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Inhalt

VORWORT

Prolog

Der Ball darf nicht ins Tor

Der Zauber von Växjö

Der Kreis schließt sich

Das Angerer-Mädel

Italienische Freiheiten

Alles aufs Los

Unerwartete Entdeckung

Die Großstadt ruft

Vor die Tür gesetzt

Kurzschluss vor Berlin

Willkommen im OsteN

Lernen mit Schröder

Bilddteil 1

Harte Lehrjahre

Wenn der Körper sich wehrt

Bulungula oder die Operation im Busch

Der Kampf ist eröffnet

Letzter Sturmversuch

Sprung nach vorne

Griff zur Eins

Durchbruch in China

Bilddteil 2

Endstation Krankenhaus

Roadtrip nach Schweden

Abschied vom Vorurteil

Abkehr von der Axt

Frust in Frankfurt

Gewagter Neustart

Das Haus am Meer

Eine einfache Frage

Alles neu in Down Under

Hut statt Krone

»Don’t make her angerer!«

Insel mit Ausblick

IMPRESSUM

VORWORT

Als meine Freundin Nadine Angerer mir erzählte, dass sie an einem Buch arbeite, und mich fragte, ob ich mir vorstellen könne ein Vorwort zu schreiben, habe ich natürlich sofort begeistert zugesagt. Bloß, was schreibt man als Schauspielerin und Sängerin über einen Fußballstar?

Über Natzes (so wird sie von ihren Freunden genannt) überragende sportliche Fähigkeiten, ihre brillante Karriere und ihren Vorbildcharakter auf und jenseits des Platzes, darüber muss ich niemandem etwas erzählen.

Aber ist auch schon genug besungen worden, was für ein offener, unkonventioneller und interessanter Mensch sie ist?

Sie ist ein Typ, wie es ihn im superprofessionalisierten Männerfußball leider schon lange nicht mehr gibt. Diese unwiderstehliche Mischung aus Rebell und Star, jener eigensinnige Kopf, der in kein Schema passt, unberechenbar und ein bisschen gefährlich. Ein Typ in der Tradition von George Best, Günter Netzer oder vielleicht Paul Breitner. Sie ist jemand, mit dem man Nächte durchmachen will, über Jazz oder den deutschen Film diskutieren, mit dem man sich vorstellen kann eine Weltreise zu machen; ein wacher, politischer Kopf, der sich das Recht auf eine eigene Meinung nicht nehmen und sich nicht verbiegen lässt.

Es passt ins Bild, dass wir beide uns nicht etwa durch eine Talkshow oder auf einer Preisverleihung kennenlernten, sondern des Nachts vor einem angesagten Berliner Laden.

Und es passt ins Bild, dass sie nach der herausragenden EM 2013 und ihrer anschließenden Wahl zur Weltfußballerin nicht etwa eines der vielen lukrativen Angebote annahm, um ihren Erfolg noch mal so richtig in Geld umzumünzen, sondern nach Australien und danach in die USA ging, eben weil sie die Klugheit und den Weitblick besitzt, zu wissen, dass man so etwas eben im richtigen Moment macht oder gar nicht. Und dass man für kein Geld der Welt die Erfahrungen kaufen kann, die man macht, wenn man in einem Land arbeitet, das man aufregend und interessant findet.

Neben all dieser Coolness ist sie aber auch (das wird sie jetzt wahrscheinlich gar nicht gerne hören) eine liebenswürdige und loyale Person und jeder, der sie kennt, schätzt ihren Humor und ihre Schlagfertigkeit. Natürlich ist sie durch und durch Profi, aber sie verkörpert auch Freiheit und Abenteuer, eine echte Rock’nRollerin eben.

Natze ist, im positivsten Sinne des Wortes, eine Verrückte, und ich für meinen Teil glaube, dass man so verrückt sein muss, um in einem Europameisterschaftsfinale zwei Elfmeter halten zu können.

 

Jasmin Tabatabai

Prolog

Ich atme ein, ganz tief und bewusst, und lasse mich rückwärts fallen. Kaum im Wasser, höre ich nichts mehr außer meinem Atem, der durch das Sauerstoffgerät strömt, und dieses leise, fast ein bisschen singende Grundrauschen des Meeres. Ich fühle mich frei.

Beim Tauchen ist es wie bei einem großen Fußballspiel: Man muss fokussiert sein dabei und zugleich entspannt. Wenn du nervös bist, klappt es mit der Atmung unter Wasser nicht, du verlierst die Orientierung und musst letztlich an die Oberfläche. Man muss loslassen können beim Tauchen, und das geht nur, wenn man gut vorbereitet und zugleich in der Lage ist, seine Gedanken auszuschalten und absolut aufzugehen im Moment. Ich mag das. Ich lebe gerne so.

Seit einiger Zeit habe ich auf Fuerteventura einen Ort gefunden, an dem ich gerne meine Zeit verbringe. Gerade zehn Autominuten sind es von meinem kleinen Häuschen an der Westküste zu einem der Tauchspots an der Ost- und der Südküste. Ich liebe es zu tauchen, ich kann da gut abschalten und meine Sinne ins Hier und Jetzt holen. Ich war schon immer etwas chaotisch, zumindest wirkt das auf viele so, weil ich oft nicht den Erwartungen entspreche. Manche sagen auch, ich hätte oft mehr Glück als Verstand, aber das stimmt nicht. Ich denke, ich war bisher einfach immer gut vorbereitet, wenn das Glück bei mir vorbeikam.

Natürlich braucht man Glück im Leben, wenn man etwas erreichen will. Auch Fleiß und Disziplin, klar, vor allem aber die richtige Einstellung und, ja, Glück. Denn nur wenn man dafür offen ist, laufen die Dinge zusammen. Glück zu haben klingt meist so, als wenn es ein Zufall oder ein Geschenk wäre, glückliche Momente zu erleben. Für mich ist es eher eine Lebenseinstellung, Glück zu empfinden und mit dem eigenen Leben zufrieden zu sein. Dass mir einmal dabei helfen würde, dass ich einen Ball besser fangen kann als die meisten anderen, hätte ich lange nicht gedacht. Aber ich war nicht immer eine gute Torhüterin und mir ist einiges im Leben auch schon danebengegangen. Am Ende aber zählt das, was einem keiner nehmen kann. Das sind sicher auch die Titel und Erfolge, vor allem aber die Erlebnisse und Begegnungen, die einen formen und wachsen lassen. Dazu gehören die schlechten Momente genauso wie die guten, und von beiden hatte ich jede Menge. Aber keinen davon möchte ich missen. Denn ich wäre nicht die Natze, die ich bin, wenn es anders gelaufen wäre.

Es geht im Leben einer Torhüterin ja nicht immer nur um den Ball und das nächste Spiel. Um ehrlich zu sein, war der Fußball lange Zeit nicht das Wichtigste für mich. Heute ist der Sport mein Beruf, und der Fußball hat mich dorthin gebracht, wo ich jetzt bin. Aber ich meine damit nicht etwa Fuerteventura oder das Tor der Fußballnationalmannschaft der Frauen, nein, ich meine damit diesen Punkt im Leben, an dem man merkt: So, wie es ist, ist es gut – und wenn es nicht mehr gut ist, bin ich selbstbewusst genug es zu ändern.

Oft genug stand ich vor der Entscheidung, etwas zu verändern oder die Dinge zu lassen wie bisher. Auch da ist es ein bisschen wie beim Tauchen: Wenn man merkt, dass einem die Luft wegbleibt, sollte man etwas ändern an der Situation. Unter Wasser merkt man schnell, ob es noch geht oder nicht, an Land zögert man länger. Ich habe gelernt Entscheidungen zu fällen und bin am Ende Weltfußballerin geworden.

Wenn man am Anfang der Karriere steht, macht man sich viel Druck. Ich weiß jetzt: Ich habe viel erreicht und erlebt, auf das ich stolz sein kann. Bei einem Treffen mit meinem damaligen Klubkollegen Thomas Broich in Brisbane im Frühjahr 2014 meinte ich zu ihm: »Jetzt fängt meine schöne Zeit erst richtig an. Ich weiß jetzt, dass ich Spiele und Situationen auch genießen kann. Und das mache ich jetzt auch.«

Der Ball darf nicht ins Tor

Es kann sehr laut sein, wenn das Blut vor Aufregung so pulsiert, dass man glaubt das Klopfen in den Adern hören zu können. Booom, booom, booom, booom. Wie ein Echolot hält einen der Puls auf Kurs, das Herz bemüht sich, dabei nicht zu stolpern, und das Hirn versucht auf Autopilot zu schalten und sich auf klare Befehle zu reduzieren. Und ich? Ich überlasse mich dem Zusammenspiel der beiden und vertraue meinen Instinkten.

Adrenalin ist ein mächtiger Stoff, der einem nur zwei Möglichkeiten bietet: Man kann Angst haben und sich ihren Psychospielchen überlassen; oder man lässt das Adrenalin seinen Job machen. Das heißt: Steigerung der Herzfrequenz, Erweiterung des Lungenvolumens, Vergrößerung der Pupillen – man ist hellwach, bereit zum Sprung und denkt an nichts anderes als daran, die Situation zu lösen. In meinem Fall heißt das: Der Ball darf nicht ins Tor. Auf gar keinen Fall. Auch jetzt nicht, da mir im Endspiel um die Europameisterschaft 2013 in Schweden elf Meter entfernt Solveig Gulbrandsen gegenübersteht und darauf wartet, dass die Schiedsrichterin den Ball freigibt.

Ein halbes Jahr lang hatten wir mit der Nationalmannschaft auf diesen 28. Juli 2013 hin gekämpft. Monatelang hatten wir hart trainiert, um in diesem EM-Finale von Solna zu stehen. Und jetzt, nach etwas mehr als einer Stunde Spielzeit, gab es in diesem Endspiel gegen Norwegen schon den zweiten Elfmeter gegen uns. Ich war im ersten Moment fuchsteufelswild. Damals, im WM-Finale 2007 in China, hatte ich den Elfmeterpfiff gegen uns hingenommen wie der Rest der Mannschaft – in dem Moment, als es passierte, wussten wir alle, dass der Pfiff berechtigt war. Aber jetzt, in der mit über 41.000 Zuschauern ausverkauften Nationalarena vor den Toren Stockholms, schrie ich vor Ärger auf. Schon der erste Strafstoß nach einer halben Stunde war keiner, den man geben musste. Norwegens Cathrine Høegh Dekkerhus war im Zweikampf mit Célia Okoyino da Mbabi im Strafraum gefallen, und nachdem die Schiedsrichterin gepfiffen hatte, schnappte sich Trine Rønning den Ball zum Schuss – ich konnte ihn mitten im Sprung noch mit dem rechten Unterschenkel abwehren.

Als jetzt der zweite Pfiff kam, machte ich meinem Ärger darüber Luft. Wieder war eine Norwegerin zu Fall gekommen, diesmal Caroline Hansen im Duell mit Jennifer Cramer, und wieder entschied die Schiedsrichterin auf Strafstoß. 1 : 0 führten wir inzwischen durch ein Tor von Anja Mittag, wir spielten gut, richtig gut, und die wachsende Anspannung im Stadion war fast mit Händen zu greifen. Kaum einer hatte mit uns gerechnet in diesem Jahr, verletzungsgeplagt und unerfahren, wie unsere Mannschaft war. Und nun standen wir hier im EM-Finale vor dem großen Triumph. Wenn ich jetzt diesen Ball halte.

Ruhig bleiben, Natze, sagte ich zu mir, immer schön ruhig bleiben. Du hast den ersten Strafstoß gehalten, du kannst auch den zweiten halten, die Chance steht wie vorhin 50 : 50. Der Ball darf nicht ins Tor, auf gar keinen Fall!

Ich blendete aus, dass das voll besetzte Stadion brodelte wie ein blubbernder Brei aus tausend aufgeregten Stimmen, ich sah nichts mehr außer den Ball, den sich jetzt Norwegens Gulbrandsen zurechtlegte, und verschwand in diesem Tunnel zwischen mir und der Schützin. Stehen bleiben? Springen? Rechts? Oder doch besser links?

Als Gulbrandsen anläuft, spannt sich alles in mir an, sie schießt und ich tauche in die richtige Ecke, aber der Ball ist unerwartet hoch, ich strecke mich und reiße reflexartig meinen rechten Arm nach oben und – ich kann ihn stoppen. Während der Ball von meiner Hand abprallt und nach vorne zu Boden fällt, während ich noch in der Luft bin, sehe ich, wie Gulbrandsen auf ihn zustürmt, doch Saskia Bartusiak ist rechtzeitig zur Stelle und bugsiert ihn aus der Gefahrenzone. Gehalten! Wir führen noch immer! Wir können noch immer Europameister werden! Ich balle die Fäuste, ich brülle, und es kommt mir so vor, als ob in dem Moment das ganze Stadion brüllt. Der Ball darf nicht ins Tor. Nicht heute.

Der Zauber von Växjö

Durch das Kafé de luxe im südschwedischen Växjö wummerte an diesem frühen Nachmittag Anfang Juli angenehm entspannter Reggae aus den Boxen. Ich bestellte mir an der Theke einen Kaffee, schwarz, und setzte mich an einen der kleinen Holztische in dem alten Schwedenhäuschen. Draußen flirrte die Sommersonne durch die Baumkronen auf den Asphalt, die Menschen von Växjö schlenderten entspannt durch die Straßen, als wären sie alle im Urlaub. Ich nahm einen Schluck, während ich am Nebentisch zwei kunstvoll tätowierten Typen bei einer Partie Backgammon zusah. Växjö ist eine Universitätsstadt und das Abziehbild des idyllischen Schwedens: viel Grün, rundherum Seen und immer wieder diese Holzhäuschen. Und hier, im Kafé de luxe, sammelten sich die schrägen Typen mit den Hillbillyfrisuren und den Tattoos. Ich fühlte mich sofort wohl. Auch der Kaffee im Kafé de luxe war gut, aber deswegen war ich nicht hierhergekommen. Ich war an diesem 9. Juli 2013 die rund 500 Meter von unserem Mannschaftshotel in der Västra Esplanaden in die nahe Sandgärdsgatan spaziert, um zwei Tage vor dem ersten Turnierspiel vielleicht ein letztes Mal während dieser Europameisterschaft einen kurzen Moment der Normalität zu haben. Ich trank noch einen Schluck, fühlte dem Kaffee im Magen nach und sah mich um. Niemand um mich herum schien sich von irgendetwas aus der Ruhe bringen lassen zu wollen, alle waren in ihre Beschäftigung oder in ein Gespräch versunken, jeder schien vollkommen im Moment aufzugehen. Na ja, dachte ich mir, warum auch nicht? Und warum nicht auch ich?

Glasreich nennen sie in Schweden die Region, in der wir während der Vorrunde dieser EM 2013 die meiste Zeit untergebracht waren, und Växjö ist das Zentrum dieses Reichs. Doch im Vergleich zum letzten Turnier, bei dem wir mit der deutschen Nationalmannschaft angetreten waren, kamen wir uns überhaupt nicht gläsern vor. Während der Weltmeisterschaft 2011 in Deutschland waren wir tagtäglich intensiv von den Medien begleitet und beobachtet worden, teilweise schon lange vor dem Turnier. Wir waren ja nicht nur die Titelverteidigerinnen, sondern auch die Gastgeberinnen gewesen, und so war alles, was wir taten und was wir nicht taten, eine Meldung und Gegenstand von Interpretationen. Durch unser frühes Ausscheiden im WM-Viertelfinale verpassten wir die Olympischen Spiele 2012, und so war diese EM 2013 jetzt der erste Wettbewerb mit einer deutschen Frauennationalelf seit der WM. Hier im kleinen Växjö aber lag es nicht nur an der Luft, dass wir trotz der Turnieranspannung durchatmen konnten. Wir waren eine neue Mannschaft geworden in einer neuen Situation. Nichts erinnerte uns mehr an die Weltmeisterschaft und an alte Erfolge und Geschehnisse, wir wollten unsere eigene Geschichte schreiben, auch ich. Ich war jetzt 34 und hatte mir noch etwas zu beweisen. Ich trank den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse, zahlte und ging zurück zum Hotel. Dieses Turnier, dieser Sommer und alles, was er mit sich bringen sollte, konnten kommen.

Kaum einer hatte auf uns gewettet, nachdem unserer Nationalmannschaft im Laufe der Vorbereitung ein halbes Dutzend erfahrene Spielerinnen wegen Verletzungen ausgefallen war. Erst sagte Verena Faißt mit Pfeifferschem Drüsenfieber ab, dann fiel Viola Odebrecht mit einem Meniskusschaden aus. Auch Kim Kulig musste wegen anhaltender Knieprobleme passen, schließlich kamen auch Linda Bresonik mit einer Achillessehnenentzündung und Alexandra Popp mit einem Bänderriss auf die Verletztenliste. Zu guter Letzt meldete sich auch noch Babett Peter mit einem Ermüdungsbruch im Fuß ab. Sechs Spielerinnen, die allesamt zum Stammkader gehörten, fehlten uns also vor dieser Europameisterschaft, bei der wir nicht nur als Titelverteidiger antraten, sondern auch um unseren Ruf zu verteidigen. Bis zur WM 2011 waren wir gefürchtet wegen unserer Fähigkeit, bei Turnieren Stärke zu zeigen und zu überraschen. Ausgerechnet im eigenen Land war uns das nicht gelungen, aber jetzt wollten wir zeigen, dass wir es nicht verlernt hatten. Mehr noch: Dass wir es mit unseren jungen Spielerinnen bald noch besser können.

Anfangs zuckte in mir während der Vorbereitung bei jeder neuen Hiobsbotschaft einer Verletzung sofort die Frage durch den Kopf: Wie fangen wir als Mannschaft das jetzt auf? Aber kaum war ich dann beim nächsten Training oder Lehrgang wieder mit der Mannschaft zusammen, spürte ich, wie schnell die jungen Spielerinnen, die Bundestrainerin Silvia Neid nach und nach integriert hatte, dazulernten und zu einer Einheit wurden. Und so wuchs das Gefühl: Wir mochten als Team vielleicht unerfahren sein und noch lange nicht eingespielt, aber wir spürten schnell, dass sich in diesen Sommertagen 2013 etwas entwickelte. Etwas, das größer war als jede Einzelne von uns, ein echtes Mannschaftsgefühl mit dem Glauben, als Gruppe stark zu sein. Und für dieses Gefühl war ich bereit alles zu geben.

Turniere sind immer etwas Besonderes, in jeder Hinsicht. Rund um so einen Wettbewerb lebt man als Fußballerin in einer eigenen Welt. Tag für Tag dreht sich alles darum, dieses eine Ziel zu erreichen, auf das man sich über Wochen und Monate vorbereitet hat. Und all diese Spielerinnen, die noch in der U 19 oder in der U 20 hätten spielen können, machten sich nun daran, unbekümmert wie junge Welpen einfach in die Lücken zu springen, die die Verletzten hinterlassen hatten, und dabei über sich hinauszuwachsen. Und so war ich recht schnell recht zuversichtlich für diese EM. Die Jungen wiederum freuten sich einfach auf ihr erstes großes Turnier und auf Schweden, aber nicht mit dem Gedanken, unter Druck zu stehen, sondern einzig aus Vorfreude. Die Kleinen, wie wir Älteren sie oft nannten, haben sich über nichts einen Kopf gemacht, zum Glück vielleicht.

Saskia Bartusiak, Annike Krahn, Célia und ich, also die Erfahrenen unter uns, wussten dagegen: Wir haben hier die Verantwortung, wir müssen gucken, dass wir den Laden für die EM zum Laufen kriegen und den Kindergarten zusammenhalten. Dieser Gedanke hat uns zusätzlich motiviert, weil wir uns sagten: Wenn wir Erfahrenen nicht funktionieren, wie sollen wir dann erwarten, dass die Jungen funktionieren bei dieser EM? Von ihnen konnte man schließlich nicht einfordern, dass sie sofort alles richtig machen. Wir mussten für sie da sein, wir mussten auf und neben dem Platz Verantwortung übernehmen, und wir mussten schnell reagieren, wenn es mal nicht so lief. Daneben mussten wir auch unsere eigene Leistung bringen, und das zuverlässig. Da blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken.

Bei der Anreise ging es direkt vom Frankfurter Flughafen nach Växjö, in dieses kleine südschwedische Städtchen, und damit waren wir plötzlich mittendrin im Turnier. Zuvor hatten wir eine überragende Vorbereitung gespielt, ein bisschen wider Erwarten der Öffentlichkeit, die ja die ganzen Verletzungen mitbekommen hatte. Wir hatten gegen Schottland gewonnen und gegen Kanada, wir lieferten sogar gegen die Weltmeisterinnen aus Japan vor 46.000 Zuschauern in München ein sensationelles Spiel ab und siegten 4 : 2. In diesen Testspielen konnten wir auch befreit aufspielen, es ging ja noch um nichts. Aber jetzt, in Schweden, zählte es. In jedem Spiel, in jeder Minute, drei Wochen lang.

Anfangs war es dann genau so, wie meine Klub- und Teamkollegin Saskia und ich es in manchen Gesprächen vorab befürchtet hatten: Die Mannschaft war sehr nervös und noch damit beschäftigt, sich mit der Situation zurechtzufinden. Wir spielten einen ziemlich schlechten Fußball in den ersten Partien und waren wie ausgewechselt. Da sieht man wieder, wie viel Einfluss Druck auf eine Mannschaft hat. Aber es hat uns zusammengeschweißt, diese Phase durchzustehen. Und es gab immer wieder schöne Momente und kleine Gesten, die allen gezeigt haben, dass diese Wochen in Schweden etwas Besonderes werden können.

Lira Alushi etwa, die damals vor ihrer Heirat noch Bajramaj hieß, war nach ihrem Kreuzbandriss wieder rechtzeitig für die EM fit geworden, hatte aber dennoch ihre Stammposition auf dem rechten Flügel inzwischen an die junge Lena Lotzen verloren. Noch vor dem ersten Vorrundenspiel gegen die Niederlande war dann in einer der Trainingseinheiten zu beobachten, wie Lira zu Lena geht und auf sie einredet. In einem ruhigen Moment verrieten uns die beiden, über was sie sich da ausgetauscht hatten: »Pass mal auf«, meinte Lira zu Lena, »ich würde auch gerne spielen, aber du hast eine super Vorbereitung abgeliefert und hast total gut trainiert. Auch wenn ich jetzt draußen auf der Bank sitze: Du kannst dir sicher sein, dass ich dich zu 100 Prozent unterstütze.« Das war eine beeindruckende Geste von Lira und zeigt, was für ein toller Charakter sie ist. Nicht jede hat die Größe, in einem Moment der Konkurrenz die Leistung der anderen anzuerkennen – und sie zum Wohl der Mannschaft auch noch zu unterstützen.

Nachdem die Jungen vor dem Abflug zur EM noch bester Laune und in Reiseaufregung waren, wurde es in den Tagen vor unserem Auftaktspiel in der Myresjöhus-Arena in Växjö abseits vom Trainingsplatz immer ruhiger. Schon auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel hatten wir am Stadion und an den Einfallstraßen vom Bus aus die mannshohen Banner mit den Fotos von Spielerinnen entdeckt, mit denen in Schweden für die EM geworben wurde. Auf manchen Bannern war ich abgebildet, als Kapitänin und ehemalige Spielerin von Djurgårdens IF in Stockholm war ich den Schweden wohl ein Begriff. Auf einigen Bannern aber war auch Dzsenifer Marozsán zu sehen, unsere damals erst 21-jährige Mittelfeldspielerin, die mit der EM 2013 ihr erstes Turnier mit der Nationalelf erlebte. Die Medien im In- und Ausland nannten sie eines der vielversprechendsten Talente dieses Sommers, und nicht nur sie wurde ernst beim Anblick der vielen Plakate und Fahnen mit ihrem Konterfei. Allen Jungen im Team wurde jetzt bewusst, wo sie da gelandet waren: bei einer Europameisterschaft, in Konkurrenz zu den besten Mannschaften des Kontinents.

Jetzt sollten nicht Wochen zwischen Spielen liegen, sondern gerade mal zwei bis drei Tage. Spielen, besprechen, trainieren, spielen – es ging jetzt nicht mehr um die Vorbereitung und um das Ausprobieren von Möglichkeiten und Varianten, es ging jetzt um einen Titel und darum, sich dauerhaft durchzusetzen. Darum, Fehler zu vermeiden, weil sie sonst gnadenlos ausgenutzt werden. War ich in den Turnieren davor noch eine von vielen gewesen, sah ich mich nun in einer ganz besonderen Verantwortung: Ich hatte nach der Weltmeisterschaft von Birgit Prinz das Amt der Kapitänin übernommen, ich war jetzt die mit Abstand Dienstälteste und Erfahrenste im Nationalteam. Natürlich bedeutete das nicht, dass ich mich als Mensch oder Spielerin veränderte, aber mein Bewusstsein für meine Rolle innerhalb der Mannschaft änderte sich noch einmal: Ich wollte meiner jungen, noch im Werden begriffenen Mannschaft bei dieser EM nicht nur das Gefühl geben, dass sie sich auf mich zwischen den Pfosten verlassen kann und sich darum keinen Kopf machen muss. Ich wollte dem Team auch neben dem Platz vorangehen und zeigen, worum es geht: um den Spaß an unserem Sport und um die Lust an der Herausforderung.

So oft es ging, sprach ich deshalb mit unseren jungen Spielerinnen und versuchte ihnen vorzuleben, dass eine ernsthafte Turnier- und Spielvorbereitung nicht heißen muss, dass es nichts zu lachen gibt. Ohne Entspannung keine Anspannung, finde ich, das gilt fürs Leben wie für den Leistungssport, und diese zwei sich bedingenden Seiten versuchte ich den Jungen mit auf den Weg zu geben: Jede darf sein, wie sie will, und sich privat ihre Auszeiten nehmen, wenn sie muss – wenn sie im Training und im Spiel bereit ist, alles zu geben und sich für die Mannschaft zu zerreißen. In dem Punkt aber hatte ich bei unseren jungen Spielerinnen von Anfang an ein gutes Gefühl: Sie alle waren charakterlich solche Goldstücke und echte Teamplayer, dass das rote Lederarmband, das die Teamleitung jeder von uns noch in Frankfurt mit ins Turnier gegeben hatte, keine Erinnerung, sondern eine Bestärkung war: »Laganda 008« stand darauf, also das schwedische Wort für Mannschaftsgeist und die Ziffer für den achten EM-Titel, den wir für Deutschland gewinnen wollten. Doch an den Titel, das hatte ich mir nach der WM 2011 geschworen, wollte ich als Allerletztes denken bei dieser Europameisterschaft.

2011 nämlich war um uns herum immer wieder davon gesprochen worden, wen wir denn am liebsten als Finalgegner hätten. Es wurde so oft vom Finale gesprochen, dass wir Spielerinnen irgendwann selbst anfingen mitten im Turnier bereits an das Endspiel und nicht nur ans jeweils nächste Spiel zu denken. Und genau das war wohl der Fehler: Wir konzentrierten uns nicht auf den Moment, sondern auf etwas, um das es noch gar nicht ging. Und zack, waren wir draußen, nicht zuletzt durch einen Fehler meinerseits beim letzten Torschuss der Japanerinnen. Ich hatte die Möglichkeit unterschätzt, dass die Angreiferin auf das lange Eck zielen könnte. Ich hatte spekuliert und mich für die falsche Ecke entschieden, anstatt stehen zu bleiben – dieses Gegentor, das unser WM-Aus bedeutet hatte, hat mich noch lange beschäftigt. Diesmal also, bei der EM 2013, wollte ich es lieber wie bei der WM 2007 machen: Immer schön Aufgabe für Aufgabe denken. Klingt simpel, ist aber nicht nur effektiv, sondern bei Turnieren das einzig Wahre, wie ich finde. Ich nahm mir das nicht nur für mich vor, ich versuchte das, genauso wie Silvia Neid, die Bundestrainerin, auch meinen Mitspielerinnen einzuimpfen. Zum Glück war die Mannschaft anfangs so mit sich beschäftigt, dass wirklich kaum eine über das jeweils nächste Spiel hinausdenken konnte.

Der Start in die Europameisterschaft war dennoch zäh, wir brachten die erste Partie am 11. Juli gegen die Niederlande mit einem glanzlosen, recht nervösen 0 : 0 hinter uns. Okay, dachte ich mir, abhaken. Einen Punkt haben wir schon mal.

Im zweiten Spiel gegen Island drei Tage später erneut in Växjö brach die junge Lena Lotzen für uns Mitte der ersten Halbzeit mit ihrem ersten Nationalmannschaftstor den Bann, Célia Okoyino da Mbabi – die inzwischen Šašic´ heißt – machte ihrem Ruf als Torjägerin alle Ehre und legte mit zwei Treffern nach. Dieses 3 : 0 konnte sich doch schon mal sehen lassen, dachte ich mir jetzt, und auch das Erreichen des Viertelfinales hatten wir dadurch bereits sicher. Vielleicht war das der Grund, warum manche anfingen rund um das letzte Vorrundenspiel im Kopf etwas nachzulassen.

Für das abschließende Gruppenspiel gegen Norwegen hatten wir umziehen müssen, es fand in Kalmar an der Ostküste statt, und unser Team war dafür etwas abgeschieden auf der gegenüberliegenden Insel Öland untergebracht. Mitte und Ende Juli ist Ferienhochzeit in Schweden, überall waren Camper und Urlauber, und statt unseren in Växjö aufgenommenen Schwung weiterzuführen, bremste das abgezockte Norwegen uns in der neu gebauten Arena von Kalmar eiskalt aus: Gleich sechs Spielerinnen ihrer Stammelf hatten die ebenfalls schon fürs Viertelfinale qualifizierten Skandinavierinnen einfach mal auf der Bank gelassen, während wir in der Partie die an Grippe erkrankte Lena Goeßling im Mittelfeld vermissten. Die nachrückenden Norwegerinnen gaben Gas, um sich zu empfehlen, und kauften uns mit druckvollem Fußball den Schneid ab. In der Nachspielzeit der ersten Hälfte bekam Ingvild Isaksen am Strafraum den Ball vor die Füße, ihr abgefälschter Schuss segelte zum 1 : 0 in mein Tor – es sollte der einzige Treffer des Tages bleiben.

Im Viertelfinale standen wir zwar dennoch, wenn auch nun als Gruppenzweite hinter Norwegen, aber das Gefühl war betäubend. Während die Skandinavierinnen feierten, uns Deutschen die erste Niederlage bei einer EM-Endrunde seit 20 Jahren beigebracht zu haben, marschierten wir nach dem 0 : 1 von Kalmar bedröppelt vom Platz. Kaum etwas von dem, was wir uns vorgenommen hatten, hatte an dem Abend funktioniert, wir waren gegenüber den robusten Norwegerinnen erschreckend ungefährlich, ja fast harmlos gewesen. Waren wir nicht zu mehr imstande? Oder konnten wir es nur nicht abrufen?

Während der Busfahrt zurück in unser Hotel in Färjestaden auf Öland saßen unsere Abwehrchefin Saskia Bartusiak und ich nebeneinander im Bus und redeten. Irgendetwas lief gehörig schief, und wir wollten dahinterkommen, was es war. Célia und Annike setzten sich dazu, und während wir in gedämpftem Ton miteinander diskutierten, kam bald die Bundestrainerin zu uns. »Was ist denn hier los?«, fragte sie. »Was macht ihr denn da?« Na ja, meinten wir, wir reden gerade, bitte lass uns mal eben in Ruhe. »Was meint ihr denn zum Spiel, was war heute los?«, hakte sie nach. Es rumorte in der Bundestrainerin, das war ihr anzusehen, aber es war jetzt nicht der Zeitpunkt für eine gemeinsame Analyse. »Silv, lass uns bitte mal eben in Ruhe«, meinte ich schließlich, »wir regeln das gerade.« Silvia Neid ließ uns dann auch alleine, sie respektierte unseren Wunsch und vertraute uns. Und wir vier wussten: Wir können jetzt, nach diesem Spiel, nicht einfach ins Hotel zurück und so tun, als wenn nichts passiert wäre. Wir diskutierten noch in leisem Ton weiter, als wir schon die Brücke vom Festland hinüber nach Öland passierten.

Saskia Bartusiak ist mir in der Nationalmannschaft eine wichtige Ansprechpartnerin auf und neben dem Feld geworden. Lange Jahre war sie ja ein bisschen das Gänseblümchen in der Nationalelf, aber nach der WM 2011 hatte sie sich zur unverzichtbaren Größe gemausert. Saskia war immer eine der am meisten unterschätzten Spielerinnen in der Nationalelf. Bei der EM 2013 in Schweden hat es mir allerdings eine enorme Sicherheit gegeben, dass sie vor mir in der Abwehr gespielt und von dort mit die Defensive zusammengehalten hat. Seit ich in der Nationalmannschaft Kapitänin bin, haben wir eine sehr enge Zusammenarbeit entwickelt, die uns und dem Team guttut, glaube ich. Denn anders als ich, die Ulknudel, ist Saskia ein sehr ruhiger und reflektierter Typ, während ich sehr impulsiv sein kann und oft auf meinen Bauch höre. Manchmal treten wir gegenüber der Mannschaft bei Ansprachen oder Diskussionen auch als eingespieltes Duo auf, ich bin dann der bad cop, sie der good cop, die Rollen nimmt uns auch jeder ab. Saskia und ich haben in Schweden immer geschaut, dass es allen Schäfchen in der Herde gut geht.

Es war schon spät, als wir in unserem Hotel in Färjestaden ankamen, und es ging noch vor dem Schlafengehen zu einem kurzen Abendessen. Beim Essen meinte Saskia mit entschlossener Miene zu mir: »Natze, wir müssen eine Mannschaftsbesprechung machen, und zwar so schnell wie möglich.« Irgendwann sagte die Bundestrainerin in die Runde: »Okay Mädels, wer fertig ist, kann aufs Zimmer gehen.« Doch kaum hatte Silv ausgesprochen, meinte ich noch einen Tick lauter in den Raum hinein: »Nee, wer von den Spielerinnen fertig ist, kommt jetzt in den Besprechungsraum. Alle.«

Oben unterm Dach gab es einen Raum mit Stühlen, in dem wir uns als Team schon für Analysen versammelt hatten. Jetzt mussten wir als Mannschaft klären, was an dem Tag in uns gefahren war. Nachdem ich angefangen hatte zu reden und Saskia und ich in die Runde gesprochen hatten, dass das soeben nicht einfach nur ein verlorenes Spiel gewesen war, sondern eine Mannschaft ohne Glauben an sich selbst, fragte ich in die Runde, was denn eigentlich los ist. Und ob jemand etwas dazu sagen will. Zu meinem eigenen Erstaunen war recht bald eine lebhafte Diskussion im Gang. Jede Einzelne sagte etwas, und es kamen nicht einfach Vorwürfe, sondern sehr reflektierte Kommentare. Nadine Keßler etwa erklärte, warum es ihrer Meinung nach im Mittelfeld noch nicht wirklich lief. Bianca Schmidt ärgerte sich über einzelne Dinge, die in der Defensivarbeit nicht funktionierten. Bald schalteten sich andere Spielerinnen dazu, und plötzlich war ein intensives Gespräch am Laufen, bei dem man merkte, wie gut es jeder tat, sich darüber einmal auszutauschen, ohne dass eine es als Angriff verstand. Jede sprach sich etwas von der Seele, bei dem sie auf dem Platz Hilfe brauchte oder mit dem sie im Spiel allein nicht zurechtkam. Das alles offen auszusprechen und Verständnis bei den anderen zu finden schweißte uns ein weiteres Stück zusammen. Nicht nur ich schlief in dieser Nacht aufgewühlt ein.

Am Tag nach der Vorrundenniederlage reisten wir zurück nach Växjö, nach der Busfahrt stand vor allem Physiotherapie und lockeres Laufen an. Am späten Abend schlenderten Saskia und ich in Växjö noch mal durchs Hotel und trafen dabei auf die Bundestrainerin, die offenbar auch noch nicht zur Ruhe kam. Es entwickelte sich ein Gespräch, über zwei Stunden saßen wir letztlich zusammen, hörten ihr zu und tauschten uns aus und machten uns Gedanken. Am nächsten Tag hatte sich bei uns allen spürbar etwas verändert.

Aber die Mannschaft hat es uns in Schweden auch einfach gemacht. Die Spielerinnen sind alle super Charaktere, trotz ihres meist noch jungen Alters sind viele schon sehr reif und erwachsen, was ihre Einstellung zum Fußball angeht. Meine Güte, wenn ich da an mich in dem Alter denke, ich war da auf keinen Fall schon so weit! Alle sind sehr kollegial und offen, da ist kaum eine Ego-Shooterin dabei. Und die, die aus der Reihe tanzen, werden von den anderen entweder schnell wieder zurückgepfiffen oder eben mit ihren Macken so akzeptiert, wie sie sind. Alle wissen, dass sie nur zusammen Erfolg haben können.

Zwei Tage vor dem Viertelfinale, vor dem wir einen Tag mehr Pause als sonst hatten, verkündete die Bundestrainerin vor dem Training, dass die Gruppe, die zum Trainingsende das übliche Ausschießen zwischen den Jungen und den Alten im Team verliert, zur Strafe für den Abend Referate vorbereiten muss. Die Jungen verloren. Sie mussten jetzt in Zweiergruppen aufgeteilt fünfminütige Vorträge vorbereiten über Themen wie »Ehre«, »Druck« und »Was es mir bedeutet, in der Nationalmannschaft zu spielen«. Ich dachte mir: Das nehmen die doch nicht ernst, die rotzen da bestimmt irgendwas runter, um es hinter sich zu bringen. Ich hatte die Jungen nicht nur gehörig unterschätzt: Ich habe sie noch mal von einer anderen Seite kennengelernt, und nicht nur ich.

Dem Rest der Mannschaft und mir, die wir am Abend zuhörten, standen bald Tränen der Rührung in den Augen, als die Jungen präsentierten, welche Gedanken sie sich gemacht hatten: Voller Leidenschaft hatten sie in einigen Stunden eindrucksvolle Power-Point-Präsentationen und Videozusammenschnitte vorbereitet und sprachen jetzt davon, wie viel es ihnen bedeutete, mit dem Nationaltrikot und für diese Mannschaft aufzulaufen. Vieles, was für uns Ältere im Team mit der Zeit selbstverständlich geworden war, zeigten uns die Jungen jetzt in neuer Bedeutung. Gemeinsam spürten wir dem nach, was das Turnier uns bot und abverlangte zugleich: Dankbarkeit für die Chance, hier zu spielen, und völlige Hingabe an die Aufgabe, die es zu bewältigen galt. Als ich während des Abends einmal zu Silvia Neid hinüberblickte, sah ich, wie auch sie schlucken musste und offensichtlich berührt war. Keine von uns ließ der Abend kalt, die Stimmung, die im Raum lag, hatte etwas Aufrüttelndes. Nach der Norwegen-Niederlage hatten wir über unsere Fehler gesprochen und über das, was wir beim Fußballspielen ändern mussten. Jetzt hatten wir darüber gesprochen, was uns als Nationalspielerinnen ausmachte und warum wir überhaupt hier waren.

Und dann kam das Kampfspiel gegen Italien.

Am Tag des Viertelfinales gegen die Italienerinnen, die bei dieser EM mit einem überlegten Konterfußball und einer schnörkellosen Überbrückung des Mittelfelds beeindruckt hatten, lag eine brütende Hitze über dem kleinen Växjö. Italienerwetter, unkte manch ein Zuschauer vor dem Anpfiff, aber wir wollten uns jetzt für diese Begegnung durch nichts und niemanden davon abhalten lassen zu zeigen, zu was wir als Team in der Lage sind. Es mag vielleicht nicht jeder Spielzug hinhauen, wie wir ihn einstudiert haben, sagten wir uns, aber wir werden es immer wieder aufs Neue probieren. 90 Minuten lang und mehr, wenn es sein muss. Und wir werden dazu kämpfen und rennen, bis wir nicht mehr können. Auf unserer Position und in jedem Moment, in dem eine andere uns braucht.

Italien machte es uns wie erwartet schwer, und selbst als Simone Laudehr uns eine gute halbe Stunde nach dem Anpfiff nach einer Ecke mit einem abgefälschten Schuss in Führung gebracht hatte, ließ die Mannschaft aus dem Land meines Vaters nicht nach. Fünf gelbe Karten für Italien in dieser Partie sprechen für sich, doch ihre Angriffe hatten Raffinesse: Immer wieder tauchten sie gefährlich vor meinem Kasten auf, immer wieder musste ich eingreifen und Situationen klären. Als der Schlusspfiff den Kraftakt endlich beendete und unser 1 : 0 festhielt, sanken manche von uns einfach nur zu Boden, so kaputt waren wir. Kaputt, aber glücklich! Denn wir hatten gezeigt, dass wir es von nun an jeder Mannschaft schwer machen würden, und hatten mit dem Einzug ins Halbfinale außerdem erreicht, was wir uns intern vorab als Minimalziel ausgegeben hatten: Es mit dieser in der Summe unerfahrenen Truppe unter die vier besten Mannschaften Europas geschafft zu haben, war aller Ehren wert. Wir waren also noch immer im Turnier und würden jetzt als Titelverteidiger in Göteborg auf den Gastgeber Schweden treffen – es war das Spiel, auf das ganz Schweden bei dieser EM gewartet hatte.