Zum Geleit

Im Sommer des Jahres 2010 wurden vom Bundesgerichtshof zwei Urteile gesprochen, welche direkt Bezug nahmen auf das Thema unserer Publikation.

Im Juni 2010 verhandelte der Bundesgerichtshof über die aktive Sterbehilfe und die Richter entschieden: „Wenn ein Patient in einer schriftlichen oder mündlichen Verfügung eine lebensverlängernde Behandlung ablehnt, muss die Behandlung eingestellt werden. Egal ob bei dem Behandlungsabbruch etwas aktiv geschieht oder etwas unterlassen wird – Ärzte, Pfleger und Angehörige machen sich damit nicht strafbar. Die Grenze zur Tötung ist nicht überschritten.“1

Das zweite Urteil beschäftigte sich mit der Präimplantationsdiagnostik. Hier urteilte der Bundesgerichtshof wie folgt: „Aus künstlicher Befruchtung entstandene Embryonen dürfen nach einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs vor dem Einsetzen in die Gebärmutter auf genetische Defekte und Erbkrankheiten untersucht werden. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) verstößt nicht gegen das Embryonenschutzgesetz.“2 Im Jahr 2011 reagierte der Deutsche Bundestag auf die Rechtsprechung mit der Verabschiedung des Präimplantationsgesetz (PräimpG). Das Gesetz verbietet die PID zwar grundsätzlich, lässt aber Ausnahmen zu. Das PräimpG ist eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes.3

Mit beiden Urteilen wollte der Bundesgerichtshof Rechtssicherheit in diesen Fragen schaffen, aber: Werden hier nicht Grenzen überschritten? Werden damit nicht neue Formen der Selektion geschaffen, am Anfang des Lebens durch die Präimplantatiosndiagnostik oder am Ende des Lebens durch aktive Sterbehilfe? Diese Fragen stehen im Raum und man muss sehr aufpassen, dass nicht Strukturen geschaffen werden, die einer aktiven Sterbehilfe den Weg bereiten.

Die Diakonie Neuendettelsau ist dieser Thematik aufgrund ihrer Geschichte verantwortet. Vor über 70 Jahren begannen die ersten Verlegungen von Bewohnern unserer Einrichtungen in die staatlichen Heil- und Pflegeanstalten, von denen aus der Weg weiter in die Vernichtungsanstalt führte. Über 900 Menschen wurden im Rahmen der später als Aktion T4 bezeichnete Euthanasie-Maßnahme im Dritten Reich ermordet. Diesem Teil ihrer Geschichte sieht sich die Diakonie Neuendettelsau ganz besonders verpflichtet. Nicht nur in der historischen Aufarbeitung, sondern auch in einer aktiven Stellungnahme zu den gegenwärtigen Entwicklungen und Tendenzen.

Die Publikation verbindet beides: Die Sicht auf die historischen Wurzeln der Euthanasie und die Pervertierung des „Schönen Todes“ im Dritten Reich sowie die Sicht auf die aktuellen Entwicklungen.

Die ethischen Fragestellungen werden zukünftig in der Medizin und der Pflege weiter an Bedeutung zunehmen. Die Diakonie Neuendettelsau ist in fast allen Arbeitsbereichen mit diesen Entwicklungen konfrontiert. Sei es in unseren Krankenhäuser, in unseren Senioreneinrichtungen oder in unseren Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Es ist unsere Aufgabe, sich mit diesen ethischen Aspekten zu beschäftigen, aufgrund unseres christlichen Menschenbildes gegen Trends anzugehen, die den falschen Weg bedeuten. Es ist dabei auch unsere Aufgabe, Lösungen anzubieten. Einen Schritt in diese Richtung ist die Gründung unseres International Dialog College an Research Institut in Fürth. Gerade im Forschungsinstitut werden Fragestellungen zum Umgang mit Technik im letzten Lebensabschnitt untersucht, dabei aber auch die ethische Vertretbarkeit im Auge hat.

Hermann Schoenauer

1 BGH 2 StR 454/09.

2 BGH 5 StR 386/09.

3 Gesetz v. 21.11.2011, BGBl. IS. 2228 (Nr. 58).

Hans-Walter Schmuhl

Rassenhygiene, Eugenik, „Euthanasie“ – die historischen Grundlagen und Entwicklungen

In der Epoche des fin de siècle – also in den drei Jahrzehnten von Mitte der 1880er Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs – kam nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Teilen Europas und Nordamerikas und mancherorts in Lateinamerika, Asien und Australien ein neuer Gedanke auf: die Eugenik oder – wie man im Deutschen sagte – die Rassenhygiene. In Großbritannien hatte Francis Galton, der Vetter Charles Darwins, ein genialer Privatgelehrter, der sich durch eine Reihe höchst origineller Einsichten, Erfindungen und Entdeckungen in der Statistik und Physik ebenso einen Namen machte wie in der Daktyloskopie, Meteorologie und Botanik, seit Mitte der 1860er Jahre die Grundzüge einer neuen Lehre entworfen, die sich – so Galtons klassische Definition – mit „allen Einflüssen“ beschäftigte, „denen es möglich sei, die angeborenen Eigenschaften einer Rasse zu verbessern und zu höchster Vollkommenheit zu entwickeln.“ Für diese neue Lehre prägte er im Jahre 1883 den Begriff national eugenics. In Deutschland bildete sich – weitgehend unabhängig von Galtons Eugenik – in den 1890er Jahren die Rassenhygiene heraus: Wilhelm Schallmayers 1891 veröffentlichtes Buch „Über die drohende körperliche Entartung der Kulturmenschheit“ und vor allem Alfred Ploetz’ Werk „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen“, erschienen im Jahr 1895, legten den Grund dazu.

Zu dieser Zeit begann der Siegeszug der eugenischen Idee rund um den Erdball, anfangs allerdings ganz unscheinbar: Das internationale Netzwerk der Eugeniker und Rassenhygieniker umfasste am Vorabend des Ersten Weltkriegs nur wenige hundert Männer und Frauen – zu dieser Zeit war die Eugenik eher noch die Sache sektiererischer Grüppchen am Rande der Gesellschaft. Das änderte sich nach der Zäsur des Ersten Weltkriegs von Grund auf. Seit 1918 rückten Eugenik und Rassenhygiene in die Mitte der Gesellschaft. Sie hinterließen ihre Spuren in Forschung und Lehre der Wissenschaften vom Menschen, in juristischen, philosophischen, theologischen und medizinischen Diskursen, in der öffentlichen Meinung, in den Programmen politischer Parteien und den Forderungskatalogen einflussreicher gesellschaftlicher Interessengruppen, in der staatlichen Gesetzgebung zur Bevölkerungs-, Einwanderungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik. Dieser Trend gilt, wohlgemerkt, nicht nur für Deutschland. Die deutsche Rassenhygiene hatte in der internationalen eugenischen Bewegung zwar großes Gewicht, bis 1933 galten den deutschen Rassenhygienikern jedoch die Vereinigten Staaten von Amerika wegen ihrer Vorreiterrolle bei der eugenischen Sterilisierung als gelobtes Land.

Gehen wir wieder zurück in die Epoche des fin de siècle. In den 1890er Jahren formierte sich im wilhelminischen Deutschland – parallel zur Grundlegung der Rassenhygiene – ein auf vielfältige Weise mit dieser verflochtener, aber doch eigenständiger Diskurs um Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen und Tötung von nicht einwilligungsfähigen Patienten. 1895 forderte Adolf Jost in einer – so wörtlich – „sozialen Studie“ so klar und eindeutig wie kaum je zuvor ein „Recht auf den Tod“ nicht nur für Todkranke auf deren Verlangen, sondern auch für „geisteskranke Anstaltsinsassen“. Bei diesen sprächen „das Mitleid und das Interesse der Gesellschaft“ dafür, ihr Leben zu beenden. Auch dies war kein singulär deutsches Phänomen – ein ähnlicher Diskurs lässt sich etwa auch in den USA nachweisen. Dort propagierte W. Duncan McKim im Jahre 1899 die „Euthanasie“ nicht nur als „sanften Tod“ für unheilbar kranke, Schmerz leidende Menschen, sondern auch als „künstliche Selektion“, „um die menschliche Rasse umzuzüchten“. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten solche Forderungen weder diesseits noch jenseits des Atlantiks eine Chance.

Zugleich ist eine begriffsgeschichtlich höchst spannende Verschiebung des Wortfeldes „Euthanasie“ zu beobachten. Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts meinte der Begriff „Euthanasie“ nämlich Sterbebegleitung ohne Lebensverkürzung. Er stand für die Lehre von der Pflege sterbender Menschen wie etwa die sachgemäße Lagerung, Körperpflege und Ernährung Sterbender und ärztliche Tätigkeiten am Sterbebett wie das Verabreichen schmerzstillender Mittel. Zu dieser Zeit deckte der Begriff „Euthanasie“ mithin ungefähr das ab, was wir heute als Palliativmedizin und palliative care bezeichnen. Der Gedanke der Sterbehilfe, also der Tötung auf Verlangen oder der gezielten Anwendung lebensverkürzender Mittel, wurde in den ärztlichen Standeslehren des 19. Jahrhunderts von der überwiegenden Mehrheit der Autoren zurückgewiesen (auch wenn es in der Praxis durchaus Fälle von Sterbehilfe gegeben zu haben scheint). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts – so ergibt eine Analyse der Artikel in den gängigen Konversationslexika – weitete sich das Bedeutungsfeld des Begriffs „Euthanasie“ so stark aus, dass es – was das Recht des Arztes über Leben und Tod anging – geradezu zu einer Umkehrung kam. Gegen Ende der 1920er Jahre war das Wort zu einem Synonym für schmerzlose Tötung geworden. Diese Verschiebung des Wortfeldes ist eine unmittelbare Folge der moralphilosophischen Diskussion um Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen und „Vernichtung lebensunwerten Lebens“.

Dieser zuletzt genannte Begriff wurde durch die richtungweisende Schrift des Strafrechtlers Karl Bindung und des Psychiaters Alfred Hoche über „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ aus dem Jahre 1920 geprägt. Er meinte die Tötung von geistig schwer behinderten oder unheilbar psychisch erkrankten Menschen aus wirtschaftlichen Gründen. Dass dieser Aspekt in Deutschland derart in den Vordergrund rückte, hatte mit der besonderen Situation des Deutschen Reiches nach dem verlorenen Weltkrieg zu tun, doch spielte er auch anderswo in den Debatten um die „Euthanasie“ durchaus eine Rolle. Insgesamt wird man sagen können, dass die Akzeptanz der Sterbehilfe, der Tötung auf Verlangen und der „Früheuthanasie“, der Tötung behinderter Neugeborener, in der Zwischenkriegszeit nicht nur in Deutschland stetig zunahm. Eine Gallup-Umfrage aus dem Jahre 1937 ergab, dass 45 Prozent der befragten Amerikaner die „Früheuthanasie“ befürworteten. Und die US-„Euthanasie“-Debatte strahlte auch international aus: So plädierte der französische Medizin-Nobelpreisträger Alexis Carrel, der lange in den USA gelebt und gearbeitet hatte und sich später dem Vichy-Regime zur Verfügung stellen sollte, 1935 für eine „Einrichtung zur Euthanasie, die mit geeignetem Gas ausgestattet“ werden sollte, um abnormale Menschen „auf menschliche und wirtschaftliche Weise“ zu beseitigen. Ein 1938 von der amerikanischen „Euthanasie“-Gesellschaft vorgelegter Gesetzentwurf zur Freigabe der Tötung auf Verlangen hatte in den Parlamenten verschiedener US-Bundesstaaten angesichts des massiven Widerstandes katholischer und konservativ-protestantischer Kreise keine Chance. Mit einem noch radikaleren Gesetzentwurf zur Tötung von „Idioten, Imbezillen und kongenitalen Monstrositäten“ wagten sich die „Euthanansie“-Aktivisten gar nicht erst an die Öffentlichkeit, doch berieten sie noch 1943 darüber. Mittlerweile hatte das nationalsozialistische Deutschland den ersten und bislang einzigen systematischen Massenmord an geistig behinderten und psychisch erkrankten Menschen in der Weltgeschichte ins Werk gesetzt.

Noch einmal kehre ich in der Epoche des fin de siècle zwischen der Mitte der 1880er Jahre und dem Beginn des Ersten Weltkriegs zurück. Wie kam es, dass sich in verschiedenen Staaten parallel Diskurse um Eugenik und „Euthanasie“ entfalteten? „Diskurs“ sei hier im engeren Sinne verstanden als eine „herrschende Redeweise“, die festlegt, über welche Themen in welcher Form und in welchen Begriffen gesprochen werden kann – und worüber geschwiegen werden muss. Wenn sich in unterschiedlichen politischen Systemen Diskurse parallel entwickeln, deutet dies darauf hin, dass hier gleiche – oder doch vergleichbare – wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rahmenbedingungen wirken. Zu fragen ist demnach nach der besonderen Signatur jener „Sattelzeit“ des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die gemeinhin unter dem Begriff fin de siècle gefasst wird. Welche Grundzüge dieser Zeit schufen die Bedingungen der Möglichkeit, dass sich die Diskurse um Eugenik und „Euthanasie“ herausformen konnten?

Nehmen wir also die Jahrzehnte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und ihren „Zeitgeist“ genauer unter die Lupe. Ich möchte einen kurzen Exkurs vorausschicken, der verdeutlichen soll, was ich mit „Zeitgeist“ meine. Der Begriff wird häufig benutzt – was er aber eigentlich bedeuten soll, bleibt zumeist unklar. Oft ist er kaum mehr als die bündige Umschreibung der geballten Vorurteile des Betrachters über seine eigene oder eine vergangene Zeit. Die Geschichtswissenschaft hat den Begriff „Zeitgeist“ daher lange Zeit gleichsam mit spitzen Fingern angefasst – solange sich Geschichtswissenschaft in strengem Sinne als Historische Sozialwissenschaft verstand, hielt sie sich lieber an scheinbar handfeste soziale Strukturen und Prozesse, die menschliche Handlungen bestimmen. Zwar trägt jeder einzelne Mensch sein Teil zu sozialen Prozessen bei, die Bündelung gleichgerichteter sozialer Handlungen zieht den Einzelnen jedoch in ihren Sog und setzt seiner Handlungsfreiheit Grenzen. Deshalb erscheinen soziale Strukturen und Prozesse dem Einzelnen zumeist als anonyme Mächte, die sein Leben beherrschen. Wie nehmen Menschen nun diese Prägung durch die Gesellschaft wahr? Welche Bedeutung schreiben sie ihr zu? Mit welchen Gefühlen betrachten sie die in der Gesellschaft vorherrschenden Tendenzen, die das eigene Leben so nachhaltig prägen? Mit Unbehagen, Zweifel, Widerstreben, Angst, dem Gefühl, anonymen Mächten hilflos ausgeliefert zu sein, mit Wut und Auflehnung? Oder umgekehrt: mit Zustimmung, Zuversicht, dem Gefühl, mit der Zeit zu marschieren, gar mit Euphorie? Aus den Gefühlslagen der vielen Zeitgenossen formt sich ein mentales Klima heraus, das Denken und Handeln der Menschen beeinflusst – und damit auf die sozialen Strukturen und Prozesse zurückwirkt, aus dem es hervorgegangen ist.

Der „Geist“ einer Zeit ist etwas Flüchtiges und schwer Greifbares – um ein Bild zu gebrauchen, so etwas wie eine vorherrschende Windrichtung oder eine Meeresströmung, die – mit den Sinnen kaum wahrnehmbar – eine Küstenlandschaft nachhaltig prägen. Die methodische Schwierigkeit besteht darin, dass eine einzelne Quelle – ganz gleich, ob es sich um eine Schriftquelle, ein mündliches Zeugnis, ein Bild, einen materiellen Überrest handelt – kaum Spuren jener geistigen Grundströmung an sich trägt. Erst eine Fülle von Quellen unterschiedlicher Gattungen, interdisziplinär interpretiert – mit den Methoden der historischen Hermeneutik, der Volkskunde, der Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte usw. – lässt ein klareres Bild hervortreten.

Dies vorausgeschickt, fragen wir nach dem „Zeitgeist“ des fin de siècle. Greift man auf das eben benutzte Bild einer Windrichtung oder Meeresströmung zurück, so könnte man sagen, dass die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg von zwei gegenläufigen Strömungen geprägt war, so dass es zu starken Verwirbelungen, Strudeln, Turbulenzen kam. Eine tief greifende Ambivalenz war für den „Zeitgeist“ dieser Epoche grundlegend.

Auf der einen Seite war der Geist des 19. Jahrhunderts noch immer wirkmächtig. Das 19. Jahrhundert – so könnte man grob vereinfachend sagen – war das Zeitalter des zukunftsgewissen Glaubens an die Naturwissenschaften. Auf allen Gebieten der Mathematik, der exakten Naturwissenschaften wie Physik, Chemie, Astronomie, Geologie, Geographie, Meteorologie, der Biologie, der Medizin, der Psychologie, der Anthropologie verzeichnete das 19. Jahrhundert gewaltige Wissenszuwächse – und da die naturwissenschaftliche Forschung zu dieser Zeit noch anwendungsnah arbeitete, konnten ihre Ergebnisse unmittelbar nutzbringend verwertet werden. Forscher, Entdecker, Erfinder, Ingenieur und Techniker waren noch in einer idealtypischen Gestalt vereint, Naturwissenschaft und Technik noch eng verzahnt. „Leitfossilien“ des 19. Jahrhunderts sind die Dampfmaschine und die Lokomotive, Gusseisen und Stahl, Gaslicht und Dynamo. Hier schwingt noch ein mechanistisches Weltbild mit – denkt man an Naturwissenschaft und Technik des 19. Jahrhunderts, so fallen einem Begriffe wie Masse, Kraft, Druck, Geschwindigkeit, Hebel, Impuls, Reiz und Reaktion ein, Zahnräder, Hebel und Transmissionsriemen. Dieses mechanistische Weltbild bezieht sich, wohlgemerkt, mehr auf die Außendarstellung und Außenwahrnehmung der Naturwissenschaften – in der Forschung selbst wurde je länger, desto deutlicher klar, dass die Natur keine Maschine ist, sondern ungleich komplexere Strukturen aufweist. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung aber überwog das naive Verständnis der Natur als Maschine. Daraus folgte, dass die Natur prinzipiell bis in die letzten Details erforschbar, nutzbar, beherrschbar war. Entdeckung, Eroberung, Entschlüsselung, Entzauberung war die Devise des 19. Jahrhunderts. Die weißen Flecken auf der Weltkarte schrumpften rapide zusammen, nur noch wenige Regionen der Erde – die tropischen Regenwälder oder die arktischen Zonen – waren noch zu erkunden, und auch hier drangen die Forscher rasch vor. Die neu entstehende literarische Gattung der Science Fiction brachte dieses Denken auf den Punkt: Warum sollte man nicht auf das Dach der Welt gelangen können, auf den Boden der Tiefsee, zum Mittelpunkt der Erde, in die Lüfte, zum Mond oder zur Sonne? Warum sollte man nicht die Geheimnisse des Weltalls, der Materie, des Lebens, der menschlichen Psyche entschlüsseln können? Letztlich schien es im 19. Jahrhundert so, als entziehe sich kein Bereich, keine Schicht, keine Dimension der Natur dem menschlichen Verstand, als sei Natur nahezu unbegrenzt gestaltbar, fast jede Utopie machbar – und dass es keinen vernünftigen Grund gab, diesem Streben nach Naturerkenntnis und Naturbeherrschung Grenzen zu setzen. Als deutlicher Grundzug zeichnet sich hier die Selbstermächtigung des Menschen ab, der sich anschickte, den biblischen Auftrag, sich die Welt untertan zu machen, endlich, wenn auch seines religiösen Aspekts entkleidet, auf die menschliche Vernunft gestützt, zu erfüllen. Dabei schien der unaufhaltsame Fortschritt der Forschung sich unmittelbar in einen Fortschritt der Kultur umzusetzen, in Gesundheit, gewonnene Lebenszeit, Arbeitsersparnis, Wohlstand, Bequemlichkeit, Sicherheit, Gesittung. Die Vorwärts- und Aufwärtsentwicklung der Zivilisation schien gleichsam ein Naturgesetz zu sein. Die junge Anthropologie entwarf ein Stufenschema, das den zwangsläufigen Aufstieg aller menschlichen Gesellschaften von der savagery über den barbarism zur civilisation postulierte. Ja, die Natur selbst schien – nach der Darwinschen Revolution – dem Naturgesetz des Fortschritts zu unterliegen. Es liegt auf der Hand, dass in einem Zeitalter, in dem solche Vorstellungen en vogue sind, eine Stimmung vorherrscht, die der Zukunft zugewandt ist, an den Fortschritt glaubt, optimistisch, ja geradezu euphorisch, voller Erwartungen und Hoffnungen, in der Gewissheit des Gelingens nach vorne blickt. Hindernisse und Rückschritte können diesen Optimismus lange nicht erschüttern. Den „Kräften der Beharrung“, die sich dem Fortschritt entgegenstellen, gibt man keine Chance, weiß man doch das Naturgesetz auf seiner Seite. Entsprechend selbstbewusst – und auch intolerant – geht man in die Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen „Aberglauben“, den man vor allem im Katholizismus wittert. Der Glaube an eine metaphysische Entität wird, als empirisch unbeweisbar, nach den Maßstäben der Vernunft verworfen, Religion als Werkzeug böswilliger Dunkelmänner denunziert. Die Vernunft wurde als Religionsersatz, manchmal auch als Ersatzreligion propagiert. Hier begegnen sich bürgerlicher Liberalismus und der erstarkende Sozialismus, wie überhaupt diese beiden politischen Richtungen, die sich aufgrund unterschiedlicher Klasseninteressen erbittert bekämpften, in ihrer Grundauffassung vom unaufhaltsamen Fortschritt der Natur und der Menschheit erstaunlich ähnelten.

Wenn man einen Hang zu dramatischen Effekten hat, könnte man sagen, das „lange 19. Jahrhundert“, dessen Signatur ich soeben mit groben Strichen gezeichnet habe, sei in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 zu Ende gegangen, als die „Titanic“ einen Eisberg rammte und im Atlantik versank. Tatsächlich hat wohl kein anderes Einzelereignis dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts einen derart schweren Schlag versetzt wie der Untergang des Schiffes, von dem die Ingenieure behauptet hatten, es sei unsinkbar. Andererseits pflegen Epochen nicht so bündig zu enden – so auch hier. Das gesellschaftliche Großklima hatte sich – nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen westlichen Welt – gewandelt. Seit der Mitte der 1880er Jahre hatte die wissenschaftsgläubige Fortschrittseuphorie Risse bekommen, Ernüchterung, Zweifel, Angst, Enttäuschung, Überdruss und Ablehnung nisteten sich darin ein. Ebendies – das Nebeneinander des hoch gespannten Fortschrittsdenkens, das sich in den Jahrzehnten zuvor aufgebaut hatte, und der Angst, dass die so wohl geordnete Welt des 19. Jahrhunderts aus den Fugen geraten, dass der Boden, auf dem man stand, hohl sein, dass man am Ende eines klassischen Zeitalters in die Dekadenz abgleiten könnte – ebendies ist die besondere Signatur des fin de siècle.

Woher rührten nun die Zweifel? Viele Faktoren trugen zu der um sich greifenden Verunsicherung bei. Die Bevölkerungsexplosion, die im Zuge des Demographischen Übergangs die westlichen Staaten überrollte, die ungeheure Steigerung räumlicher und sozialer Mobilität, die gewaltigen Migrationsströme zerrissen die gewachsenen gesellschaftlichen Beziehungsnetze. Die Zerschlagung der alten Ständegesellschaft führte nicht zur bürgerlichen Gesellschaft selbständiger und unabhängiger bürgerlicher Existenzen, sondern mündete in die moderne Klassengesellschaft mit ihren schroffen sozialen Gegensätzen und Konflikten. Das Individuum ist in der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft aus seinen sozialen Bezügen herausgelöst und auf sich allein gestellt. Dabei kann es sich nicht mehr auf die Zugehörigkeit zu gewachsenen Gemeinschaften oder auf Traditionen berufen, sondern muss sich immer wieder aufs Neue selbst erfinden. Der moderne Mensch muss in einer pluralisierten Welt seinen individuellen Lebensstil entwickeln.

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