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Brigitte Melzer

Dämonisches Tattoo

Roman

hockebooks

35

Nachdem Kate gegangen war, hatte sich Chase ans andere Ende des langen Tisches gesetzt und Quinns Aussage mit angehört. Es war ein Bild für Götter, Munarez’ Gesicht zu beobachten, während der Indianer von alten Ritualen, Geistern und Verbindungen sprach. Die Skepsis troff der Polizistin schier aus jeder Pore, trotzdem saß sie so ruhig auf ihrem Stuhl, als hätte sie jemand festgeleimt. Chase hätte schwören können, dass sie die Geduld verlieren und aufspringen würde, doch das tat sie nicht. Kate hatte gute Vorarbeit geleistet.

Auch wenn Quinns Aussage nötig war, dauerte sie ihm viel zu lang. Seit wann saßen sie jetzt hier? Zwei Stunden? Fast schon drei, stellte er mit Blick auf seine Armbanduhr fest. Kostbare Zeit, die sie längst in die Suche nach dem Mörder hätten investieren können.

Der professionelle Teil seines Ichs sagte ihm, dass das Blödsinn war und dass er sich gedulden musste, denn auch wenn er wohl ab sofort auf die Unterstützung der Polizei hoffen konnte, mussten sie zunächst ihr weiteres Vorgehen planen, ehe sie auf die Jagd gingen. Die andere Hälfte seines Ichs hatte die Warterei satt und wollte nur noch, dass es endlich vorüber war.

Er stand auf, um sich noch einen Kaffee zu holen – vermutlich den siebten oder achten, seit er hier war –, als eine vertraute Stimme in seinem Kopf erklang.

Hängen Sie sehr an ihr, Agent Ryan?

Sein Rücken kribbelte, als das Tattoo auf die Verbindung reagierte und sich weiter ausdehnte, so als kröchen unzählige kleine Spinnenbeine über seine Haut.

»Sie können ihr nichts anhaben«, sagte Chase in gezwungener Ruhe.

Sind Sie sicher?

Im selben Moment, in dem Chase in den Kopf des Mannes dringen und durch seine Augen blicken wollte, öffnete der Killer die Verbindung und Chase wurde hineingerissen. Der Blick des Killers war auf eine nackte Betonwand gerichtet, über die der wankende Schein einer hin- und herschwingenden Glühbirne strich. Im Augenwinkel sah er einen großen staubigen Ofen, daneben lagen Tonscherben, manche zu einem Haufen zusammengefegt, andere weitflächig verstreut. Er versuchte mehr zu erkennen, doch abgesehen von einem verblichenen Metallschild, dessen Schriftzug unter der dicken Staubschicht unlesbar geworden war, vermochte er nicht mehr zu erfassen als die Wand unmittelbar vor ihm. Chase’ Augen wurden von der Wand weggelenkt, als der Killer sich umdrehte und den Blick in die Schatten richtete. Dort stand ein Stuhl. Es dauerte einige Herzschläge, ehe Chase in der Dunkelheit einen menschlichen Umriss darauf ausmachen konnte, gefesselt, wie all die anderen. Der Killer knipste eine Taschenlampe an und richtete den Lichtstrahl auf sein Opfer.

»Du krankes Arschloch!«, brüllte Chase.

Der andere lachte nur – und schloss ihn aus seinem Kopf aus, so plötzlich, dass Chase ins Taumeln geriet und sich an der Wand abstützen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er starrte auf den blaugrauen Teppich des Besprechungsraums, doch alles, was er sah, war sie. Kate. Dieser elende Dreckskerl! In seinem Kopf rauschte es, er war kurz davor loszulaufen, wenn er verdammt noch mal gewusst hätte, wohin. Das Rauschen wurde lauter, ließ ihn schwanken. Dann schob sich Munarez’ Gesicht in sein Blickfeld und ihm wurde bewusst, dass das, was er für Rauschen gehalten hatte, Worte waren und es ihre Hand auf seiner Schulter war, die ihn schüttelte und zum Wanken brachte.

»Mierda! Ryan, was ist los?«, brüllte sie ihm ins Gesicht. »Reden Sie endlich!«

Blinzelnd fragte sich Chase, wie lange sie schon auf ihn einredete. Zur Hölle, wen interessierte es!

»Er hat Kate«, platzte er heraus. »Wir müssen sie finden!«

Er streifte Munarez’ Hand ab und wollte zur Tür, doch die Polizistin vertrat ihm den Weg. »Wissen Sie, wo sie ist?«

»Nein!«

»Dann bleiben Sie jetzt verdammt noch mal stehen, atmen Sie durch und kommen Sie vor allem wieder runter!« Sie schob ihn zu einem Stuhl und zwang ihn, sich zu setzen. Am liebsten wäre er sofort wieder aufgesprungen. Alles in ihm schrie danach, loszulaufen und Kate zu finden, trotzdem gewann allmählich seine Vernunft wieder die Oberhand. Abgesehen davon, dass er nicht einmal gewusst hätte, wo er nach ihr suchen sollte, würde es sie nicht retten, wenn er jetzt den Kopf verlor. Der Killer würde Kate nicht sofort töten. Allerdings wagte Chase nicht, sich vorzustellen, was er ihr alles antun konnte, ohne ihr dabei das Leben zu nehmen.

»Was ist da gerade passiert?« Munarez’ Frage riss ihn aus seinen sich im Kreis drehenden Gedanken. »War das diese Geisterverbindung?«

Chase nickte. Stück für Stück gab er wieder, was der Killer gesagt und welche Ansichten er ihm gewährt hatte. »Nackte Wände, ein grauer Betonboden. Weitläufige Räume.« Er hatte nicht viel gesehen außer der Wand, dem Boden und Kate, doch was sich ihm offenbart hatte, war keine Wohnung, es hatte mehr ausgesehen wie … »Eine Fabrikhalle! Das muss es sein! Er hat sie in eine alte Fabrik verschleppt!«

»Wenn wir ihn finden wollen, brauchen wir mehr.« Munarez stand mit dem Rücken zum Fenster, den Blick auf Chase gerichtet. »Wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt.«

Chase hielt es nicht länger auf seinem Stuhl. Er sprang auf und begann auf und ab zu laufen, halb verrückt vor Sorge und Hilflosigkeit. Es musste doch einen Weg geben, sie zu finden!

»Sie müssen in seinen Kopf«, meldete sich Quinn zu Wort. »Beobachten Sie ihn, finden Sie heraus, wo er ist.«

Was sollte das bringen? Der Mann war in einem Gebäude, Kate war gefesselt und es sah nicht danach aus, als hätte er vor, sie an einen anderen Ort zu schaffen. Wie sollte er ihn da lokalisieren? Trotzdem musste er dem Indianer zustimmen – es war die einzige Hoffnung. Wenn er sich heimlich in seinen Geist schlich und durch seine Augen sah, würde er womöglich früher oder später etwas entdecken, was ihn zu ihm führen konnte. Wie der Briefumschlag mit Jane Mercers Adresse. Daran, dass er damals zu spät gekommen war, wollte er jetzt allerdings nicht denken.

Er stützte sich mit den Händen auf die Rückenlehne eines Stuhls, schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Die Ruhe wollte sich nicht einstellen, von Entspannung konnte erst recht keine Rede sein. Immer wieder schob sich Kates Anblick in seinen Geist. Er sah sie auf dem Stuhl, gefesselt und nicht bei Bewusstsein. Was, wenn sie gar nicht bewusstlos war, sondern längst tot? Nein, so leicht würde der Killer es ihr nicht machen. Er hatte keinem seiner Opfer einen schnellen Tod vergönnt und für Kate würde es schlimmer werden als für alle anderen. Er würde es so lange wie möglich hinauszögern, dieses Mal nicht, um seine Kunstfertigkeit und Überlegenheit unter Beweis zu stellen. Dieses Mal wollte er Chase treffen.

Ich kann ihr nicht helfen, wenn ich mich nicht konzentriere. Kate brauchte ihn, er konnte sie jetzt nicht im Stich lassen! Er war noch immer aufgewühlt, als er erneut die Augen schloss. Dennoch verdrängte er alles um sich herum, schloss jeden Gedanken, jedes Wort, selbst die Atemzüge von Munarez und Quinn aus seinem Geist aus und dachte nur an eines: Kate. Dieses Mal rief er sich ihren Anblick bewusst ins Gedächtnis, ließ ihn zu einer Mahnung werden und zur Erinnerung, warum es so wichtig war, seine innere Mitte zu finden und in den Kopf des Killers zu dringen. Im einen Moment lauschte er noch auf seine eigenen Atemzüge, im nächsten waren es die des Killers, die er vernahm. Als er Kate dieses Mal vor sich sah, war es nicht das Bild, das er in seiner Erinnerung heraufbeschworen hatte, sondern die reale Kate.

Der Killer beobachtete sie. Lange Zeit rührte er sich nicht, stand einfach nur da und sah sie an. Schließlich beugte er sich zu ihr hinab, packte sie am Kinn und drehte ihren Kopf zur Seite. Ihre Lider flatterten, doch sie schlug die Augen nicht auf.

Chase Aufmerksamkeit richtete sich auf die Tätowierung, die am Arm des Killers unter seinem T-Shirt hervorschaute. Der riesige Leib einer Schlange, der sich um seinen Arm wand und weiter oben unter dem Ärmel zu verschwinden schien. Ein auffallendes Tattoo, an das sich ein Tätowierer auf jeden Fall erinnern würde. Die Tattoo-Studios abzuklappern, würde jedoch zu lange dauern. Zu lange, um Kate noch retten zu können. Es musste einen anderen Weg geben.

Der Killer hob die Hand und strich Kate in einer beinahe zärtlichen Geste über die Wange. Zuzusehen, wie der Mann sie anfasste, und dabei nicht zu schreien und seine Anwesenheit zu verraten, kostete Chase immense Kraft. Als sie die Augen aufschlug, hätte er um ein Haar vor Erleichterung die Luft ausgestoßen. Gerade noch gelang es ihm, still zu verharren.

Über ihren Pupillen lag ein trüber Schleier, der sich nur allmählich verzog und das klare Blau ihrer Augen offenbarte. Hustend und leise stöhnend versuchte sie sich aufzurichten. Der Killer griff nach ihr, wollte ihr helfen, da ihre Hände mit Kabelbinder gefesselt waren, aber sie schüttelte ihn ab. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, sie dennoch zu packen, aber er tat es nicht.

»Warum?« Kates Stimme klang rau und brüchig, eine Nachwirkung der Betäubung, doch im Gegensatz zu den anderen Opfern war sie immerhin noch imstande zu sprechen.

Mein Gott, schoss es Chase durch den Kopf. Was, wenn er ihr die Lippen zunäht?

»Ich mag Sie, Kate«, sagte der Killer mit dunkler, dröhnender Stimme, die wie immer ein wenig verzerrt in Chase’ Ohren klang. »Und ich hätte Ihnen das hier gern erspart. Aber Sie haben meine Pläne durchkreuzt und das kann ich nicht zulassen.«

»Durchkreuzt?«, echote sie.

»Sie haben verhindert, dass er tötet. Dabei wollte ich ihm beweisen, dass jeder zum Mörder werden kann.«

»Jeder? Sind Sie noch ganz dicht? Sie haben ihn beeinflusst! Sie hatten die Kontrolle über seinen Verstand und haben versucht, ihn dazu zu bringen, es zu tun. Damit hätten Sie nichts bewiesen, gar nichts!«

Chase bewunderte ihren Mut. Dass sie in ihrer Situation überhaupt noch einen Ton herausbrachte, statt zu einem jammernden Bündel Elend zusammenzufallen, brachte ihr seine Hochachtung ein. Sie zitterte am ganzen Leib und ihre Stimme klang gepresst, als hätte sie Mühe, die Worte herauszuquetschen, trotzdem fand sie die Kraft, zu sprechen. Und diese Kraft war es, die sie in noch größere Gefahr bringen würde, wenn sie nicht bald den Mund hielt.

Himmel, sei still! Fordere ihn nicht heraus!

Doch wie schon in jener Nacht, in der er sie entführt hatte, gelang es ihr nicht, sich zu zügeln: »Sie haben nicht das Geringste erreicht.«

»Das ist ein Irrtum.« Zu Chase’ Erstaunen klang der Killer noch immer vollkommen gelassen. »Vielleicht ist es mir nicht gelungen, zu beweisen, dass jeder das Zeug zum Mörder in sich trägt – auch wenn ich nach wie vor davon überzeugt bin –, aber ich habe etwas anderes erreicht.«

»Was soll das sein?«, stieß Kate zischend hervor, als er nicht weitersprach.

»Ich habe ihnen gezeigt, dass sie mich besser nicht abgelehnt hätten.«

Wovon, zum Teufel, redete er da?

»Sie hätten mich auf ihrer Seite haben können, stattdessen müssen sie mich nun jagen. Ich bin klüger als sie – aber das interessierte sie einen Dreck. Die Cops wollten mich trotzdem nicht.«

Jagen? Auf ihrer Seite haben? Das war es! Er hatte sich bei der Polizei beworben und war an den Aufnahmeprüfungen gescheitert. In Anbetracht der Morde musste es in den letzten drei bis sieben Jahren gewesen sein, doch ebenso, wie ihnen keine Zeit blieb, nach dem Tätowierer zu suchen, der für die Schlange auf seinem Arm verantwortlich war, konnten sie unmöglich alle abgelehnten Bewerber sichten. Das würde Tage dauern!

»Das ist Ihr Grund?« Kate starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Sie töten all diese Menschen, um irgendeinem bescheuerten Gremium, das vermutlich noch nicht einmal ahnt, dass diese Botschaft an seine Mitglieder gerichtet ist, zu beweisen, dass es damals einen Fehler gemacht hat?«

In ihren Augen stand deutlich geschrieben, dass sie die Entscheidung nicht für einen Fehler hielt. Chase musste ihr recht geben. Zweifellos war es seine psychische Verfassung, die ihm den Weg in den Polizeidienst verwehrt hatte. Er konnte nur hoffen, dass Kate ihre Gedanken nicht laut aussprach. Andernfalls würde sie dafür büßen, so wie Frank gebüßt hatte.

Zu seiner Erleichterung ging sie nicht weiter darauf ein. »Aber Sie haben einen Job«, fuhr sie fort. »Sie gehören dazu, auch ohne Uniform. Scheiße, alle mögen Sie!«

Sie sagte noch mehr, doch Chase hatte Schwierigkeiten, sich auf ihre weiteren Worte zu konzentrieren. Zu sehr spukte ihm das eben Gesagte im Kopf herum. Dazu gehören, ohne Uniform. Beliebt sein. Die ganze Art, wie sie mit ihm sprach – so würde sie niemals mit einem Fremden reden. Kate kannte den Killer, wie vermutlich die halbe Mordkommission auch! Aber wer konnte es sein? Einer von Edwards Gehilfen? Fotografen? Pressesprecher? Verflucht, sprich ihn mit seinem Namen an!

»Werden Sie mich auch umbringen?«

»Nicht sofort.«

Kate reagierte auf seine Worte in keiner Weise erleichtert. »Was haben Sie vor?«

»Er soll es spüren, den Rausch, die Erregung. Ich will, dass er tötet.«

»Mich?«

Daran, wie seine Sicht plötzlich wankte, erkannte Chase, dass der Killer den Kopf schüttelte. »Er würde sich eher erschießen lassen, als auch nur Hand an Sie zu legen.« Noch ein Kopfschütteln. »Entgegen meiner Gewohnheit habe ich extra für ihn ein wenig Arbeit mit nach Hause gebracht.« Er richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe auf eine Ecke. Schlagartig zerfiel die Dunkelheit und offenbarte den Blick auf eine weitere Frau, die gefesselt und reglos auf dem Betonboden lag. Nicht weit von ihr stand die dunkelblaue Sporttasche, die Chase schon zuvor gesehen hatte.

»Es ist alles bereit. Wir warten nur noch auf Agent Ryan.«

Chase platzte der Kragen. »Dann sag mir, wo du bist, du verdammtes Arschloch!«

Der Killer zuckte überrascht zusammen, hatte sich jedoch sofort wieder unter Kontrolle. »Wo bleibt da der Spaß? Sie sind der Ermittler. Finden Sie mich!« Er versuchte Chase aus seinem Kopf zu drängen, versuchte die Verbindung zu beenden, doch Chase klammerte sich daran. Sein Blick war nun wieder auf Kate gerichtet, die den Killer mit gerunzelter Stirn betrachtete.

»Chase?«, fragte sie vorsichtig, und als der Killer sich ruckartig von ihr abwandte, rief sie: »Ben! Es ist Ben!«

Der Killer fuhr zu ihr herum und verpasste ihr einen Schlag mit der Faust, der sie samt Stuhl ins Wanken brachte. Sie fiel zur Seite, lediglich die Fesseln hielten sie noch auf dem Stuhl, und rührte sich nicht mehr.

»Kate!« Chase brüllte ihren Namen, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht hören konnte und er damit nur dem Killer in die Hände spielte, doch das war ihm egal. In diesem Moment bestand er nur noch aus brennender Sorge. Wieder und wieder rief er nach ihr, doch die einzige Antwort war das leise Lachen des Killers.

Ben Summers’ Lachen.

Damit endete die Verbindung abrupt. Es war jedoch Chase, der sich zurückgezogen hatte. »Es ist Summers!«, rief er, noch ehe sich seine Sicht vollkommen geklärt hatte.

»Qué?« Munarez starrte ihn wie vom Donner gerührt an. »Ben Summers? Der Kerl, den jeder mag, der ständig mit Cops herumhängt? Sácatelas!«

»Dann wissen Sie, wo mein Großvater ist?«, mischte Quinn sich ein. »Haben Sie ihn gesehen, Agent Ryan?«

Chase schüttelte den Kopf. »Nein, aber er hat noch eine Frau in seiner Gewalt und er erwartet von mir, dass ich sie töte.« Ehe Anita weiter in ihre mexikanischen Flüche abgleiten konnte, beschrieb er, was er gehört und gesehen hatte.

»Diese Scherben«, überlegte er laut, »müssen Fliesenreste gewesen sein. Zumindest würde das zu dem Brennofen passen, den ich gesehen habe. Wir brauchen Einblick in die Gewerberegister!« Dort musste es Hinweise auf eine stillgelegte Fliesenfabrik geben. Es würde Zeit kosten, aber nicht so viel Zeit, wie sie benötigen würden, die Bewerberunterlagen der Polizeiakademie durchzugehen.

Ben Summers. Chase konnte es noch immer nicht glauben, dass ausgerechnet der freundliche, bei allen beliebte Fotograf der grausamste Mörder sein sollte, den D. C. je gesehen hatte. Wie oft hatte er an den Tatorten mit ihm gesprochen, hatte ihm zu erklären versucht, warum ein Mensch zu derartigen Abscheulichkeiten in der Lage sein konnte, und jetzt stellte sich heraus, dass Summers die ganze Zeit nur mit ihm gespielt hatte. Er hatte ihn ausgehorcht und verarscht!

Munarez, die keinen Ton gesagt und auch sonst keine Regung gezeigt hatte, seit er das Gewerberegister erwähnt hatte, sah auf. »Hendersons Tiles«, sagte sie.

Chase runzelte die Stirn. »Die Fabrik?« Als sie nickte, fragte er: »Woher wollen Sie das wissen?«

»Es ist eine kleine Fliesenfabrik, die vor ein paar Jahren geschlossen wurde, nachdem Henderson Junior seinen Vater im Streit um ein geändertes Testament erschossen hatte.«

»Das ist ein Anhaltspunkt, aber nicht mehr.«

»Es ist die einzige Fliesenfabrik, die es hier in der Gegend gab«, erklärte Munarez. »Und soweit ich weiß, steht das Gebäude immer noch leer. Abgesehen davon kennt Summers den Ort – er hat damals die Tatortfotos gemacht.«

Das genügte Chase. »Schicken Sie eine Streife hin«, wies er sie an. »Die sollen sich davon überzeugen, dass tatsächlich jemand in der Fabrik ist. Wir brauchen lediglich die Bestätigung. Summers darf sie auf keinen Fall bemerken!«

»Ich lasse sofort jemanden anfunken.« Munarez war so schnell aus dem Zimmer, dass Chase keine Gelegenheit mehr blieb, ihr weitere Warnungen mit auf den Weg zu geben. Das war auch nicht nötig. Sie war ebenso ein Profi wie die Cops, die sie zur Fabrik schicken würde. Sie alle wussten, was sie taten, das durfte er in seiner Sorge um Kate nicht aus den Augen verlieren. Andernfalls lief er Gefahr, sich in sinnlosen Debatten über Vorgehensweisen und Vorsicht zu verlieren. Dafür hatte er keine Zeit.

»Und was machen wir in der Zwischenzeit?«, meldete sich Quinn zu Wort.

»Sie werden sich draußen zu den Kaffeeautomaten setzen und sich nicht vom Fleck rühren, bis wir zurück sind«, sagte Chase. »Wir kümmern uns um den Rest und holen uns diesen Dreckskerl.«

Der Indianer sah ihn lange an, schließlich nickte er. »Nutzen Sie die Verbindung, Agent Ryan.«

36

Nicht einmal eine Stunde später stand Chase im Schutz eines Flachbaus und starrte auf die ehemalige Fliesenfabrik, die wie ein fauliger Zahn in den Nachthimmel ragte. Eine Streife war auf der Rhode Island Avenue unterwegs gewesen, nicht weit von dem Ort, an dem sich die Fabrik befand, in der sie Summers vermuteten. Tatsächlich hatten sie wenige Minuten später über Funk die Bestätigung bekommen, dass jemand in der Fabrik war. Halb hinter dem Haus versteckt hatten sie einen parkenden Wagen entdeckt, der auf Summers zugelassen war. Die Polizisten hatten Abstand zum Gebäude gehalten, um nicht Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Ihnen war jedoch der matte Lichtschein aufgefallen, der durch die Ritzen der teilweise mit Brettern vernagelten Fenster nach außen drang.

Ein Lichtschein, den jetzt auch Chase sah.

Es hatte einige Debatten gegeben, ehe er Munarez davon hatte überzeugen können, ihn allein zu Summers gehen zu lassen, statt die Fabrikhalle von einem SWAT-Team stürmen zu lassen. Letztlich hatte sie einsehen müssen, dass er recht hatte. Die Spezialeinheiten waren dafür ausgebildet, nicht lange zu fackeln. Wenn Summers auch nur falsch zuckte, würden sie ihm eine Kugel in den Schädel jagen – und damit auch Chase. Mehr Sorgen als um sich selbst machte er sich jedoch um Kate und die andere Frau. Wenn Summers argwöhnte, dass sie ihm eine Falle stellten, würde er beide töten, ohne mit der Wimper zu zucken.

Anita hatte darauf bestanden, ihn mit einem Mikrofon auszustatten und ihm, kaum dass er verkabelt war, das Signalwort genannt. Sobald er es aussprach, würde sie mit ihren Leuten die Halle stürmen. Rotkäppchen war zweifelsohne eines der idiotischsten Signalwörter, die er je gehört hatte, aber immerhin bestand damit nicht die Gefahr, dass er es zufällig verwenden und Munarez daraufhin zum Angriff blasen würde.

Obwohl ihm bewusst war, dass er Summers nicht einfach erschießen konnte, hatte er sich eine Pistole geben lassen. Wenn sich die Möglichkeit bot, würde er sie benutzen. Natürlich hatte er nicht vor, dem Fotografen einen Kopfschuss zu verpassen, aber einen Schuss ins Bein, um ihn an der Flucht zu hindern, zog er durchaus in Erwägung.

Die Fabrik, die einmal Hendersons Tiles geheißen hatte, befand sich in Eckington, einem nördlichen Teil von D. C., in einem Industriegebiet voller Fabriken und Lagerhallen. Flachbauten und Schornsteine wucherten hier wie Pilze aus dem Boden. Um diese Zeit war die Gegend ausgestorben, lediglich ein paar Schichtarbeiter waren unterwegs, um die sich die Polizei kümmerte und dafür sorgte, dass niemand Hendersons Tiles zu nahe kam. Die Straßen waren abgesperrt, die Einsatzwagen standen im Schutz einer anderen Fabrikhalle und Munarez’ Team hatte sich auf dem Gelände verteilt, bereit zuzuschlagen, wann immer Chase danach war, über Märchenfiguren zu sprechen.

Munarez stand neben ihm und starrte auf die Fabrik am Ende der Stichstraße. Sie hatte ihren Blazer gegen eine kugelsichere Weste getauscht, die Waffe war griffbereit und ihre Dienstmarke deutlich sichtbar am Gürtel befestigt. Sie hatte versucht, Chase dazu zu bewegen, ebenfalls eine Schutzweste anzuziehen, doch er bezweifelte, dass das Kevlar ihm helfen würde. Ben Summers war nicht der Typ, der um sich schoss.

Chase überprüfte noch einmal den Sitz seiner Waffe. »Bringen wir es hinter uns.«

Er wollte gehen, doch Munarez hielt ihn zurück. »Seien Sie vorsichtig, Ryan.«

»Machen Sie sich um mich keine Sorgen.«

Sie betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen, ein Ausdruck, der ebenso gut von Misstrauen herrühren konnte wie von der Dunkelheit. »Keine Heldentaten, okay?«

»Ich werde nichts tun, was andere gefährdet.«

Einen Moment noch ruhte ihr Blick auf ihm. Schließlich schien sie zu begreifen, dass er ihr nicht mehr als das versprechen würde. »In Ordnung«, nickte sie. »Jetzt hauen Sie schon ab!«

Chase trat aus dem Schatten des Gebäudes und folgte der Straße in Richtung Fabrik. Um ihn herum herrschte Totenstille. Lediglich seine eigenen Schritte und das Rascheln der Ratten hinter einem Müllcontainer waren zu hören. Keine Stimmen, keine Automotoren. Nichts. Entschlossen näherte er sich Hendersons Tiles, deren alter Firmenschriftzug sich noch immer als Schatten auf der Fassade abzeichnete, wo einst große Buchstaben befestigt gewesen waren.

Er kam an einem Parkplatz vorbei, der mit einem Maschendrahtzaun von der Straße abgetrennt war. Das Tor stand halb offen, doch bis auf einige Container und Unmengen von Unrat war der Parkplatz verlassen.

Chase versuchte die verbliebenen Augenblicke der Stille zu nutzen, bis er die Fabrikhalle erreichte, um sich Gedanken über sein Vorgehen zu machen. Er wusste, was Summers von ihm wollte, doch er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er Kate retten konnte, ohne der anderen Frau etwas anzutun.

Mit jedem Schritt wurde er schneller, getrieben von dem Wunsch, endlich herauszufinden, was genau ihn im Inneren der Fabrik erwartete. Erst wenn er sich ein Bild von der Situation gemacht hatte, konnte er entscheiden, was er tun würde.

Er ging an einem Rolltor vorbei zu einem Seiteneingang, der über eine kurze Treppe zu erreichen war, und hämmerte mit der Faust gegen die Tür.

»Summers!«, rief er. »Ich bin hier. Wie geht es jetzt weiter?«

Er fürchtete schon, keine Antwort zu bekommen und lediglich Kates Leiche und die der Frau hinter der Tür vorzufinden, dann jedoch erklang Ben Summers’ Stimme: »Kommen Sie herein und verriegeln Sie die Tür hinter sich. – Und vermeiden Sie abrupte Bewegungen, ich bin ein wenig nervös.«

Chase drehte den Türknauf herum, zog die Tür weit genug auf, um durch den Spalt schlüpfen zu können und zog sie sofort hinter sich wieder ins Schloss. Mit einem leisen Klicken rastete der Riegel ein, als er ihn vorschob.

Dämmriges Licht erfüllte die weitläufige Halle und verbreitete mehr Schatten als Helligkeit, trotzdem reichte es aus, ihn seine Umgebung zumindest halbwegs erkennen zu lassen. Zu seiner Rechten befand sich ein Glaskasten, der früher als Büro gedient haben musste. Die verdreckten Lamellen waren vorgezogen und verwehrten Chase den Blick nach drinnen. Er konnte nur hoffen, dass Summers dort nicht noch weitere Überraschungen bereithielt. Vor ihm führten drei Stufen nach unten in die weitläufige Halle, deren Dachkonstruktion von acht kantigen Säulen getragen wurde, die in Zweierreihen bis zum hinteren Ende verliefen. An einigen Stellen baumelten nackte Glühbirnen von der Decke und erhellten den Teil, den der kalte Schein der verdreckten Neonlampen im Zentrum der Halle nicht zu erreichen vermochte. In einer Ecke hatte sich Summers eingerichtet: Chase sah einen Tisch, einen Stuhl und etwas, was wie ein alter Sessel aussah. Der Rest lag hinter einer hüfthohen Mauer verborgen.

Keine fünf Meter von ihm entfernt stand etwas vor einer Säule, verhüllt von fließenden schwarzen Stoffbahnen, die bis auf den Boden fielen. Chase brauchte nicht erst darunterzusehen, um zu wissen, was er dort finden würde: die andere Frau.

»Bleiben Sie stehen, Chase.« Im Zentrum der Halle, unmittelbar unter einer Lampe, stand Ben Summers. Doch es war nicht der Anblick des Killers, der Chase’ Herz für einen Schlag aussetzen ließ, sondern Kates. Sie war noch immer an den Stuhl gefesselt, der Mund jetzt mit Klebeband versiegelt. Summers Hand ruhte auf ihrer Schulter, als wolle er verhindern, dass sie aufsprang und davonlief. Abgesehen davon, dass die Fesseln das nicht zulassen würden, wirkte sie nicht, als sei sie in der Verfassung dazu. Dort, wo Summers’ Schlag sie getroffen hatte, war ihre Wange geschwollen und die Ränder des Klebebandes blutig. Sie schien noch immer benommen zu sein. Was er jedoch in ihren Augen entdeckte, war schlimmer als alles andere. Es war nackte Angst, die er dort sah, eine Angst, von der er wusste, dass sie nicht ihrem eigenen Leben galt, sondern seinem.

Er war schon zwei Schritte auf sie zugegangen, als Ben den Kopf schüttelte.

»Sie wollen doch nicht, dass ich ihr die Halsschlagader durchtrenne?«

Chase blieb stehen, nicht weit von der Frau entfernt, die unter den Stoffbahnen keinen Laut von sich gab. »Was passiert jetzt?«

»Als Erstes verabschieden Sie sich von Ihrer Pistole«, befahl Summers. »Nehmen Sie das Holster ab, und ich rate Ihnen, die Waffe dabei nicht zu berühren.« In seiner Hand blitzte etwas auf, ein Skalpell, das er jetzt an Kates Kehle hielt. Beinahe spielerisch strich er mit der Klinge über ihre Haut, ohne sie dabei zu verletzen.

Chase löste das Holster. Er hielt die Finger, die er dazu nicht brauchte, weit abgespreizt, sodass Summers sehen konnte, dass er die Waffe nicht anfasste. Es war umständlich, sich auf diese Weise des Holsters zu entledigen, schließlich jedoch hielt er es in der Hand.

»Schieben Sie es über den Boden in meine Richtung. Wenn Sie mich nicht erzürnen wollen, sollte es genug Schwung haben, um bis zu mir zu kommen.«

Chase folgte den Anweisungen. Das Holster schlitterte über den Boden und wurde erst von Kates Füßen gebremst.

Summers nickte zufrieden. »Sie dürfen jetzt Ihr Geschenk auspacken.«

Chase rührte sich nicht.

»Machen Sie schon! Oder ist Ihnen das Leben Ihrer Freundin plötzlich nicht mehr wichtig?«

Ohne etwas zu erwidern, ging er zu der Frau, langsam und darauf bedacht, Summers stets seine Hände zu zeigen. Neben ihr befand sich eine Säule, an der ein Verteilerkasten mit fehlender Abdeckung hing, unmittelbar darunter stand ein wackliger Campingtisch, auf dem Summers Werkzeuge ausgebreitet lagen. Verschiedene Messer und Rasierklingen, das Etui mit den Spritzen, blauer chirurgischer Faden und die dazugehörige Nadel.

»Entfernen Sie den Stoff.«

Chase tat es, wobei er darauf achtete, nicht versehentlich einen der unzähligen Kabelstränge, die in und aus dem Verteilerkasten führten, zu berühren. Obwohl er gewusst hatte, was ihn erwartete, war er nicht darauf vorbereitet gewesen. All die Tatortfotos, die Leichen, die er gesehen hatte, selbst Jane Mercers Tod hatten ihn nicht auf das unendliche Entsetzen in den Augen dieser Frau vorbereiten können. Blut und Tränen rannen über ihr Gesicht und verschmierten die Fäden, mit denen Summers ihr die Augenlider nach oben und die Lippen zusammengenäht hatte.

»Ich dachte, ich fange schon einmal an«, meinte Summers, als hätte er Chase lediglich ein wenig lästige Arbeit abgenommen. »Ich habe mehr Übung darin als Sie. Abgesehen davon hat mich ihr Geschrei verrückt gemacht.«

Verrückt warst du schon vorher.

»Nehmen Sie jetzt die Spritze, Agent. Die, die ich bereits aufgezogen habe, und injizieren Sie ihr das Mittel in den Hals.«

Chase zögerte. Er hatte gehofft, einen Plan zu schmieden, sobald er sich einen Überblick verschafft hatte, doch in seinem Kopf zeigte sich nicht einmal der Funken einer Idee. Alles, woran er denken konnte, war, dass er Kates Leben in Gefahr brachte, wenn er sich weigerte, Summers’ Aufforderungen nachzukommen. Er konnte die Frau nicht töten – er würde es auch nicht tun, doch der Gedanke an Kate lähmte ihn und hielt ihn davon ab, all seine Möglichkeiten zu erwägen, da er alles von vornherein verwarf, was sie noch mehr gefährden konnte.

Er griff nach der Spritze. »Das Antigerinnungsmittel?«

Summers nickte. »Spritzen Sie es ihr.«

Chase packte die Spritze fester und stellte sich so vor die Frau, dass er ihren Körper mit seinem verdeckte. Wenn er lediglich so tat und das Serum an ihrem Hals herabrinnen ließ …

»So, dass ich es sehen kann«, zerstörte Summer jedwede Illusion, er könne darauf verzichten, der Frau das Mittel zu verabreichen.

Mit einem Schritt gab er die Sicht frei, setzte die Injektionsnadel an die linke Halsseite und stach zu. Mit beständigem Druck pumpte er den Gerinnungshemmer unter ihre Haut und versuchte ihr leises Stöhnen ebenso zu ignorieren wie die Todesangst in ihrem Blick. Das Mittel würde sie nicht umbringen. Noch blieb ihm Zeit, einen Ausweg zu finden.

»Gut gemacht«, lobte Summers, als Chase die leere Spritze auf den Tisch zurückwarf. »Jetzt das Messer.«

»Scheiße, Summers, was soll das? Sie wissen, dass ich nicht allein gekommen bin.«

»Natürlich weiß ich das.« Ein Grinsen spaltete seine Lippen und ließ seine Augen voller Irrsinn funkeln. »Aber ich weiß auch, dass die mich nicht erschießen werden.«

»Was macht Sie so sicher, dass ich jemandem von der Verbindung erzählt habe? Oder – falls doch – dass mir jemand geglaubt hat?« Es kostete ihn Mühe, sich auf Summers zu konzentrieren und nicht ständig zu Kate zu sehen. »Womöglich«, fuhr er fort und zwang sich, seinen Blick von Kate abzuwenden, »bin ich wie Cassell und es ist mir gleichgültig, was mit mir passiert, solange Sie endlich zur Strecke gebracht werden.«

Summers schüttelte den Kopf. »Sie sind kein Selbstmörder.« Seine Augen richteten sich auf Kate, sanft strich er ihr über die Wange und hörte auch nicht auf, als sie zusammenzuckte, als seine Hand die Schwellung berührte. Allein dafür hätte Chase ihn am liebsten umgebracht. »Im Gegensatz zu Cassell haben Sie etwas, wofür es sich zu leben lohnt.«

Chase sah das Flehen in Kates Augen, das ihn dazu bewegen sollte, kehrtzumachen und den Rest Munarez und ihren Leuten zu überlassen. Ein Flehen, dem er nicht nachgeben würde. »Was bezwecken Sie, Ben?« Er wählte bewusst die vertrauliche Anrede, um Nähe zu schaffen und eine Verbundenheit, die über das Ritual hinausging. Wenn er ihn davon überzeugen konnte, dass er ihm helfen wollte – nicht dass er das tatsächlich vorhatte –, würde er die Frauen womöglich gehen lassen. »Sie wissen, dass Sie aus dieser Sache nicht mehr herauskommen. Wozu also das Ganze? Wozu noch mehr Tote? Für nichts und wieder nichts?«

»Vielleicht geht es mir nur noch darum, Ihnen zu beweisen, dass jeder zum Mörder werden kann.«

»Das ist es?«, entfuhr es Chase. Ihm war klar, dass die früheren Morde nichts damit zu tun hatten – all die Morde, die er begangen hatte, bevor er Diana umgebracht hatte, um Frank zu bestrafen. Erst da hatte sich alles auf eine persönliche Ebene verschoben und war zu einem Spiel für ihn geworden, in dem es ihm nur darum ging, etwas zu beweisen. Chase konnte sich sogar noch an das Gespräch erinnern, auf das Summers anspielte, jene Unterhaltung, während der Summers voller Überzeugung erklärt hatte, dass in jedem Menschen ein Mörder steckte, und Chase dagegengehalten hatte. »Scheiße, Summers! Das alles wegen einer Aussage von mir? Deswegen setzen Sie alles aufs Spiel? All die Jahre, die Sie der Polizei immer einen Schritt voraus waren, in denen Sie Ihre Überlegenheit demonstriert haben – und jetzt riskieren Sie alles, nur um mir zu beweisen, dass ich womöglich unrecht hatte?«

»Womöglich?« Summers lachte. »Sie hatten ganz sicher unrecht und Sie werden es sich in dem Moment eingestehen, indem Sie Mrs Wilkes hier das Leben nehmen, um Ihre Freundin zu retten.«

»Noch ist es für Sie nicht vorbei, Ben.« Chase hatte seine Ruhe wiedergefunden. »Wenn Sie jetzt aufgeben und niemandem hier etwas zustößt, werde ich dafür sorgen, dass Ihnen die Todesstrafe erspart bleibt. Sie werden den Rest Ihres Lebens hinter Gittern verbringen, im Gefängnis oder in einer Anstalt, aber wenn ich Ihnen geistige Unzurechnungsfähigkeit attestiere, werden Sie mit dem Leben davonkommen.«

»Und was für ein Leben soll das sein?«, schnaubte er. »Hinter Gittern, umgeben von Irren oder von gewöhnlichen Verbrechern und Mördern, die lediglich Schlachtvieh vor sich sehen statt Kunstobjekte?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Alles hat einmal ein Ende. Wie jede Kunst verliert auch diese mit der Zeit ihren Reiz. Aber für Sie wird es sich gut anfühlen. Mein Gott, ich beneide Sie darum! Sie haben es noch vor sich, herauszufinden, wie es ist, zum ersten Mal eine Klinge in das Fleisch eines Menschen zu stoßen. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und noch einmal erleben, wie die ersten Male waren.« Ein fiebriger Glanz hatte sich über seine Augen gelegt, trotzdem hielt er nach wie vor die Klinge an Kates Hals. »Das berauschende Gefühl, nicht erwischt zu werden und von Mal zu Mal das Vorgehen zu perfektionieren, als würde man ein Handwerk erlernen. Das ist wunderbar. Einzigartig! Aber für mich ist es vorbei.« Schlagartig war sein Blick wieder klar. Er zuckte die Schultern. »Man sollte aufhören, wenn man auf dem Höhepunkt seines Schaffens angekommen ist, und ich denke, das hier«, mit einer ausholenden Geste umfasste er die gesamte Halle, Kate, die gefesselte Frau, Chase und sich selbst, »wird ein Abgang, der in die Annalen der Geschichte eingeht. Vermutlich schaffe ich es damit nicht nur in Bücher, Zeitungen und ins Fernsehen, sondern auch in die Polizei- und FBI-Lehrbücher. – Lassen Sie uns nicht noch mehr Zeit verschwenden. Fangen Sie endlich an, Agent.«

Chase nahm das Messer, darauf bedacht, den Leitungen im Verteilerkasten nicht zu nahe zu kommen. Die Augen der Frau starrten ihm entgegen, aufgerissen und voller Entsetzen. Unterdrückte Laute schlüpften durch die Lücken ihrer zusammengenähten Lippen, drängten nach draußen und verhallten als gedämpftes Wimmern.

»Schneiden Sie ihr über die Wange – ich will sehen, ob Sie es können.«

Chase rührte sich nicht.

»Sie sollten besser tun, was ich verlange. Jedes Mal, wenn Sie sich weigern, meine Anweisungen auszuführen, wird Ihre Freundin dafür büßen. Und im Gegensatz zu der Frau vor Ihnen werden Sie Kate schreien hören. Jedes Mal.«

Chase’ Finger schlossen sich so fest um den Griff des Messers, dass sich der Kunststoffgriff in seine Handflächen grub. Nur ein Schnitt. Ein winziger Schnitt über die Wange der Frau konnte ihm die Zeit erkaufen, einen Plan zu fassen. Doch was, wenn ihm nichts einfiel? Ein weiterer Schnitt und immer noch einer, bis die Frau tot war?

Nein!

Es ist nur ein Schnitt ins Gesicht, versuchte er sich zu überzeugen. Aber was mit einem harmlosen Schnitt anfing, würde sich schnell steigern. Er durfte den Anfang nicht machen, konnte die Linie nicht überschreiten, die ihn von Menschen wie Summers trennte.

Wo begann es? Wo hörte es auf?

Er spürte eine Berührung in seinem Geist. Der Killer versuchte in seinen Verstand einzudringen, doch Chase hielt die Tür geschlossen, verweigerte ihm den Zugriff auf seinen Willen. Summers tastete sich am Rande der Barriere entlang, mit deren Hilfe Chase ihn aussperrte, suchte nach einem Zugang und wurde immer ungeduldiger. Schließlich zog er sich zurück.

»Wie haben Sie das gemacht, Ryan? Warum kann ich Sie nicht erreichen?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, behauptete Chase.

Sie starrten einander an, Summers’ Blick so durchdringend, als versuche er herauszufinden, was Chase getan hatte. Schließlich nickte er. »Sie sind wirklich ein würdiger Gegner. Trotzdem findet unser Spiel nun ein Ende. Sie hätten nicht zögern sollen. Ein einfacher Schnitt hätte genügt. Jetzt ist es zu spät.« Mit einem Ruck riss er das Klebeband von Kates Mund. »Hören Sie genau hin, Agent!«

Er drückte das Skalpell gegen die Seite ihres Halses, bis Blut floss. Kate stieß ein unterdrücktes Keuchen aus. Summers trieb die Klinge tiefer und drehte sie in ihrem Fleisch, bis sie aufschrie.

»Wenn Sie sich weiterhin weigern, werde ich ihr die Kehle durchschneiden!«

Chase’ Hand zitterte. Er würde die Frau nicht schneiden. Die Pistole war außer Reichweite ebenso wie Summers selbst. Er hätte sich mit bloßen Händen auf ihn gestürzt, wenn auch nur die geringste Aussicht bestanden hätte, ihn zu erreichen, bevor er Kate umbrachte.

»Vermutlich«, fuhr Summers fort, »muss ich Ihnen zugutehalten, dass Sie Ihren Prinzipien treu bleiben – auch wenn Sie damit Ihre Freundin zum Tode verurteilen.«

Er setzte ihr die Klinge an die Halsschlagader.

Kate zitterte, ihre Augen waren riesig, trotzdem schüttelte sie – soweit es das Skalpell an ihrem Hals zu ließ – den Kopf. »Tu es nicht, Chase«, stieß sie hervor.

Chase war versucht, sich die Klinge selbst ins Fleisch zu stoßen, doch abgesehen davon, dass die Verbindung stehen musste, würde das nicht genügen. Um Kate zu retten, musste er Summers sofort von ihr wegbekommen. Ein banaler Schnitt oder Stich würde ihn nicht davon abhalten, den tödlichen Schnitt anzubringen.

Nutzen Sie die Verbindung, Agent Ryan.

Chase’ Blick glitt über die Säule. Das war es! In der einen Hand hielt er noch immer das Messer, die andere ließ er in seine Hosentasche gleiten. Seine Finger schlossen sich um das Säckchen mit der Kräuterasche. Hatte Quinn nicht gesagt, dass die Kraft des Rituals darin gebunden war?

Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Verbindung, bis er sie glasklar vor sich sah, ein Lichtfaden, der aus seiner Brust aufstieg und bis zum Zentrum der Halle reichte, wo Summers Kate noch immer bedrohte. Leuchtend hell, als bräuchte er nur die Hand danach auszustrecken, um sie zu berühren.

Doch statt nach der Verbindung zu greifen, fasste er in den Verteilerkasten und riss an den Kabeln.

»Rotkäppchen«, keuchte er, als tausend Volt durch seinen Körper schossen und die Welt in einem Funkenregen explodierte.

*

Kate schrie.

Summers Klinge war schlagartig von ihrem Hals verschwunden, als er wie ein gefällter Baum zu Boden gegangen war, doch es war Chase, dem ihre Aufmerksamkeit galt. Chase, der reglos auf dem Boden lag, während die Kabel über ihm noch Funken schlugen.

Immer wieder brüllte sie seinen Namen, selbst als die Polizei die Halle stürmte und jeden Winkel sicherte, hörte sie nicht auf, nach ihm zu rufen. Auch dann nicht, als ihr die Cops die Sicht versperrten, während sie Summers umringten, um zu sehen, ob von ihm noch Gefahr ausging.

Jemand durchtrennte ihre Fesseln. Verschwommen erkannte sie Anita Munarez’ Züge vor sich. »Geht es Ihnen gut?«, wollte die Polizistin von ihr wissen. »Sind Sie verletzt?«

Kate schüttelte den Kopf, eine Antwort auf beide Fragen.

»Rufen Sie einen Krankenwagen! Schnell!« Ohne Munarez’ Reaktion abzuwarten, schob sie sich an ihr vorbei und rannte zu Chase. Warmes Blut lief über ihren Hals, doch der Schmerz, den sie spürte, hatte nichts mit der Verletzung zu tun. Neben ihm fiel sie auf die Knie und tastete nach seinem Puls.

Nichts.

»Ich brauche einen Arzt!«, schrie sie.

Ohne auf eine Reaktion zu warten – jemand musste sie gehört haben –, drehte sie Chase auf den Rücken, schob seinen Pullover nach oben und legte ihre Handflächen auf sein Brustbein. Immer wieder drückte sie ihre Hände darauf. Einmal. Zweimal. Dreimal. Kurze Pause. Eins. Zwei. Drei. Wieder und wieder von vorn. Sie wusste nicht, wie lange sie das schon machte, ihre Hände fühlten sich taub und gefühllos an und sie war ziemlich sicher, dass sie Chase eine Rippe gebrochen hatte, trotzdem hörte sie nicht auf. Auch nicht, als Munarez sich neben sie kniete.

»Der Notarzt ist gleich da. Beatmen Sie ihn, ich mache hier weiter.«

Als Kate nicht sofort reagierte, schob sie ihre Hände zur Seite. »Beatmen, Lombardi!«

Sie rückte zur Seite und sofort übernahm Munarez die Herzdruckmassage, während Kate nach Chase’ Kopf griff und ihn überstreckte. Sie hielt ihm die Nase zu und blies ihren Atem in seinen Mund, bis sich sein Brustkorb hob – lediglich eine Reaktion auf ihre Beatmung.

Chase selbst sprach nicht auf die Wiederbelebungsversuche an. Er atmete nicht und sein Herz begann nicht zu schlagen. Doch Kate weigerte sich, aufzugeben. Sie würde nicht zulassen, dass er sich ihretwegen umbrachte!

»Komm schon!«, fuhr sie ihn an. »Atme!«

Sie wollte nicht aufhören, ihm ihren Atem zu geben. Erst als Anita sie packte und halb von ihm fortschleifte, begriff sie, dass die Notärzte längst da waren. Sie stellten die Koffer mit ihrer Ausrüstung neben ihm ab. Einer der Männer bereitete den Defibrillator vor, während der andere Chase’ Vitalfunktionen prüfte.

»Kammerflimmern!«, rief er. »Defi bereit machen!«

Kate spürte kaum, dass Munarez sie an den Schultern aufrecht hielt, hörte kaum, was die Sanitäter sagten. Sie sah, wie die Männer mit ihren Gerätschaften hantierten und das EKG anschlossen, hörte das Aufladen des Defibrillators und den Knall der Entladung, doch das Einzige, was sie wirklich klar und deutlich wahrnahm, war Chase.

Wieder das Knallen des Defibrillators, gefolgt vom Pfeifen, als sich das Gerät erneut auflud.

»Keine Reaktion! Adrenalinspritze!«

Sie jagten ihm die Nadel direkt ins Herz.

»Nulllinie.«

Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie beobachtete, wie die Sanitäter um Chase’ Leben kämpften. Munarez redete auf sie ein, doch die Worte der Polizistin gingen im Dauerpiepton des EKGs unter.

»Mehr Adrenalin!«

Noch eine Spritze, gefolgt von einem einzelnen Piepton.

»Wir haben ihn! Stabilisieren!«

Kate schloss erleichtert die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie sich zum ersten Mal bewusst um. Die beiden Ärzte bei Chase waren nicht die einzigen. Jemand hatte die gefesselte Frau befreit, ein Sanitäter kümmerte sich um sie und half ihr, sich auf eine Trage zu legen, während er ohne Unterlass beruhigend auf sie einredete. Auch Ben Summers wurde behandelt, und wie bei Chase war es den Sanitätern gelungen, ihn ins Leben zurückzuholen. Die Verbindung, schoss es Kate durch den Kopf, während sie beobachtete, wie Summers auf eine Trage geladen und mit Handschellen daran festgekettet wurde. Zwei Polizisten blieben an der Seite der Sanitäter und verließen mit ihnen die Halle. Zweifelsohne würden sie ihn auch im Krankenhaus nicht aus den Augen lassen.

Chase war sehr schwach. Die Ärzte hatten alle Hände voll zu tun, ihn zumindest halbwegs stabil zu halten. »Er muss sofort ins Krankenhaus«, hörte sie einen der Männer sagen. Kurz darauf hatten sie ihn schon auf eine Tragbahre gehoben. Sofort war Kate bei ihm. Er sah sie an, seine Mundwinkel zuckten im Anflug eines Lächelns. Sie griff nach seiner Hand, der linken, unversehrten. Die rechte hatte er sich durch den Stromschlag schlimm verbrannt.

»Wie konntest du das nur tun?«, schluchzte sie. »Du bist wirklich ein dummer, dummer Mann.«

»Dumm vielleicht«, brachte er angestrengt hervor. »Aber nicht langweilig, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ganz sicher nicht.«

Epilog

Während der kommenden Tage wich Kate nur von Chase’ Seite, wenn die Ärzte sie aus dem Zimmer schickten, um ihn zu untersuchen. Die Schläuche und die Maschinen, an die er angeschlossen war, machten ihr Angst. Vermutlich hätte sie das regelmäßige Piepen der Geräte in den Wahnsinn getrieben, wäre nicht jeder Piepton ein Beweis dafür gewesen, dass er am Leben war.

Er war noch immer bewusstlos und die Ärzte hatten sie darauf vorbereitet, dass sein Herz plötzlich zu schlagen aufhören oder der Stromschlag seinem Gehirn dauerhaften Schaden zugefügt haben könnte. Genaueres ließe sich erst sagen, wenn er zu sich kam. Doch selbst das konnten ihr die Halbgötter in Weiß nicht garantieren. Es bestand die Möglichkeit, dass das Koma, in das er nach seiner Einlieferung gefallen war, nicht nur vorübergehender Natur war.

Sie hatte ihm mit ihrer Herzdruckmassage tatsächlich eine Rippe gebrochen, doch die Ärzte versicherten ihr, dass das nichts Ungewöhnliches war und dass ihm ihr schnelles Eingreifen vermutlich das Leben gerettet hatte. Seine Hand war dort, wo er mit dem Strom in Kontakt gekommen war, verbrannt, würde jedoch bis auf ein paar Narben vollständig heilen.

Als er nach ein paar Tagen die Augen aufschlug, wenn auch nur für wenige Herzschläge, nährte das ihre Hoffnung, dass alles gut werden würde – trotzdem gaben die Ärzte noch keine Entwarnung. Er war zu schwach, schwächer, als er sein sollte, und die Phasen, in denen er zu sich kam, waren zu kurz, um mehr über seinen Zustand sagen zu können.

Kate war Tag und Nacht an seiner Seite. Jemand hatte ihr ein Klappbett ins Zimmer gestellt, die meiste Zeit jedoch saß sie in einem Sessel neben seinem Bett, in dem sie auch schlief. Sie hielt Chase’ Hand und redete auf ihn ein, flehte ihn an, gesund zu werden und sie nicht allein zu lassen, und wann immer ihr die Stimme unter ihren Gefühlen zu ersticken drohte, zwang sie sich, ihm eine Geschichte zu erzählen. Belanglose Märchen, die sie aus ihrer Kindheit kannte und die ihn wissen lassen sollten, dass sie noch immer da war. Ihre Stimme sollte sein Anker sein, an dem er sich festhalten und – sobald er dazu bereit war – ins Leben zurückfinden konnte.

Am Abend des vierten Tages hatte er einen Atemstillstand. Die Ärzte konnten sich den Ursprung nicht erklären und hatten alle Hände voll zu tun, ihn am Leben zu erhalten. Letztlich waren sie gezwungen, zu intubieren und ihn künstlich zu beatmen. Anfangs glaubte Kate, der Erstickungsanfall sei eine Folge des Stromschlags, doch so schnell er gekommen war, so schnell war er auch wieder gegangen und Chase war imstande, wieder aus eigener Kraft zu atmen. Erst als Munarez am Abend kam, um nach Chase zu sehen, erfuhr sie den wahren Grund für seinen Anfall: Ben Summers hatte versucht, sich in der Toilette des Gefängniskrankenhauses zu erhängen. Dieses Mal hatten die Ärzte sein Leben gerettet – ebenso wie Chase’ –, doch Kate wusste, dass es jederzeit wieder geschehen konnte. Beim nächsten Mal hatten sie womöglich nicht so viel Glück.

In ihrer Verzweiflung rief sie Joseph Quinn an. Sie erzählte ihm, was geschehen war, und flehte ihn an, die Verbindung zwischen Chase und Summers aufzuheben. Nicht einmal eine Stunde später betrat der Indianer das Krankenzimmer. Sein Großvater folgte ihm in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Kate war froh, zu sehen, dass es dem alten Mann gut ging. Er hatte seine Gefangenschaft weit besser überstanden als die arme Margret Wilkes. Nachdem Summers ausgeschaltet war, hatte ein Polizist den alten Indianer im Büro der Fabrik gefunden, gefesselt und geknebelt in einen Besenschrank gesperrt.

Die beiden Männer trugen den Tisch vom Fenster zum Fußende des Bettes und breiteten darauf ihre mitgebrachten Utensilien aus. Als die Schwestern bemerkten, dass die Indianer etwas im Schilde führten, musste Kate die Tür verbarrikadieren, um sie daran zu hindern, Quinn und seinen Großvater hinauszuwerfen.

Wie gebannt verfolgte sie den Ritus der beiden Männer. Eine Räucherschale verströmte einen intensiv süßlichen Kräutergeruch, der das Zimmer bald bis in den letzten Winkel erfüllte. Unter fremd klingenden Gesängen verbrannten sie weitere Kräuter zu Asche und rührten damit eine Paste an. Noch immer singend und rezitierend hob Quinn Chase an und legte seinen Rücken frei, während sein Großvater die Paste auf den ursprünglichen Kern des Tattoos auftrug. Der Gesang steigerte sich zu einem drängenden Stakkato, ehe er abrupt endete.

»War es das?«, wollte Kate gerade fragen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie den dünnen Nebel sah, der von Chase’ Rücken aufstieg und sich in der Luft verflüchtigte.

Mit einem letzten Blick auf das Tattoo nickte Quinn zufrieden. »Das war es.«

Kate erkannte sofort, was er meinte. Das Tattoo war auf seine ursprüngliche Größe zusammengeschrumpft. Dort, wo die verschlungenen Ranken vor wenigen Augenblicken noch seinen gesamten Rücken überzogen hatten, war nichts mehr davon zu sehen. Die Haut war unversehrt, als sei nichts gewesen.

Zwei Tage, nachdem Quinn und sein Großvater die Verbindung aufgehoben hatten, unternahm Summers einen weiteren Selbstmordversuch. Dieses Mal mit Erfolg. Chase erlangte am nächsten Tag sein Bewusstsein endgültig zurück. Sein Zustand war stabil.

Nachdem er über den Berg war, begann Kate wieder zu arbeiten –’