Der Autor

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Dr. Klaus Dermutz, geb. 1960 in Judenburg (Österreich), studierte Theologie, Philosophie und Soziologie in Graz und Berlin. Von 2001 bis 2009 gemeinsam mit dem Burgtheater-Direktor Klaus Bachler Herausgeber der Buchreihe »Edition Burgtheater«. Buchveröffentlichungen über die Theaterarbeit von Tadeusz Kantor (1994), Christoph Marthaler (2000), Peter Zadek (2001), Gert Voss (2001), Otto Sander (2002), Andrea Breth (2004), »Das Burgtheater 1955-2005« (2005), Ignaz Kirchner, Martin Schwab (2007), Klaus Michael Grüber (2008), »Next Generation« (2009), Jutta Lampe (2010). Seit 2002 Veranstaltungen im Kulturforum der österreichischen Botschaft Berlin. 2010 Publikation des Gesprächsbandes mit dem Maler Anselm Kiefer unter dem Titel »Die Kunst geht knapp nicht unter«. Klaus Dermutz lebt in Berlin.

DANIEL KOERFER

Vorwort

Schon zu Lebzeiten wurde Ernst Happel zur Legende. Einst, in den Hochzeiten des österreichischen Fußballs, ein begnadeter Spieler, erreichte er als Trainer ganz unterschiedlicher Vereins- und Nationalmannschaften wirklichen Weltruhm. Gewiss, er war nach außen hin ein schwieriger Schweiger und gefürchteter Grantler, war ein passionierter Zocker am Karten- und Roulettetisch, ein Kettenraucher noch dazu, der manchem Sportjournalisten schlaflose Nächte bereiten sollte, nachdem er ihn zusammengestaucht und ohne auch nur einen winzigen Hauch von Information wieder fortgeschickt hatte. Und doch, wenn es einen heiligen Stein im Mekka des Fußballs geben würde, sein Name wäre für alle Zeiten eingeschrieben auf ihm. Denn Ernst Happel gelang, was nur wenige vermochten: Immer auf der Suche nach dem »perfekten« Spielzug, dem »absoluten« Spiel, revolutionierte er mit seinem »Pressing« den europäischen Fußball und schrieb wahrlich Sportgeschichte. Als er starb und sich die Massen in Wien zu Tausenden bei seinem Begräbnis drängten, titelte die Kronen-Zeitung wehmütig: »An seinem Sarg war das Pressing so, wie er es sich zu Lebzeiten immer gewünscht hat«.

»Ein Tag ohne Fußball ist ein verlorener Tag« – so lautete sein häufig wiederholtes Lebensmotto. Fußball wurde Ernst Happel, dem die Großmutter zum ersten Geburtstag grün-weiße Söckchen gestrickt und geschenkt hatte, tatsächlich zum Schicksal. Grün-Weiß, die Farben von Rapid Wien, ein Omen mit weitreichenden Folgen – von diesem Verein wird der kleine Straßenfußballer etwas mehr als ein Jahrzehnt später, während Hitler in Wien einzieht, unter Hunderten von Jugendlichen ausgewählt, darf mit den »Auserwählten« trainieren, darf bald schon als 17-Jähriger in ihrem Kreise mittun, mitspielen, bestaunt, bewundert ob seiner technischen Beschlagenheit.

Fußball rettet Happel im Zweiten Weltkrieg möglicherweise das Leben, sein Hauptmann war ein Fußballfanatiker, der den jungen Soldaten für Spiele in der Etappe in seiner Nähe haben wollte. Fußball führt Happel nach dem Krieg aus seinem Milieu, öffnet ihm, dem »Schmäh- und Rädelsführer« der Spieler von Rapid, Türen »von der Unterwelt bis zum Minister«, lässt ihn die Anfänge der Professionalisierung erleben. Gegen die »Königlichen« macht der »Wödmasda« das Spiel seines Lebens, schießt am 14. November 1956 innerhalb von 22 Minuten drei Tore, ein lupenreiner Hattrick. Zwei Weltmeisterschaften – 1954 und 1958 – erlebt er als Spieler, wird dabei im Halbfinale 1954 »Opfer« des Taktikfuchses Sepp Herberger und als Hauptschuldiger für den deutschen 6:1-Kantersieg in seiner Heimat verunglimpft. Wegen der massiven, ja infamen Vorwürfe geht er ins Ausland, zu Racing Paris, und kehrt erst nach knapp zwei Jahren wieder in seine Heimat zurück.

In seines Lebens Mitte, ohne jegliches Fachdiplom, wechselt er bei seinem Heimatverein ins Trainerfach – bei Rapid wird er Sektionsleiter, gewinnt gleich auf Anhieb Meisterschaft und Pokal. Die internationale Karriere des neben Sepp Herberger »interessantesten Trainers der Welt« im 20. Jahrhundert, so Der Spiegel, beginnt 1962 mit ADO Den Haag. Mit Teams von Underdogs und Außenseitern – FC Feyenoord, FC Brügge – in ganz Europa Triumphe zu feiern, sollte sein Markenzeichen werden. Aber auch bittere Niederlagen lernt er kennen und trägt sie mit stoischer Gelassenheit, etwa die brutale 1:3-Niederlage 1978 im dramatischen WM-Finale nach Verlängerung mit Holland gegen Argentinien. Rob Rensenbrink schießt kurz vor Schluss der regulären Spielzeit an den Pfosten – hätte er getroffen, Happel wäre wirklich und tatsächlich »Wödmasda« geworden. So trug er diesen Ehrentitel in seiner Heimat gewissermaßen als »Wödmasda der Herzen«, die Kerben in seinem markanten Gesicht mögen etwas tiefer geworden sein.

Happel setzt Anfang der 1980er Jahre seine Laufbahn beim Hamburger SV fort, wo er sowohl national als auch international erfolgreich ist und 1983 gegen eine mit frischgebackenen Weltmeistern gespickte Elf von Juventus Turin im Endspiel der damaligen »Champions League«, dem Europapokal der Landesmeister, in Athen einen 1:0-Sieg feiern kann. Das entscheidende Tor sollte einem seiner Lieblingsspieler, Felix Magath, gelingen. Aufgrund einer Krebserkrankung entschließt Happel sich, beim FC Tirol das nächste Engagement anzunehmen. Den Tiroler Klub führt er an die nationale Spitze, internationale Erfolge bleiben jedoch aus. Auf seiner letzten Station gibt der von der Krebserkrankung schon schwer gezeichnete Happel dem österreichischen Nationalteam neue Energie und Selbstvertrauen.

Fußball bleibt seine Leidenschaft, ein Leben lang bis in die letzten Tage hinein. Lakonisch, wortkarg, mit trockenem Witz, von seinen Spielern verehrt, von den Sportjournalisten gefürchtet, vom Publikum bestaunt, ging Ernst Happel seinen Weg. Er ist wohl stets eine hochsensible Mischung aus Sentiment und Härte gewesen, war mit seiner hinter einer Attitüde von Unnahbarkeit verborgenen Verletzlichkeit ein im Kern rastlos-einsamer Skeptiker, immer auf der Suche nach den Lösungen jenes Rätsels, das über Sieg und Niederlage, Glück und Unglück entscheidet.

Eine fundierte Biographie dieses großen und zugleich kantig-kauzigen Mannes war überfällig. Das Ernst-Happel-Porträt von Klaus Dermutz zeichnet den Lebensweg dieses großartigen Sportlers einfühlsam nach, der fünf Jahrzehnte als aktiver Fußballer und Trainer seinen Sport auf seine höchst eigenwillige Art und Weise geprägt hat. In dieser Monographie leuchtet die imposante Karriere dieses begnadeten Fußballers und Trainers noch einmal auf, der überall, auf all seinen Stationen, im Herzen doch ein Wiener geblieben ist. Wer immer ihn erlebt, wer immer unter ihm trainiert hat, behält ihn wehmütig in Erinnerung, nicht zuletzt auch seine lakonische Schlussfloskel, mit der er, gleichzeitig die Brille absetzend, seine überaus kurzen Spielerbesprechungen oder auch Pressekonferenzen zu beenden pflegte: »Danke – und schließe.«

Daniel koerfer wurde 1955 in Bern geboren, hat als Schüler noch im alten Wankdorf-Stadion trainiert und von diesem gerade für den deutschen Fußball »historischen Ort« aus sein Faible für diesen Sport entwickelt. Er lehrt Neuere Geschichte/Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin und hat in seinem Buch Hertha unter dem HakenkreuzEin Berliner Fussballclub im Dritten Reich (Verlag Die Werkstatt, 2009) eine Alltagsgeschichte aus der ersten deutschen Diktatur erzählt, bei der es auch um Fußball, in erster Linie aber um das Leben und Überleben von »kleinen Leuten« in schwierigen Zeiten geht.

Einleitung

»Happel, Hanappi, Ocwirk« waren die Namen, die mein Vater in den 1960er Jahren oft in einem wehmütigen Singsang wiederholte. Ich begriff nicht, warum er immer wieder die drei Namen nannte, an manchen Tagen noch »Zeman« hinzufügte. Erst allmählich begann ich zu verstehen, dass die Namen dieser begnadeten Fußballer für meinen Vater, derselbe Jahrgang wie Ernst Happel, eine Erinnerung an jene Zeit war, als Österreich zu den besten Fußballnationen der Welt zählte. Mit »Happel, Hanappi, Ocwirk« erhielt ich mit sechs, sieben Jahren die Initiation in die Welt des Fußballs.

In den 1970er Jahren waren die Auftritte von Happel im österreichischen Fernsehen außergewöhnliche Ereignisse. Während Fußball-Österreich den vertanen Chancen hinterhertrauerte, sagte Happel mit einem provokativen Lachen auf die Frage, ob er Nationaltrainer werden wolle: Der österreichische Fußball könne international nicht mithalten, er sei zwar Patriot, aber kein Idiot. Seine Kommentare standen quer zur österreichischen Mentalität, die auf eine diffuse und die betrübliche Realität verschleiernde Ausgewogenheit aus war. Happel hatte das Charisma eines freien, furchtlosen Geistes.

Mitte der 1980er Jahre schlug ich einem Grazer Redakteur ein Interview mit Happel vor. Ich fuhr im August 1986 von West-Berlin aus nach Hamburg. Die Spieler des Hamburger SV kamen an jenem Morgen von einem Auswärtsspiel in der Saisonvorbereitung zurück. Miroslaw Okonski, den Happel von Lech Poznan geholt hatte, hatte blaue Badeschlappen an, einen weißen Verband um den linken Knöchel und humpelte. Ich ging auf Happel zu und stellte mich vor. Er fragte mich, von welchem Boulevardblatt ich komme. Happel hatte einen Trainingsanzug an, er sagte mir, er könne das Interview nicht wie vereinbart am Vormittag geben, ich möge auf ihn warten, um 15 Uhr habe er Zeit.

Ich sah beim Training zu, die älteren Spieler lockerten sich ein wenig, mit den jüngeren übte Ristić noch eine halbe Stunde länger Flanken und Kopfbälle. Es war heiß an jenem Montag, und die Zeit bis 15 Uhr verging nur langsam.

Kurz vor dem zugesagten Termin fuhr Happel in einem eleganten Sportwagen vor, er hatte sich umgezogen, er trug einen feinen Anzug, weißes Hemd und Krawatte. Das Klubgebäude wurde gerade umgebaut, der Boden neu verlegt. Ein Arbeiter fragte Happel, was vor drei Tagen gegen Liverpool los gewesen sei, der HSV habe nur ein »Törchen« geschossen. Happel erwiderte nur, der HSV schieße keine »Törchen«, sondern »Tore«. Das Interview dauerte eine Stunde. Im Hintergrund hämmerten die Zimmerleute.

Ich weiß gar nicht mehr, wie ich auf die Idee kam, Happel nach dem Gespräch vorzuschlagen, ein Buch über ihn zu schreiben. Vermutlich kam mir die Idee deswegen in den Sinn, weil Happel gesprächig gewesen war. Er hatte nichts dagegen, meinte nur, der Verlag müsse ihm ein Honorar von 500.000 Mark zahlen, dafür setze er sich 14 Tage auf ein Schiff und erzähle sein Leben. Ich begrub das Projekt, ich konnte mir nicht vorstellen, einen Verlag zu finden, der bereit sei, Happel diese Summe zu zahlen.

Am Ende des Gesprächs fragte ich ihn, ob ich am nächsten Tag beim Training zusehen könne. Er war damit einverstanden. Als wir auseinander gingen, erzählte er noch, dass Arigo Sacchi und andere italienische Trainer 14 Tage sein Training beobachtet hätten. Am nächsten Tag kam Happel nach dem Training auf mich zu, schenkte mir einen HSV-Schlüsselanhänger. Ich fragte ihn, ob ich auch ein Trikot bekommen könnte. Er brachte mir eines mit der Nummer sechs. Beides habe ich heute noch.

Bevor der HSV im vorletzten Spiel der Hinrunde Ende November 1986 zum Spiel gegen Blau-Weiß Berlin fuhr, rief ich kurz vor neun Uhr am Trainingsgelände an, sagte Happel, ich würde ihn gern wiedersehen. Er meinte, es gehe nicht, er treffe am Freitagabend Freunde, am Samstag habe er das Spiel. Der Samstag war sein 61. Geburtstag. Happel hatte zu den Spielern gesagt, sie mögen ihm einen Sieg zum Geburtstag schenken, was sie auch taten. Der HSV gewann vor 22.000 Zuschauern mit 3:1. Ich war ins Olympiastadion gegangen, hatte die meiste Zeit nur Happel beobachtet, konnte aus der Ferne aber nicht viel erkennen. Als das Spiel zu Ende war, ging Happel in Richtung Marathontor, hob kurz die Hand, grüßte die Fans.

Da ich gelesen hatte, Happel gehe gern ins Casino, schickte ich ihm zum Geburtstag Fjodor M. Dostojewskis Roman Der Spieler. Ich weiß nicht, ob er ihn gelesen hat.

Bevor ich im Oktober 1991 nach Innsbruck zum zweiten Interview fuhr, unterhielt ich mich mit einem Freund über Happels Gesundheitszustand. Ich fragte den Freund, einen Mediziner, was Happel für eine Krankheit habe, er spreche immer von einem Virus, der seine Leber befallen habe. Der Freund meinte, er habe Krebs, Happel gingen die Haare aus, die Chemotherapie greife vor allem die schnell wachsenden Haarzellen an.

Als Happel beim Interview vom Virus sprach, sagte ich im Stillen zu mir, die Wahrheit müsse nicht ausgesprochen werden, erwiderte nur, ich hätte Angst gehabt, es könne Krebs sein. Das Interview fand im ersten Stock einer Tankstelle statt – an einem Ort für passagere Emotionen. Happel hat sich dort wohlgefühlt, war gut gelaunt gewesen.

26 Jahre nach der ersten Idee habe ich das Happel-Buch geschrieben, ihm den Titel Genie und Grantler gegeben.

Vom Soziologen Georg Simmel habe ich die Überlegung aufgenommen, das Genie eines Menschen nicht als die Leistung eines Einzelnen zu sehen. Es ist vielmehr so, dass die »Summierung physisch verdichteter Erfahrungen ganz besonders entschieden nach einer Richtung hin und in einer solchen Lagerung der Elemente erfolgt ist, dass schon der leisesten Anregung ein fruchtbares Spiel bedeutsamer und zweckmäßiger Funktionen antwortet. Dass das Genie so viel weniger zu lernen braucht wie der gewöhnliche Mensch zu der gleichartigen Leistung, dass es Dinge weiß, die es nicht erfahren hat – dieses Wunder scheint auf eine ausnahmsweise reiche und leicht ansprechende Koordination vererbter Energien hinzuweisen.«

Bei Happel sind es die Energien jener technisch brillanten und fantasievollen Fußballer gewesen, deren Eltern als tschechische Saisonarbeiter am Beginn des 20. Jahrhunderts nach Wien gekommen waren, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Von ihnen wird im ersten Kapitel der vorliegenden Biographie berichtet; unter ihnen war auch der Mittelstürmer Matthias Sindelar, Happels Lieblingsspieler. 20 Fotos hatte Happel als Kind von dem exzellenten Techniker gesammelt.

Für Sigmund Freud liegt der Mensch, der seine Wünsche nicht nach dem Lustprinzip erfüllen kann, »mit der ganzen Welt im Hader«. Mit der Welt des Fußballs lag Happel oft im Hader, und sein Granteln war der Ausdruck des Unbehagens, wenn nicht lustvoller Angriffsfußball gespielt wurde.

Das Granteln ist für Happel jedoch kein Selbstzweck gewesen, sondern Movens und Motor für neue Entwicklungen und Erfolge. Für »grantig« wird im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm u. a. auch die Bedeutung »gierig«, »spitz, scharf sein« angegeben. Als Grantler war Happel gierig und scharf auf schöne Spiele und die aus ihnen resultierenden Siege. Nur sie haben den Hunger dieses Genies gestillt.

Die vorliegende Publikation ist der Versuch, Happels Genialität als Spieler und Trainer in den Kontext der Zeitgeschichte und der Professionalisierung des Fußballs zu sehen, um ein Verständnis dafür zu erlangen, von welchem Ausgangspunkt und in welcher Weise Happel den Fußball weiterentwickelt hat.

Mein Vater lebt nicht mehr, Happel ist seit 20 Jahren tot. In der Vergegenwärtigung der beiden Verluste wiederhole ich mit den Lippen eines in die Jahre gekommenen Mannes das »Mantra« meiner Kindheit: »Happel, Hanappi, Ocwirk.«

Berlin, 2. August 2012

Klaus Dermutz