apostolischen Glaubensbekenntnis zusammengefasst sind. Zwar bezeichnen sich die meisten Kirchenmitglieder als religiös, »definieren aber den Inhalt ihres Glaubens ebenso wie ihre Vorstellungen von Gott eher diffus«, wie die Sinus-Studie 2013 unter deutschen Katholiken ergab. Bei Protestanten dürfte die Zahl derer, die mit der christlichen Kernbotschaft etwas anfangen können, noch geringer ausfallen. In den beiden großen Kirchen ist eine Lightversion des Glaubens der Mainstream, von der Basis bis hin zu den kirchenleitenden Amtsträgern: Glaube light ohne Auferstehung, ohne Sühnetod Jesu, ohne Wunder, ohne Heiligkeit Gottes, ohne Jungfrau Maria, ohne Himmel, ohne Hölle, ohne Erlösung.2

Das Lager der Glaubenskritiker befindet sich heute nicht nur in der Gruppe der Kirchenfernen und kirchlichen Randsiedlern. Auch viele Menschen, die in der Kirche zu Hause sind, haben Schwierigkeiten mit dem Christentum von Bibel, Bekenntnis und Tradition. Selbst die, die sich als fromm bezeichnen würden und die »mit Ernst Christen sein wollen«, sind in ihren christlichen Überzeugungen stark verunsichert. In unzähligen Büchern von unterschiedlich klugen Menschen, in Talksendungen, Zeitungsartikeln usw. wird Religion allgemein und das Christentum insbesondere hart attackiert: Gott ist eine schädliche Wahnvorstellung. Religion hat viel Unheil in die Welt gebracht. Sie ist gefährlich, da sie zu Intoleranz und Gewalt führt. Glaube macht den Menschen klein und abhängig. Christentum ist eine Spaßbremse. Passend dazu lautete das Motto der Gegendemo zum Papstbesuch in Erfurt »Heidenspaß statt Höllenangst«. »Hätte Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben«, skandierten nicht nur linke Chaoten dem stillen »Marsch für das Leben« 2013 in Berlin entgegen.

Der Wind, der den Christen ins Gesicht weht, ist rauer geworden. Wurde in der Vergangenheit das Thema Gott in den Medien eher »mit Samthandschuhen angepackt«, wie das der Philosoph und missionarische Atheist Michael Schmidt-Salomon im ZDF-Nachtstudio ausdrückte, so ist der Ton heute aggressiver und schärfer geworden.3 Unglaube wird nicht mehr als »religiöse Unmusikalität« bedauert, wie es noch vor 100 Jahren der Soziologe Max Weber tat, sondern als freimachende Überzeugung fröhlich bekannt. Atheismus und scharfe Glaubenskritik sind nicht mehr nur eine Sache von linken Intellektuellen oder ideologisierten Normalbürgern aus den östlichen Bundesländern, wo sich eine Art Volksatheismus etabliert hat. Viele, besonders junge Menschen aus ganz unterschiedlichem Hintergrund, stehen nicht nur in innerer Distanz zum christlichen Glauben, sie lehnen diesen mit schlagkräftigen Argumenten ab.

Die Schweigespirale

Die Medienwissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann entwickelte in den 1970er-Jahren die Theorie von der Schweigespirale4. Jeder Mensch sucht unbewusst nach Übereinstimmung mit seiner Umwelt. Er will Teil einer Gemeinschaft sein, in der er anerkannt und akzeptiert wird. Darum sind seine inneren Antennen darauf ausgerichtet, welche Überzeugungen und Verhaltensweisen Anerkennung finden und welche abgelehnt werden. Um nicht zurückgewiesen und sozial ausgegrenzt zu werden, passen wir uns an die herrschende Meinung an und unterdrücken Verhaltens- und Denkmuster, die in unserem sozialen Umfeld nicht gut ankommen. Man kann das besonders deutlich bei Jugendlichen beobachten. Jugendliche stehen tausend Ängste aus, wenn sie in eine neue Gruppe kommen, zum Beispiel in eine neue Klasse, ein Sportteam, eine Jugendgruppe. Sie fragen sich: Werde ich akzeptiert? Welche Verhaltensweisen gelten hier als cool? Habe ich die richtigen Klamotten an? Sie spüren, dass sie von den anderen nach ihrem Coolheitsfaktor gescannt werden. Bei Erwachsenen ist das nicht anders, nur etwas differenzierter. Wir beobachten genau, welche Werte und Normen das Klima bestimmen, und spüren ein Unwohlsein, wenn wir davon abweichen. Wir befürchten, von unseren Mitmenschen isoliert zu werden. Aus Angst, ins gesellschaftliche Abseits zu geraten, schweigen wir lieber oder passen uns an, zumindest nach außen. Elisabeth Noelle-Neumann untersucht, welche Rolle hierbei die Medien spielen. Sie beeinflussen entscheidend, welche Wertvorstellungen und Verhaltensweisen in der Gesellschaft dominierend sind und welche sich im Rückzug befinden. Und hier setzt der Mechanismus ein, dem die Schweigespirale ihren Namen verdankt. Weil die sich durchsetzende Meinung immer breitere Anerkennung findet, wird die andere Meinung aus Angst vor sozialer Ächtung immer seltener geäußert. Menschen, die der Überzeugung sind, dass sich ihre Meinung im Aufwind befindet, bekennen sich eher öffentlich als diejenigen, die annehmen, mit ihrer Meinung zu einer schwindenden Minderheit zu gehören. Dadurch beschleunigt sich der Minderheitenstatus derer, die weniger populäre Ansichten vertreten. Die Minderheitenfraktion verfällt in Schweigen aus Furcht vor sozialer Isolation.

Fast in allen sozialen Gruppen befinden sich bekennende Christen in der Minderheit: Schule, Kollegen, Sportgruppe, Studium, Feuerwehr, ja oft auch im Freundeskreis und in der eigenen Familie. Die meisten Christen leben in einem Umfeld, das den christlichen Glauben ablehnt oder zumindest nur oberflächlich kennt. Gläubige werden mit den vielfältigsten Gründen konfrontiert, die gegen den Glauben sprechen. Und oft sind die Gegner des Glaubens argumentativ besser gerüstet als die Befürworter. Christen erleben zunehmend, dass ihr Glaube kritisch hinterfragt wird. Der alte Konsens, dass alle irgendwie kirchlich oder zumindest religiös sind, ist aufgelöst. Wer glaubt, muss sich rechtfertigen. Er wird mit dem Versagen der Kirche in der Geschichte konfrontiert, mit Argumenten der Naturwissenschaft, der Toleranz der Postmoderne, der Religionswissenschaft oder der Emanzipation:

»Kann es überhaupt einen Gott geben bei so viel Leid in der Welt?«

»Warum glaubst du, obwohl in der Vergangenheit so viele Verbrechen im Namen des Christentums geschehen sind?«

»Und wieso ausgerechnet der christliche Glaube? Wollen nicht alle Religionen das Gleiche?«

»Die Bibel ist voller Wunder – glaubst du das etwa?«

»Macht der Glaube nicht unfrei?«

Menschen, die ihren Glauben nicht verstecken, erleben, wie sie belächelt, beneidet, gemieden, bekämpft, toleriert, ausgegrenzt, hinterfragt werden. Viele Christen ziehen es vor, über ihren Glauben zu schweigen. Wer hat schon Lust, für einen Spinner gehalten zu werden? Ich kann die Angst von Gläubigen vor schwierigen Diskussionen verstehen. Ich selbst bin es leid, mich ständig zu den Fehlern der Kirche in der Geschichte äußern zu müssen. Man kann mich nachts wecken und fragen: »Was hat man gegen das Christentum?« Ich würde im Halbschlaf drei Worte murmeln: »Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverfolgung.« Obwohl ich argumentativ gut gerüstet bin, fehlt mir oft die Motivation, die eigentlich immer gleichen Themen zu besprechen. Ich sehne mich, wie andere Menschen auch, nach Harmonie und Akzeptanz. Umso mehr leuchtet es mir ein, dass viele Christen, die in ihren Überzeugungen unsicher und in ihrem Wissen schwach sind, Diskussionen lieber aus dem Wege gehen. Nicht nur aus Furcht, abgelehnt zu werden, sondern auch aus Angst, eine Diskussion zu verlieren und als religiöser Depp dazustehen.

Zu einer Minderheit zu gehören produziert Schweiger und Zweifler. Viele werden stark verunsichert in ihrem Glauben, denn die Argumente der Glaubenskritiker klingen durchaus plausibel. Man braucht schon starke Überzeugungen, damit die eigenen Positionen nicht aufweichen in der Flut der Gegenargumente. Es ist also höchst sinnvoll und geboten, eine Anleitung für Zweifler zu verfassen. Nicht nur, um die eigenen Zweifel besser kennenzulernen und vielleicht zu überwinden. Es geht auch darum, die Zweifler besser zu verstehen und mit ihnen kompetent über Glauben und Zweifel zu reden.

KAPITEL 2:

Zwischen
GLAUBEN
und ZWEIFEL

Zweifel kommt von zwei

Wir befinden uns immer, egal wie gläubig oder ungläubig wir sind, in der Spannung zwischen Zweifel und Glauben. Irgendwie sind die zwei Geschwister, die immer zusammen kommen. Man könnte überspitzt formulieren: Der Glaubende zweifelt und der Zweifelnde glaubt. Ich kenne Menschen, die noch nie an Gott gezweifelt haben. Sie haben aber auch noch nie geglaubt. Sie hatten das Thema Glauben und Gott nie auf dem Monitor.

Glaube und Unglaube sind gleichberechtigte Optionen, weil wir Gefangene sind unserer begrenzten Sicht, unserer Emotionen, unserer Weltlichkeit, unserer Sterblichkeit. Wir sind ein Teil der Schöpfung und die ist – mit der Bibel gesprochen – noch nicht frei von der Knechtschaft der Vergänglichkeit. Wir können das Ganze nicht sehen, den umgreifenden Sinn nicht erkennen, weil wir ein kleiner Teil einer umfassenden und uns umschließenden Wirklichkeit sind. Wir gleichen Fröschen, die vom Ozean hörten, aber ganz in der Begrenztheit ihres Teiches leben. Die einen sagen: »Das mit dem Ozean ist Quatsch.« Die anderen: »Es ist eine Art Teich, nur viel größer.« Aber beide haben eigentlich keine Ahnung. »Unser Wissen ist Stückwerk«, schreibt der Apostel Paulus in der Bibel (1. Korinther 13,9; L). Wir erkennen nur Fragmente, und selbst die Klügsten unter uns seufzen, dass Grund und Funktionieren des Lebens und des Universums wohl ein unauslotbares Geheimnis bleiben. Der Kabarettist Matthias Beltz meint: »Die einen sagen, dass Gott existiert, die andern, dass Gott nicht existiert. Die Wahrheit wird, wie so oft, in der Mitte liegen.« Ich mag diesen Satz, weil er witzig ist und die Möglichkeit des Glaubens und des Unglaubens gleichberechtigt nebeneinander stellt.

»Zweifel« geht auf das germanische Twifla zurück, was so viel bedeutet wie doppelt, gespalten, zweifach, zwiefältig. Nach Pierers Universal-Lexikon von 1865 bezeichnet Zweifel »einen Zustand der Unentschiedenheit zwischen mehreren möglichen Annahmen, da entgegengesetzte oder unzureichende Gründe zu keinem sicheren Urteil oder einer Entscheidung führen können«.

Kleines Lob des Zweifels

Zweifel ist ein innerer Dialog, ein Streit der Meinungen, Pro und Kontra, Rede und Gegenrede. Glaube und Unglaube argumentieren miteinander. Zweifel ist wichtig, weil wir nur durch das Dunkel des Zweifels zur Gewissheit gelangen. Es macht den Glauben glaubwürdig, wenn er mit den Wassern des Zweifels gewaschen wurde. Zweifel ist intellektuell redlich, weil lebendiger Glaube die geistige Auseinandersetzung mit den Argumenten des Unglaubens braucht. Zweifel ist empathisch, weil er die Positionen derer, die nicht glauben können, an sich herankommen und sich davon berühren lässt. Zweifel ist sympathisch, weil er solidarisch ist mit denen, die Glauben für Unfug halten. Zweifel macht den Glauben authentisch, weil er sich vor seinen Kritikern verantwortet. Weil Glaube sich bewähren muss, schickt ihn Gott durch das Tal des Zweifels. Zweifel ist das Sprungbrett des Glaubens. Es gibt keinen Glaubenden, der nicht von dort den Sprung in den Glauben wagte.

Ein Durchgangsstadium

Der Zweifel muss ein Durchgangsstadium sein auf dem Weg zur Gewissheit. Dennoch ist Gewissheit kein Ziel, das wir irgendwann erreichen, um dort zu verweilen. Auf unserem Lebensweg gibt es dunkle Täler des Zweifels und sonnige Höhen der Gewissheit. Es ist uns nicht beschieden, in der Höhe zu siedeln. Gott ruft uns zwar, den Weg aus den Tälern des Zweifels zu den Gipfeln des Glaubens zu finden, aber es ist der gleiche Gott, der uns von den Höhen in tiefe Täler führt. Und oft bleibt es ein Geheimnis, warum das mit uns geschieht. Eine zerbrochene Beziehung, der Tod eines Freundes, der Verlust des Jobs, eine Krankheit, eine zurückgewiesene Liebe – und schon sind wir von Dunkelheit umgeben und machen die Erfahrung, dass anscheinend kein Hilferuf aus dem Dickicht unserer Trauer zu Gottes Ohr gelangt. Ohnmächtig fühlen wir uns den Stimmen in uns ausgeliefert, die sagen: »Da gibt es keinen, der dich hört und sich um dich kümmert.« Kein Lichtstrahl vom Himmel, der die Finsternis vertreibt, keine Stimme, die uns zuruft: »Du bist mein geliebter Sohn.« Stille. Dunkelheit. Wir sind mit unseren Zweifeln allein.

Auch Jesus wurde aus der höchsten Höhe der Gottesbegegnung in das dunkle Tal der Anfechtung geführt: »Danach führte der Heilige Geist Jesus in die Wüste, weil er dort vom Teufel in Versuchung geführt werden sollte« (Matthäus 4,1). Kurz davor war Jesus von Johannes unter dramatischen Begleiterscheinungen getauft worden. Eine göttliche Stimme vom Himmel bestätigte ihn als geliebten Sohn Gottes und der Heilige Geist kam über ihn und erfüllte ihn. Direkt im Anschluss daran führte ihn eben derselbe Heilige Geist in die Wüste. Vierzig Tage lang Hunger, Demütigung und Anfechtung. Hier liegen Licht und Finsternis beängstigend nahe beieinander. Es waren keine widrigen Umstände, die ihm diese schreckliche Zeit einbrachten. Es war Gott selbst, der Jesus dort hineinführte.

Kein Fundament

Zweifel ist kein Ziel. Zweifel ist ein Sumpf, den wir hin und wieder durchschreiten müssen. Aber wehe uns, wenn wir dort verweilen. Auf den Sumpf des Zweifels kann man nicht das Haus seines Lebens bauen. Dafür braucht man ein festes Fundament, das trägt. Philosophen haben den Zweifel verklärt und zur Methode erhoben. Dichter haben ihn als kreatives Prinzip besungen. Aber in den fundamentalen Fragen über das, was im Leben wirklich zählt und worauf ich mein Leben bauen kann, brauche ich Vertrauen und Gewissheit. Der christliche Glaube kennt diese Gewissheit.

Gibt es Gewissheit?

Die christliche Gewissheit trägt den schönen und altmodischen Namen »Heilsgewissheit«. Sie ist ein Geschenk, das Menschen empfangen in den besonderen Momenten, in denen die erlebte Gegenwart Gottes den Zweifel verschlingt. Es gibt solche »Sternstunden« der Spiritualität. Sie sind kostbar – und sie sind selten. Wer sie erlebt, dessen Biografie bekommt einen Knick. Man kann nicht mehr einfach so weiterleben wie bisher. Martin Luther hatte so eine Sternstunde, in der ihm das Licht der Gnade Gottes aufging. Es war im Turmzimmer des Erfurter Augustinerklosters. Daher nannte man diese Sternstunde später Luthers »Turmerlebnis«.

Als das Naturwissenschaftsgenie Blaise Pascal starb, fand man in das Futter seines Mantels eingenäht einen Pergamentstreifen. Dieses sogenannte Memorial, das er zeitlebens bei sich trug, sollte ihn immer an die Nacht seiner Gottesbegegnung erinnern. Es heißt da in Auszügen: »Jahr der Gnade 1654, Montag, den 23. November, seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht. Feuer. Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede. Gott Jesu Christi. […] Vergessen von der Welt und von allem, außer Gott. Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, ist er zu finden.«5

Es gibt unzählige Beispiele, wie Menschen durch besondere Gottesbegegnungen zu seliger Gewissheit gelangten. Aber selbst diese Gewissheit ist ein flüchtiger Gast. Man kann ihn nicht halten. Man kann Gewissheit nicht haltbar machen. Sie lässt sich nicht einfrieren, um sie dann in Zeiten der Not aufzutauen. Gewissheit gibt es nur frisch. Konservierte Gewissheit begegnet uns als Orthodoxie, als »reine Lehre«, als religiöses Prinzip, als dogmatische Rechthaberei. Lebendiger Glaube lebt mit dem Zweifel. Lebendiger Glaube überwindet den Zweifel, aber nicht ein für alle Mal, sondern immer wieder. Der Glaube muss sich zur Gewissheit durchglauben, jeweils neu. Der innere Dialog mit dem Unglauben hält dabei den Glauben frisch und lebendig.

KAPITEL 3:

Ein radikaler
ZWEIFLER

Streitgespräche in meinem Kopf

Wer zweifelt, ist hin und her geworfen zwischen zwei Glaubensaussagen. Zweifeln bedeutet, dass man ein Streitgespräch mit sich selbst führt. Zwei Parteien treten in unserem Kopf gegeneinander an: die GFD (Glaube Fest Daran) und die DIU (Das Ist Unsinn):

GFD: Ich glaube, dass es Gott gibt.
DIU: Das kann ich nicht glauben. Es spricht so viel dagegen. Gott ist abwesend in dieser Welt. Vermutlich gibt es ihn gar nicht.
GFD: Gott mag mich. Das spüre ich einfach.
DIU: Ach nein, wieso mich?
GFD: Gott ist da. Ich schaue die unglaubliche Schönheit und Harmonie in der Schöpfung. So etwas entsteht nicht von selbst.
DIU: Die Welt, das ist ein Ort voller Leid und Ungerechtig-keit.
GFD: Der Glaube tut mir gut und setzt Kräfte frei.
DIU: Ach was, auch Atheisten führen oft ein gutes Leben. Und überhaupt, wenn es Gott gibt, wieso macht er sich dann so rar in meinem Leben, in dieser Welt?
GFD: Ich denke, dass ich Gott schon mal erlebt habe. Er hat schon öfters zu meinem Herzen gesprochen.
DIU: Was denn, das kann man auch psychologisch erklären. Jeder Seelenklempner kann das.
GFD: Mein Glaube ist doch keine Einbildung. Ich habe schon so viel Gutes durch ihn erfahren.
DIU: Positive Ideen – und Gott scheint zumindest eine solche zu sein – haben nun mal positive Auswirkungen.
GFD: Es ist doch völlig klar, dass im Universum eine ordnende Macht am Wirken ist: diese gigantische Feinabstimmung! Das geht nicht ohne Gott.
DIU: Das beweist gar nichts! Der Natur selbst wohnt eine Tendenz zur Ordnungsbildung inne.
GFD: Tote Materie kann ordnen? Nein, ohne Gott läuft da gar nichts.
DIU: Da ist nicht nur Ordnung und Harmonie. Die Welt ist auch ein Ort der Grausamkeit. Einer frisst den anderen.
GFD: Aber wenn ich das Leben von Jesus anschaue, das ist Liebe und Barmherzigkeit pur. Er hat uns gezeigt, wie Gott ist.
DIU: Und die Fehler und Sünden der Kirche? Glaube ich wirklich, dass ein Gott, wie ich ihn sehe, das erlauben würde?

So ungefähr klingt der innere Dialog des Zweifelns. Man könnte die Grundaussagen der beiden Parteien so zusammenfassen:

Aussage 1: Es gibt einen Gott, der alles geschaffen hat. Ich bin also ein wertvolles und geliebtes Geschöpf.

Aussage 2: Das Leben hat sich zufällig entwickelt. Der Mensch ist Materie, die sich durch Evolution hoch entwickelt hat und zu Bewusstsein gelangt ist. Es gibt keinen Gott. Es gibt nur die Materie, die den Naturgesetzen folgt.

Hier steht Glaubensaussage gegen Glaubensaussage. Sie kämpfen miteinander. Jede will die Herrschaft in meinem Kopf und in meinem Leben. Viele Menschen zweifeln mit guten Gründen die erste Aussage an, dass es Gott gibt und wir geliebt sind. Schließlich ist Gott, trotz aller intelligenten Versuche, nicht beweisbar.

Warum kann man Gott nicht beweisen?

Immer wieder haben kluge Köpfe versucht, Gott zu beweisen. Immanuel Kant hat vor 200 Jahren diese Gottesbeweise widerlegt, aber gleichzeitig einen weiteren, den sogenannten moralischen Gottesbeweis versucht. Doch auch dieser ist nicht zwingend. In unserer Zeit versucht der amerikanische Kreationismus mit den Instrumentarien der Wissenschaft zu beweisen, dass ein Schöpfergott bei der Schöpfung am Werk gewesen sein muss. Aber auch dieser erneute Versuch ist zum Scheitern verurteilt und wird von fast allen Wissenschaftlern abgelehnt.

Als Theologe muss ich erst recht sagen, dass Gott nicht beweisbar sein kann. Er ist nicht Teil dieser Welt und kann daher nicht mit den Instrumentarien dieser Welt, und sei es die scharfsinnigste Intelligenz eines Wissenschaftlers, erfasst werden. Gott lässt sich nicht festnageln von menschlicher Logik. Wer Gott zu beweisen versucht, überschreitet die engen Grenzen von Wissenschaft. Ein Gott, den man beweisen kann, müsste ein Teil des Systems Welt sein. Dann wäre aber der, den man zu beweisen meint, gar nicht Gott. Ein Gott, den man beweisen kann, ist kein Gott, sondern nur eine menschliche Idee. Dietrich Bonhoeffer, Pfarrer, Theologiegenie, Agent,