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Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin
Prolog - England 1808
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Copyright

Die Autorin

Johanna Lindsey wächst auf Hawaii auf. Sie heiratet nach der Highschool und hat bereits zwei kleine Kinder zu versorgen, als sie sich zum Schreiben gedrängt fühlt. 1976 veröffentlicht sie ihren ersten Roman. In den folgenden zwölf Jahren verfaßt sie 17 weitere, die in über 12 Sprachen übersetzt wurden. Inzwischen hat sie drei Kinder und schreibt jeden Tag 10 bis 16 Stunden an ihren historischen Liebesromanen. Johanna Lindsey lebt mit ihrer Familie auf Hawaii.

Kapitel 1

W ie so viele Städte und Dörfer in Österreich hatte auch Felburg mit seinen Kirchen und seinem Markt, seinen Brunnen und Plätzen ein gewisses Maß an barocker Architektur zu bieten. Doch während Wien den Reisenden überwältigte, verströmte Felburg Ruhe und Frieden. Aus diesem Grund beschloss Sebastian Townshend, dort seine Reise durch die Alpen für eine Nacht zu unterbrechen.

Der Auftrag, den Sebastian gerade erledigt hatte, hatte ihn viel Zeit gekostet und ihn von Frankreich nach Italien, zurück nach Frankreich, dann nach Ungarn und schließlich nach Wien geführt. Er hatte gestohlene Bücher zurückholen sollen, und zwar sehr seltene Folianten, mit denen eine Ehefrau davongelaufen war. Sein augenblicklicher Arbeitgeber wollte aber nicht die Gattin zurück, sondern nur die Bücher, und die hatte Sebastian jetzt im Gepäck. Allerdings hatte die Dame sie nicht freiwillig hergegeben. Er hatte sie stehlen müssen.

Es war eine unangenehme Sache gewesen, doch längst nicht so unschön wie manch anderer Auftrag, den er angenommen hatte, seit er sein Zuhause verlassen hatte. Lange Zeit war ihm alles gleichgültig gewesen. Er hatte keinen Grund, sich über irgendetwas Gedanken zu machen. Vom Vater verstoßen, ohne Verbindung zu seiner Familie und tief im Inneren voller Bitterkeit, die einzugestehen er sich weigerte, wurde Sebastian zu einem Mann, mit dem nicht zu spaßen war. Man muss jedoch einen Grund zum Leben haben, um es schätzen zu können. Und seines schätzte er nicht besonders.

Früher war das anders gewesen. Er hatte alles gehabt: Reichtum, einen Titel, gute Freunde und eine Familie. Ein Leben fast wie im Märchen. Er war groß und muskulös, sah blendend aus und erfreute sich bester Gesundheit. Ihm fehlte es an nichts. Aber das war, bevor er seinen besten Freund bei einem Duell erschoss und sein Vater ihm verbot, je wieder einen Fuß auf englischen Boden zu setzen.

Sebastian war nie zurückgekehrt, hatte geschworen, es niemals zu tun. England, das einmal seine Heimat gewesen war, weckte in ihm nur schmerzhafte Erinnerungen. Mittlerweile war er dreiunddreißig und nun schon seit elf Jahren unterwegs – und so würde es wohl auch weitergehen.

Wäre er nach seiner Heimat gefragt worden, hätte er wohl Europa genannt, doch es gab keinen bestimmten Ort, an dem er sich besonders wohl fühlte. Er hatte jedes Land auf dem Kontinent bereist und war sogar außerhalb Europas gewesen, er sprach alle wichtigen und einige der weniger bekannten Sprachen. Er könnte sich ein hübsches Anwesen leisten, falls er sich niederlassen wollte. Als er aus England wegging, hatte er keinen Shilling, aber die Aufträge, die er annahm, waren lukrativ, und da er nichts hatte, wofür er Geld ausgab, war er recht wohlhabend geworden. Doch der Gedanke an ein »Zuhause« erinnerte ihn zu sehr an sein tatsächliches Heim, daher vermied er es, sich eines zu schaffen. Außerdem blieb er auch nur selten lange an einem Ort. Er schlief in Gasthöfen und Hotels und oft, wenn er einen Auftrag erledigte, sogar einfach auf dem Boden.

Allerdings legte er sich einen Besitz in Nordfrankreich zu, jedoch nur aus praktischem Nutzen. Die baufällige Ruine einer alten Burg konnte man kaum ein Zuhause nennen. Das einzig Intakte war der Kerker, und selbst der bestand aus nackten türlosen Zellen, die wieder herzurichten er sich nie die Mühe gemacht hatte. Hauptsächlich hatte er das heruntergekommene Gebäude gekauft, damit diejenigen, die seine Dienste in Anspruch nehmen wollten, ihn leichter finden oder aber beim Hausverwalter, den er dort beschäftigte, eine Nachricht hinterlassen konnten. Obendrein gefiel es ihm, ein Anwesen zu besitzen, das genauso kaputt war wie sein Leben.

Sebastian war allerdings nicht allein unterwegs. Seltsamerweise hatte damals sein Diener beschlossen, mit ihm ins Exil zu gehen. Es hatte sich herausgestellt, dass John Richards ein Abenteurer war, und seine neue Rolle gefiel ihm augenscheinlich. Er fungierte zwar immer noch als Sebastians Kammerdiener, darüber hinaus jedoch ebenso als Informationsquelle. Sobald sie in einer neuen Stadt ankamen, tauchte John unter, um mit allen wichtigen Informationen über die Gegend und ihre einflussreichsten Bewohner zurückzukehren. John beherrschte sogar noch zwei Sprachen mehr als Sebastian, allerdings konnte er sich nicht flüssig in ihnen verständigen. Für Sebastians Gewerbe war er Gold wert. Außerdem war John ein treuer Freund geworden, obwohl keiner von beiden das jemals zugegeben hätte. John war stolz darauf, an seiner Rolle als Diener, wenn auch der vornehmeren Art, festzuhalten.

Mittlerweile hatte sich ihnen noch eine andere Person angeschlossen, ein vorwitziger zehnjähriger Junge namens Timothy Charles. Er war Engländer, doch in Paris zur Waise geworden, wo sie ihn im letzten Jahr aufgelesen hatten, als Timothy vergeblich versucht hatte, Sebastian zu bestehlen. John hatte Mitleid mit dem Jungen gehabt, weil er ihn an die Heimat erinnerte und weil der Knabe in einer fremden Stadt gestrandet war. Irgendwie waren sie übereingekommen, ihn zu behalten, wenigstens bis sie ein gutes Zuhause für gefunden hatten.

»Entschuldigen Sie, sind Sie der Rabe?«

Sebastian saß gerade im Speisezimmer des Gasthofs, in dem sie die Nacht verbrachten, und genoss ein Glas österreichischen Wein. Der gut gekleidete Mann, der an seinen Tisch getreten war, hatte etwas Steifes an sich. Er war groß und in den besten Jahren. Die beiden Burschen, die hinter ihm standen, wirkten wie Leibwächter. Es lag nicht an ihrer Kleidung, die äußerst schlicht war, und auch nicht an ihrer Statur, denn sie waren eher klein. Es war ihre Wachsamkeit, die Art, wie sie nicht nur Sebastian, sondern den ganzen Raum im Auge behielten.

Sebastian hob eine schwarze Braue und antwortete dem hoch gewachsenen Mann gleichmütig: »Man gibt mir viele Namen. Das ist nur einer davon.«

Er hatte einen gewissen Ruf, ungewollt und alles andere als gezielt erarbeitet, der sich jedoch dennoch, teilweise bestimmt auf Johns Betreiben, verbreitet hatte. Man hielt ihn für einen käuflichen Söldner, der Unmögliches möglich machen konnte. Sebastian war sich nicht sicher, wie er zu dem Namen »Der Rabe« gekommen war – wahrscheinlich weil er mit seinem schwarzen Haar und den goldenen Katzenaugen recht finster wirkte. Es hätte ihn allerdings nicht überrascht, wenn John auch bei der Namensgebung die Finger im Spiel gehabt hätte. Außerdem versäumte John es niemals, seine Kontaktmänner wissen zu lassen, dass der Rabe in der Stadt war, was ihm häufig Aufträge einbrachte, von denen er sonst nie erfahren hätte.

»Sie sind käuflich, nicht wahr?«

»Normalerweise schon – falls man mich bezahlen kann.«

Der Mann nickte. »Ein Mann Ihres Kalibers ist natürlich teuer. Das ist uns bekannt und spielt keine Rolle. Mein Dienstherr ist großzügig und wird Sie mehr als reichlich entlohnen«, versicherte er ihm. »Nehmen Sie an?«

»Was soll ich annehmen? Ich heuere doch nicht blindlings an.«

»Nein, nein, natürlich nicht. Aber die Sache ist ganz leicht und wird Sie nur wenig Zeit und Mühe kosten.«

»Dann brauchen Sie mich ja nicht. Auf Wiedersehen.«

Der Mann war offenbar sprachlos, dass er mit einer solchen Leichtigkeit abgewimmelt wurde. Sebastian stand auf und leerte sein Glas. Er verhandelte nicht gern mit Lakaien, gleichgültig wie steif oder aufgeblasen sie daherkamen. Und er hatte keinerlei Interesse an einem einfachen Auftrag, den jeder erledigen konnte. Er traf allerdings oft reiche Männer, die es sich leisten konnten, ihn anzuwerben, und es nur versuchten, damit sie vor ihren Freunden damit prahlen konnten, den berüchtigten Raben gedungen zu haben.

Sebastian wollte den Tisch verlassen. Da versperrten ihm plötzlich die beiden Aufpasser den Weg. Er lachte ihnen nicht einfach ins Gesicht, denn er lachte überhaupt nicht mehr. Die tiefe Verbitterung, die er sich selbst nicht eingestehen wollte, ließ keinen Raum für Humor. Er war verärgert, dass er gezwungen sein würde, seinem Nein Nachdruck zu verleihen.

Bevor es jedoch zu Handgreiflichkeiten kommen konnte, sagte der Unterhändler: »Ich muss darauf bestehen, dass Sie es sich durch den Kopf gehen lassen. Der Herzog erwartet, dass wir Sie verpflichten. Er darf nicht enttäuscht werden.«

Sebastian lachte immer noch nicht, obwohl ihm diesmal tatsächlich ein klein wenig danach war. Er brauchte nur einen Augenblick, um mit den beiden Kerlen fertig zu werden, die geglaubt hatten, sie könnten ihn aufhalten. Er packte sie und knallte ihre Köpfe zusammen. Als sie ihm vor die Füße fielen, schaute er sich nach dem Unterhändler um.

»Sonst noch was?«

Der Mann sah auf seine zu Boden gegangenen Begleiter. Er wirkte indigniert. Sebastian konnte es ihm nicht verdenken. Gute Männer waren schwer zu bekommen.

Der Unterhändler seufzte, bevor er sich wieder Sebastian zuwandte. »Sie haben sich klar ausgedrückt, mein Herr. Und ich möchte mich entschuldigen. Ich habe untertrieben. Die Angelegenheit sieht zwar oberflächlich betrachtet einfach aus, ist es aber ganz und gar nicht. Andere haben sich bereits an die Aufgabe gewagt, und alle sind gescheitert. Fünf Jahre nichts als Misserfolge. Habe ich Sie jetzt neugierig gemacht?«

»Nein, doch Sie haben ein paar Minuten meiner Zeit gewonnen«, entgegnete Sebastian und setzte sich wieder an den Tisch. Mit einer Handbewegung bedeutete er dem Unterhändler, auf dem anderen Stuhl Platz zu nehmen. »Machen Sie es kurz, aber schildern Sie die Angelegenheit diesmal richtig.«

Der Mann ließ sich Sebastian gegenüber nieder und räusperte sich. »Ich arbeite für Leopold Baum. Das hier ist seine Stadt, falls Sie es noch nicht gemerkt haben. Sie wissen sicher, dass sich Männer vom Format des Herzogs ziemlich schnell Feinde machen. Das ist nicht zu vermeiden. Und eine ganz spezielle Gegnerin ist seine eigene Frau.«

»War sie schon gegen ihn, als er sie heiratete?«

»Nein, aber es hat nicht sehr lange gedauert.«

Sebastian runzelte die Stirn. »Ist es so schwer, mit ihm auszukommen?«

»Nein, nein, bestimmt nicht«, versicherte der Mann in Verteidigung seines Arbeitgebers. »Ihr allerdings erschien es wohl so. Nun zu den Fakten. Vor fünf Jahren wurde sie entführt, zumindest sah es danach aus. Ein Lösegeld wurde gefordert und auch bezahlt, aber die Herzogin kehrte nicht zurück. Man nahm an, sie sei ermordet worden. Der Herzog war natürlich außer sich. Eine ausgiebige Suche wurde begonnen, doch es gab keine Spuren, denen man hätte folgen können.«

»Lassen Sie mich raten«, erwiderte Sebastian trocken. »Sie hat sich die Entführung einfallen lassen, um genügend Geld zu erbeuten, mit dem sie sich ein schönes Leben leisten kann?«

Der Unterhändler errötete. »Es scheint so. Mehrere Monate, nachdem das Lösegeld gezahlt worden war, sah man sie in großem Stil durch Europa reisen. Man setzte Männer auf sie an. Hinweise auf sie wurden noch gefunden, sie selbst aber nie.«

»Also, was genau will der Herzog? Seine Frau, sein Geld oder beides?«

»Geld spielt keine Rolle.« »Wenn dem so ist, warum hat man dann nicht mehr ausgegeben, um sie aufzuspüren? Hört sich an, als wollte er sie gar nicht wiederhaben.«

»Unter uns gesagt, mein Herr, mir kommt es auch so vor«, vertraute der Unterhändler ihm an. »Wäre sie meine Frau, dann hätte ich mir größere Mühe gegeben, vor allem, wenn ich noch einen Erben produzieren müsste.«

Sebastian lehnte sich zurück. Er war etwas überrascht, doch sein Gesicht blieb ausdruckslos, und er wartete darauf, dass der Mann seine Aussage näher erläuterte. Der Unterhändler wirkte nach seinem Geständnis etwas nervös.

»Das soll nicht heißen, dass man bei der Suche nicht schon große Anstrengungen unternommen hätte«, meinte er nun nachdrücklich. »Aber der Herzog ist ein viel beschäftigter Mann. Er hat in den vergangenen Jahren nicht jeden Augenblick seines Lebens aktiv an der Verfolgung dieser Sache arbeiten können. Jetzt allerdings ist er ganz versessen darauf, seine Gattin zu finden, denn er will sich scheiden lassen, um wieder heiraten zu können.«

»Ah, darum geht es also.«

Der Unterhändler wurde rot und nickte so leicht, dass es kaum zu sehen war. Nun war seine Nervosität verständlich. Der Mann plauderte Sachen aus, die sein Arbeitgeber wohl lieber für sich behalten hätte.

»Als er erfuhr, dass Sie in der Stadt sind, schöpfte er wieder Hoffnung. Der Ruf ist Ihnen vorausgeeilt, dass Ihnen alles gelingt, gleichgültig, wie schwierig die Angelegenheit sein mag. Der Herzog ist sehr zuversichtlich, dass Sie seine Frau finden und nach Hause bringen können.«

»Falls ich den Auftrag annehme.«

»Aber das müssen Sie!«, begann der Unterhändler, lenkte dann jedoch ein: »Oder erscheint selbst Ihnen die Aufgabe zu schwierig?«

Den Köder schluckte Sebastian nicht. »Ich mag Aufträge nicht besonders, die mit Frauen zu tun haben. Außerdem bin ich mit meiner letzten Mission noch nicht fertig. Ich muss nach Frankreich, um sie abzuschließen.«

»Das dürfte kein Problem sein«, versicherte der Unterhändler einigermaßen erleichtert. »Unser Anliegen führt Sie in dieselbe Richtung. Ein kleiner Umweg wäre durchaus akzeptabel.«

»Soll das heißen, die Herzogin ist in Frankreich gesehen worden?«

»Die Spur führte dorthin, aber sie endete nicht da. Der Arm des Herzogs reicht weit. Das Hauptziel ihrer Flucht ist wohl, zwischen sich und Österreich so viel Abstand wie möglich zu bringen.«

»Sie wollte also nach Amerika?«

»Nein – zumindest hoffen wir das inständig. Außerdem hatte sich eine Frau, auf die ihre Beschreibung passt, nach Portsmouth eingeschifft. Im letzten Hinweis, den wir bekamen, hieß es, dass sie von dort noch weitergesegelt sei, jedoch lediglich die englische Küste hinauf. Es hätte auch ein Schiff nach Nordamerika gegeben, aber da sie das nicht genommen hat, glauben wir, dass sie unter einem falschen Namen in England lebt. Mehr wissen wir nicht. Alle Männer, die wir später noch auf sie ansetzten, kamen nie zurück.« Dann flüsterte der Diener vertrauensvoll: »Ich vermute ja, dass sie Angst hatten, dem Herzog unter die Augen zu treten, wenn sie keine Ergebnisse liefern können.«

Nun hatte Sebastian genug gehört und erhob sich. »Es tut mir Leid, ich muss jedoch ablehnen«, sagte er wesentlich kühler als zuvor. »England ist ein Land, das ich nie wieder betreten werde. Guten Tag.«

Er hatte erwartet, der Unterhändler würde versuchen, ihn aufzuhalten. Aber wahrscheinlich war ihm klar geworden, dass es sowieso nichts nützen würde. Umso besser. Aufträge, bei denen man es mit Frauen zu tun bekam, waren immer besonders schwierig. Bisher hatten die betroffenen Frauen noch jedes Mal versucht, ihn zu verführen.

John hingegen fand solche Aufgaben ausgesprochen lustig. Er behauptete immer, Sebastian sei viel zu attraktiv für einen Söldner. Sebastian glaubte allerdings, es läge an seinem Ruf. Die finstere Aura des Raben und seine Gleichgültigkeit Frauen gegenüber führten zu dem Problem. Für ihn kam die Arbeit immer vor dem Vergnügen. Aber die Frauen sahen das anders. Sie waren so fasziniert von ihm, dass sie mit dem näheren Kennenlernen nicht warten wollten, bis der Auftrag erledigt war. Und das machte die Angelegenheit überaus diffizil.

Er war äußerst pflichtbewusst, weshalb er in seinem selbst gewählten Metier wahrscheinlich auch so gut war. Alles, was ihn davon ablenkte, seine Aufgabe zu erfüllen, musste vermieden werden. Und eine Frau, die ihn verführen wollte, war eine große Ablenkung. Seine Nationalität mochte er abgelegt haben, nicht jedoch seine Männlichkeit. Daher war es ganz gut, dass er den Auftrag des Herzogs nicht annehmen konnte.

Kapitel 2

Sein Kopf tat weh. Das war das Erste, was Sebastian auffiel, als er erwachte. Die zweite und weitaus beunruhigendere Entdeckung war, dass seine Umgebung sich verändert hatte. Er befand sich nicht mehr in dem gemütlichen Gastzimmer, in dem er sich letzte Nacht schlafen gelegt hatte, sondern in einem dunklen, muffigen Kerker. Er war in einer Zelle. Der Schein einer Fackel fiel durch das kleine vergitterte Fenster in der Holztür auf den fest getretenen Erdboden und beleuchtete außer einem sauberen Nachttopf in der Ecke auch das geschäftige Treiben von Ungeziefer, das aus den Rissen in der Wand kroch.

Es war ein stickiges mittelalterliches Verlies, doch es befand sich in besserem Zustand als sein eigenes, was darauf hindeutete, dass es oft benutzt wurde. Im Gefängnis war er schon öfter gewesen, allerdings in modernen, nie in einem echten Kerker. Die alte Festung auf dem Hügel über Felburg war unübersehbar, und nun wusste Sebastian genau, wo er war.

»Verdammt.«

Er hatte nur gestöhnt, aber in der absoluten Stille, die an diesem Ort herrschte, hatte es sich mehr wie ein lautes Fluchen angehört, auf das prompt eine Antwort kam. »Sind Sie das, Sir?«, rief John, ohne dass Sebastian genau feststellen konnte, wo sein Diener sich befand.

Sebastian ging zur Tür, und noch bevor er etwas erwidern konnte, hörte er Timothys ängstliche Stimme von links. »Rabe, mir gefällt’s hier nicht. Überhaupt nicht. Können wir jetzt verschwinden?«

Der Junge auch? Das ging zu weit! Er wusste, warum er eingesperrt war. Es war nicht das erste Mal, dass jemand seine Dienste erzwingen wollte. Erst vor kurzem war er aus dem gleichen Grund in eine Zelle gesteckt worden. Halunken dachten eben ähnlich.

»Timothy, haben sie dir wehgetan?«

»Nein, jedenfalls nicht sehr«, antwortete der Junge, der nun versuchte, tapfer zu wirken. »Sie haben mir etwas in den Mund gestopft, mich gefesselt und hergetragen. Ich hab’ die ganze Nacht wach gelegen.«

»Wie steht’s mit dir, John?«, fragte Sebastian.

»Hab ’ne kleine Beule am Kopf, Sir«, entgegnete John, dessen Stimme aus der Zelle rechts kam. »Es ist nichts.«

Das war nicht nichts! Dass er angegriffen wurde, machte ihm nichts aus, aber wenn man sich an seinen Leuten vergriff, um an ihn heranzukommen …

Sebastian geriet selten in Wut, doch diesmal war es so weit. Er ging einen Schritt zurück, hob den Fuß und trat mit aller Kraft gegen die Tür. Sie gab nicht einmal ein kleines Bisschen nach. Offenbar war sie nicht so alt wie die Mauer, in die sie eingelassen war.

Dann untersuchte er den Raum genauer. Ein kleiner Waschstand, darauf ein Zinnkrug mit Wasser und eine Schüssel; auf dem einzigen Regalbrett ein zusammengefaltetes Handtuch. Das Wasser war frisch, das Bettzeug auf der schmalen Liege sauber und aus feinem Leinen. Das Essen auf dem Teller, der unter der Tür durchgeschoben worden war, schien sogar appetitlich gewesen zu sein, bevor das Ungeziefer sich darüber hergemacht hatte: Eier, Würstchen, Brot mit Butter, die jedoch mittlerweile geschmolzen war, und Gebäck.

Man hatte also nicht die Absicht, ihn auszuhungern, sondern wollte ihn nur festhalten. So wie es aussah, war er ein unfreiwilliger Gast. Doch für wie lange? Bis er sich darauf einließ, die vermisste Herzogin zu finden? Als ob er nicht in dem Moment, in dem er aus diesem Kerker heraus war, verschwinden würde – Versprechen hin oder her.

Der Kerl, der ihre nächste Mahlzeit brachte, war stumm oder tat zumindest so. Er sagte kein Wort und beantwortete keine einzige Frage. Der lange Tag zog sich schleppend dahin. Sebastian wollte nicht aus der Übung kommen und trainierte seine Muskeln, wobei er sich vorstellte, wie er Leopold Baum erwürgte. John und Timothy vertrieben sich währenddessen die Zeit mit Ratespielen. Da ihre Zellen aber weit voneinander entfernt lagen, waren sie bald heiser.

Das Abendessen wurde gebracht, und es gab immer noch keine Nachricht von ihrem Gastgeber. Diesmal bestand die verführerische Mahlzeit aus Knödeln und gebratenen Kalbskoteletts in einer cremigen Käsesauce, alles sehr gehaltvoll und damit typisch für die österreichische Küche. Dazu gab es eine Art Kuchen und eine Flasche guten Wein. Den Nachtisch überließ Sebastian den Käfern, den Wein nahm er mit ins Bett.

Der folgende Tag verlief wie der erste, ebenso der übernächste. Sebastian sollte wohl einen Vorgeschmack davon bekommen, was ihn erwartete, wenn er den Vorstellungen des Herzogs nicht zustimmte. Glaubte der Mann im Ernst, er könne ihn zur Zusammenarbeit zwingen?

Leopold Baum kam früh am fünften Morgen ihrer Gefangenschaft. Er ging kein Risiko ein und schickte vier große, starke Wachen vor. Sie betraten Sebastians Zelle mit gezückten Pistolen. Einer band Sebastian die Hände hinter dem Rücken zusammen, während die anderen drei ihre Waffen auf ihn richteten. Mit den Wächtern in allen vier Ecken wurde es ziemlich eng in der schmalen Zelle.

Am Herzog überraschte nur das Alter. Sebastian hatte einen jüngeren Mann erwartet, doch der Herzog ging schon auf die fünfzig zu. Er hatte dunkelblondes Haar, das nach der herrschenden Mode kurz geschnitten war. Sebastian trug sein Haar lang und meist zurückgebunden, aber nur, weil John einen lausigen Barbier abgab und sie zu viel unterwegs waren, um im Gegensatz zum Herzog regelmäßig zu einem guten Frisör zu gehen.

Wachsame blaue Augen, anscheinend sehr intelligent. Hoch gewachsen, allerdings nicht ganz einsachtzig groß, die Statur eher stämmig, mit einer Neigung zum Bauchansatz. Die Wangen begannen zu sacken, was jedoch unter dem vollen, kurz geschnittenen, blonden Bart kaum auffiel. Er hielt sich immer noch sehr gerade. Leopold Baum war ein bedeutender und einflussreicher Mann.

Sebastian vermutete, dass der Herzog gerade von einem Ausritt kam oder aber an dem Morgen noch ausreiten wollte, denn er trug eine jadegrüne Jacke sowie lederfarbene Reithosen und hielt eine Peitsche in der Hand, mit der er gegen seine schwarz glänzenden kniehohen Stiefel klopfte.

Leopold Baum schaute Sebastian freundlich an, als sei dieser tatsächlich ein Gast und nicht ein Gefangener in einer Zelle, auf den vier Pistolen zielten. »Sind Sie mit Ihrer Unterkunft zufrieden?«

Sebastian zuckte nicht mit der Wimper. »Der Boden könnte ein paar Bretter gebrauchen, aber ansonsten habe ich den Ausflug genossen.«

Leopold schmunzelte. »Wunderbar. Schade, dass wir uns nicht eher einigen konnten, aber ich vermute, Sie wollen nun schnell wieder an die Arbeit?«

»Da liegen Sie falsch.«

Leopolds Lächeln trübte sich nicht. Offenbar war er davon überzeugt, die Oberhand zu behalten. Sebastian wusste nicht, wie er zu dieser Annahme kam. Wenn er eingesperrt blieb, würde der Auftrag nicht erledigt werden, und wenn man ihn gehen ließ, auch nicht.

»Es verstößt gegen das Gesetz, mich hier festzuhalten, nur weil ich mich weigere, für Sie zu arbeiten«, betonte er.

»Aber deswegen sind Sie doch gar nicht hier«, entgegnete Leopold freundlich. »Ich kann Ihnen eine ganze Reihe von Verbrechen zur Last legen. Selbst eine Hinrichtung wäre denkbar, obwohl ich annehme, dass nicht einmal diese Aussicht Sie umstimmen würde. Allerdings wollen wir jetzt nicht melodramatisch sein. Sie sind mein Gast gewesen …«

»Gefangener«, fiel Sebastian ihm ins Wort.

»Gast«, beharrte Leopold. »Falls Sie ein Gefangener wären, wäre Ihre Unterkunft nicht halb so angenehm, das kann ich Ihnen versichern. Vielleicht bin ich jedoch zu früh gekommen. Soll ich nächste Woche noch einmal vorbeischauen, um herauszufinden, ob Ihnen dieser ›Ausflug‹ zu lang dauert?«

Sebastian hob eine Augenbraue. »Und kommen Sie auch in der übernächsten Woche und in der Woche darauf? So werden Sie Ihre Gattin aber kaum finden, oder?«

Leopold schien überrascht. »Derart halsstarrig könnten Sie sein? Warum nur?«

»Ich habe es Ihrem Unterhändler schon gesagt. Ich kann diesen Auftrag nicht annehmen, weil er mich nach England führen würde. Ich habe geschworen, niemals dorthin zurückzukehren. Und diesen Eid werde ich für Geld nicht brechen.«

»Warum haben Sie den Schwur geleistet?«

»Das, mein Herr, geht Sie nichts an.«

»Ich verstehe«, sagte Leopold nachdenklich. »Dann muss ich wohl an Ihr Mitgefühl appellieren.«

»Geben Sie sich keine Mühe«, antwortete Sebastian. »In meinem Gewerbe kann man sich einen solchen Luxus nicht leisten.«

Leopold lachte. »Natürlich nicht – jedenfalls nicht nach außen hin. Aber hören Sie mich erst einmal an, danach sehen wir weiter.«

Der Herzog begann auf und ab zu gehen, um seine Gedanken zu sammeln. Doch auf derart beengtem Raum, der noch dazu zum großen Teil von den vier stämmigen Wärtern ausgefüllt wurde, gab er es bald auf und stand wieder still. Sebastian fragte sich, ob das, was er zu hören bekommen würde, die Wahrheit war oder lediglich ein Märchen, das sein so genanntes Mitleid wecken sollte.

»Ich habe meine Frau aus Zuneigung geheiratet. Es war allerdings, wie wir beide bald herausfanden, eine unglückliche Verbindung. Sie hätte die Scheidung haben können. Sie hätte bloß danach zu fragen brauchen. Aber sie lief lieber fort und tat, als sei sie entführt worden, nur damit sie die Mittel bekam, ein angenehmes Leben führen zu können.«

»Das weiß ich bereits …«

»Sie wissen gar nichts!«, Leopold unterbrach ihn etwas heftiger, als er es wohl beabsichtigt hatte.

In diesem kurzen Augenblick zeigte sich sein wirklicher Charakter: Er war ein aufbrausender Tyrann, ein Mann, der sich für allmächtig hielt und damit ein sehr gefährlicher Gegner. Möglicherweise musste Sebastian seine Lage überdenken.

»Warum haben Sie nicht die englischen Behörden gebeten, Ihnen bei der Suche behilflich zu sein? Es gibt Abteilungen, die in solchen Dingen recht gut sind. Das wäre die beste Vorgehensweise.«

»Ich bin ein österreichischer Herzog«, sagte Leopold in herablassendem, leicht verärgertem Ton. »Ich kann mich nicht in eine Lage bringen, in der ich einer fremden Regierung etwas schulde. Ich habe ihr Häscher nachgeschickt, und zwar unzählige. Das hätte eigentlich reichen sollen.«

Sebastian unterdrückte ein Schnauben. »Wann haben Sie denn den letzten engagiert?«

Leopold runzelte die Stirn, seine Augen wanderten unruhig hin und her, als würde er nach einer Antwort suchen, und so war es auch. Er konnte sich tatsächlich nicht mehr erinnern.

»Letztes Jahr – nein, vorletztes Jahr«, antwortete er schließlich.

Sebastian schüttelte den Kopf, konnte jedoch einen verächtlichen Blick nicht vermeiden. »Was soll ich eigentlich hier? Es liegt doch auf der Hand, dass Sie sie gar nicht wirklich wiederhaben wollen.«

Leopold erstarrte. »Ich hatte aufgegeben!«, verteidigte er sich. »Ich wollte sie für tot erklären lassen. Aber meine liebste Maria will mich nicht heiraten, wenn ich nicht entweder den Tod meiner ersten Gattin beweise oder mich scheiden lasse. Sie fürchtet, sie könne mir Erben gebären, die zu Bastarden erklärt würden, falls meine Frau je wieder auftauchen sollte.«

Schlaues Mädchen, dachte Sebastian insgeheim, korrigierte sich dann aber hastig selbst; ganz so klug konnte sie nicht sein, wenn sie diesen Kerl heiraten wollte. Andererseits war es allerdings immerhin möglich, dass der Herzog sich bei seiner »Liebsten« völlig anders verhielt.

Leopold fuhr fort: »Wenn ich gewusst hätte, dass es Männer wie Sie gibt, hätte ich die Angelegenheit schon längst geregelt. Ihr Besuch in meiner Stadt hat mir neue Hoffnung gegeben. Angeblich haben Sie bisher noch jeden Auftrag erfolgreich zu Ende gebracht. Eine so glänzende Bilanz verlangt geradezu nach einer Herausforderung wie dieser, stimmen Sie mir da nicht zu? Oder basiert Ihr Ruf doch auf eher einfachen Aufgaben, die jeder hätte erledigen können?«

»Sparen Sie sich das«, entgegnete Sebastian, »man kann mich nicht beleidigen. Meine Antwort haben Sie bereits, aus dem genannten Grund. Es kommt nicht darauf an, ob ich Ihnen helfen will oder nicht. Der Aufenthaltsort Ihrer Gattin ist der entscheidende Faktor.«

»Dann lassen Sie mich ein neues entscheidendes Argument ins Spiel bringen«, sagte Leopold kühl und schaute den Wärter an, der am nächsten bei der Tür stand. »Töte den anderen Mann – nein, warte. Er könnte dem Raben bei der Arbeit nützlich sein. Erschieß den Jungen.«

Sebastian erstarrte. Bedauerlicherweise hatte er nicht den leisesten Zweifel, dass Timothy in wenigen Augenblicken sterben würde, wenn er sich dem Willen des Herzogs nicht beugte. Mord und Totschlag bedeuteten einem Despoten wie diesem nichts, gehörten zum Geschäft. Sebastian hatte bereits andere Männer dieser Sorte kennen gelernt, sonst hätte er die Anweisung des Herzogs vielleicht für einen Bluff gehalten. Doch dieser Mann meinte es ernst.

Sebastian unterdrückte seine Gefühle und sagte tonlos: »Sie haben sich klar ausgedrückt. Lassen Sie den Jungen in Ruhe.«

Leopold nickte und rief die Wache zurück. Höchst zufrieden mit seinem Sieg lächelte er vor sich hin. Glaubte der Herzog wirklich, Sebastian würde sich an eine erzwungene Übereinkunft halten?

»Jetzt bin ich aber neugierig«, sagte Leopold. Da er glaubte, die Einwilligung des Raben bekommen zu haben, war sein Ton wieder freundlich. »Der Junge ist nicht mit Ihnen verwandt, zumindest sagt man mir, es gäbe keine Ähnlichkeit. Warum sollten Sie für ihn Ihren Eid brechen?«

»Ich habe die Verantwortung für ihn übernommen, bis wir ein gutes Zuhause für ihn finden. Er ist eine Waise.«

»Sehr löblich«, bemerkte Leopold. »Nun, da wir zu einer friedvollen Einigung gekommen sind, benötigen Sie das hier vielleicht.« Er zog ein Miniaturporträt aus der Tasche und warf es auf das Lager neben Sebastian. »Ihren Namen kann sie ändern, aber ihr Aussehen nicht.«

Darüber konnte man streiten, doch Sebastian sagte nur: »Ich brauche mehr als das. Wie war sie?«

»Leidenschaftlich …«

Sebastian wurde deutlicher. »Nicht im Kontakt mit Ihnen, sondern anderen gegenüber.«

»Sie war in jeder Beziehung leidenschaftlich«, beharrte der Mann. »Eitel, gierig, herablassend, verwöhnt. Sie stammte aus reichem Hause.«

»Warum ging sie dann nicht dorthin zurück, anstatt fortzulaufen?«

»Man hatte ihr verboten, mich zu heiraten«, gab der Herzog zu und errötete leicht. »Die Familie brach jeden Kontakt mit ihr ab, als sie es trotzdem tat, und betrachtete sie nicht mehr als eine der ihren.«

Das kam Sebastian bekannt vor. Wäre er vorher noch nicht auf der Seite der Frau gewesen, dann war er es jetzt.

»Meine nächste Frage ist wichtig«, sagte er. »Glauben Sie, dass die Männer umgebracht wurden, die Sie nach England schickten, oder hatten die Häscher nur Angst, mit leeren Händen zurückzukehren? Hatten Sie ihnen gedroht, falls sie keinen Erfolg haben sollten?«

Der Herzog wurde rot vor Zorn, machte jedoch bei seiner Antwort eine verächtliche Handbewegung. »Mag sein, aber das tut nichts zur Sache.«

»Da bin ich anderer Ansicht. Ich muss wissen, ob ich besondere Vorsichtsmaßnahmen treffen muss.«

»Das muss ein Mann in Ihrem Gewerbe doch wohl immer, oder etwa nicht?«

In dem Punkt gab Sebastian ihm Recht. Und er hatte auch genug gefragt für einen Auftrag, den auszuführen er nicht beabsichtigte. »Morgen Früh reisen wir ab«, sagte er schließlich.

»Sehr gut«, antwortete Leopold und schaute seine Wachen an. »Bringt den Raben und seinen Diener zu ihrem Gasthof zurück.« Dann wandte er sich wieder Sebastian zu und fuhr fort: »Der Junge bleibt natürlich hier.«

Sebastians Miene war regungslos. »Nein.«

»Oh doch. Nicht hier im Kerker. Das ist nicht nötig. Aber ich werde ihn auf jeden Fall behalten. Sie haben hoffentlich nicht geglaubt, dass ich Sie ohne ›Absicherung‹ gehen lassen würde? Sie erhalten den Jungen, wenn Sie mir meine Frau bringen. Dann bekommen Sie auch Ihren Lohn.«

Verdammt! Auch Sebastian hätte den Jungen nicht freigelassen, aber er hatte den Herzog nicht für derart gerissen gehalten.

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, versicherte Leopold. »Ich werde ihn bei den Damen in der Burg unterbringen. Die werden ihn nach Herzenslust verwöhnen, vielleicht sogar so sehr, dass er gar nicht mehr fort will. Augenblicklich habe ich keinen Grund, dem Jungen etwas anzutun. Liefern Sie mir besser keinen.«

Deutlicher hätte Leopold nicht werden können. Er lächelte sogar noch ein letztes Mal, bevor er sich umdrehte, um die Zelle zu verlassen. In der Tür blieb er allerdings erneut stehen. Ein Wächter war gerade dabei, Sebastian loszubinden.

Der Herzog schaute zurück und fragte neugierig: »Warum ›Der Rabe‹? Warum nicht ›Der Panter‹? Oder ›Der Tiger‹? Schließlich haben Sie Katzenaugen.«

Sebastian blickte ihn durchdringend an, seine Stimme klang völlig ausdruckslos: »Es sind die Augen eines Mörders.« Er wartete, bis die letzte Fessel fiel. »Das hätten Ihnen auffallen müssen«, fügte er hinzu, bevor er mit einem Satz den Raum durchquerte und Leopold so packte, dass es nur einer kleinen Bewegung bedurfte, ihm das Genick zu brechen.

Die Wachen reagierten schnell. Sie zogen ihre Waffen, zögerten aber, in Richtung ihres Herrn zu feuern. Diesen Moment nutzte Sebastian aus, um Leopold als Schutzschild vor sich zu schieben.

»Fallen lassen«, kommandierte er und fixierte jeden Wächter einzeln, »oder ich drehe ihm auf der Stelle den Hals um.«

Sie zauderten, wollten ihren Vorteil nicht aufgeben.

»Tut, was er sagt!«, knurrte der Herzog wütend.

Fast gleichzeitig fielen die Pistolen auf den harten Boden. Eine ging dabei los. Die Kugel prallte mehrere Male von den Wänden ab, bis sie schließlich das Bein eines Wärters traf. Der Mann schrie auf, wohl eher vor Überraschung als vor Schmerz, und sackte in sich zusammen. So wie es aussah, war die Wunde nicht gefährlich. Die Kugel hatte keine Arterie verletzt. Trotzdem beugte ein anderer Wächter sich zu dem Verletzten hinunter.

»Binde die Wunde ab«, riet Sebastian dem Mann, der neben seinem Freund kniete. »Nimm das Seil, das du für mich gebraucht hast. Ihr anderen zieht eure Hemden aus und reißt sie in Streifen, und zwar schnell. Dann fesselt ihr euch gegenseitig. Die Knoten werde ich kontrollieren. Wenn auch nur einer zu lose ist, erschieße ich euch alle, anstatt euch hier zu lassen.«

Zehn Minuten später hielt der letzte Wächter, der noch gefesselt werden musste, Leopold die Hände und einen der Stofffetzen hin. Sonst war niemand mehr übrig, der ihn hätte versorgen können. Sebastian lockerte den Griff um den Hals des Herzogs. Es dauerte eine Weile, bis dieser sich überwinden konnte, aber dann band er dem Mann die Hände zusammen.

Nachdem das erledigt war, wandte Sebastian sich dem Tyrannen zu: »Ihnen erlaube ich zu wählen. Ich kann Ihren Kopf gegen die Wand schlagen, damit Sie eine Weile außer Gefecht sind, Sie wie die anderen fesseln, oder ich könnte Ihnen einfach das Genick brechen, um sicherzugehen, dass ich Sie niemals wieder sehen muss. Wie hätten Sie’s denn gern?«

»Sie werden hier niemals lebendig rauskommen«, fauchte der Herzog.

»Na gut, dann treffe ich die Entscheidung.« Sebastian bewegte sich auf die Wand zu.

»Nein!«, schrie der Herzog.

Sebastian wollte dem Mann keinen Grund liefern, ihn weiter zu verfolgen. Deshalb zerrte er ihn nur zum Bett, zwang ihn, sich mit dem Gesicht nach unten darauf zu legen, und band ihm mit den Resten der zerrissenen Hemden die Handgelenke zusammen.

»Es gibt in Wien einen Mann aus meiner Branche, der gerade Arbeit sucht. Der Kerl ist mir gelegentlich über den Weg gelaufen. Colbridge ist sein Name. Weiter reicht mein ›Mitgefühl‹ nicht, und selbst das ist mehr, als Sie verdienen.«

Bevor Sebastian die Zelle verließ und verschloss, kontrollierte er alle Fesseln. Beinahe hätte er laut aufgelacht, als er beim letzten Wärter, den der Herzog verschnürt hatte, die Knoten lose vorfand. Anschließend befreite er John und Timothy aus ihrem Gefängnis.

»Haben Sie ihn umgebracht?«, fragte John, als sie aus dem Kerker eilten und eine Wache oben an der Steintreppe bewusstlos schlugen.

»Nein«, entgegnete Sebastian, während er sich die eben benutzte Faust rieb. »Obwohl ich es besser hätte tun sollen, nur um vielen Menschen eine Menge Ärger zu ersparen.«

»Sie glauben also nicht, dass er versuchen wird, uns wieder einzufangen?«

»Nein, ich bin nicht der einzige Mann für solche Aufgaben. Das weiß er jetzt. Ich habe ihm nämlich von Colbridge erzählt, diesem unfähigen Kerl in Wien, dem es nicht schwer fallen wird zu versagen. Baum war bloß deswegen so versessen darauf, mich anzuheuern, weil ich gerade vor Ort war und sofort mit der Arbeit hätte anfangen können – wenn ich es denn gewollt hätte. Ich hoffe wirklich, seine Frau lässt sich nie von ihm erwischen. Ich habe das Gefühl, er würde sie eher umbringen, als sich mit einer lästigen Scheidung aufzuhalten.«

Kapitel 3

Eine Küche war kein schlechter Ort zum Wohnen. Dort roch es gut – jedenfalls meistens –, und es war so warm, dass man die Kälte, die von dem alten Gemäuer ausging, nicht spürte. Tief im Herzen der alten Burgruine gelegen, war die Küche der einzige Raum, den Sebastian schön hergerichtet hatte. Der alte Waffensaal auf der östlichen Seite der Ruine war zwar in drei Schlafräume aufgeteilt worden, diese waren jedoch nur lieblos und karg möbliert.

Die beiden Männer und der Junge waren schon seit fast einer Woche zurück in Frankreich. Madame LeCarré, die Mutter des Bauern, der unten an der Straße wohnte, kam jeden Tag, um für sie zu kochen. Außer dem alten Maurice, dem Verwalter, der in dem letzten intakten Wachturm lebte, der sich noch in die bröckelnden Außenmauern fügte, hatte Sebastian keine Diener. Vor einigen Jahren hatten sie versucht, eine Magd einzustellen, die ihre Zimmer sauber halten sollte, aber keine hielt es länger als ein oder zwei Wochen bei ihnen aus. Die Frauen der Gegend hatte einfach eine Abneigung dagegen, in einem Trümmerhaufen zu arbeiten.

Seit ihrer Rückkehr verbrachte John die meiste Zeit im Gewächshaus. Er hatte es selbst gebaut. Wie üblich waren die Blumen in seiner Abwesenheit vertrocknet. Maurice weigerte sich, für die Pflanzen zu sorgen, während John fort war, und musste bestochen werden, damit er im Winter wenigstens die Öfen befeuerte, sodass die Blumen nicht allesamt starben. Viele gingen ja sowieso aus Mangel an Pflege ein.

Seit Timothy bei ihnen war, hatte er die Aufgabe übernommen, sich um die Pferde zu kümmern, die in der ehemaligen Empfangshalle untergebracht waren. Ein kleiner Teil war noch notdürftig überdacht, was ausreichte, um die Pferde vor Schnee und Regen zu schützen. Timothy mochte die Ruine nicht und war immer ein wenig traurig, wenn sie sich dort aufhielten. Heute schmollte er, weil es ihm wieder einmal nicht gelungen war, Sebastians Aufmerksamkeit für mehr als nur einen Augenblick zu fesseln.

Als Timothys Leben in Österreich bedroht gewesen war, hatte Sebastian ihn zwar beschützt, doch komischerweise bedeutete der Junge ihm nichts. John hatte den Knaben lieb gewonnen, Sebastian hingegen beachtete Timothy kaum. Nichtsdestotrotz fühlte er sich für ihn verantwortlich und nahm seine Pflichten ernst. Das bedeutete, dem Jungen durfte, solange er unter seinem Schutz stand, nichts zustoßen. Was in Österreich passiert war, betrachtete er als persönliches Versagen. Pflichtbewusstsein und Verantwortung waren Eigenschaften, die ihm seit seiner frühesten Kindheit aufs Schärfste eingeimpft worden waren, und er hatte seiner Rolle nicht genügt.

John sah sein Leben etwas einfacher. Er stammte aus einer kleinen Familie und hatte keine Geschwister, es gab nur ihn und seinen Vater. Dieser war lange Jahre Butler bei der Familie Wemyss gewesen und hatte John auf die gleiche Arbeit vorbereitet, obwohl dieser den engeren persönlichen Kontakt bevorzugte. In Wahrheit behagte ihm die große Verantwortung und Autorität einfach nicht, die eine Stellung als Butler mit sich brachte.

Die Familie Wemyss war sehr eng mit den Townshends verbunden. Die beiden ältesten Söhne waren enge Freunde, ebenso wie die Väter. Und da Diener viel reden, war John einer der Ersten, der erfuhr, dass Sebastian seinen Kammerdiener verloren hatte. Ohne zu zögern ergriff er die Gelegenheit, dessen Platz einzunehmen. Er hätte sich nicht träumen lassen, dass diese Entscheidung ihm so viele Abenteuer bescheren würde, und er bereute sie nicht eine Minute lang.

Er hatte gerne bei den Townshends gearbeitet, war dort etwas mehr als ein Jahr gewesen, als Sebastian England verließ. Man hatte John nicht gefragt, ob er mit in die Verbannung gehen würde, er hatte sich freiwillig angeboten. Er mochte den jungen Lord, betrachtete ihn als Familienmitglied und konnte es nicht ertragen, dass er fortging, ohne jemanden zu haben, der anständig für ihn sorgte.

Doch erst bei seiner Nebenbeschäftigung blühte John richtig auf. Sie machte ihm große Freude und fiel ihm außerdem sehr leicht. Er konnte gut mit Menschen umgehen, brachte sie zum Reden und entlockte ihnen das eine oder andere Geheimnis. Er wünschte, er hätte dieses Talent auch in Felburg eingesetzt, bevor sie in den Kerker geworfen worden waren. Aber sie hatten dort nur eine Nacht bleiben wollen, daher hatte er die Gelegenheit genutzt, sich auszuruhen. Ein großer Fehler.

Auf der Flucht aus jener Gegend waren sie lang und schnell geritten. »Ich glaube wirklich nicht, dass er uns verfolgen lässt, doch ich möchte auch nicht umkehren, um mich davon zu überzeugen«, waren Sebastians letzte Worte zu dem Thema gewesen.

John sah das pragmatischer. »Die Unannehmlichkeit hätten wir uns sparen können. Anstatt uns einen neuen Feind zu machen und ein ganzes Land zu verlieren – wir können ja nun nicht mehr nach Österreich zurück –, hätten Sie den Auftrag annehmen können. Wahrscheinlich hätten Sie das Dreifache des üblichen Lohns aus ihm herausholen können.«

»Nach England gehen? Niemals.«

Diese knappe Antwort hatte John erwartet. Doch es war den Versuch wert gewesen. Nicht ein einziges Mal in all diesen Jahren war Sebastian versucht gewesen, nach England zurückzukehren, nicht einmal, um herauszufinden, wie es seinem Vater und seinem jüngeren Bruder ging – wenn sie überhaupt noch lebten. Als seine Familie ihn verstieß, wandte Sebastian sich seinerseits von ihr ab.

Timothy kam zu spät zum Mittagessen. Die beiden Männer warteten nicht auf ihn.

»Sollten wir die Burg nicht ein wenig renovieren, solange wir hier sind?«, wollte John wissen, sobald Madame LeCarré nach Hause gegangen war.

Sebastian hob eine Braue. »Warum fragst du das eigentlich jedes Mal, wenn wir hier ankommen?«

»Nun, Sir, dies ist ein großes Anwesen, doch nur Küche und Schlafzimmer sind präsentabel.«

»Genau. Was brauchen wir mehr als einen Platz zum Essen und Schlafen, während wir uns hier aufhalten? Wir bleiben ja nicht lang.«

»Aber diese Burg bietet so viele Möglichkeiten!«

»Sie ist eine verdammte Ruine, John«, entgegnete Sebastian trocken. »Belassen wir’s dabei.«

John seufzte. Er hatte gehofft, Sebastian aus der Langeweile, in die er seit ihrer Flucht aus Österreich versunken war, herausreißen zu können, indem er ihm etwas anderes zu tun gab, als nur vor sich hinzubrüten. Leider verdüsterte sich Sebastians Stimmung jedes Mal, wenn von England gesprochen wurde, was während ihres Aufenthalts in Felburg entschieden zu häufig der Fall gewesen war. Bei Maurice waren inzwischen drei neue Anfragen eingegangen, doch Sebastian musste sich noch erkundigen, um was für Aufträge es sich genau handelte.

John ging wieder an die Arbeit in seinem Gewächshaus hinter der Ruine. Es war später Nachmittag, als Sebastian ihm folgte, einen Brandy in der Hand. Ein schlechtes Zeichen. Die Grübelei wurde also schlimmer.

»Sag mal, John, habe ich eigentlich all die Jahre bloß Glück gehabt oder war es reiner Zufall?«, fragte Sebastian leicht verdrossen.

»In welcher Hinsicht, Sir?«

»Na, was meine Karriere angeht, natürlich. Ich kann die Gelegenheiten, bei denen ich sterben oder zumindest als Krüppel hätte enden können, an beiden Händen abzählen. Und doch habe ich nur ein, zwei Kratzer davongetragen, trotz der unzähligen Male, bei denen Waffen auf mich gerichtet waren. Und all diese Aufträge, die ich annehme – gleichgültig wie ausgefallen oder scheinbar unmöglich sie sind –, immer gelingt es mir, sie durchzuführen, und das meist mit minimaler Kraftanstrengung. Also sag’ mir deine ehrliche Meinung. Ist es Glück oder lediglich ein erstaunlicher Zufall?«

»Wir wär’s mit Können?«, meinte John.

Sebastian schnaubte. »Ich kann nicht mehr als jeder andere. Ich schieße ganz passabel …«

»Mit außergewöhnlicher Zielgenauigkeit«, fügte John hinzu.

Sebastian wischte diesen Einwand verächtlich beiseite und fuhr fort: »Ich kann mich in einem Kampf recht gut behaupten …«

John unterbrach ihn wieder. »Haben Sie jemals dem Unglücklichen ins Gesicht gesehen, der gerade Ihre Faust zu spüren bekommen hat?«

»Das sind aber keine außergewöhnlichen Talente, John«, entgegnete Sebastian ein klein wenig verärgert. »Und das eine hat mit dem anderen auch gar nichts zu tun.«

Nachdenklich legte John die Stirn in Falten, bevor er fragte: »Was ist der Grund für diese Nabelschau?«

»Um diesen verdammten Herzog in Österreich in die Finger zu kriegen, habe ich riskiert, dass vier Pistolen auf mich abgefeuert werden, natürlich aus nächster Nähe. Wenigstens einer dieser Wärter hätte schnell genug sein können, mich zu treffen, bevor ich mein Ziel erreichte. Meine unglaubliche Glückssträhne hält nun schon elf Jahre an, und mir wird langsam mulmig. Sie muss doch irgendwann abreißen, meinst du nicht? Ein Mann kann nicht ewig Erfolg haben.«

»Wollen Sie in Pension gehen?«, wollte John wissen. »Sie müssen ja nicht in diesem Gewerbe bleiben. Vielleicht ist es an der Zeit, eine Familie zu gründen.«

»Eine Familie«, wiederholte Sebastian und schaute ausgesprochen finster drein. »Nein. Meine Gesellschaft würde ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind zumuten. Aber ich habe überlegt, ob ich es auf die Probe stelle.«

»Was?«

»Na, mein außergewöhnliches Glück.«