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1

Ich habe eine echte Prinzessin getroffen, wirklich wahr.

Ich ganz allein! Auf dem Nachhauseweg von der Schule, und nur weil ich noch nasse Haare hatte. Sonst wäre ich längst zu Oma gegangen.

Mama erzähl ich bestimmt nicht von ihr, das steht schon fest. Sonst sagt sie doch nur wieder: Ach, Emma, du immer mit deinen Prinzessinnen! Oder: Da hat Oma dir vielleicht einen Floh ins Ohr gesetzt mit ihrem Königshäuser-Tick!

Dabei hat Oma mit dieser Prinzessin gar nichts zu tun. Mit dieser nicht. Nur mit den anderen natürlich sehr, mit denen von Schweden und von England und von Monaco. Es ist doch ungerecht, dass all die anderen Länder noch echte Prinzessinnen haben und wir haben keine, das sagt Oma ja immer. Und sie zeigt mir die Prinzessinnenfotos in ihren Zeitschriften, die sind aber nicht so schön. Gar nicht mit Krone und langen, wallenden Kleidern und all den Sachen, die Prinzessinnen haben müssen. Nur wie ganz normale Frauen sehen sie aus, und manche sind sogar schon richtig alt und hässlich und haben komische Hüte auf.

Man kann überhaupt nicht glauben, dass das Prinzessinnen sein sollen, weil Prinzessinnen doch Mädchen sind und jung und schön. Aber Oma sagt, so ist das Leben. Selbst königliches Blut muss altern, und das ist doch wenigstens ein Trost für unsereins.

Für mich ist es aber kein Trost, ich möchte die Prinzessinnen lieber jung und schön. Wie meine Prinzessin. Wie meine richtige, echte Prinzessin.

Aber Oma ist auch mit den alten zufrieden. Weil Königshäuser ihr Hobby sind, und sie weiß alles darüber. Wer wen geheiratet hat, zum Beispiel, und welche Königskinder ihren Eltern nur Kummer bereiten und was man in gewöhnlich wohl informierten Kreisen über Prinzessin Stephanie munkelt. Über Prinzessin Stephanie munkelt man viel. Die ist auch nicht sehr alt.

Mama sagt, sie kann überhaupt nicht verstehen, warum ich Oma immer so fasziniert zuhöre, wenn sie von ihren Prinzessinnen erzählt, und wenn sie mir was erzählen will, über Rechtschreibung zum Beispiel oder über Krötenwanderungen, kann ich keine Sekunde still sitzen. Aber da sieht ja wohl jeder, dass das ein Unterschied ist.

Mama sagt, sie hat diese Königshäuser gehasst. Ihre ganze Kindheit war überschattet von diesen Königshäusern. Manchmal hat sie geglaubt, all diese fremden Prinzen und Prinzessinnen sind Oma wichtiger als ihre eigene Tochter, und das ist doch wohl ungerecht.

Ich habe Oma gefragt, ob das stimmt, und Oma hat gesagt, so ein Unfug. Sie hat nur eben einmal dieses wunderschöne Erlebnis gehabt, dieses wunder-, wunderschöne Erlebnis, und von dem Augenblick an war ihr Leben verwandelt. Das war, als ihr die Königin zugewinkt hat. Eine echte Königin! Oma konnte es zuerst gar nicht glauben. Aber die Königin hat ganz bestimmt sie gemeint, sagt Oma, sie hat sie angeguckt und gelächelt und dann hat sie sogar gewinkt.

»Das war ein Augenblick«, sagt Oma, »so was kommt im Leben nie mehr wieder. Ihre Majestät! Ihre Majestät, die Königin von England, hat mir gewinkt!«

»Erzähl mir das noch mal, Oma«, sag ich dann immer, weil ich die Geschichte so schön finde. Und weil ich ja bis jetzt auch immer geglaubt habe, dass mir so etwas Wunderbares ganz bestimmt nie passiert. Aber da hab ich natürlich meine Rosi noch nicht gekannt.

»Das war, als deine Mutter gerade fünf war«, sagt Oma dann und klopft neben sich aufs Sofa, damit ich mich zu ihr setze. »Dieser wunderbare Staatsbesuch Ihrer Majestät von England mit ihrem Prinzgemahl. Bei strahlendem Sonnenschein. Und ich hab noch gedacht: Soll ich nun hingehen und die Straßen säumen und ein kleines Fähnchen schwenken, damit die Königin sich freut, oder soll ich nicht doch lieber Sülzkotelett kochen. Das weiß ich noch, als ob es heute wäre. Weil Opa schon so lange mal wieder nach Sülzkotelett verlangt hatte, verstehst du. Aber dann hab ich den strahlenden Sonnenschein draußen gesehen, und da hab ich mir gesagt: Königsbesuch ist einmal im Leben, Sülzkotelett ist jeden Tag, und ich hab mir deine Mutter geschnappt und bin losgefahren.«

Und dann ist Oma also mit der U-Bahn zu einer Stelle gefahren, an der die Königin vorbeikommen sollte. Und kaum war Oma da, da ist die Königin auch schon gekommen. Die wirklich echte Königin. In einer wirklich echten Kutsche.

»Und du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein Anblick das war«, sagt Oma dann, und ihre Stimme wird so feierlich wie sonst immer nur zu Weihnachten, wenn sie mir mein Sparbuch zeigt, damit ich sehe, was sie im letzten Jahr wieder für mich angespart hat, und mich ermahnt, mit dem Geld später nicht leichtfertig umzugehen. »So – königlich. Der Hauch der Geschichte hat mich angeweht, da vor mir in dieser Kutsche. So elegant! Und so dezent! Und so schlicht und einfach im Schneiderkostüm und kein bisschen hochmütig! Es war, als hätte sie mich ausgesucht, mich in dieser Riesenmenge, und sie hat mich angelächelt, und dann hat sie die Hand gehoben …«

An dieser Stelle muss Oma dann immer eine Pause machen. Weil sie so gerührt ist, das kann man ja auch verstehen. Es passiert schließlich nicht jeden Tag, dass einem die Königin zuwinkt. Den meisten passiert es niemals im Leben.

Aber mir ist es trotzdem passiert. Und es ist nicht mal eine langweilige dezente alte Königin im schlichten Schneiderkostüm. Bei mir ist es eine richtige Prinzessin. Eine echte Prinzessin, genau wie sie sein soll. Da hab ich doch wirklich Glück gehabt.

2

Es ist am Donnerstag passiert, gleich nach dem Schulschwimmen. Natürlich hatte Mama mir wieder nur zehn Pfennig Föhngeld mitgegeben, das tut sie leider immer nur, und da musste ich mich also entscheiden: Föhn ich mir jetzt die Haare trocken, oder kauf ich mir einen Gummiwurm? Ich hab mich für den Wurm entschieden.

Aber wie ich aus der Schwimmhalle gekommen bin, war natürlich mein Haar noch ganz nass, und darum konnte ich nicht gleich zu Oma gehen. Oma findet nasse Haare ungesund und gefährlich, und darum telefoniert sie dann immer mit Mama und fragt, warum Mama mir denn um Himmels willen wieder kein Föhngeld mitgegeben hat, und dann kommt raus, dass ich mir leider den Wurm kaufen musste.

Darum bin ich lieber noch ein bisschen durch die Gegend getrödelt. Damit die Haare trocken werden konnten, und da hab ich sie also getroffen. Aber natürlich hatte ich keine Ahnung, dass sie eine Prinzessin war, auf so was kommt ja kein Mensch.

Sie hat auf dem Fahrradständer gesessen, gleich neben dem Supermarkt, und einfach vor sich hin geguckt. Die Hände hatte sie im Schoß gefaltet, und ihr Rücken war so ganz gerade, und ich hab gesucht, wo der Sammelteller steht. Weil ich doch natürlich gedacht hab, dass sie ein Zirkusmädchen ist, wie sie so dagesessen hat in ihrem langen rosa Kleid mit der vielen Spitze überall und der kleinen Krone auf dem Kopf. Fasching war ja längst vorbei, da war es doch klar, dass sie sich nicht nur einfach so verkleidet hatte, das wäre ja ziemlich babyhaft. Also hab ich gedacht, dass sie eine Zirkussammlerin ist. Die kommen doch im Winter immer an die Tür und klingeln und zeigen ihren Ausweis und bitten um eine kleine Spende für ihre hungrigen Tiere. Und wenn man aus dem Fenster guckt, kann man draußen einen Esel mit Decke sehen oder ein Lama.

Ein Lama war aber beim Supermarkt nirgends zu sehen, und darüber war ich auch ganz froh. Als wir mit der Klasse im Zoo waren, hat unsere Sachkundelehrerin uns nämlich gewarnt, dass die Lamas spucken und dass wir sie nicht ärgern sollen, aber die Jungs haben das natürlich doch gemacht. Natürlich wieder Rüdiger und Kai und Ali, die haben immer mit so einem Stock durch das Gitter gepikst, und Gott sei Dank hat das Lama gespuckt. Geschieht ihnen recht! Man kann sich überhaupt gar nicht vorstellen, dass so ein kleines Tier so weit spucken kann, und die Spucke war auch ganz grünlich, und bestimmt hat sie schlecht gerochen.

Darum war ich also ganz froh, dass ich vor dem Supermarkt kein Lama entdeckt hab. Sonst wäre ich bestimmt nicht hingegangen. Nur das Mädchen hat da gesessen, ganz gerade und still, und die Leute sind vorbeigegangen, und ein Sammelteller war nirgends zu sehen.

Da bin ich ziemlich dicht rangegangen und hab einfach gewartet. Man kann ein fremdes Mädchen ja nicht einfach so ansprechen, schon gar nicht eins im rosa Kleid und mit Krone auf dem Kopf. Aber Zeit hatte ich ja noch, mein Haar war sowieso noch nass, und Oma hätte mir doch nur erzählt, dass ich jetzt eine Kopfgrippe kriege, und sie hätte mir diesen grässlichen Lindenblütentee gekocht, den man bei ihr immer gegen Erkältung trinken muss.

Ich hab mich also neben das Mädchen gestellt und getan, als ob ich das Plakat mit den Sonderangeboten lese, da hat sie plötzlich ein winziges bisschen gezuckt. Und als ich so unauffällig hingeguckt habe, ist ihr ganz langsam eine Träne über die Backe gekullert. Nur rechts. Ich war total erschrocken.

Sie hat sehr aufrecht gesessen, und ihr Gesicht war kein bisschen weinerlich, aber die Träne ist trotzdem gekullert. Und sie hat so getan, als ob sie gar nichts merkt, nicht die Nase aufgezogen, nicht mal die Hände genommen und über die Augen gerubbelt. Da hab ich es nicht mehr mit ansehen können, und ich hab ein Papiertaschentuch aus dem Brotfach in meinem Ranzen gekramt, das hab ich ihr hingehalten.

In dem Moment ist die zweite Träne gekullert, diesmal links. Aber das Taschentuch hat sie trotzdem nicht genommen.

Und mir hat es richtig das Herz zusammengezogen, weil sie plötzlich so traurig aussah und so einsam und so wunderschön, und ich hab ihr das Tuch richtig in die Hände gedrückt.

»Kannst du wirklich gerne nehmen!«, hab ich gesagt. »Ich hab noch eine ganze Packung.«

Aber sie hat das Tuch einfach von ihrem Schoß gewischt. Einfach so auf den Gehweg! Wo ich nicht mal Bonbonpapier wegschmeißen darf oder Lollistiele. Weil Umweltverschmutzung im Kleinen anfängt, sagt Mama. Wer sich im Kleinen keine Mühe gibt, der tut es auch nicht im Großen. Aber davon hatte das Mädchen wohl nie gehört.

»Wer hat Ihr erlaubt, mich anzusprechen?«, hat sie gesagt.

Ihre Stimme war wirklich sehr schön und sehr langsam, nur böse hat sie geklungen und ein kleines bisschen hochnäsig. »Hatte ich Sie dazu aufgefordert?«

Ich hab mich umgeguckt, ob noch ein Mädchen da war oder eine Frau, aber ich konnte niemanden entdecken. Da hab ich nicht gewusst, von wem sie redet.

»Wen meinst du denn?«, hab ich gefragt. »Hier redet doch keiner!«

Sie hat mich angestarrt, und man konnte genau sehen, dass sie jetzt wirklich böse war.

»Sie!«, hat sie gesagt. »Sie meine ich, Sie, Sie, Sie, dummes Geschöpf!« Da hat es mir aber natürlich gereicht. Ich kann sehr hilfsbereit sein, wenn einer traurig oder in Not ist, weil man das muss. Ein mitfühlend Herze, sagt Oma, ist mehr wert als ein Scheffel Gold. Aber wenn ich einer ein Taschentuch gebe und sie schmeißt es weg, und wenn ich dann trotzdem noch freundlich bleibe und zum Dank sagt sie »dummes Geschöpf«, dann kann auch Oma kein mitfühlend Herze mehr verlangen.

»Selber dummes Geschöpf!«, hab ich gesagt. »Blöde Kuh!« Und ich hab das Taschentuch aufgehoben und es in meine Anoraktasche gesteckt, weil es schließlich nicht da liegen bleiben konnte, und außerdem war es noch ganz gut. Man konnte noch mindestens einmal reinschnäuzen.

Dann hab ich meinen Ranzen wieder aufgesetzt und wollte gehen. Ich hätte natürlich gerne gewusst, warum sie da saß in ihrem komischen Kleid, aber dummes Geschöpf lass ich mich von niemandem nennen. Da ist bei mir Schluss.

Ich war sogar schon halb am Parkplatz, da hab ich plötzlich wieder ihre Stimme gehört. »Halt!«, hat sie gerufen. »Bleibe Sie stehen, sofort! Wer hat Ihr erlaubt, sich davonzumachen?«

Da hab ich endlich begriffen, dass sie mich meint mit ihrem komischen Gerede, und mir ist ganz unheimlich geworden. Sie hat gesprochen wie in alter Zeit! Sie hat gesprochen wie in alter Zeit und wie im Märchen, und eigentlich hat es auch ziemlich echt geklungen. Nicht wie bei einer, die sich nur verkleidet hat und Leute reinlegen will, aber natürlich gibt es auch Kinder, die gute Schauspieler sind. Die sind dann im Fernsehen und im Film und sie sehen ganz echt aus, und sie benehmen sich auch so. Bestimmt war das Mädchen so eine Schauspielerin, und dann war ja natürlich auch schon klar, warum sie da saß. Ich hab mich umgedreht und überall so hingelinst, ob ich die Kamera sehen kann, weil doch irgendwo bestimmt eine versteckt war. So machen sie es doch immer, erst legen sie Leute rein und filmen sie dabei, und dann kommt ein Mann aus einem Auto und fragt: »Verstehen Sie Spaß?« Dann weiß man, dass sie einen reingelegt haben, aber man darf nicht böse werden, weil ja alles gefilmt wird, und nachher sieht man es im Fernsehen. Und die Leute, die eingeschnappt sind, sehen da immer ziemlich blöde aus.

Ich hab also mein freundlichstes Gesicht gemacht, und mit der Hand hab ich mir noch mal schnell durch die Haare gestrichen, damit ich im Programm nachher nicht zu strubbelig aussehe. Leider hatte ich in der Schule nach dem Schwimmen mein Haarband nicht wieder reingemacht.

Dann hab ich mich ganz langsam zu dem Mädchen umgedreht und sie angelächelt, aber ich hab nicht gewusst, was ich sagen soll. Ich hab nur gewartet, dass der Fernsehmann aus seinem Auto steigt; aber ich konnte ihn nirgends entdecken.