DÖRTHE BINKERT

Roman

 

Deutscher Taschenbuch Verlag

 

Ungekürzte Ausgabe 2011
© 2010 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40836 - 3 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 21317 - 2

 

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|5|Schau mich an, damit ich bin

Altägyptische Weisheit

Inhalt

Maloja, 1898

Maloja, Mai 1896

Ein Schloss am Ende der Welt

Segantinis Traum

Eine neue, unbekannte Welt

St. Moritz, Anfang Juni 1896

In Zürich wird eine Kur geplant

Die Saison kann beginnen

Spiele und Spielregeln

Lust und Liebe

Ein Picknick voller Absichten

Alpenstich

Eine andere Art von Fieber

Gratwanderungen

Ungewissheiten

Fragen und vorläufige Lösungen

Neue Erfahrungen

Das Interview

Ein Besuch kündigt sich an

La Vanità

Herrenbesuche

Der erste Schnee

Erkenntnisse und Bekenntnisse

Das Ende der Saison

Der venezianische Ball

»Nika ging also ...

Drei Jahre später

Maloja, im September 1899

Nachbemerkung

|7|Maloja, 1898

»Sie hieß Nika und war nur einen Sommer hier.« Achille Robustelli betrachtete nachdenklich das Bild, das in seinem Büro hing und das schon morgen dem Mann gehören würde, der neben ihm stand. »Dann ist sie weitergezogen, weiß Gott, wo sie schließlich gelandet ist.«

Das Gemälde zeigte eine nackte junge Frau mit langem rötlichblondem Haar, die sich in einer grünen Landschaft in einer Quelle bespiegelt.

»Sie sprechen von der Frau, die Segantini für das Bild Modell stand?«, fragte der Mann, der das Bild für fünfzehntausend Gulden erworben hatte, ein Wiener Sammler, der Giovanni Segantini für einen der aufregendsten Maler seiner Zeit hielt. Er trat einen Schritt näher an die Leinwand heran. Das Bild war nicht sehr groß, 78 auf 125,5 Zentimeter, datiert auf das vergangene Jahr, 1897.

»Und wieso hängt das Bild hier bei Ihnen?«, fragte er verwundert. »Ungeschützt in einem Hotel? Segantini gibt doch seine Bilder nicht einfach so aus der Hand.«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Achille Robustelli mit einer Stimme, die plötzlich rau geworden war. Er schien bewegt, räusperte sich und fragte dann zögernd: »Möchten Sie die Geschichte hören?«

Der Sammler nickte: »Natürlich. Jeder Kunstliebhaber möchte gern erfahren, wie die Bilder entstanden sind, die er erwirbt …« Er nahm auf einem Sessel der kleinen Sitzgruppe Platz, über der das Bild hing.

|8|Dann setzte sich auch Achille Robustelli zu seinem Gast und begann:

»Ich begegnete ihr zum ersten Mal Ende Mai, vielleicht war es auch schon Anfang Juni 1896, und ich habe viel zu spät begriffen, dass ich sie liebte …«

|9|Maloja, Mai 1896

Dieses Licht. Gian blinzelte, blieb stehen und hielt schützend eine Hand vor die Augen, während die andere zum Himmel hinaufzeigte. »Macht einen noch halb blind, die Sonne«, murmelte er und folgte mit dem Finger den Kreisen, die ein Raubvogel weit oben im Mittagshimmel zog.

»Komm weiter«, drängte sein Bruder Luca, aber als der andere die Hand zögernd sinken ließ, zeigte sie geradewegs auf einen reglos zusammengekrümmt daliegenden Menschen, nicht mehr als einen Steinwurf von ihrem Trampelpfad entfernt.

Die junge Frau hatte die Augen geschlossen. Unter ihrem langen schwarzen Wollrock sahen die nackten Füße hervor. Der Knöchel des einen Fußes war dick geschwollen, die Schuhe lagen daneben.

»Wo kommt die denn her?«, fragte Luca überrascht.

Gian sah wieder in den wolkenlosen Himmel hinauf. »Sie ist schön«, antwortete er, »von hier ist sie nicht.«

Er betrachtete das von Schlaf und Sonne gerötete Gesicht des Mädchens, wandte dann den Kopf ab, als gehöre es sich nicht, einen schlafenden Menschen zu mustern, aber Luca starrte noch immer unverwandt auf sie nieder. In ihrem dichten Haar hatten sich einzelne Grashalme verfangen, ein helles, durchscheinendes Grün, leuchtend eingewoben in rötliches Kraushaar. Doch viel neues Gras war noch nicht da, schon gar nicht auf dieser Höhe. Selbst an diesem Mittag Ende Mai war die Luft noch kühl.

|10|»Wir wecken sie«, beschloss Luca, und Gian sah, wie die geschlossenen Lider der jungen Frau zuckten. Sie war also wach, obwohl sie die Augen nicht öffnete. Luca zupfte unsanft an dem Schultertuch, in das sich die Fremde eingewickelt hatte. Da schlug sie vorsichtig die Augen auf, blinzelte ins Licht, wie vorher Gian es getan hatte, und schloss die Lider wieder.

»Sie ist erschöpft«, sagte Gian, »und ihr Fuß sieht nicht gut aus.«

»Was du nicht alles weißt«, gab Luca zurück und wandte sich dann mit lauter Stimme an die junge Frau: »Bist du krank? Wo willst du hin?«

Sie antwortete nicht.

»Vielleicht weißt du ja, wo sie hinwill«, sagte Luca zu seinem Bruder, »wenn du so viel über sie weißt.«

Gian kauerte neben dem Mädchen nieder und berührte mit kundiger Hand den geschwollenen Fuß. Es kam öfter vor, dass sich jemand aus dem Dorf oder eins der Tiere den Knöchel verstauchte. Die junge Frau zuckte unter seiner Berührung zusammen.

»Sie hat Schmerzen«, stellte er fest, »sie kann nicht laufen. Aber wir bringen sie schon irgendwie den Berg hinunter nach Maloja.«

»Meinst du«, sagte Luca.

»Ja«, antwortete sein Bruder.

»Eine Merkwürdige ist das«, stellte Luca fest und stieß mit dem Fuß einen Stein zur Seite.

Gian hingegen war glücklich. Endlich geschah etwas, etwas ganz Unerwartetes. Er hatte schon von Meteoriten gehört, die plötzlich aus dem All auf die Erde fielen und tiefe Krater schlugen. So ähnlich war es mit diesem Mädchen, dessen Erscheinen das Gewebe der ewig gleichen Tage zerriss.

Luca und Gian kamen von Grevasalvas, wo die Bauern von Soglio ihr Vieh sömmerten. Sie hatten am Morgen begonnen, |11|die Hütte instand zu setzen und einen Zaun für die Nachtweide zu errichten, weil sie die Kühe heraufbringen wollten, sobald die Wärme anhielt. Luca zog Gian ein paar Schritte zur Seite. »Und jetzt?«, fragte er ungeduldig. »Was machen wir mit ihr? Sollen wir sie einfach über die Schulter nehmen?«

»Sie ist kein Schaf«, sagte Gian.

Die junge Frau hatte sich inzwischen aufgerichtet und sah ihnen entgegen. Sie lehnte mit dem Rücken gegen einen Felsbrocken und hielt ihre Schuhe in der Hand.

Unter dem groben Wolltuch, das sie noch immer fest um sich geschlungen hatte, sah eine weiße Bluse hervor. Die obersten Knöpfe standen offen, sodass man ihre Halsgrube sah. Luca schob den schwarzen Hut zurück und kratzte sich am Kopf. Das Mädchen trug eine Kette mit einem goldenen Medaillon, das in der Sonne aufblinkte. In der Mitte war ein kleiner Edelstein eingelassen, der glühte wie ein roter Blutstropfen, und das verwirrte Luca. Wer so ärmlich gekleidet war, besaß keinen Schmuck, höchstens ein kleines Kreuz. Das hier aber war verdächtig und ging nicht mit rechten Dingen zu. Er stieß Gian in die Seite, aber der lächelte nur blöde.

Luca steckte die Schuhe der Fremden in seinen Rucksack, dann zogen sie die junge Frau, die vor Schmerz die Mundwinkel verzog, hoch und nahmen sie in ihre Mitte.

»Leg deine Arme um unseren Hals«, forderte Gian sie sanft auf, »du bist nicht schwer, wir tragen dich.«

Jetzt sieht sie aus wie ein flügellahmer Vogel, dachte er. Es hätte ihn nicht einmal erstaunt, wenn sie wirklich Flügel gehabt hätte. Gebrochene Flügel. Denn sonst, so dachte er, wäre sie sicher nicht an diesen Ort gekommen.

 

Benedetta zog den Topf mit der Suppe an den kühleren Rand des Ofens und beschloss, kein Holz mehr nachzulegen. Wo Gian und Luca wieder blieben? Gian fand immer etwas, das |12|ihn ablenkte und ins Trödeln brachte. Schwer zu glauben, dass er der Älteste war. Seine Geburt hatte einfach zu lange gedauert, die Hebamme hatte nichts ausrichten können, und der Arzt wollte den mühselig langen Weg gar nicht erst antreten. Gian war eben ein Winterkind, in Schnee und Eis geboren, anders als Luca. Der war kräftig und würde seinen Weg schon machen, wie ihr Mann Aldo immer sagte. Aldo passte schon auf, dass sein Lieblingssohn nicht zu kurz kam. Aber Gian … Es war gut, dass er den Sommer mit den Kühen oben in Grevasalvas verbrachte, es tat ihm wohl, und er hatte dann weniger Anfälle. Und zu viel anderem taugte er nicht.

Benedetta trat vor das Haus und hielt das Gesicht in die Sonne. Dieses durchsichtige Frühlingsblau. Im Sommer sank der Himmel tiefer. Sie ließ den Blick zum Piz Lagrev hinaufwandern. Dann zwinkerte sie ungläubig. Das waren doch Luca und Gian, die da den Hang herabstiegen, aber wen schleppten sie denn da?

 

»Im Haus ist kein Platz für sie«, sagte Benedetta entschieden, als sie die Fremde sah.

»Aber wir müssen ihren Fuß ansehen«, gab Gian zurück. Sie ließen die junge Frau auf einen Stuhl gleiten, und selbst Luca nickte. »Der Knöchel sieht böse aus. Ist das Essen noch warm? Wir haben Hunger. Sie«, er nickte zu der Fremden hinüber, »sicher auch.«

Benedetta zeigte auf den Suppentopf und die henkellosen Näpfe, die für alles dienten: Kaffee, Milch, Suppe, Polenta. Dann beugte sie sich zu dem Mädchen vor und sagte ohne großes Erbarmen: »Gib mir deinen Fuß. Mal sehen, ob er gebrochen ist.« Vorsichtig betastete sie die Schwellung. Die junge Frau zuckte zusammen.

»Wo willst du eigentlich hin?«, lenkte Benedetta von der |13|schmerzhaften Untersuchung ab. Doch sie bekam keine Antwort.

»Sie redet nicht«, entgegnete Gian stattdessen.

Benedetta richtete sich auf und hielt sich mit den Händen den Rücken.

»Der Knöchel ist nur verstaucht. Aber ein paar Tage wird es dauern, bis du wieder richtig mit dem Fuß auftreten kannst«, sagte sie zu der jungen Frau, die seegrüne Nixenaugen auf Benedetta richtete.

»Ich mache dir einen Wickel. Gian, bring mir die Arnikatinktur aus dem Nachttisch.«

Benedetta stellte eine Schale Suppe vor das Mädchen hin. Die weißliche Gerste war dick aufgequollen und hatte fast alle Flüssigkeit aufgesogen. »Da, iss erst mal.« Sie schien jetzt milder gestimmt und fischte noch ein Stück Wurst aus dem Topf.

Hungrig machte sich die Fremde über das Essen her. Benedetta legte noch eine Scheibe Brot dazu.

Während sie den verstauchten Knöchel verband, kam sie wieder auf den Punkt zu sprechen, der sie umtrieb.

»Hier im Haus ist kein Platz.« Benedetta sah sich vielsagend in dem Raum um, der Küche und Stube zugleich war. »Seit Jahren wollen wir schon nach Stampa zurück, ins Bergell.« Sie machte eine vage Kopfbewegung in die Richtung der Passhöhe. »Aber wie es dann so geht … Wir sind hier hängen geblieben, weil es im Hotel immer wieder Arbeit gibt. Aldo, mein Mann, schreinert überall, nur nicht hier, wo es viel zu tun gäbe.« Sie besah den Wickel, den sie der jungen Frau angelegt hatte. »Aber wenn du willst, kannst du im Stall schlafen, bis es dir besser geht. Wo kommst du her? Einen Namen hast du ja wohl auch …«

»La Straniera non parla«, warf Luca ein, den das Schweigen der Fremden ärgerte.

|14|»Aber hören kann sie«, stellte seine Mutter fest und fragte, als wolle sie es beweisen: »Bist du müde? Möchtest du dich ins Heu legen?«

Das Mädchen nickte dankbar.

»Dann zeig der Straniera den Weg, Luca. Hier«, sie wandte sich noch einmal an die junge Frau, »nimm noch eine Decke, damit du nicht frierst.«

|15|Ein Schloss am Ende der Welt

Das Hotel Kursaal Maloja rüstete sich für die Sommersaison 1896. Aus den Dörfern des Engadin und den umliegenden Tälern, dem Bergell, dem Veltlin und den angrenzenden Gebieten des neu gegründeten Königreichs Italien trafen die Kellner, Köche, Hausdiener, Stubenmädchen, Wäscherinnen ein. Achille Robustelli, stellvertretender Direktor und verantwortlich für das Personal, dirigierte das Geschehen, als gelte es, eine anspruchsvolle Symphonie aufzuführen. Er schwebte im schwarzen Anzug durch die Gänge und schien überall gleichzeitig zu sein.

Die Löhne waren längst ausgehandelt. Kost und Logis waren frei, aber nicht alle erhielten ein so fürstliches Gehalt wie der chef de cuisine, Monsieur Battaglia, der mit fast vierhundert Franken doppelt so viel verdiente wie ein Lehrer. Die Kellner kamen auf fünfzig Franken im Monat.

Andrina hingegen wurde aufgefordert, sich mit dem Gedanken an das schwarze Kleid, die weiße Schürze und das gestärkte Häubchen zu trösten, die das Hotel stellen würde. Signore Robustelli, der sie in seinem Büro empfing, beschied ihr nämlich mit kurzen Worten, dass sie sich als Zimmermädchen mit zwanzig Franken im Monat begnügen müsse.

»Da wir eine vermögende Klientel haben«, fügte er aber sogleich lächelnd hinzu und drehte an dem Siegelring, den er am kleinen Finger trug, als könne er damit zaubern, »kannst du mit weiteren dreißig Franken Trinkgeld im Monat rechnen. So schlecht sieht es also gar nicht aus.«

|16|Immerhin. Andrina sollte zusammen mit einem anderen Stubenmädchen eine Kammer unter dem Dach des Hotels beziehen. Ein Triumph war das! Sie würde nicht mehr mit Gian und Luca in derselben engen Stube schlafen müssen. Luca kommandierte sie die ganze Zeit herum, fragte sie aus und behandelte sie wie ein kleines Mädchen, obwohl sie schon achtzehn war und er nicht einmal zwei Jahre älter. Und vorher, in der Schlafkammer der Eltern, war es ihr schon gar nicht wohl gewesen. Der Vater schien nur darauf zu warten, dass sie endlich einschlief, weil er sich dann noch auf die Mutter legen wollte, zum Abschluss des Tages. Aber Andrina schlief schon seit Kindertagen schlecht ein, und sie hasste es, wenn die leisen Seufzer der Mutter zur niedrigen Holzdecke aufstiegen und dort hängen blieben, statt dass sie vordrangen bis zur Jungfrau Maria, die doch alles verstand.

Und jetzt würde ausgerechnet sie, Andrina, die Jüngste, nach der es nur noch Fehlgeburten gegeben hatte, im vornehmsten Grandhotel der Alpen, ja vielleicht der ganzen Welt wohnen, hoch oben in dem gewaltigen Palast mit der Kuppel, über dem Ballsaal, den dreihundert Gästezimmern, den Speisesälen, der eleganten Eingangshalle. Höher würde sie wohnen als alle Menschen, die sie kannte, und sogar höher als Signore Robustelli, den sie eben erst kennengelernt hatte.

Nichts von dem, was übelwollende Gerüchte nach der Insolvenz des Grafen Renesse ausstreuten, der dieses Hotel nahe der Passhöhe des Maloja auf fast zweitausend Metern erbaut hatte, stimmte. Im nahen St. Moritz hatte man behauptet, dass das Riesengebäude sich um einen Meter in den sumpfigen Untergrund am See gesenkt habe, dass die großartige Heizungsanlage, für die ganze Lokomotivkessel mit Kohle befeuert wurden, explodiert sei und der Ozonator, der das Hotel belüftete, diese Weltneuheit, giftige Dämpfe in die Zimmer leite. Was alles erzählt wurde! Der Vater wusste es |17|besser, der arbeitete ja schon seit Jahren im Hotel, besserte aus, schreinerte nach.

Fieber habe das Hotel heimgesucht, hieß es, eine Spielhölle sei es gewesen. Alles Unsinn! Auch zwölf Jahre nach seiner Eröffnung und der wechselhaften Geschichte, die es schon durchlebt hatte, war das Hotel Kursaal das schönste Hotel, das man sich nur vorstellen konnte. Dem Himmel war man hier nah. Ja, dachte Andrina, das Hotel Kursaal Maloja erstrahlte im klaren Licht der Berge wie ein kostbarer Kristall, ein himmlisches Jerusalem, das nur den Reichsten und Vornehmsten seine Tore öffnete – und ihr, Andrina, dem hübschesten Stubenmädchen von allen, vor dem noch eine große Zukunft lag.

 

Achille Robustelli nahm einen Schluck von seinem Kaffee, schob die Tasse aber sogleich mit einer Grimasse zur Seite. Lauwarmer Kaffee war eine Beleidigung für den Gaumen! Versonnen blickte er auf die Tür, die Andrina gerade schwungvoll hinter sich geschlossen hatte.

Aldo, der Schreiner, hatte ihm Andrina vorbeigeschickt. Sie sei anstellig, hatte er gemeint, und vielleicht habe der Signore ja eine Stelle für seine Tochter. Nun, das hatte er, denn erstens brauchte er noch Leute, und zweitens war Andrina höchst ansehnlich.

 

Achille Robustelli liebte seinen Beruf, und er hatte es – wenn auch über Umwege – weit gebracht. Er entstammte einer gut gestellten bürgerlichen Familie und war in Bergamo aufgewachsen. Für seinen Vater, der heldenhaft in der Schlacht von Solferino gekämpft hatte und sein Leben für das »Risorgimento« gegeben hätte, war es keine Frage, dass sein einziger Sohn Achille, der ihm 1865 geboren wurde, die Militärlaufbahn einschlagen würde. Achille seinerseits hätte sich dem Wunsch seines Vaters nie zu widersetzen gewagt. Trotzdem, |18|als einige Jahre später seine einzige Schwester und kurz darauf sein Vater starben, war er nicht unglücklich, den Dienst ehrenhaft quittieren zu können, um sich der Regelung der Familienangelegenheiten zu widmen.

Der ständige Umgang mit Waffen entsprach nicht seinem Temperament. Er verdankte zwar unter anderem seinem Talent zur Menschenführung den raschen Aufstieg zum Offizier, doch war er sensibler, als man es beim Militär gemeinhin schätzt. Zum anderen hatte er neben seinem Organisationstalent, seinem Interesse für Technik und einer Begabung für vorausplanendes strategisches Denken eine ganz und gar unvernünftige Leidenschaft: Er liebte das Kartenspiel, spielte um Geld und war froh, auf diese Weise seinen Spielkumpanen zu entkommen.

Bald hatte Achille sich entschlossen, im Hotelfach zu arbeiten, wo er viele seiner Fähigkeiten nutzen konnte, und versuchte – zum Kummer seiner Mutter – sein Glück in Mailand, einer Stadt, die mehr Möglichkeiten bot als Bergamo.

In Mailand hatte er sich rasch emporgearbeitet. Er sah schnell, wo es brannte, und behielt dabei einen kühlen Kopf, hatte eine gute Hand für das Personal und Geschick im Umgang mit den Gästen. Er biederte sich nicht an, hatte aber ein offenes Ohr für die Anliegen aller, ungeachtet ihrer Position, und da er ziemlich diskret war, trug ihm das allgemein große Achtung ein. Seine eigenen Bedürfnisse waren dabei auf der Strecke geblieben, zumindest was sein Liebesleben anging.

Seiner Mutter, die schon Mann und Tochter verloren hatte, war das durchaus recht. Sie hatte alles daran gesetzt, dass ihr Sohn, der seinen Vornamen dem griechischen Helden Achilles verdankte, strahlend und unangetastet durchs Leben käme. Seine einzige verwundbare Stelle lag ihrer Meinung nach da, wo eine andere Frau Einfluss auf ihn gewann.

Dann aber hatte Robustelli einen Hoteldirektor aus dem |19|Engadin kennengelernt, der ihn davon überzeugte, dass ausgerechnet dort oben in den Schweizer Bergen eine großartige Zukunft vor ihm liege. Etwa in St. Moritz und dem nahe gelegenen Maloja gebe es exquisite Hotels, die den Adel und Geldadel aus allen Teilen Europas, ja der ganzen Welt anzogen. Und so hatte Achille Robustelli ganz ohne Schuldgefühle einen Besuch in Bergamo ausfallen lassen, um den Engadiner Hotelier zu besuchen. Das Hotel Kursaal Maloja benötigte, geschüttelt und durchgerüttelt von den Skandalen um seinen Erbauer, einen zuverlässigen Mann als rechte Hand für den Hoteldirektor.

Robustelli nahm die Stelle an. Im Frühling 1888, er war ganze dreiundzwanzig Jahre alt, küsste er seine laut klagende Mutter, die Schreckliches in einem fremden Land auf ihn zukommen sah, versprach, sie in den Wintermonaten zu besuchen, da das Hotel nicht in der Lage war, eine Wintersaison anzubieten, und zog nach Maloja.

Auch dieses Jahr hatte Robustelli die Wintermonate in Bergamo verbracht. Seine Mutter war mittlerweile im Stillen zu der Einsicht gelangt, dass eine Frau im Leben ihres Sohnes ihr auch Vorteile bringen konnte. Den nämlich, dass er der Liebe wegen vielleicht nach Bergamo zurückkommen würde. Dazu aber musste diese Frau aus Bergamo oder Umgebung stammen und vor den mütterlichen Augen bestehen. Allein, es stellte sich heraus, dass der Geschmack ihres Sohnes sich nicht mit dem ihren deckte. Bei keiner der jungen Frauen, die sie ihm vorstellte, biss er an, und keine, die er kennenlernte und anschleppte, fand ihre Gnade.

 

Das alles ging Achille Robustelli durch den Kopf, als die hübsche Andrina sein Büro verließ. Aber nun musste er weitermachen, denn Tagträume konnte er sich in seiner Position nun wirklich nicht leisten.

|20|Segantinis Traum

Ein merkwürdiger Tag war das. Schon vom frühen Morgen an. Es kam hier und da vor, dass er träumte und von seinen Traumbildern schweißnass erwachte. Aber heute 

Giovanni Segantini schob suchend seine Hand hinüber. Ja, sie war da. Bice lag ihm zugewendet und rückte, halb geweckt durch die Berührung an ihrer Schulter, näher an ihn heran, ohne die Augen zu öffnen. Es war noch früh, die Dämmerung brach erst an. Segantini mochte das Zwielicht nicht, schon gar nicht, wenn er Albträume gehabt hatte. Seine Hand blieb in der Ritze liegen, die die beiden Ehebetten trennte. Er atmete tief durch. Langsam nahm er die schattenhaften Umrisse der Möbel im Schlafzimmer wahr. Und während der Morgen kam und die ersten Sonnenstrahlen die maurisch anmutenden Schnitzereien deutlicher hervortreten ließen, verblasste sein Traum.

 

Der Maler Giovanni Segantini arbeitete langsam und ohne vorher Skizzen anzufertigen, wiederholte jedoch seine Motive in verschiedenen Bildern und fertigte Zeichnungen von den vollendeten Gemälden an. Heute Nacht jedoch hatte sich eines seiner Bilder ohne sein Zutun verwandelt. Wie konnte sein Traum es wagen, eines seiner Gemälde anzutasten, das Eis, den ewigen Schnee, den er gemalt hatte, frühlingshaft zu erweichen und zum Schmelzen zu bringen?

Das Fegefeuer des bläulichen Eises, in dem die wolllüstigen Frauen, die bösen Mütter, schwebten, die Weiber, deren Brüste |21|trocken blieben, die nicht Mutter sein wollten, wie die Bestimmung es ihnen vorgab. Wieder und wieder hatte er das Gedicht von Luigi Illica gelesen, wo er die Anregung für sein Bild gefunden hatte. Es sollte die Übersetzung eines indischen Textes sein, und das Bild der Kälte, in der die Weiber mit entblößten Brüsten und blau gefrorenen Lippen für ihre eigene Kälte büßten, ließ ihn nicht los, bis er es auf die Leinwand gebracht hatte – zum Missfallen seines Freundes, Förderers und Händlers Vittore Grubicy, der die mythischen Figuren nicht mochte. Sie hatten sich darüber fast zerstritten.

Im Traum waren sie heute Nacht lebendig geworden, die karge, tote Winterlandschaft hatte sich begrünt, und die marmorne Haut der Weiber war zu warmem, pulsierendem Leben erwacht. Sie räkelten sich und erwachten lustvoll aus ihrer Erstarrung. Da war er mit Schaudern aufgewacht.

 

Wieder suchte seine Hand nach Bice, die neben ihm lag. Vier Kinder hatte sie ihm geschenkt und ihr Leben, seit sie siebzehn war. Natürlich war sie da. An seiner Seite, die Decke bis ans Kinn gezogen. Wie blond und zierlich sie damals gewesen war, selbst noch ein halbes Kind. Er hatte nicht weit herumgesucht. Sie war die Schwester seines Freundes Bugatti. Der hatte erlaubt, dass sie ihm Modell saß für die »Falknerin«, 1881, da war er selbst immerhin schon dreiundzwanzig Jahre alt. Es war nicht schwer gewesen, sich in Luigia Bugatti zu verlieben. Er hatte sie gefragt, ob sie bei ihm bleiben wolle. Sie hatte Ja gesagt. Er nannte sie Bice, nach der Heldin eines Romans, der ihm gefallen hatte.

Sie hatte alles für ihn zurückgelassen, als sie von Mailand weggingen. Auch ihren Vornamen. Bald wusste niemand mehr, wie sie wirklich hieß. Bis hierher in die hohen Berge, nach Maloja war sie ihm gefolgt. Ihrem »Segante«, wie sie ihn zärtlich nannte, den es immer höher hinaufgezogen hatte, |22|weg aus den bedrückenden Niederungen. Wie gut sie ihn kannte, seine Gefährtin, und wie bedingungslos sie auf ihn einging.

Seine Mutter hatte ihn dagegen kaum gekannt, so früh war sie gestorben. Und obwohl er damals ein kleiner Junge gewesen war, noch heute würde er sie wiedererkennen, wenn sie vor ihm stünde. Schön war sie gewesen; nicht wie die Morgenröte oder der Mittag, aber wie ein Sonnenuntergang im Frühling. Genauso wollte er es in seiner Autobiografie aufschreiben: wie ein Sonnenuntergang im Frühling. Eine hohe Gestalt, aber kränklich, seit sie ihn zur Welt gebracht hatte. Nicht nur er war bei der Geburt fast gestorben, sodass er die Nottaufe erhalten musste, auch sie erholte sich kaum mehr, Kuren in Trient schlugen nicht an. Mit fünf, wenn er sich recht erinnerte, hatte er sie verloren. War sie gestorben, hatte sie ihn zurückgelassen.

»Die Falknerin« hätte auch zu seiner Mutter gepasst, zu ihrer Abstammung aus dem mittelalterlichen Landadel, aus dem früher die kriegerischen Glücksritter hervorgegangen waren. Vor langer Zeit.

Segantini drehte sich seiner Frau zu, doch Bice war schon aufgestanden, und das Laken neben ihm war kühl, als hätte sie nie dort gelegen.

***

Der See lag still im Nachmittagslicht. So still, dass die junge Frau sich auf den Bootssteg hinkniete, weit über die spiegelglatte Oberfläche beugte und ihr Gesicht, während sie die langen Haare zur Seite hielt, im unbewegten Wasser betrachtete. Da waren Kiesel. Fische. Helles Türkis. Dann nahm die Bläue rasch zu, und man sah den Boden nicht mehr. Nika kannte kein Wasser wie dieses. Die sprudelnden, gurgelnden |23|Bergbäche, die rauschenden Wasserfälle, deren Ton im Frühjahr anschwoll, die kleinen Alpseen, die einen wie klare blaue Augen ansahen, sie waren anders. Dieser See sah einem nicht entgegen. Er war ganz der Tiefe zugewandt und bewahrte sein Schweigen, so wie sie.

 

Nika war, nachdem Luca sie in den Stall gebracht hatte, so fest eingeschlafen, dass Gian, der am Abend fragen wollte, ob sie Hunger habe, die Stalltür leise wieder schloss. Erst gegen Mittag des folgenden Tages erwachte sie. Fand eine Scheibe Brot und einen Napf Milch neben sich. Der eingebundene Fuß schmerzte noch immer, aber das Stechen hatte nachgelassen, der Schmerz war jetzt dumpf und pochend. In plötzlichem Schrecken tastete Nika nach ihrem Hals – die Kette war noch da. Unter ihren Fingern die zarte Gravur des Medaillons: die Rose mit der gefüllten Blüte, die sie mit geschlossenen Augen nachzeichnen konnte, so oft hatte sie sie betrachtet.

Sie war unaufmerksam gewesen. Gian und Luca, auch die Frau hatten das Medaillon bestimmt gesehen. Nie wieder durfte sie so unachtsam sein! Sorgfältig knöpfte Nika die Bluse mit dem Stehkragen zu. In Mulegns, wo sie herkam, hatte sie ein sicheres Versteck gehabt, aber hier war es klüger, die Kette unsichtbar auf dem Körper zu tragen.

 

Nika hatte lange nichts von dem Medaillon gewusst. Bis die Posthalterin in Mulegns ihr davon erzählte. Nika mochte damals acht oder neun gewesen sein.

»Ich war es, die dich gefunden hat, kaum waren die Pferde gewechselt und die Postkutsche weitergefahren«, hatte die Posthalterin gesagt. »Die Kutsche ging über den Julier ins Engadin hinüber. Und hier, wo alle Reisenden aussteigen, den Mittagshalt machen und eine Suppe essen, haben sie dich ausgesetzt, |24|einen Säugling, eingewickelt in eine Decke, mit dem Medaillon und einem Umschlag mit Geld.«

»Was für ein Medaillon«, hatte Nika geantwortet, »ich habe kein Medaillon.«

»Das will ich wohl glauben«, gab die Posthalterin zurück, »dass sie dir das nicht gegeben haben. Ein Findelkind, das Schmuck trägt – wo hätte es das je gegeben?« Sie lachte. »Der Bauer hat sich für das Kostgeld eine Arbeitskraft aufgezogen, keine vornehme Dame, die ihm auf den Kopf spuckt.« Und damit war sie lachend ins Haus gegangen.

Nika aber hatte geduldig gewartet, bis der Bauer und seine Familie eines Tages zu einer Hochzeit im Nachbardorf eingeladen waren. Kaum waren alle fort, hatte sie sich in die Stube geschlichen und alles durchsucht. Viele Möglichkeiten gab es nicht. Wenn das Medaillon nicht in der Truhe war, konnten sie es nur im Schlafzimmer unter der Matratze versteckt haben. Der Bauer war arm, ein Tisch, ein paar Stühle, wenige Betten, die sich viele teilten – viele Möbel hatten sie nicht.

Hastig durchsuchte sie die Truhe, und tatsächlich, unter den Hemden, Socken und Wollmützen fand sie eine zerdrückte Schachtel, und darin lag eine goldene Kette mit dem Medaillon. Nika stiegen die Tränen in die Augen, als sie es in der Hand hielt. Das hier war das Einzige, das ihre Eltern ihr als Erinnerung an sie mitgegeben hatten. Aber immerhin hatten sie es ihr mitgegeben. Und das hieß, sie, Nika, war ihnen nicht gleichgültig.

Dieses Medaillon gehörte ihr und keinem anderen Menschen auf der Welt, auch wenn der Bauer es ihr weggenommen hatte. Sie ließ die Kette in die Tasche ihrer Schürze gleiten, legte die leere Schachtel zurück und brachte den Inhalt der Truhe wieder in Ordnung.

Im Winter schlief sie unter der Treppe im Haus, jetzt, im |25|Sommer in einer abgeteilten Ecke im Stall – beides keine guten Orte, um ihren Schatz zu verstecken. Deshalb vergrub sie die Kette, eingewickelt in einen Fetzen Stoff, hinter dem Stall und bezeichnete die Stelle mit einem Stein.

Nika zitterte vor Angst, wenn sie daran dachte, dass jemand das Verschwinden der Kette bemerken könnte, und doch spendete das Medaillon ihr von nun an Trost. Bald konnte sie gar nicht mehr verstehen, wie sie die Kälte des Bauern ohne diesen Trost hatte ertragen können. Wenn sie geschlagen wurde, wenn sie Hunger hatte, dann dachte sie an ihr geheimnisvolles Schmuckstück.

Ab und zu, wenn niemand auf dem Hof war, holte sie die Kette aus ihrem Versteck, betrachtete sie und öffnete in immer neuer Erwartung eines Wunders vorsichtig das Medaillon. Aber jedes Mal war darin zu ihrer Enttäuschung nur ein klein zusammengefalteter Zettel, auf dem etwas geschrieben stand. Nika ging in keine Schule. Aber eines Tages, das schwor sie sich, würde sie lesen und schreiben lernen, um zu erfahren, was darauf geschrieben stand.

 

Das war nun schon zehn Jahre her. Ein kleines Mädchen war sie damals gewesen, jetzt war sie eine junge Frau. Und obwohl sie nun hier in Maloja festsaß, war sie Gian und Luca dankbar, dass sie sie hergebracht hatten. Vorsichtig humpelte Nika aus dem Stall zum Haus hinüber, erleichtert, dass sie weder drinnen noch draußen jemanden antraf.

Es gab gar keine andere Möglichkeit, als das Angebot, noch ein paar Tage hierzubleiben, anzunehmen. Für die Postkutsche hatte sie kein Geld, und zu Fuß würde sie mit ihrer Verletzung nicht weit kommen. Doch der Weg, der vor ihr lag, war weit. Italien – es war nahe und doch ein unerreichbares Land. Traumland.

 

|26|Über dem Spülstein, an dem sie sich wusch, hatte jemand ein Brett angebracht. Ein altes, hartes Stück Seife lag darauf und eine Spiegelscherbe. Sie lehnte das schartige Dreieck gegen die Wand und fuhr mit den Fingern durch ihr dichtes Haar. Den Kamm, der neben der Seife lag, wagte sie nicht zu berühren. Sie betrachtete sich aufmerksam. Sie war mager, das Kinn stach spitz hervor, und man ahnte ihre helle Haut trotz der ersten Sonnenbräune. Nika hielt den Zeigefinger unter das eisige Wasser und benetzte damit ihre Lippen. Sie schaute sich zu wie einem fremden Wesen, dessen fremde Zunge zwischen den fremden Lippen erschien, vorsichtig, weich, und die Tropfen ableckte. Dieses Gesicht war ihr Gesicht. Oft hatte sie sich noch nicht im Spiegel betrachtet. Da, wo sie aufgewachsen war, hatte man andere Sorgen gehabt als das eigene Aussehen und das Geld für dringendere Sachen gebraucht als einen Spiegel. Sie hielt das Gesicht so nahe vor die Spiegelscherbe, bis ihre Züge verschwammen und sie sich nicht mehr erkannte. Das Glas beschlug von ihrem Atem. Blaugrün leuchteten ihre Augen ihr wie aus dem Nebel entgegen.

Sie erschrak, als jemand die Küche betrat, und tat rasch einen Schritt zurück. Aber es war nur Gian, der sich ihr behutsam näherte wie einem erschreckten Tier, mit beruhigend ausgestreckter Hand.

»Schön, dass du auf bist«, sagte er. »Du musst noch hierbleiben, so schnell heilt der Knöchel nicht, aber ein bisschen bewegen kannst du dich schon. Komm, ich zeig dir den See.«

Sie humpelte neben ihm aus dem Haus in das Licht des Nachmittags. Sie mussten nur über die Straße und am Hotel Kursaal vorbei, das wie ein majestätischer Riegel die Kette der Seen und das Engadiner Hochtal beschloss. Nika fasste nach Gians Arm, um sich auf ihn zu stützen, und er, verwundert und stolz, gab ihr Halt. Kein Mädchen in Maloja hatte je seinen |27|Arm genommen oder seine Hand gehalten, weil er nicht ganz richtig war und manchmal mit Schaum vor dem Mund und zuckendem Leib zu Boden fiel. Der ältere der Biancotti-Söhne, hieß es, sei besessen von einer Krankheit, die kein Doktor heilen könne. Aber der protestantische Pfarrer sagte immer wieder, das habe nichts mit Besessenheit zu tun, sondern nur mit Krankheit, und man könne eben noch immer nicht alle Krankheiten heilen.

Nun lag der See vor ihnen. Nika ließ seinen Arm los, und Gian begriff, dass sie allein sein wollte.

»Da ist ein Bootssteg«, sagte er. »Du kannst die Hand ins Wasser halten, dann merkst du, wie kalt und klar es ist. Findest du den Weg allein zurück?«

Nika nickte und kniete auf dem Bootssteg nieder.

Als sie sich wieder erhob, sah sie, dass ein eleganter Vierspänner in Maloja einfuhr. Ein Mann beugte sich aus dem offenen Fenster der Kutsche und drehte den Kopf nach ihr um. Das Einzige, was sie bemerkte, waren die dichten schwarzen Locken, dann war der Wagen vorbei.

***

Segantini war in St. Moritz gewesen. Er liebte eine gewisse Extravaganz, unabhängig von seiner finanziellen Lage. So hatte er auch heute einen vierspännigen Wagen kommen lassen, um sich von Maloja, wo er wohnte, in das größere und nicht viel weiter als eine halbe Stunde entfernte St. Moritz kutschieren zu lassen. Er wollte Dr. Bernhard treffen und ihm von einer Idee erzählen, die ihm schon eine Weile durch den Kopf ging. Sie hatten sich in Fritz Hanselmanns Bäckerei getroffen, dessen Patisserie sie beide liebten, und sich dann im Hause des Arztes zusammengesetzt.

Segantini hatte ein Projekt, das er allein nicht verwirklichen |28|konnte. Bei der nächsten Weltausstellung, die 1900 in Paris stattfinden sollte, wollte er ein monumentales Rundgemälde ausstellen, ein Panorama, das der Welt die unvergleichliche Schönheit des Engadins zeigen sollte. Und nicht nur das: In einem Pavillon riesigen Ausmaßes, so stellte er sich vor, würden die Besucher einen künstlichen Hügel erklimmen, frische Bergluft atmen, an Wasserläufen entlangspazieren, Kuhglockengeläute hören und die Gemälde bestaunen können.

Oscar Bernhard brauchte einen Moment, um das Ausmaß dieser Idee zu begreifen und sich den Umfang an Geldmitteln vorzustellen, der nötig sein würde, etwas Derartiges in die Tat umzusetzen.

»Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze, Segantini«, sagte er nach einigen Minuten des Nachdenkens, »und je länger ich darüber nachdenke, umso gewinnbringender scheint mir die Idee, auch wenn Sie zugeben müssen, dass ihr etwas Fantastisches anhaftet.«

Er machte eine Pause, um seinen Gedanken noch einmal freien Lauf zu lassen. »In der Tat könnte dieses Projekt in Paris für das Engadin werben. Hunderttausende werden die Weltausstellung besuchen, ja Millionen Menschen aus ganz Europa und Übersee … Man müsste die Hoteliers der großen Häuser hier am Platz dafür begeistern. Eine bessere Werbung um Besucher lässt sich nicht denken.« Er schenkte seinem Gast und sich Tee nach und sah Segantini bewundernd an.

»Sie sind nicht nur ein großer Maler, Sie fühlen sich auch dem Engadin sehr verbunden …«

Segantinis dunkle Augen blitzten auf, und mit einer stolzen, selbstbewussten Geste fuhr seine Rechte durch die prächtigen Locken. »Das ist wahr. Ich liebe die Berge. Ich möchte mit meinem Panorama ein Bild der Natur zeigen, vor dem die Menschen in Andacht verstummen.« Das Feuer in seinen Augen wirkte ansteckend.

|29|Bernhard nickte. Ja, so kannte er Segantini.

Aber auch er hatte eine Vision, und die Eröffnungen seines Freundes ermunterten ihn, ebenfalls etwas preiszugeben, das ihn seit Längerem beschäftigte.

»Lieber Segantini, auch ich möchte Ihnen etwas anvertrauen, eine Idee, mit der ich mich trage. Ich bin Arzt, und ich sehe nicht nur im Sommer viele Patienten, sondern das ganze Jahr über, seit wir jetzt auch eine Wintersaison haben. Badrutt hat ja recht gehabt, so viele Sonnentage, wie wir sie hier im Winter haben, gibt es anderswo kaum.« Er lachte. »Der Fuchs. Er hat den Gästen versprochen, ihnen die Reisekosten zu ersetzen, wenn er mit seinem Versprechen, dass sie auch im Winter draußen die Sonne genießen würden, nicht recht behalten sollte. Seitdem verdient er doppelt so viel wie vorher!« Er räusperte sich, bevor er fortfuhr und dem Freund seine innersten Gedanken anvertraute.

»Nun hören Sie. Die Sonne ist ein ungeheures Kapital. Aber nicht nur im finanziellen Sinn, sondern auch für die ärztliche Wissenschaft. Die Sonne hat heilende Kraft. Vor allem hier in der Höhe und in Verbindung mit der sauberen Luft. Es ist mir aufgefallen, dass Wunden unter Sonneneinstrahlung besser heilen. Das Gewebe regeneriert sich rascher, und die Wunde trocknet schneller ab.« Er räusperte sich wieder.

Segantini sah ihn verwundert an, so kannte er den Arzt gar nicht. Er kam sonst immer sehr schnell zur Sache.

»Lachen Sie jetzt nicht, lieber Freund, wenn ich unser gutes Trockenfleisch ins Spiel bringe. Aber die Technik, das Rindfleisch in der Sonne zu trocknen, bis das exquisite Bündnerfleisch entsteht, hat mich inspiriert. Das rohe Fleisch trocknet, ohne zu faulen oder zu verderben. Also fing ich an, über etwas nachzudenken, das ich ›Heliotherapie‹ nennen möchte. Wundheilung durch Sonnenbestrahlung. Wenn man die Verletzten beziehungsweise ihre Wunde möglichst viel der frischen |30|Sonnenluft aussetzt, dann – so behaupte ich – werden die Patienten schneller und auf ganz natürliche Weise geheilt. Vor allem die chirurgische Tuberkulose, so möchte ich nachweisen …« Er unterbrach sich. »Sie sind kein Arzt, und ich möchte Sie nicht langweilen. Aber da Sie mir Ihre Ideen anvertraut haben, wollte ich Ihnen auch von meiner berichten.«

Segantini zeigte sich durchaus interessiert. Er war wissbegierig und als Autodidakt stets bestrebt, Bildungslücken zu schließen. Seine Kinder, das hatte er immer betont, sollten anders aufwachsen als er, und er hatte von Anfang an darauf bestanden, dass sie einen Hauslehrer bekamen, gleich, was es kostete und ob er sich diesen Luxus leisten konnte.

»Es leuchtet mir absolut ein, was Sie sagen, Oscar. Sie werden den Höhenkliniken in Davos auf Ihre Weise Konkurrenz machen. Ich hoffe, unsere Träume bringen uns einander näher. Wovon sollten wir uns nähren, wenn nicht von unseren Träumen, und wonach sollten wir streben, wenn nicht nach ihrer Verwirklichung?«

|31|Eine neue, unbekannte Welt

»Daraus wird sowieso nichts.« Benedetta setzte den abwehrenden Blick auf, den ihre Tochter so hasste.

»Und wieso nicht?«, brauste Andrina auf. »Gibt es irgendeinen Vorschlag, der dir einleuchtet? Zu dem du einfach mal sagst: Oh, schön, gute Idee!« Wütend schob sie ihre Polenta zur Seite. »Du machst alles immer so schwer, dass es sich anfühlt, als hätte man Steine in den Schürzentaschen. Es ist eine gute Idee, und wir haben alle was davon.«

Andrina sah ihren Vater und Luca an. Gian spielte keine Rolle, und das Mädchen sagte sowieso nichts.

»Vater, sag doch du was. Ich rackere mich hier für euch ab, und keiner merkt was!«

Der alte Biancotti löffelte ruhig seine Polenta. Er kannte seine Frau, die immer gegen alles war, bei Tag und bei Nacht, und er kannte seine ehrgeizige Tochter Andrina.

»Ich will in Ruhe essen«, sagte er nur. Er trug auch beim Essen seinen Hut. Das gab ihm Sicherheit und Würde.

Luca ergriff Andrinas Partei.

»Sie hat recht. Ihre Idee hilft allen. Die Straniera könnte was arbeiten, wenn sie schon hier ist und unser Brot isst. Es sieht nicht so aus, als ob sie viel Geld in ihren Kleidern versteckt hätte, außer sie hätte Edelsteine in ihrem Medaillon.«

Nika erschrak bis ins Herz und bedeckte das Amulett, das unter ihrer Bluse verborgen war, instinktiv mit der Hand. Aber zu ihrer Erleichterung hielt sich niemand dabei auf, und Luca fuhr fort: »Wie will sie also weiterkommen? Im Hotel brauchen |32|sie Wäscherinnen, sie würde was verdienen, könnte hier etwas abgeben und den Rest sparen, bis sie mit der Postkutsche dahin zurückkann, wo sie herkommt, oder sonst wohin.«

»Und ich«, fiel Andrina ein, »würde einen guten Eindruck bei Signore Robustelli machen, weil ich ihm jemanden vermittle.«

Sie prostete Luca mit der kalten Milch zu.

»Wer ist Signore Robustelli?«, fragte Benedetta argwöhnisch.

»Das ist der stellvertretende Direktor und der Chef vom Hotelpersonal.« Und ich gefalle ihm, dachte Andrina, ohne es auszusprechen und ohne bis jetzt den leisesten Beweis dafür zu haben.

Gian sah zu Nika hinüber. »Willst du das? Im Hotel arbeiten und was verdienen?«

»Warum sollte sie nicht wollen?«, mischte sich Luca ein, aber Nika blickte nur Gian an und nickte.

Nein. Sie hatte keine Edelsteine in ihrem Medaillon verborgen. Darin befand sich nur der klein zusammengefaltete Zettel, auf dem etwas stand, das sie nicht lesen konnte. Die Zeichen waren ihr fremd geblieben, obwohl die Posthalterin sich endlich hatte breitschlagen lassen, Nika bei ihren heimlichen Besuchen anhand der ansonsten nur selten aus der Schublade geholten Bibel das Alphabet und rudimentäre Lesekenntnisse beizubringen.

Die Frau, die jedes Wort mit ihrem Finger auf der Seite festzunageln schien, damit sie sich der einzelnen Buchstaben langsam und beharrlich bemächtigen konnte, las selbst nur stockend und wollte den Unterricht lieber früher als später beenden. Doch Nika entpuppte sich als begierige Schülerin, die ihre Lehrerin erbarmungslos antrieb und bald überforderte. »Jetzt ist es genug!«, sagte die Posthalterin eines Tages ungehalten und klappte die in Schweineleder gebundene Bibel zu. Nika hätte das Buch leidenschaftlich gern gehabt, um |33|es von A bis Z lesend zu erobern. Die Geschichten erschienen ihr äußerst spannend. Doch die Bibel verschwand wieder in ihrem Schubladengrab, und die Posthalterin schob die Lade mit einem erleichterten Knall zu.

Im Hinblick auf den Zettel im Medaillon brachte das Alphabet nichts – kein Buchstabe entsprach auch nur annähernd den Zeichen, die daraufstanden. Nika war enttäuscht. Offensichtlich konnte sie trotz des Unterrichts noch längst nicht alles lesen. Aber in der Wäscherei des Hotels arbeiten, das konnte sie. Sie war schwere Arbeit gewöhnt und hatte oft bei der Wäsche im Dorf geholfen. Andrina hatte gemeint, sie könne ruhig weiter im Stall schlafen, und sie hatte recht. Jetzt kam der Sommer mit seinen wärmeren Tagen und Nächten. Sie würde Geld zur Seite legen, bis sie weiterkonnte, über den Maloja ins Bergell und nach Chiavenna hinunter und dann weiter nach Italien.

Nika nickte noch einmal zustimmend.

»Na, siehst du«, sagte Andrina zu ihrer Mutter. »Du wirst dich schon daran gewöhnen. Und nachher bist du ganz zufrieden.«

Für die Angelegenheiten des Tages mochte das stimmen, dachte Aldo. Ja, so war sie, die Benedetta. Er schob ihr schweigend den Teller hin, und Benedetta gab ihm mit dem Holzlöffel noch einmal von der Bramata. Grobkörnig hatte er den Mais am liebsten. Kochen, das konnte sie wirklich, darauf ließ er nichts kommen, wenn er auch nie Danke sagte. Er schreinerte, sie kochte. Sie bedankte sich ja auch nicht dafür, dass er jahraus, jahrein seine Arbeit machte. Im Gegenteil, immer wieder kam es auf den Tisch, dass sie nach Stampa zurückwollte, ins mildere Klima des Bergell. Hier oben waren ihr die Winter zu hart. Was Benedetta sonst fühlte, wusste man nicht, denn so wenig, wie sie je Begeisterung zeigte, zeigte sie heftige Ablehnung, Trauer oder Verzweiflung.

|34|»Also gut«, sagte Aldo und erhob sich, »Andrina schlägt die Sache im Hotel vor. Und dann sehen wir ja, was daraus wird.«

***

Noch nie war es Nika so gut gegangen. Sie aß am Tisch der Biancottis, als gehöre sie zur Familie. Sie würde in der Wäscherei des Hotels arbeiten und zum ersten Mal im Leben für ihre Arbeit auch entlohnt werden. Einen Teil des Geldes musste sie abgeben, aber den anderen Teil konnte sie zurücklegen, und eines Tages würde das Geld reichen, um die Postkutsche zu besteigen oder die Eisenbahn. Kleine Wolken von Rauch würden aus dem Schornstein der Lokomotive aufsteigen, ihr helles Pfeifen die Luft zerschneiden wie die Schienen die Landschaft. Und die Welt würde zerfallen in eine Welt, die hinter ihr, und eine, die vor ihr lag.

Eines Tages, dachte Nika, werde ich vor meiner Mutter stehen. Es gibt einen Ort, an den ich gehöre. Jeder Mensch gehört irgendwohin. Es wird der Tag kommen, an dem ein Mensch die Rose auf meinem Medaillon erkennt und die Botschaft versteht, die im Medaillon verborgen liegt.

Nika befühlte ihren Knöchel und bewegte den Fuß sanft hin und her. Vorsichtig rieb sie den Fuß im Dämmerlicht der Petroleumlampe noch einmal mit der Tinktur ein, die Benedetta ihr wortlos in die Hand gedrückt hatte.

 

In Mulegns hatte sie im Stehen essen müssen. Oben am Tisch wurde das Essen ausgegeben bei denen, die saßen, und der Rest kam dann herunter zum Tischende, zu ihr. Hier dagegen konnte man sich beim Essen ausruhen. Benedetta hatte ihr sogar einen kurzen, fragenden Blick zugeworfen, ob sie noch mehr wolle. Aber sie hatte nicht zu nicken gewagt.

Der Bauer in Mulegns war unberechenbar gewesen, gerade |35|und vor allem beim Essen. Manchmal zog er seinen Gürtel ab. Dann war ihm eine Laus über die Leber gelaufen. Als Erste traf es immer sie. Wie erstarrt sahen die anderen zu. Wie angewurzelt blieben sie sitzen. War es mit ihr nicht genug, nahm er sich die eigenen Kinder vor. Reto, der genauso alt war wie sie, zeterte und schrie: »Warum? Was hab ich denn getan?«, und versuchte, sich unter dem schweren Holztisch zu verstecken. Das war dumm, denn dann kriegten sie noch mehr ab. Nika fragte nie: »Warum ich?« Sie tat dem Bauern nicht einmal den Gefallen zu winseln, geschweige denn zu schreien. Knöpfte sich der Alte alle elf Kinder vor, erlahmte bei den letzten seine Hand. Aber nicht bei ihr, dem fremden Balg, bei dem er stets begann, wenn er noch voller Zorn und sein Arm noch nicht müde war.

Dann vergingen ein paar Tage, bis er wieder zum Rand gefüllt war mit Missmut und Ärger. Wie andere sonntags zur Kirche gehen, waren die Schläge sein Ritual, sich von der Mühsal der Woche und der Unerbittlichkeit des Daseins, die über ihm hing, für einen Augenblick zu befreien. Hatte das Unwetter sich entladen, erschien ein Lächeln auf seinen Lippen, das in seinem hageren Gesicht fast unschicklich wirkte, und er befahl Hans, dem Ältesten, ihm ein Bier zu holen.

 

Nika streichelte die Kühe, die Gian im Stall angebunden hatte. Braun und zierlich waren sie, der Pelz in den Ohren hell wie Milch, die Hörner anmutig geschwungen. Die vier Tiere standen still und sahen sie aus dunklen Augen an. Warmer Atem drang aus ihren Nüstern. Die Wärme ihrer Leiber würde den Stall erwärmen. Geborgen in einem Geruch, der ihr vertraut war, löschte Nika die Lampe. Aus dem Dunkel wurde ein neuer Tag geboren. Mehr noch: eine neue, unbekannte Welt.