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Objects in the mirror
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N.Y.C. 1984

Ich war zwölf Jahre alt, lag in meinem Bett und beschloß, mindestens einmal in meinem Leben nach New York zu fahren, nach Amerika. In den Westen durften nur Rentner, und ich war noch Schüler, das Rentenalter lag für Männer bei 65. Auch in 53 Jahren würde ich nur ganz wenig Westgeld haben und müßte auf einem Frachtschiff nach Amerika fahren, zwischen Bananenstauden in einem riesigen Laderaum, so stellte ich mir das vor. Die wilde Fahrt auf dem dampfenden Frachtschiff wäre billiger und außerdem viel abenteuerlicher als ein langweiliger Flug. Es würde alles gehen, wenn ich nur nicht schwach wurde. Ich schwor mir, von meinem Wunsch in den nächsten 53 Jahren nicht abzurücken. Ja, ich befahl mir, mich selbst zu hassen und geringzuschätzen, wenn ich mich nach meinem Eintritt ins Rentenalter selbst verraten und nur nach Westberlin oder Hannover und dann wieder zurückfahren würde.

Wichtige Entscheidungen traf ich als Kind immer abends im Bett. Im oberen Drittel der Tür zu meinem Kinderzimmer waren drei kleine Glasscheiben. Damals wünschte ich mir, daß diese Scheiben beim Malern mit gestrichen worden wären. Meine Eltern sahen sofort, wenn ich das Licht anhatte, und riefen mir von draußen »Licht aus!« zu. In einigen meiner Kinderbücher wurde das Lesen mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke als Lösung für dieses Problem propagiert. Also kaufte ich mir eine Taschenlampe im Lampenladen auf der Allee. Taschenlampen gehörten zu den wenigen Konsumprodukten, die es selbst im Osten immer zu geben schien.

Ich kaufte mir eine rote Stabtaschenlampe mit zwei Rundbatterien. Man konnte den roten Kopf der Lampe hin- und herdrehen und so den Lichtstrahl bündeln oder streuen. Ich legte die Taschenlampe in den Spalt zwischen meinem Bett und der Wand. Da unter meinem Bett immer irgendwelche Teppich- oder Tapetenreste, Spielzeug und ähnlicher Kram lagen und die Sicht auf dahinterliegende Dinge verbargen, war der Spalt hinterm Bett mein wichtigster geheimer Lagerort. Nach dem Schlafengehen holte ich die Taschenlampe hervor. Erst schaltete ich sie unter der Bettdecke ein und schaute von außen, ob man nicht doch etwas durch die kleinen Scheiben in der Tür sehen könnte. Es schien aber sicher. Dann holte ich mein Buch aus dem Spalt hinterm Bett, hockte mich unter die Bettdecke und wickelte mich so ein, daß kein Spalt für das Licht frei blieb. Ich klemmte die Taschenlampe zwischen Schulter und Kinn ein und versuchte, das Buch zwischen meinen Knien zu lesen. Die Bettdecke fiel von links und rechts auf das Buch und verdeckte andauernd die Seiten. Wenn ich die Decke mit meinen Beinen mehr spannen wollte, fiel das Buch zwischen den Knien durch. Und wegen meiner optischen und akustischen Abgeschlossenheit bekam ich das Gefühl, daß meine Eltern, meine Lehrer und zehn Polizisten in mein Zimmer spazieren könnten, ohne daß ich es unter der Decke bemerkt hätte. Das Lesen unter der Bettdecke mit einer Taschenlampe zählte offensichtlich zu den Dingen, die Kinderbuchschriftsteller unsinnig glorifizierten.

Lesen war also zu beschwerlich, und deshalb hatte ich Zeit, statt dessen vor dem Einschlafen wichtige Entscheidungen zu treffen. Die New Yorker Sache hing mit Joachim zusammen: Mein Cousin Joachim aus dem Westen war etwa genauso alt wie ich, wog allerdings mehr. Joachim hatte wiederum einen Cousin in Frankreich, der ebenfalls in unserem Alter, aber eher in meiner Gewichtsklasse war. Dieser Cousin schickte seine gebrauchten Klamotten aus Frankreich an meinen Cousin aus dem Westen, und meine Tante schickte sie an mich weiter. Ich bekam also nicht einfach Klamotten aus dem Westen, sondern Klamotten, die ein Franzose meines Alters mal getragen hatte und die noch so gut waren, daß er sie an einen anderen aus dem Westen verschicken wollte. So gute Sachen hatte sonst niemand. Darunter waren Jeans von »New Man« mit silbernen Knöpfen und großen Taschen auf den Hosenbeinen und natürlich bedruckte T-Shirts und Pullover. Mein liebstes Kleidungsstück wurde aber ein niveablauer Pullover. Darauf war mit dünnen Strichen ein rotes Gitterkreuz gedruckt, das wohl eine Mauer symbolisieren sollte. Und dann sah es so aus, als ob über das Gitter mit weißer Farbe schräg »n.y.c. 1984« gesprüht war. Ich zog diesen Pullover so oft an, wie es ging. Sommer, Winter, Pullover sauber, Pullover dreckig, das war mir egal. Meine Mutter würde mich im Notfall schon über die Außentemperaturen und den Sauberkeitszustand des Pullovers informieren.

Ich fand bald heraus, daß »n.y.« für »New York« stand, kannte aber die Bedeutung des »c« lange nicht. Meinen Klassenkameraden erklärte ich, es hieße »cool« oder »cops« oder so ähnlich. New York, das hieß über die Golden Gate Bridge zum Empire State Building fahren und dort eine Coke on the Rocks trinken. Am Abend vielleicht noch durch den Grand Canyon cruisen, natürlich mit einem dunkelblau-weißen Chevrolet, auf dem sich oben die Polizeisirene drehte. Beat Street in der Bronx. Grandmaster Flash. Und vielleicht würde man im Sommer mal einen kleinen Urlaub in Manhattan machen, das gleich in der Nähe von New York lag. Die englischen Wörter sprachen wir weniger aus, als daß wir sie lutschten wie köstliche Bonbons. Und mein Pullover »n.y.c. 1984«, der kam anscheinend aus diesem New York. Selbst ein unerhört cooler Breakdancer würde sich keine Sekunde schämen, diesen Pullover zu tragen, den ich hier hatte.

Wenn mich meine Lehrer fragten, was denn die Buchstaben bedeuten, wußte ich es nicht. Ich sah mich als Schüler nicht beauftragt, die Ignoranz meiner Lehrer zu erhellen. Höchstwahrscheinlich stand meine Antwort ihrer Frage in Scheinheiligkeit nicht nach. Denn das Profundeste und Brauchbarste, das uns in der Schule vermittelt wurde, waren die Existenz und Wirkungsweise von Scheinwelten. Plastiktüten aus dem Westen zum Beispiel waren eine Kostbarkeit. Sie wurden vorsichtig zusammengelegt, von Verschmutzungen gereinigt und zum Trocknen aufgehängt. Mit exotischen Exemplaren, wie einer Tüte aus dickem gelben Plastik aus dem Duty-free-Shop des Flughafens Amsterdam, schmückten sich die Besitzer förmlich. Wer keine Plastiktüte hatte, wollte eine haben. Unsere Lehrer jedoch verboten uns, Westtüten in die Schule mitzubringen. Wenn überhaupt, dann mußten wir sie so umstülpen, daß der wertvolle Werbeaufdruck nicht mehr zu erkennen war. Darüber hinaus bestand die Gefahr, mit Büchern und Federtasche den Aufdruck abzukratzen. Als Schüler hatte ich das System bald verstanden und gab die richtigen Antworten. So war es sonnenklar, daß ich meinen Lehrern die Aufschrift auf meinem Pullover nicht erklären konnte.

Im geheimen Lager neben meinem Bett lag seit meinem letzten Geburtstag auch ein kleines Transistorradio. Damit hörte ich jetzt gern die Spätnachrichtensendung des Ostberliner Rundfunks. Das Radio lag auf dem Boden unter meinem Bett, ich hatte die Hand immer am Lautstärkeregler, um es schnell ausschalten zu können, wenn jemand in mein Zimmer kam. In den Sendungen wurden häufig Hintergrundreportagen aus den USA gesendet. Und obwohl es in diesen Reportagen immer nur darum ging, wie schlimm alles in Amerika war, wieviel Arbeitslosigkeit und Elend es dort gab, so wurde in mir doch eine merkwürdige Sehnsucht geweckt. Nach einer Weile schlief mein Arm vom langen Herunterhängen ein. Die verzerrte Telefonstimme des Reporters, die aus dem kleinen rot-weißen Plastikgehäuse des Transistorradios heraus in die Dunkelheit meines Zimmers schepperte und die in den schwärzesten Farben das Leben in Detroit, New York und Washington schilderte, verstärkte in mir nur den Wunsch, selbst einmal in dieses Land zu reisen.

LOUDER THAN BOMBS

Ist das ein Tintenfaß?

Ja, das ist es.

Ist das ein Stuhl?

Ja, das ist es.

Ist das ein Tisch?

Ja, das ist es.

Frau Dr. Gaber, meine Englischlehrerin, hatte Englisch nur als Zweitfach gewählt. Sie war von ganzem Herzen Russischlehrerin und hatte über russische Kinderliteratur promoviert. Sie hatte in Moskau studiert und verachtete nach diesen fünf Jahren die unterlegene deutsche Kultur. Dr. Gaber war höchstens fünfundzwanzig, hatte lange blonde Haare und war immer modisch angezogen. Wäre sie nicht ständig schlechtgelaunt gewesen, sie hätte der Typ sein können, in den sich Schüler verlieben. Doch nur die wenigen Male, die sie über lange Singeabende in ihrem Moskauer Studentenwohnheim erzählte, löste sich die Verbitterung ihres Blicks ein wenig, und die Züge um ihren Mund wurden etwas weicher. Daß die deutschen Jugendlichen nicht ständig am Flußufer Gitarre spielten und alte Volkslieder sangen, war für sie der letzte Beweis der Inferiorität unserer Kultur. Ihre Versuche, uns selbst noch im Englischunterricht russische Volkslieder beizubringen, endeten im Chaos, wenn wir uns darüber lustig machten, daß im selben Liedtext der Fluß Moskwa einmal fließen sollte und dann auf einmal wieder nicht. Dann wurde aus der zierlichen blonden Frau ein wütendes Ungeheuer apokalyptischer Dimensionen.

Fünfzig Prozent von Dr. Gabers Stunden verbrachte ich auf dem Heizkörper vor dem Klassenzimmer. Mit meinem Interesse für die anglo-amerikanische Kultur und meiner respektlosen Art verkörperte ich für sie alles, was schlecht und falsch in unserem Land war. Aber es traf nicht nur mich. Wenn sie richtig in Fahrt war, saßen am Ende der Stunde mehr Schüler auf dem Heizkörper vor dem Raum als drinnen. Auf dem Heizkörper durfte man eigentlich nicht sitzen, und deshalb paßten wir auf, wenn die Tür aufflog und Dr. Gaber noch einen Schüler herauswarf, dann durfte sie uns nicht erwischen, sonst wurden wir auch noch auf dem Flur angebrüllt.

Peter und Maria bereiten Banner für eine Demonstration vor.

Heute ist der 1. Mai.

Der 1. Mai ist der Tag der Arbeiter.

Peter und Maria werden an einer Demonstration für die Rechte der Arbeiter teilnehmen.

Englisch war für sie eine absolute Notlösung gewesen, und unsere sogenannte Englischlehrerin war ihrer eigenen Unterrichtsstunde manchmal knapp zwei Lektionen voraus, während ich das ganze Englischbuch aus reiner Langeweile schon in den ersten Schulwochen ausgelesen hatte. Aus dem Schulfernsehen lernten wir Sätze wie »Peter and Mary are preparing banners for a demonstration«. Peter und Maria waren zwei glattgekämmte, überangepaßte Mittzwanziger, Mitglieder der kommunistischen Partei Großbritanniens. Sie kämpften dafür, daß England so wie die DDR wurde. Peter und Maria liefen kreuz und quer durch die Straßen von London und sprachen unmotiviert Arbeiter an, von denen sie aus geheimnisvollen Gründen nicht pausenlos verprügelt wurden. Mir war klar, daß das DDR-Fernsehen nicht die Aufgabe hatte, die Realität im engeren Sinne wiederzugeben. Also eine Realität, die jeder auf der Straße selbst erleben konnte. Und in irgendeinem Kopf waren sicherlich auch diese Fernsehbilder aus Großbritannien Realität, aber sicher nicht in London selbst. Der Punk, Doc Martens und Gin Tonic hätten niemals in diesem muffigen Alptraum entstehen können.

Da mir die scheinbar naheliegendste Möglichkeit zur Überprüfung der tatsächlichen Gegebenheiten fernlag, begann ich ein intensives Forschungsprojekt und stürzte mich auf alle mir verfügbaren Quellen. Begierig las ich jeden englischen Songtext, an den ich herankam. Ich schrieb die Innenhüllen von Schallplatten ab, übersetzte die Texte und sang die Lieder dann laut in der Disko mit. Mit der Zeit wurde ich besser und konnte mir einige Liedtexte sogar selbst erhören. Zuhause fand ich ein echtes englisches Buch, das natürlich mein Lieblingsbuch wurde. So wurde ich besser und besser. Wenn Dr. Gaber mal ein Wort nicht wußte, fragte sie immer mich. Sie sagte dann immer, daß es nur ein Test gewesen sei. Es war unklar, ob sie Englisch oder mich mehr verachtete, aber es war offensichtlich, daß sie sich nicht schämte, diese minderwertige Sprache nicht zu beherrschen. Manchmal machte ich mir einen Spaß und übersetzte für sie Vokabeln wie großzügig mit big drafty. Mein Schwindel konnte nicht auffliegen, denn während ich mir ein dickes altes Wörterbuch im Antiquariat gekauft hatte, benutzte sie nur das magere Standardwerk. Doch es war ein einsamer Spaß, ich konnte mit niemandem die Freude daran teilen, der gerade »groß zugig« in einen englischen Satz über einen generösen Menschen einbaute.

Ich kann die Nachrichten heute nicht glauben,

ich kann meine Augen nicht schließen und machen, daß es weggeht.

Wie lange, wie lange müssen wir dieses Lied singen?

Sonntag, blutiger Sonntag.

Zu unserer Englischprüfung kam der Fachberater des Stadtbezirks, wahrscheinlich um Dr.