Elisabeth Hering

Sagen und Märchen von der Nordsee


Elisabeth Hering wurde 1909 in Klausenburg, Siebenbürgen, geboren und wuchs in Schäßburg auf. 1943 musste die Autorin ihre Heimat verlassen und ließ sich nach mehreren Zwischenstationen in Leipzig nieder. Hering veröffentlichte 24 Bücher – darunter zahlreiche kulturhistorische Romane, populärwissenschaftliche Bücher und Erzählungen für Kinder.

Ein weiterer Schwerpunkt ihrer schriftstellerischen Arbeit waren Nacherzählungen von Märchen, Sagen und Schwänken. Elisabeth Hering starb 1999 in Leipzig.

Die Kraft des Windes und der Wellen, aber auch die Sorgen und Nöte der Bauern, Fischer und Seefahrer sind der Ursprung vieler Nordseemärchen. Sie handeln von abenteuerlichen Fahrten über das Meer und wundersamen Begegnungen mit Gestalten der Sage und des Mythos. Sie erzählen vom Klabautermann, der eifersüchtigen Meerfrau Ran und dem tyrannischen Meergott Ekke Nekkepenn. Zaubermärchen, Volkspoesie und historische Stoffe sind hier in einer eindrucksvollen Sammlung vereinigt.

Galoppeisen und Flugeisen

Eines Tages ritt ein Bauer seines Weges von Loxstedt nach Bremerhaven, und er merkte nicht, dass er sein Pferd ein Hufeisen verloren hatte. Da begegnete ihm ein kleines Kerlchen, das ein rotes Röcklein trug und struppiges Haar und listige Augen hatte, das rief ihm zu: »Dein Gaul hat drei Eisen – wo ist das Vierte?« Der Bauer stieg ab und besah sich den Schaden. »Ja, du hast recht, Kleiner. Und ich danke dir schön. Doch kannst du mir auch noch sagen, wo hier in der Nähe eine Schmiede ist?« – »So nimm dein Pferd am Zügel, und komm mit!«

Sie waren gar nicht weit gegangen, da hörten sie schon das lustige »Dipink diripank!« und sahen hinter einem Hügel auch bereits den Rauch aufsteigen. Und als sie um den Hügel herumbogen, standen dort drei ebensolche Kerlchen am Amboss, die hatten gerade ein Hufeisen in der Zange. »Oh, da komme ich ja recht!«, rief der Bauer freudig aus. »Könnt das Eisen gleich meinem Pferd aufschlagen. Es hat eins am Weg verloren.« Sein Begleiter aber – wie sich herausstellte der Meister dieser Schmiede – fragte ihn: »Und was für Eisen willst du haben? Trabeisen ... oder Galoppeisen?« – »Dann schon lieber Galoppeisen!« Als das eine Bein des Pferdes beschlagen war, meinte der Kleine: »Und die drei andern alten Eisen, sollen die nicht auch gleich mit erneuert werden?« – »Was fällt dir ein? Die sind doch noch gut. Die werden noch manchen Ritt mitmachen.«

Damit nahm der Bauer den Zügel aus des kleinen Meisters Hand und fragte: »Was bin ich schuldig?« – »Den Trunk aus deiner Flasche!« war die Antwort. Der Mann freute sich, dass er so billig davonkommen sollte, und nahm aus der Satteltasche eine Flasche Wein. Der Meister nahm zwei Schlucke, die Gesellen einen – die Flasche war leer!

»Ihr habt einen guten Zug!«, lachte der Bauer. »Euer Durst ist wohl größer, als ihr selber seid?« Doch da sie so tüchtige Arbeit geleistet hatten, gönnte er ihnen gerne den Lohn – um so mehr, als ihm ja für den eigenen Durst noch eine zweite Flasche in der Satteltasche steckte. Und er schwang sich aufs Pferd und gab ihm die Sporen, um die verlorene Zeit wieder einzuholen.

Doch kam er nicht weit. Denn das neu beschlagene Bein des Tieres griff mächtig aus, während die drei andern gar nicht recht nachkommen konnten. So machte denn der Gaul die wunderlichsten Sprünge, und der Reiter vermochte sich kaum im Sattel zu halten. Was blieb ihm anderes übrig: Er musste absteigen und sein Tier zur Schmiede zurückführen.

»Hab’s mir gedacht!«, lachte ihm der Kleine entgegen. Hab die drei andern Eisen schon fertiggemacht!« – »So schlag sie nur schnell auf! Und was sollen sie kosten?«

»Einen Trunk aus deiner Flasche!«

›Soll mir recht sein!‹, dachte der Bauer. ›Ist zwar meine Letzte, aber der Weg zur Schenke ist ja nicht weit!‹ Und er ließ die Zwerge sein Pferd beschlagen.

Dann griff er in die Satteltasche, nahm die ihm noch verbliebene andere Flasche heraus – wieder tat der Meister zwei Schlucke, die Gesellen einen – die Flasche war leer. Der Bauer schwang sich in den Sattel, und das Pferd griff aus.

»Guten Heimweg!«, riefen die Kleinen ihm noch nach. Aber er hörte es schon nicht mehr.

Das war ein Ritt!

Dem Bauern schien es, als berührten die Hufe kaum den Boden.

Im Nu war er vor der Schenke.

Der Wirt stand gerade in der Tür – er hatte den Reiter schon von Weitem kommen sehn. Er half ihm vom Pferde, führte das Tier in den Stall, geleitete den Gast in die Stube und holte aus dem Keller die verlangten zwei Flaschen Wein. Aber es war ihm nicht entgangen, dass die Hufeisen des Pferdes leuchteten wie Silber.

»Ihr habt ein gutes Tier!«, sagte der Wirt zum Gast, mit dem er sich unterhielt, während der die erste und dann auch gleich noch die zweite Flasche austrank. »Ja, das Tier ist gut«, meinte der Bauer, »aber die Eisen sind noch besser. Und dabei haben sie mich nur zwei Flaschen Wein gekostet. Doch ich will zahlen, Wirt, damit ich heimkomme! Was bin ich schuldig?«

»Eure vier Hufeisen!«

»Aber Wirt, Ihr seid wohl nicht recht bei Troste?«

»Wieso denn? Habt Ihr denn nicht eben selbst gesagt, dass Ihr für die Eisen haargenau zwei Flaschen Wein bezahlt habt?«

Der Bauer wollte auf diesen Handel nicht eingehen. Da drohte der Wirt mit dem Gericht, und der Bauer, weil er das lächerlich fand, war ohne Weiteres bereit, sofort mit nach Wulsdorf zum Richter zu reiten. Der entschied jedoch zugunsten des Wirtes, da der Bauer ja zugeben musste, dass er die Hufeisen tatsächlich um zwei Flaschen Wein erhalten hatte.

Als der Wirt die Eisen von des Bauern Pferde riss, sagte sich dieser: »Na wart nur! Das letzte Wort ist in dieser Sache noch nicht gesprochen.« Und er schwang sich in den Sattel und ritt langsam den Weg zurück, den er gekommen war.

»Dipink diripank!« klang es vom Hügel her.

»Nanu!« sagte der Meister Schmied, »wo hat denn das Pferd seine Eisen gelassen? Ist doch nicht gut möglich, dass sie so schlecht gehalten haben?«

»Gehalten hätten die wohl bis zum Jüngsten Tag«, erwiderte der Bauer, »aber ...« Und er erzählte dem Kleinen seine Geschichte.

»Mach dir nichts draus«, sagte der Zwerg. »Sollst andre haben. – Willst du Galoppeisen ... oder Flugeisen?«

»Dann am liebsten schon Flugeisen«, antwortete der Bauer. »Aber Wein habe ich keinen mehr.«

»Macht nichts. Bringst ihn später.«

Die Gesellen traten den Blasbalg, dass die Kohlen weiß aufglühten, der Meister nahm das erste Eisen in die Zange, hell hallten die Schläge, und im Handumdrehen waren die vier Eisen fertig und das Tier beschlagen.

Als der Bauer den Zwergen dankgesagt und sich verabschiedet hatte, schwang er sich aufs Pferd, und kaum spürte es den Reiter, da stob es auch schon davon. Keine Funken sprühten unter seinen Hufen, kein Stampfen war auf der Erde zu hören – nicht hart und nicht weich.

So kamen sie in sausendem Ritt zur Schenke.

Der Wirt stand schon in der Tür und half dem Gast aus dem Sattel, und er schielte dem Pferd gleich nach den Hufen. Blitzten die Eisen nicht wie Gold?

»Zwei Flaschen Wein!«, sagte der Gast, trank sie jedoch nicht, sondern steckte sie in die Satteltasche. »Und was bin ich schuldig?«

»Wieder Eure vier Eisen«, forderte der Wirt.

»So haben wir nicht gewettet«, rief der Bauer.

»Gut, dann mag nochmals der Richter entscheiden«, erwiderte der Wirt, holte auch gleich seinen Gaul aus dem Stall, der die vier neuen Eisen schon an den Hufen hatte, und kletterte hinauf. Da gab der Bauer seinem Pferde die Sporen, und es lief wie der Wind, kaum konnte das Tier des Gastwirts ihm folgen.

So ritten sie eine Meile und zwei – der Gast voran, der Wirt hinterher. Und wie sie ans Moor kamen, flog des Bauern Pferd nur so darüber hin, als sei es fester Boden. Als aber der Klepper des Wirtes seine Füße hineinsetzte, sanken sie ein, und das Moor verschlang Roß und Reiter.

Der Bauer kehrte darauf um, und er wollte wieder zur Schmiede reiten, um den kleinen Leuten den ausbedungenen Lohn zu bringen. Doch er ritt den Weg umsonst entlang – suchte auch noch ein zweites Mal hin und zurück nach Hügel und Schmiede – er konnte sie nirgends finden.

»Nun«, rief er aus, »so holt euch, was euer ist!« und er warf die beiden Flaschen hoch in die Luft. Wo sie aber niederfielen, das konnte er nicht sehen, und aufschlagen hörte er sie auch nicht. Nur war ihm, als vernähme er ganz von fern ein leises »Dipink diripank!« – es klang wie »Ichdankdir ich dank!« Da ritt er fröhlich nach Hause.

Nach mehr als hundert Jahren waren in dem Moore Arbeiter beim Torfstechen. Da sah einer von ihnen tief im Grund einen Pferdeschweif liegen. »Wat is dat for’n Steert?«, rief er den andern zu. Und die kamen auch gleich herbei und gruben nach, und sie holten die Gebeine des Wirtes heraus und die des Kleppers – nur die Hufeisen fand keiner von ihnen.

Drei Töpfe am Meeresgrund

In einem kleinen Fischerdorf an der Nordsee lebte einst ein Fischer, dem alles, was er anpackte, misslang. Warf er sein Netz ins Wasser, so holte er es in neun von zehn Fällen fast leer wieder heraus, und fühlte es sich doch einmal schwer an, rissen todsicher die Maschen, und der ganze Fang sauste in die Tiefe. War morgens das Wetter unsicher und blieb er deshalb zu Hause, so klärte es sich über Tag auf, und seine Kameraden kamen mit reicher Beute zurück. Wagte er aber bei klarem Himmel die Fahrt, kam gewiss bald ein Unwetter auf, sodass er seine Netze im Stich lassen musste und nur mit knapper Not den Stürmen entrann.

Nicht einmal in der Liebe hatte er Glück. War seine Kathrin einst nicht das sanfteste und freundlichste Mädchen gewesen? Nun aber, da sie seine Frau geworden war, machte er ihr nichts mehr recht. Sie schalt, weil er zu spät aufstand, schalt über den schlechten Fang, dass er das Boot nicht teerte, die Segel nicht flickte, die Netze vernachlässigte – kurz, sie schien ihm ein rechter Drachen geworden zu sein. Nun, dann sollte sie sich auch nicht wundern, wenn er im »Goldenen Hecht« vor Anker ging und lieber Branntwein schluckte als das salzige Wasser, das ihm die Sturzseen ins Gesicht warfen.

Bald lungerte er von früh bis spät im Wirtshaus herum, und wenn Kathrin einen Fisch in die Pfanne haben wollte, so musste sie sich selber aufmachen, um ihn zu fangen.

Das tat sie denn auch. Sie war ein starkes, tüchtiges Frauenzimmer, und sie lernte das Fischerhandwerk auszuüben wie ein Mann. – Und sonderbar, ihr füllten sich die Netze, und keines riss, und sie fuhr auch bei unsicherem Wetter hinaus, ohne dass ihr ein Schaden geschah.

Wenn sie aber heimkehrte, fand sie den Mann entweder in der Schenke oder betrunken auf seinem Lager. Das gab kein frohes Wiedersehen!

Wenn er dann nüchtern wurde, redete sie ihm ins Gewissen: »Kannst du denn nicht endlich ein anderes Leben beginnen? Sieh dir den Jens an, unsern Nachbarn. Er hat ein schönes Haus, seine Frau muss sich nicht auf dem Meere abplagen – sie sitzt in der Stube und spinnt und webt und näht. Und zieht die Kinder groß, von denen eines hübscher ist als das andre. Doch was für ein Leben habe ich?«

Da fuhr der Mann auf. »Du redest, wie du es verstehst. Weißt du denn nicht, woher es kommt, dass der Nachbar immer Geld hat? Meinst du, er habe es durch Arbeit erworben? Weit gefehlt! Man erzählt sich, dass er auf ganz andere Weise dazu gelangt ist!

Er war genau so arm wie wir, wenn nicht ärmer, weil er doch die vielen Kinder hat. Und eines Abends, als er wieder nur mit kärglichem Fang heimgekommen war, ging er noch einmal zum Strand hinunter in der Hoffnung, das Meer werde vielleicht etwas anspülen, was seiner Not mit einem Schlag ein Ende machen könne.

Wie er so in Gedanken versunken dahinschritt, stand plötzlich vor ihm ein ihm unbekannter Mann, mit wirren, nassen Haaren, groß aufgerissenen Augen und einem totenfahlen Gesicht. »Willst du mir einen Gefallen tun? «, fragte der unseren Nachbarn. »Es soll dein Schade nicht sein. Ich werde dir’s reichlich lohnen! «

»Und was willst du von mir?«, fragte ihn Jens.

»Sieh diesen Ring. Steck ihn an deinen linken Goldfinger und spring in die See. Das Wasser kann dir nichts anhaben, und du wirst in den Palast der Ran gelangen, der Meerfrau. Sie wird dich freundlich empfangen, schön mit dir tun und dir allerhand Speisen auftischen. Du aber lass dich auf nichts ein, sondern sieh nur zu, dass du von den drei Töpfen, die umgestülpt im Zimmer stehen, rasch den mittleren umstößt. Wenn dir das gelingt, so hast du getan, was ich von dir verlange, und ich werde dir’s reichlich lohnen!« Damit legte er dem Jens einen schmalen Goldreif vor die Füße und verschwand.

Der betrachtete lange das funkelnde Ding, das im Sande lag, und wollte nicht recht an die Sache heran. Doch schließlich dachte er an die hungrigen Kinder und an die verzweifelte Frau, steckte den Ring an den Finger und sprang in die See.

Je tiefer er sank, desto weniger spürte er die Nässe des Wassers, und als er am Meeresgrund war, erschien es ihm, als wandle er im Sonnenschein auf einer schönen grünen Wiese. Männer sah er, die mit Sensen das Gras mähten, andere, die auf weiter Ebene Kühe weideten, und von fern hörte er die Herdenglocken klingen und dazu den Gesang der Schnitter und die Flötenlieder der Hirten. Und es kam ihm vor, als erkenne er manchen wieder, der früher mit ihm zur See gefahren und dann ertrunken war.

Es sprach ihn aber keiner an, und er ging weiter, bis er an ein großes Schloss kam, das aus klarem Kristall und schimmernden Muscheln prächtig erbaut war. Die hohen Türen taten sich von selbst vor ihm auf, und eine wunderschöne Frau trat ihm entgegen und sagte: »Kommst du endlich? So lange schon hab ich auf dich gewartet!‹ Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn in einen Saal, der von tausend Kerzen erhellt war. Und die Tafeln waren gedeckt mit den herrlichsten Speisen, sodass dem hungrigen Mann das Wasser im Mund zusammenlief. Schon wollte er sich niedersetzen, da sah er auf dem Estrich zu seinem Glück die drei umgestülpten Töpfe stehen, und die Worte des bleichen Mannes klangen ihm in den Ohren: ›Stoß rasch den mittleren um!‹

So machte er eine schnelle Wendung und stieß heftig mit dem Fuß an den Topf in der Mitte, dass er umfiel. Da hörte er ein Zischen, und ein feiner Nebelfaden hob sich vom Boden und entschwand.

Die Meerfrau aber sah ihn mit ihren grünen Augen zornfunkelnd an. »Was hast du getan?«, rief sie und wollte ihn packen, doch als sie den Ring an seinem Finger erblickte, bebte sie erschrocken zurück.

Und ein Brausen erhob sich, es dröhnte ihm in den Ohren, und er fühlte sich von unwiderstehlichen Gewalten emporgehoben. So stieg er und stieg und verlor die Besinnung. Als er wieder zu sich kam, lag er am Strand, und der Fremde stand vor ihm, aber nun war sein Gesicht nicht mehr fahl, sondern es war gebräunt wie das eines Seemanns, und er sagte: ›Du hast meine Seele vom Grunde des Meeres befreit! Zum Dank dafür schenke ich dir diesen Topf! Er ist mit Goldstücken gefüllt bis zum Rand. Und wie viel du auch davon ausgibst, er wird niemals leer!‹

Siehst du, Kathrin, so ist es also gekommen, dass es unserm Nachbarn so gut geht, und zum Fischen fährt er nur aus, weil er verbergen will, dass er sein Geld nicht durch die ehrliche Arbeit seiner Hände erworben hat.«

»Nun, Geschichten erzählen kannst du ganz gut«, meinte die Frau. Doch es war recht deutlich der Widerwille zu spüren, mit dem sie dieses Lob aussprach. »Ach, wenn nur dein Handwerk ebenso flott ginge wie dein Mundwerk!« – »Du glaubst wohl nicht, was ich sage? So frag doch die Muhme, die hat’s mir erzählt, und die weiß es von ihrer Nichte, die wieder von ihrer Schwiegermutter, und die Schwiegermutter der Nichte ist das rechte Geschwisterkind von unseres Nachbarn Frau!«

Aber auch nach diesem Gespräch blieb alles beim Alten. Der Mann faulenzte und trank, und die Frau arbeitete und schimpfte, ja, schließlich schlug sie ihren Mann sogar – und je ärger er’s trieb, desto ärger trieb sie’s, und je ärger sie’s trieb, um so ärger trieb’s auch er.

Eines Tages nun, als alle Boote auf See waren, erhob sich plötzlich ein heftiger Sturm, und als die Fischer mit knapper Not den Hafen erreichten, bemerkten sie, dass die Frau fehlte. Und sie kam auch nicht den nächsten Tag zurück und nicht den übernächsten, und bald zweifelte niemand daran, dass sie ertrunken sei.

Da freute sich der Mann, dass er seine böse Frau endlich losgeworden war und nun nach Herzenslust tun und lassen konnte, was er wollte.

Man kann sich leicht vorstellen, wie es mit ihm weiterging. Er trug sein ganzes Geld in die Schenke, und als es alle war, verkaufte er Möbel und Gerät, und als er schließlich außer einem alten Strohsack gar nichts mehr besaß, warf ihn der Wirt zur Tür hinaus.

Da war er nun zum ersten Mal seit vielen Wochen nüchtern, und es war ihm hundeelend zumute. Etwas musste geschehen, das war klar! Aber was? Zum Fischfang hinaus konnte er nicht, denn mit der Frau war ja auch das Boot draußen geblieben, und sich bei einem andern Fischer verdingen konnte er auch nicht – denn wer hätte ihn genommen?

Plötzlich kam ihm ein rettender Gedanke. War nicht der Nachbar am Strand entlanggegangen – und war ihm da nicht Glück und Reichtum geworden? Warum sollte er’s nicht auch einmal damit versuchen?

Gedacht, getan. Und wirklich, kaum war er um die erste Dünenecke herumgekommen, da stand ein Mann vor ihm mit nassen Haaren, großen, weit aufgerissenen Augen und einer Gesichtsfarbe so bleich wie ein Leichentuch, und der fragte ihn: »Willst du mir einen Gefallen tun?«

»Soll ich einen der drei Töpfe umwerfen, die in Rans Palast auf dem Estrich stehen?« fiel ihm der Fischer fast ins Wort, glücklich, so schnell ans Ziel seiner Wünsche zu kommen. »So gib mir nur gleich den Ring, dann will ich’s gerne tun!«

Da nickte der Bleiche mit dem Kopf, warf ihm einen Goldreif zu und verschwand. Der Fischer aber fing den Ring auf, steckte ihn sich an und sprang ins Wasser.

Er sank und sank, und je tiefer er kam, desto weniger spürte er die Nässe, und als er am Meeresgrund angelangt war, meinte er, auf einer schönen grünen Wiese zu stehen. Er schritt tüchtig aus und begegnete bald den Männern, die mit großen Sensen das Gras in Schwaden hinlegten, und in manchem von ihnen vermeinte er einen der Fischer wiederzuerkennen, die in den letzten Jahren ertrunken waren. Als er aber an ihnen vorübergegangen war, fingen sie an zu schreien, drohten ihm mit ihren Sensen und liefen gar hinter ihm her, sodass er, weil er eine Heidenangst ausstand, rannte, so schnell sein Füße ihn trugen.

Darauf kam er an den Hirten vorbei, die ihre Herden weideten. Kaum hatten sie ihn erblickt, als sie auch schon ihre Hunde auf ihn hetzten, und erjagte dahin wie einer, der um sein Leben läuft, und entrann ihnen und ihren Hunden mit knapper Not.

Endlich erblickte er in der Ferne ein großes Gebäude, und er ging darauf zu. Aber es war kein Palast aus Muscheln und klarem Kristall, sondern ein klobiges Haus, aus rohen Steinblöcken zusammengefügt. Und aus seinem Tor trat nicht eine schöne Frau heraus, sondern ein unförmiges Weib, dick wie eine Tonne, mit roten Glotzaugen und alt wie das Meer selbst. »Das also ist Ran?« schoss es ihm durch den Kopf.

Als sie des Mannes ansichtig wurde, rief sie mit dröhnender Stimme: »Kommst du endlich? Das Hochzeitsbier ist schon lange gebraut!« Und sie packte ihn mit ihren starken Fäusten und zerrte ihn ins Haus hinein, obwohl er sich mit Händen und Füßen sträubte.

Hier stand nun der arme Kerl, und der Angstschweiß rann ihm aus allen Poren. Da sah er mit einem Mal die drei umgestülpten Töpfe auf dem Estrich stehen, und so kam ihm auch wieder in den Sinn, weshalb er sich eigentlich in dieses Abenteuer gestürzt hatte. Ja, einen davon musste er umwerfen, dann würde alles gut werden! Aber welchen? O Gott, das hatte er ja zu fragen vergessen!

Und doch, es galt keine Zeit zu verlieren. Ran hatte ihn zwar losgelassen, aber sie sah ihn mit ihren Augen so sonderbar an, dass ihm ein Schauder den Rücken hinunterlief. Und so nahm er seinen letzten Mut zusammen, sprang mit einem Satz in die Mitte des Raumes, und ehe das dicke Meerweib ihn hindern konnte, stieß er mit dem Fuß gegen den ersten besten der Töpfe. Und es zischte, wie wenn ein Seehund prustet, und Ran brüllte auf wie ein wildgewordener Stier und wollte sich auf den Fischer stürzen. Dem aber brauste es in den Ohren, und er fühlte sich von unsichtbaren Gewalten ergriffen und mit großer Kraft emporgehoben. Er stieg und stieg und stieg, und alles versank hinter ihm: die Schnitter, die Hirten, das steinerne Haus, das alte Riesenweib, ja das Meer selber. Als er aber seinen Fuß wieder auf festen Boden stellte, verlor er die Besinnung.

Wie lange er in dieser Ohnmacht gelegen hatte, wusste er nicht. Doch wachte er auf von einer Stimme, die laut und herrisch seinen Namen rief. ›Donnerwetter!‹, dachte er, ›wenn ich nicht wüsste, dass Kathrin ertrunken ist, so sollt ich doch meinen ...‹

Und sie war’s wirklich! Breitbeinig stand sie vor ihm, stemmte die Arme in die Seite und schrie ihn an: »Du alte besoffene Ratte, schämst du dich nicht, am helllichten Tag schon auf dem Strohsack zu liegen?«

Es dauerte eine Weile, bis er zu sich kam. Ja, wie war er denn in seine Stube und auf seinen Strohsack gekommen? Und war es am Ende ausgerechnet Kathrins Seele gewesen, die er befreit hatte?

Man erzählt sich, dass der Fischer nach diesem Erlebnis in sich gegangen und noch ein tüchtiger und brauchbarer Mensch geworden sei, dass seine Frau sich das Keifen abgewöhnt habe und beide freundlich und friedlich miteinander ihre Tage zu Ende gebracht hätten, und das ist wohl das Allerseltsamste an dieser seltsamen Geschichte!

Der Mantel der Meerjungfrau

In einem kleinen Dorf an der Nordsee wohnte der Fischer Dirk mit Antje, seiner Frau. In der Fülle ihres tiefschwarzen Haares war sie von einer eigenartigen, fremd wirkenden Schönheit. Dirk hatte sie in sein Heimatdorf mitgebracht, als er einmal – nach einem überraschend reichen Fang – weit, weit stromauf gefahren war, um seine Fische in einer großen Stadt günstig zu verkaufen. Dort war ihm Anna auf dem Marktplatz begegnet, wo sie, eine geschickte und fleißige Weberin, ihr blendend weißes und mit schönen Mustern verziertes Leinen feilbot. Aber so glücklich die beiden miteinander lebten und so gut die Frau mit frohem Sinn Haus und Garten instand hielt – in eines konnte sich die Binnenländerin nur schwer finden: dass der Beruf ihn zwang, sich immer wieder mit seinem Boot dem ihr unheimlichen Meer anzuvertrauen. Und sie sollte leider recht haben mit dieser Besorgnis.

Denn eines Tages, als die Männer wieder alle zum Fang ausgefahren waren, zog plötzlich ein schweres Gewitter auf, und nur die wenigen, die in der Nähe der Küste gefischt hatten, konnten noch zeitig genug in die kleine Hafenbucht zurückkehren und sich und ihre Boote in Sicherheit bringen – die anderen aber, die das Unwetter auf hoher See überraschte, kamen im Sturme um. Doch während in den nächsten Tagen alle Ertrunkenen an Land gespült wurden, sodass man sie auf dem Kirchhof des Dorfes beerdigen konnte, fehlte von Dirk jede Spur. Er war am weitesten aufs Meer hinausgefahren, und keiner hatte gesehen, wo er mit den Wellen gekämpft und den Tod gefunden hatte.

Lange Zeit hoffte die Frau, vielleicht habe ein Segler den Schiffbrüchigen retten können, und sie ging täglich an den Strand, um nach ihm Ausschau zu halten. Als aber Woche um Woche vergangen und er immer noch nicht zurückgekehrt war, fasste sie einen tiefen Groll gegen das Meer.

Antje hatte ein einziges Kind, ein flachshaariges fünfjähriges Mädchen, Susanne. Die Kleine kannte nichts Schöneres, als an Sommertagen am Strand zu spielen und sich aus Sand und bunten Muschelschalen Gärten und Burgen und Schlösser zu bauen. Doch nun verbot es die Mutter ihr streng.

»Die See ist falsch und tückisch«, sagte sie. »Sie hat dir den Vater geraubt. Versprich mir, dass du nicht mehr an den Strand gehst, dass du niemals den Fuß ins Wasser setzt. Sonst bleibst du dort, wo dein Vater blieb, und ich sehe dich niemals wieder.«

Die Mutter hatte es nicht leicht, für sich und Susanne das tägliche Brot zu verdienen. Sie spann und webte und nähte für Fremde und hatte von früh morgens bis abends spät zu tun. Aber sie hielt das Kind immer unter ihrer Aufsicht, denn eine tiefe Bangigkeit erfüllte ihr Herz.

Eines Abends hatte sie Susanne ganz früh schlafen gelegt, weil sie noch ein großes Stück Leinwand bis zum nächsten Tag fertigweben wollte. Doch gegen Mitternacht wurde sie von Müdigkeit ergriffen, und sie nahm ein Licht und ging in die Schlafkammer. Als sie aber an das Bett ihres Kindes trat, schrie sie laut auf vor Schrecken: Das Lager war leer! Sie suchte das Haus ab, den Garten, rief den Namen des Kindes – umsonst. Da lief sie zum Strand hinab.

Die See lag ruhig, denn es war windstill. Der Mond stand rund und voll am Himmel. In der Ferne klagte ein Nachtvogel.

Die Mutter suchte nach Spuren, die die kleinen Füße im Sand hätten hinterlassen können. Aber trotz des hellen Mondlichts konnte sie nichts erspähen, und auch im Dorf, wo sie von Haus zu Haus ging, hatte niemand das Mädchen gesehen.

Die arme Frau hörte nicht auf, nach ihrem Kinde zu suchen, und als sie eines Abends wieder verzweifelt am Strande hin und her ging, vernahm sie plötzlich aus der Ferne einen zauberisch schönen Gesang. Er schien vom Meer her ans Ufer zu dringen.

Antje trat ganz nahe an das ihr so unheimliche Wasser, und da erblickte sie nicht weit vom Ufer eine Frauengestalt, die bis zum Gürtel aus der Flut emporragte. Sie trug einen Kranz von Seerosen im offenen Haar und sang mit leiser Stimme, aber doch so deutlich, dass die Frau jedes Wort verstehen konnte:

»Mein Schloss ist aus blankem Kristall.

Die Fische müssen mir dienen.

Und meine Lieblinge all,

sie tanzen und spielen mit ihnen.

Sie werfen den goldenen Ball

und reiten auf stolzen Delfinen.«