ELISABETH HERING

MÄRCHEN AUS RUMÄNIEN


Mit Illustrationen von Kurt Eichler

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Inhalt

Jon Milea

Der arme Junge

Belohnte Treue

Die Brüder und die Kohlen

Die Geschichte von Parolitza

Heimkehr aus der Fremde

Stan Bolovan

Jugend ohne Alter und Leben ohne Tod

Die Kaiserstochter und das Füllen

Die Fee der Morgenröte

Die Prinzessin in der Wiege

Die Zwillingsknaben mit dem goldenen Stern

Der Birnbaum

Der Traum des Edelmannes

Der Fischer und die Kaiserstochter

Waldröschen

Der verzauberte Wolf

Der Weiße und der Rote Kaiser

Die Mär der Blumen

Der Harfenspieler

Impressum

Jon Milea

Drei Männer gingen ins Heu. Es war ein heißer Sommertag, und sie kamen tüchtig ins Schwitzen von der schweren Arbeit, und als sie sich mittags in den Schatten eines Baumes legten, um ihr kärgliches Mahl zu verzehren und sich ein wenig zu verschnaufen, sagte der eine: »Wollte Gott, ich fände, wenn ich nach Hause komme, eine Backröhre voll Pfannkuchen!« — »Da wüsste ich mir etwas Besseres!« sagte der zweite. »Ich wünschte mir, ich fände zu Hause lauter Goldstücke, ein ganzes Zimmer voll, überall wo ich geh’ und stehe, so viele, dass ich gar nicht wüsste, was mit ihnen anfangen!« — »Ich aber«, meinte der dritte, »wollte, ich hätte, wenn ich nach Hause komme, tausend Söhne — ja, tausend Söhne und einen dazu!«

Und richtig — was sie sich gewünscht, ging in Erfüllung. Der erste fand die ganze Backröhre voll Pfannkuchen. Der zweite fand das ganze Zimmer voll Goldstücke, überall lagen sie herum, auf Tisch und Bänken, wohin er trat und griff — was soll ich viel erzählen, er wusste nicht, wohin sich setzen und legen vor lauter Goldstücken. Als aber der dritte nach Hause kam ... Mutter! Mutter! ... da fand er dort tausend Söhne und einen dazu — um keinen weniger. Nach welcher Seite sollte er die Nase drehen? Ich bitt’ euch, das ist kein Spaß! Da waren Knaben darunter, die waren ihr Geld wert! Und dann — tausend und einer! Der eine schrie hier, der andere dort. Hier prügelten sich ein paar, dort sangen ein paar, dort heulten ein paar. Es war wie auf dem Jahrmarkt. Wenn du dort gewesen wärest, du hättest gemeint, du wärest in ein Tollhaus geraten!

Als ihr Vater dies Treiben sah, erschrak er fürchterlich. Er machte auf dem Fuße kehrt und rannte davon, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehn.

Nun aber die Mutter! Keine Kleinigkeit für eine Frau, tausend Söhne ohne Vater großzuziehen. Tausend Söhne und einen! Wie sie das fertiggebracht hat, fragt ihr? Ja, man staunt wirklich manchmal, was eine Mutter alles zuwege bringt!

Die Knaben wuchsen heran. Und wenn sie auch oft hungerten, wenn sie auch manchmal froren — verhungert und erfroren ist keiner von ihnen. Es wurden lauter tüchtige und stattliche Burschen aus ihnen, und als sie so weit herangewachsen waren, dass sie selber mit Hand anlegen konnten, da hättet ihr sehen sollen, wie es in dem Hause zuging!

Der Jüngste aber von ihnen hieß Jon Milea. Und er war klüger, gescheiter und erfinderischer als die tausend andern — er hatte das hellste Köpfchen von allen.

Eines Tages nun fragte Jon Milea seine Mutter: »Sag einmal, haben wir nicht auch einen Vater wie andere Menschen? Wir sehen immer nur dich — du bist unsere Mutter, das wissen wir — aber wer unser Vater ist, wo er sich aufhält, wie er aussieht, das hat uns niemals jemand gesagt.« — Da seufzte die arme Frau. »Ja mein Kind«, antwortete sie, »euer Vater ist davongelaufen, als ihr noch klein wart. Euretwegen ist er in die Welt gegangen, ihr wart ihm zu viele, er konnte euer Geschrei nicht ertragen.« — »Und wohin ist er gegangen?« — »Das kann ich euch auch nicht sagen. Ich habe nur gesehen, wie er in dem großen Walde verschwunden ist.«

Da machten sich die Knaben auf, ihren Vater zu suchen.

Sie mussten aber nicht weit gehen und nicht lange suchen, denn er hatte sich im Walde in einer Höhle versteckt und dort von Wurzeln und Kräutern gelebt wie ein Einsiedler. Und wenn tausend Mann und einer einen Wald absuchen, so finden sie den, den sie finden wollen, selbst wenn er in einem Mauseloch stäke. So stöberten denn die Knaben ihren Vater in der Höhle auf. Er war aber völlig verwildert, die Kleider waren ihm längst vom Leibe gefallen, am ganzen Körper waren ihm Haare gewachsen, und er schien halb von Sinnen zu sein.

Sie brachten ihn nach Hause, und die Frau erkannte ihn und tat ihm alles Gute an, das er so lange entbehren musste. Nun hatte er wieder ein Dach über dem Kopf und ein warmes Essen, hatte Kleider zum Anziehen und schlief wieder in einem Bett, und darüber kam er langsam zu sich.

Die Burschen ließen ihn aber nicht schwer arbeiten — er hatte nichts anderes zu tun, als ihnen jeden Tag das Essen, das die Mutter für sie kochte, mit dem Wagen aufs Feld hinauszufahren.

So lebten nun die Burschen von ihrer Hände Arbeit und wurden immer größer, und endlich waren sie erwachsen und wollten sich verheiraten.

Das war aber gar nicht so einfach! Denn wo findest du so viele Mädchen—tausend und eines? Du kannst die Erde um und um drehn, bis du sie beisammen hast!

So sagten sie denn eines Tages zu ihrem Vater: »Väterchen, wir wollen nicht länger mehr ledig bleiben. Geh du in die Welt und suche so lange, bis du für jeden von uns eine Braut gefunden hast!« — »Ach, aber wo soll ich denn so viele Mädchen hernehmen?« fragte ratlos der Vater. — »Das ist deine Sache!« antworteten die Söhne.

Die Frau buk einen schönen Maiskuchen, packte ihn dem Mann in den Zwerchsack, und er macht sich auf den Weg. Er geht gen Mittag, geht und geht drei Tage lang, findet aber nicht, was er sucht. Wer soll denn auch, du lieber Gott, so viele Töchter haben?

Der Mann kommt heim. Als aber seine Söhne hören, dass er nichts ausgerichtet hat, lassen sie ihn gar nicht erst über die Schwelle. »Such weiter«, sagen sie, »such, bis du findest! Der Arme geht also gen Abend und irrt weitere drei Tage in der bitteren Welt umher, aber wieder vergeblich. Wieder kommt er nach Hause, und wieder lassen ihm seine Söhne keine Ruhe. Er solle gehen, wohin er wolle, aber ohne einen guten Bescheid nicht zurückkehren. Und so wendet er sich denn gen Mitternacht — aber auch dort findet er nichts.

Ach, was soll er bloß tun? Ist das eine Plage, so vergeblich umherzuirren!

Die Frau bäckt ihm nochmals einen Maiskuchen, und er macht sich zum vierten Male auf den Weg. Ziellos irrt er hin und her, wie die Worte einer Mär, mit dem Stabe in der Hand wandert er durchs ganze Land, geht auf langen, bitteren Wegen nun dem Morgenlicht entgegen. Und so wandert er Tag und Nacht, ohne auszuruhn, fragt überall an, bekommt aber nirgends die gewünschte Antwort.

Da, an einem schönen Sonntagmorgen, gelangt er in die Nähe eines Dorfes, und dort sieht er auf einem Felde einen Popen ackern: Der hatte einen Hahn und zwei Enteriche vor den Pflug gespannt.

»Einen schönen guten Morgen, wohlehrwürdiger Herr Vater!« sagte der Mann, »aber wie geht das zu, dass Ihr Euch, statt heute Gottesdienst zu halten, ans Pflügen gemacht habt?«

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»Ach, mein Sohn«, antwortete der Pope, »was soll ich tun? Ich bin ein geschlagener Mann! Mein Elend sucht seinesgleichen, und wenn ich auch nur einen kleinen Augenblick verschnaufe, kann ich die Zeit nicht mehr einbringen. Denn mir hat Gott tausend Töchter geschenkt. Tausend Töchter und noch eine drauf! Und die Mädchen wollen Essen haben und Kleider haben und dieses haben und jenes haben! Wenn ich nun sonntags müßig gehen wollte — wie soll ich da auf meine Rechnung kommen? Und ganz besonders jetzt, wo die Mädel heiratsfähig geworden sind?«

Da lachte dem Manne das Herz im Leibe. »Lange sollst du leben, mein Lieber, denn gerade dich habe ich gesucht!« rief er. »Wisse, ich habe ebenso viele Söhne, und die Haare sind mir schon durch die Mütze gewachsen, seit so langer Zeit wandere ich hin und her, um jedem von ihnen eine Frau zu suchen. Oh, das hat das Schicksal gefügt, dass wir beide uns begegnet sind! Nun ist des Umherirrens ein Ende!« — »Hab Dank, du mein Gegenvater, für dein gutes Wort!« antwortete der Pope. Und sie wurden im Handumdrehen einig, dass sie alle ihre Kinder miteinander verheiraten wollten — war doch gerade für jedes Mädel ein Bursche da und für jeden Burschen ein Mädel! Somit waren beide Väter aller Sorgen enthoben, und sie besprachen, dass die Burschen kommen und sich die Mädel abholen sollten.

Als der Vater wieder nach Hause kam, sah es ihm Jon Milea schon von weitem an, dass er dieses Mal nicht vergeblich ausgezogen war, und so wurden denn alle Anstalten getroffen, um die Bräute heimzuholen und Hochzeit zu machen. Doch als die Burschen aufbrechen wollten, sagte Jon Milea: »Vater, geh du mit den Brüdern und bring mir meine Braut mit, ich aber will lieber zu Hause bleiben und die Hochzeit vorbereiten. Führe sie jedoch nicht den Umweg, auf dem du zuerst hingelangt bist, sondern geht gleich den kürzesten Weg, der durch den Kupferwald führt. Nur müsst ihr achtgeben, dass ihr dort kein Geschrei macht und dass ihr vor allem kein einziges Zweiglein abbrecht, denn das wäre nicht gut für euch.«

Die Brüder waren mit diesem Vorschlag einverstanden, und sie machten sich mit dem Vater auf den Weg. Sie gaben sich auch alle Mühe, die guten Lehren ihres jüngsten Bruders zu befolgen, zogen stumm und ohne ein einziges Zweiglein abzubrechen durch den Kupferwald und kamen wohlbehalten bei ihren Bräuten an. Dort wurden sie freudig empfangen, gut bewirtet und die Mädchen ihnen zugesprochen: »Diese ist dein und diese ist dein!« Die Jüngste aber blieb für Jon Milea, der zu Hause auf sie wartete.

Nun nahm also jeder Bursche seine Braut an den Arm, und die ganze fröhliche Schar machte sich auf den Heimweg. War das ein Anblick! Tausend Brautpaare! Die Mädchen in ihren schönsten Kleidern, mit buntbestickten Blusen und Schürzen, mit Bändern und Blumen im Haar. Aber auch die Burschen sahen stattlich genug aus mit ihren blütenweißen Kittelhemden, die unter dem breiten Gürtel herabhingen, und mit den Blumensträußen auf ihren Hüten.

So zogen sie singend und scherzend ihres Weges — als sie aber durch den Kupferwald kamen, achteten sie des Verbotes nicht, sondern plauderten und lachten. Die Mädchen gar, wie so Mädchen sind, rissen die kupfernen Zweige, die so hell in der Sonne glitzerten, von den Bäumen und steckten sie den Burschen an die Hüte. Aber als sie so juchzend und trällernd, schäkernd und kreischend durch den Wald gingen, wuchs plötzlich um sie herum eine hohe Mauer aus der Erde, die sie ganz und gar einschloss. Wohin sie sich auch wendeten und drehten — nirgends ein Ausweg! Oben auf der Mauer aber saß ein alter Mann mit einer Mönchskappe auf dem Kopfe, und das war niemand anderes als Skaraotzki, der Teufel, in eigener Person.

»Gib den Weg frei!« rief der Pope, aber: »Fällt mir gar nicht ein!« antwortete der Böse. »Ihr habt meinen Wald beschädigt, habt Blätter und Zweige abgerissen — ohne Lösegeld lasse ich euch nicht ziehn!

Da war nichts zu machen! Sie hätten dort stehen können bis zum Jüngsten Tag. Er wollte ihnen nur unter der einen Bedingung den Weg freigeben, dass sie ihm das jüngste der Mädchen auslieferten, Jon Mileas Braut. So blieb nichts anderes übrig, als dass sie einwilligten. Der Pope musste den Vertrag unterschreiben, und die andern, die nicht schreiben konnten, mussten ihre Finger aufs Papier abdrücken. Dann nahm Skaraotzki das Mädchen an der Hand und verschwand, und mit ihm verschwand auch die Mauer, die sie alle umschloss. Nun waren sie frei und konnten nach Hause gehen — aber ihre Freude war dahin!

Doch Jon Milea war ein Hellseher, und noch ehe ihm jemand ein Wort gesagt hatte, wusste er alles, was sich im Walde zugetragen hatte. Und so stand er, als seine Brüder mit ihren Bräuten anlangten, schon reisefertig da. »Haltet ihr Hochzeit!« sagte er zu ihnen, »ich aber gehe auf dem kürzesten Weg zur Hölle — oder denkt ihr, ich wüsste nicht, dass ihr meine Braut dem Teufel ausgeliefert habt? Bleibt gesund! Ich komme entweder mit dem Mädel zurück — oder überhaupt nicht!«

Der Unreine wunderte sich nicht wenig, als er Jon Milea durchs Höllentor treten sah, denn er hatte noch nie erlebt, dass ein Mensch freiwillig den Weg zu ihm nahm. Das Mädchen aber, das der Teufel mitgebracht und das die Teufelsgroßmutter in ihren Dienst genommen hatte, war nicht auf den Kopf gefallen, und sie hatte in der Hölle schon manche Künste aufgeschnappt. So wusste sie auch gleich, dass der Bursche, der da freiwillig das von den Menschen sonst so gefürchtete Reich betrat, kein anderer sein konnte — als Jon Milea, ihr Bräutigam!

»Was soll ich mit dem Kerl anfangen?« fragte der Teufel seine Großmutter, und die antwortete: »Das muss ich dir sagen? Nichts einfacher als das! Lass ihn dein Pferd zur Schwemme reiten, dich selber aber verwandle in einen Hengst, und wenn er dich besteigt, fliege mit ihm hoch in die Wolken hinauf und wirf ihn von dort herunter — dann bist du ihn los!«

Das Mädchen aber hatte an der Tür gestanden und alles belauscht. Sie lief nun schnell zum Schmied und bestellte eine schwere, eisenbeschlagene Keule — »im Auftrage unseres Herrn Skaraotzki!« sagte sie.

Als die Keule fertig war, ging sie damit zu Jon Milea. »Du«, sprach sie, »nimm dich in acht! Der Alte will dich verderben! Er verwandelt sich in ein Pferd, das du zur Schwemme reiten sollst, und wenn du es besteigst, will er sich mit dir zu den Wolken erheben und dich von dort hinunterwerfen, dass du zerschmetterst. Aber hier hast du eine Keule, und wenn du merkst, dass der Hengst sich vom Boden lösen will, so schlag ihm ein Tüchtiges vor den Schädel, dann wird er fein sanft im Schritt gehen müssen, und es kann dir nichts geschehen.

Der Bursche brauchte nicht viel zu fragen, wer das Mädchen sei, er erkannte seine Braut auf den ersten Blick und nahm sie in den Arm. Wie freute er sich ihrer Schönheit und ihrer Klugheit!

Und dann geschah, was der Teufel nicht vermutete. Gerade als er sich mit dem Jüngling in die Luft erheben wollte, erhielt er einen Keulenschlag über die Stirne, dass er alle Engel singen hörte, und das ist für einen Teufel besonders unangenehm. Er musste also fein säuberlich im Schritt gehen, denn die Keule schwebte über seinem Schädel, und wenn er nur ein klein wenig hinten ausschlug oder nur eine einzige Bewegung machte, die Jon nicht passte, sauste sie hernieder.

»O Großmutter, wie übel der Kerl mir mitgespielt hat!« klagte der Teufel am Abend. »Mein Kopf schmerzt zum Zerspringen! Viel hätte nicht gefehlt, und er hätte mir mit seiner Keule den Hirnkasten zerschmettert!«—»Ich sehe schon«, erwiderte die Alte, »dem müssen wir anders kommen«, und sie heckten einen Plan aus, Jon Milea sicher zu verderben.

Das Mädchen aber hatte wieder alles mit angehört und schlich sich in der Nacht zu ihrem Bräutigam. »Lass uns fliehen!« sagte sie.

Als der Teufel und seine Großmutter am nächsten Morgen erwachten, waren die beiden verschwunden. »Du musst ihnen nach!« sagte die Alte. »Und lass sie dir ja nicht entwischen!«

Die beiden Brautleute waren tüchtig ausgeschritten und ein schönes Stück weit gekommen. Da sagte das Mädchen: »Dreh dich um, was siehst du? Mir brennt der Rücken, wie ich weiß nicht was!« — »Ich sehe eine rote Flamme ... vom Himmel bis zur Erde«, antwortete Jon. — »Das ist der Teufel!« rief da das Mädchen. »Nun kommt es darauf an! Ich springe über meinen Kopf und verwandle mich in eine Kirche, alt, uralt, so an drei-, vierhundert Jahre, mit vermorschten Schindeln gedeckt und voller Spinnweben, in denen tote Fliegen hängen. Du aber überschlage dich auch in der Luft und verwandle dich in einen Mönch, alt, uralt, auch so an drei-, vierhundert Jahre, und singe eine Litanei aus deinem Psalmenbuch. Und wenn Skaraotzki kommt und dich fragt, ob du nicht ein Mädchen und einen Burschen habest vorbeigehn sehen, so antworte: Doch, aber das ist lange her. Das war damals, als an dieser Kirche noch gebaut wurde und ich noch ein Kind war. Ja, da muss es gewesen sein.« Und so taten sie.

Das Mädchen verwandelte sich in eine alte, uralte Kirche, voller Spinnweben mit toten Fliegen drin, und die Schindeln auf dem Kirchendach waren ganz vermorscht und an vielen Stellen schon ausgefallen. Jon Milea aber sang als alter, weißbärtiger Mönch die Litanei, leise und eintönig, kaum noch hörbar.

Der Teufel trat ein. »Ehrwürdiger Vater!« rief er den Mönch an, der aber tat, als merke er nichts, und sang und sang. Der Teufel trat näher. »Ehrwürdiger Vater!« schrie er so laut, dass die Wände wackelten. Da hob der Mönch den Kopf. »Was willst du, mein Sohn?«-»Sag, hast du nicht vor kurzem ein Mädchen und einen Burschen hier vorübergehen sehn?« fragte er. — »Ehee, heee, he-hee! Mein Lieber, was fragst du? Ach, ich war noch klein, höchstens sieben Jahre alt, lernte gerade lesen — da sah ich sie vorübergehn! Das ist lange her. Die Menschen bauten noch an dieser Kirche. Ja, ja, jetzt erinnere ich mich — damals war es. Warum fragst du jetzt noch danach? Geh lieber nach Hause und sieh dir nach deiner Arbeit!«

Als der Teufel das hörte, kehrte er auf dem Fleck um und eilte zur Hölle zurück. »Nun, hast du sie eingeholt?« fragte seine Großmutter. — »Nein, nichts habe ich gefunden!« — »Wie, nichts? Rein gar nichts?« — »O doch, eine Kirche, alt wie die Welt, und einen weißbärtigen Mönch darin, der Psalmen sang. Und als ich fragte, sagte der Alte, das Mädchen und der Bursche seien vorübergekommen, als er sieben Jahre alt gewesen und die Kirche eben gebaut worden sei.« — »O du Dummkopf, du Tölpel!« schrie die Teufelsgroßmutter außer sich. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so blöd bist! Das waren doch die zwei, das waren sie! Das Mädchen die Kirche und der Bursche der Pfaffe darin! Jetzt aber geschwind, eile so schnell du kannst und hole sie ein, eh sie dir ganz entwischen!«

Unterdessen hatten die beiden sich wieder in Menschen zurückverwandelt und waren ein gutes Stück vorwärts gekommen. Da sagte das Mädchen wieder: »Mir brennt der Rücken, Jon!« — Er drehte sich um: »Ich sehe eine grüne Flamme ... vom Himmel bis zur Erde!« — »Das ist wieder der Teufel!« rief das Mädchen. »Nun pass auf, was ich dir sage! Verwandle du dich in einen Schafhirten, alt wie ein Rabe, mit einer Flöte in der Hand, und ich verwandle mich in eine Herde Schafe, so groß, dass man kein Ende von ihr sehen kann.«

Kaum war das geschehen, da kam auch schon der Teufel herangerast. Als er den Hirten sah, hielt er an und verschnaufte. »He, Alter!« rief er, aber der Schäfer tat, als höre er nichts. Er blies auf seiner Flöte, dass die Täler widerhallten, und spielte ein Stück nach dem andern. »He, so hör doch, Alter!« schrie der Teufel, so laut er konnte. Da endlich wandte der Schäfer den Kopf: »Nun, mein Sohn, was willst du von mir?« — »Hast du nicht eben ein Mädchen und einen Burschen hier vorbeikommen sehn?« — »He, ehee, heee! Mein Lieber, da mag ich so sieben, acht Jahre gewesen sein — lernte gerade Flöte blasen. Damals hatten wir erst ein Mutterschaf und einen Widder. Seither müssen so drei-, vierhundert Jahre vergangen sein. Damals sah ich sie hier vorübergehn. Was willst du denn von ihnen? Geh lieber nach Hause und sieh nach deiner Arbeit, als dass du jemandem nachläufst, den du nicht vor Sankt Nimmerleins Tag einholen kannst!«

Als der Teufel diese Worte vernahm, hatte er genug. Er zog den Schwanz ein und rannte zur Hölle zurück.

»Nun, mein Sohn, hast du auch diesmal nichts erreicht?« — »Was soll ich erreichen, wo nichts zu erreichen ist?« — »Aber hast du denn auf deinem ganzen Weg gar niemand angetroffen?« — »Angetroffen schon! Eine große Herde Schafe und einen Schafhirten von drei-, vierhundert Jahren, und der sagte mir, er sei ein kleines Kind gewesen und die Herde habe damals aus nur einem Mutterschaf und einem Widder bestanden, als die beiden dort vorübergegangen seien.« — Da raufte sich die Alte die Haare. »O du Schwachkopf! Du Einfaltspinsel!« schrie sie. »Das waren sie doch, das waren sie! Der Schäfer war der Bursche und die Herde das Mädchen!« — »Nun, mag gewesen sein was immer, ich hab es satt!« antwortete Skaraotzki. »Ich habe mich abgerackert, dass ich kaum noch schnaufen kann. Meinetwegen sollen sie gehen in ihre wilde Übergroß!«-»Das sieht dir ähnlich, du Tropf! Erst stellst du dich blöd an und dann gibst du es auf! Jetzt aber werde ich dir zeigen, was ich kann! Ich setze ihnen nach, und wenn ich auf meinem Wege nichts anderes finde als eine Fliege — selbst die werde ich verschlucken!« So sagte des Teufels Großmutter, und — weg war sie!

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Der Jüngling und das Mädchen waren unterdessen wieder ein gutes Stück vorwärts gekommen. Und wieder sagte plötzlich das Mädchen: »Sieh dich um, Jon, denn der Rücken brennt mir furchtbar!« — »Ich sehe eine blaue Flamme ... vom Himmel bis zur Erde«, antwortete Jon. — »Oh«, rief da das Mädchen, »das ist das Satansweib, des Teufels Großmutter selbst! Wenn wir der entwischen, dann kannst du wissen, Jon, dass wir gerettet sind! Sollte es aber anders kommen, so nur, wie es uns bestimmt ist! Doch rasch jetzt! Ich mache mich zu einem See aus süßer Milch — mach du dich zu einem Enterich und schwimme in seiner Mitte!«

Als die Alte herankam und den See und den Erpel darin erblickte, wusste sie gleich, mit wem sie es zu tun hatte. Sie legte sich also ans Ufer und begann den See auszutrinken — schlürfte und schlürfte und schlürfte. Aber sie hatte noch nicht die Hälfte der Milch getrunken, da platzte sie und war tot — und mausetot ist sie geblieben bis auf den heutigen Tag!

Das Mädchen aber und Jon Milea wurden wieder zu Menschen-und dann nichts als heim und Hochzeit gehalten, gegessen und getrunken, gesungen und getanzt!

Ich war auch dabei, und man gab mir einen Hasensträmpel zu essen ... ihr wisst doch, das Stück vom Knie abwärts, gerade wo es am fleischigsten ist. Dann aber ließ ich sie dort in ihrem Glück und ihrer Freude und kam zu euch, um euch das alles brühwarm zu erzählen! — Ihr bezahlt es mir doch?

»Wir es dir bezahlen, mein Lieber? — Du sollst leben! Gott wird es dir bezahlen!«

Der arme Junge

Es war, was gewesen ist — und wäre es nicht gewesen, würde es auch nicht erzählt.

Es war einmal eine Witwe, die war so arm, dass nicht einmal die Fliegen in ihrem Hause blieben, und diese Witwe hatte zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen. Der Knabe war tapfer, wie ein Knabe nur sein kann, das Mädchen aber war so schön, dass die Prinzen und die Kaiserssöhne aller Orten mit Ungeduld darauf warteten, dass sie heranwüchse, damit sie um sie werben könnten. Als aber das Mädchen das sechzehnte Lebensjahr vollendet hatte, da geschah ihr, was auch schon vorher manchem schönen Mädchen geschehen ist: es kam ein Drache, der sie raubte und sie weit, weit wegbrachte — in das ferne Land, das man das jenseitige Gestade nennt.

Von da an liebte die Witwe ihren Sohn noch hundert- und tausendmal mehr als bisher, weil er nun ihr einziges Kind war — die einzige Freude, die ihr auf dieser Welt noch blieb. Sie hütete ihn, wie man sein Augenlicht hütet, und hätte ihn nicht einen Schritt weit von sich gehen lassen. So sehr sie sich aber auch an ihm freute, war sie doch untröstlich, weil — mein Gott, ein Knabe ist zwar ein Knabe, aber ein Mädchen ist eben ein Mädchen, besonders wenn es schön ist!

Da nun der Knabe seine Mutter so traurig sah, sammelte er immer mehr Kraft und zählte die Tage, bis er groß genug sein würde, um in die weite Welt zu gehn — zu suchen das Schwesterlein, Rotbäckchen sein, auf ungebahnten Pfaden, mit Dornen beladen. Und als er zweimal sieben Jahre alt geworden war und noch eines dazu, da machte er sich Kalbsledersandalen, mit Stahlsohlen daran, ging zu seiner Mutter und sprach also: »Liebe Mutter, ich habe keine ruhige Stunde mehr, solange ich dich so traurig und vergrämt sehe. Ich weiß, du härmst dir das Herz ab um deine verlorene Tochter — darum habe ich beschlossen, in die Welt zu gehen und nicht eher zurückzukommen, als bis ich Kunde von ihr bringen kann. Ob ich sie finde, weiß ich nicht, ich hoffe es aber. Und diese Hoffnung lasse ich auch dir, damit du in ihr Ruhe findest.«

Als die Witwe solche Worte hörte, wurde ihr schwer und leicht ums Herz auf einmal, und sie sprach: »Gut, mein liebes Kind, tu’, was du dir vorgenommen. Wenn du zurückkehrst, werde ich mich freuen, dich wiederzusehen; wenn aber eine Zeit um die andere vergeht und du immer noch nicht zurückkommst, werde ich doch nicht um dich weinen, denn der Weg ist gar lang, den du vor dir hast, und ich werde die Hoffnung, dass du mir noch einmal heimkehren wirst, niemals verlieren.« Dann rührte sie ihm mit ihrer eigenen Muttermilch drei Brote an, eines aus Mehl, das andere aus Kleie, das dritte aus Asche, buk all ihre Liebe mit hinein und gab sie ihm als Zehrung mit auf den Weg.

Der Knabe steckte die Brote in den Reisesack, nahm Abschied von seiner Mutter und ging in die Welt, wie ein armer Junge, dem alle Wege gleich weit, alle Stege gleich breit sind, und der nicht weiß, welche Richtung er einschlagen soll.

Am Tore stand er still, schaute einmal nach Sonnenaufgang, dann nach Sonnenuntergang, dann nach Mitternacht und nach Mittag, darauf nahm er eine Handvoll Staub unter der Türschwelle hervor und warf sie hoch in den Wind: wohin der den leichten Staub trieb, dahin wandte er seine Schritte.

Und der arme Junge ging und ging und ging, immer weiter und weiter, durch viele reiche Länder, bis er an eine Heide kam, auf der kein Gras wuchs und kein Wasser quoll. Hier hielt er an und holte seine drei Brote hervor. Er nahm zuerst einen Bissen von dem Brot aus Mehl, weil das das schönste war, und wie er ihn hinuntergeschluckt hatte, wuchs seine Kraft und auch sein Durst war gelöscht.

Und wiederum wanderte der arme Junge weiter und wanderte den ganzen langen Tag, bis er gegen Abend die Heide hinter sich gelassen hatte und an einen großen Wald kam. So dicht und so düster standen Eiche und Rüster, dass selbst von den Winden kein Hauch war zu finden — wie war dem Jungen da zumute, als er in den stillen Wald eintrat! Aber kaum hatte er ihn betreten, erblickte er an den Stamm eines Baumes gelehnt eine alte Frau, ganz runzlig im Gesicht. Da freute er sich sehr — hatte er doch so lange schon kein Menschenantlitz mehr gesehen, keine Menschensprache mehr gehört! Er sagte also fröhlich: »Glück auf, Mütterchen! Wo bist du daheim, und was machst du hier in dieser Waldeswildnis?« — »Hab Dank für deinen Gruß!« bekam er zur Antwort. »Ach, ich bin ein armer alter geplagter Mensch. Ich wollte ein bisschen spazieren gehn, aber ich konnte nicht weiter, meine Füße tragen mich nicht mehr!«

Als der arme Junge dies hörte, hatte er Mitleid mit der Alten, und er fragte sie noch einmal nach dem Woher und Wohin. Er wusste ja nicht, dass dieses alte Weib niemand anderes war als die Hexe des Waldes, die sich gern an seinem Rande aufhält und denen, die sich in diese öden Gegenden verirren, entgegengeht, um sie mit Worten zu betören und sie ins Verderben zu locken. Da er sie so kraftlos sah, fielen ihm seine drei Brote ein, und als ob er schon morgen wieder heimkehren sollte, bot er ihr von seiner Wegzehrung an.

Die Alte jedoch hatte anderes im Sinn. »Ich danke dir«, sagte sie, »doch schau, ich habe keine Zähne mehr und kann dein trockenes Brot nicht kauen. Wenn du mir aber einen Gefallen tun willst, so nimm mich auf den Rücken und trage mich ein Stück, denn ich wohne hier ganz in der Nähe.« — »So koste doch wenigstens«, sagte der Knabe, der ihr in seiner Herzensgüte gern etwas Liebes erweisen wollte, »denn gewiss bist du nur vor Hunger so schwach geworden. Wenn es dir aber nichts hilft, so trage ich dich, wohin du willst.

Als die Waldhexe das Brot aus weißem Mehl erblickte, kam sie ein heftiges Gelüsten an. Es hatte so etwas an sich, ich weiß nicht was — jedenfalls etwas, dass selbst die alte Hexe nicht umhin konnte, einen Bissen davon zu nehmen. Und wie sie ihn schmeckte, wurde ihr Herz weicher. Nachdem sie aber noch zwei Bissen genommen hatte, fühlte sie sich Mensch wie wir alle, mit dem Herzen auf dem rechten Fleck und mit mildem Sinn.

»Erfahre, mein Sohn«, sagte sie, »dass ich die Waldhexe bin. Ich weiß sehr gut, wer du bist, woher du kommst und wohin du dich aufgemacht hast. Und das ist eine große Sache, die du vorhast, denn deine Schwester befindet sich gar nicht in dieser Welt, sondern auf dem jenseitigen Gestade, wohin ein Erdenmensch nur auf eine einzige Art gelangen kann.«

»Und die wäre?« fragte der arme Junge ungeduldig.

Die Waldhexe musterte ihn von oben bis unten. »Ich rate dir davon ab, dich daran zu machen«, sagte sie, »denn es wäre schade um dein junges Leben! — Aber ... wer weiß, vielleicht wirst du Glück haben. Ich sehe, du hast ein gutes Herz, und wer ein gutes Herz hat, der kann vieles zustande bringen. Außerdem wirst du, wie ich dich kenne, bei Tag und bei Nacht keine Ruhe haben, ehe du nicht deine Schwester gefunden hast. So wisse denn, ferne von hier, nachdem du noch sechs Heiden und sechs Wälder durchmessen hast, wirst du auf der siebenten Heide, hinter der der siebente Wald die Grenze zum jenseitigen Gestade bildet, eine alte Hexe finden. Diese hat ein Gestüt, und darin ein verzaubertes Pferd, und nur dieses allein kann dich auf das jenseitige Gestade bringen. Dieses Pferd jedoch kann nur der erringen, der es, nachdem er der Alten ein Jahr lang gedient hat, aus der ganzen Herde zu wählen weiß.«

Das hatte der arme Junge wissen wollen. Er verlor also keine Zeit mehr, bedankte sich bei der Waldhexe für die Aufklärung und machte sich auf, immer geradeaus durch den dichten Wald, weil sein Weg lang war und er sich zu beeilen hatte.

Er ging wie einer, der in guter Absicht geht, doch zugleich auch eilte er, wie man eilt, wenn man noch Zeit für den Heimweg behalten will. Wie viel er aber gegangen und wie sehr er geeilt ist, kann sich ein jeder vorstellen, der nicht vergessen hat, wie lange Zeit der arme Junge gebraucht hatte, um durch eine einzige Heide und durch einen einzigen Wald zu wandern. Wenn ihn aber die Kräfte verlassen wollten, biss er einmal vom Brot ab, und allsogleich erstarkte er wieder.

Als er, fast schon am Ende des sechsten Waldes, an einen Bach kam, sah er darin eine Wespe, die mit den Wellen kämpfte. Er hatte Mitleid mit dem armen Tier, brach einen Zweig und hielt ihn der Wespe hin, damit sie daran hinaufkrabbeln und dann wieder ihre Flügel gebrauchen könne. Diese Wespe war aber die Königin aller Wespen des Waldes, und als sie sich durch seine Güte gerettet sah, flog sie ihm auf die Schulter und sprach: »Ich danke dir, du guter Junge, dass du mich vom Tode errettet hast. Zum Dank dafür zieh mir unter meinem rechten Flügel ein Haar heraus und verwahre es gut — vielleicht kann auch ich dir einmal von Nutzen sein. Wenn du mich aber brauchst, dann reibe dieses Haar zwischen deinen Fingern, und ich werde zu dir eilen, wo immer du seist.« Und der arme Junge bedankte sich, nahm das Haar, steckte es sorgfältig ein und ging weiter.

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Er ging wer weiß wie weit, bis er an einen großen See kam. Da sah er einen Fisch am Ufer zappeln, den hatte eine Welle aus dem Wasser gespült, und er wäre auf dem Trocknen umgekommen, wenn der Knabe nicht Mitleid mit ihm gehabt und ihn ins Wasser zurückgeworfen hätte. Dieser Fisch aber war der Fischkönig selber, mit Schuppen aus Edelsteinen und Flossen aus Gold. Er schwamm einmal um den See herum, atmete ein paar Mal tief auf, um Kräfte zu sammeln, dann kehrte er zu dem Knaben zurück und sprach: »Habe Dank, dass du mich nicht verschmachten ließest! Nun zieh mir von der rechten Seite meines Schwanzes eine Schuppe ab und hebe sie gut auf — vielleicht kann auch ich dir einmal von Nutzen sein. Wenn du mich aber brauchst, dann reibe die Schuppe zwischen deinen Fingern, und ich werde zu dir kommen, wo du auch seist, so weit die Wasser auf Erden reichen! Da bedankte sich der Knabe, nahm die Schuppe, verwahrte sie sorgfältig und ging weiter.

Wieder ging er wer weiß wie weit, bis er an die siebente Heide kam, auf der kein Halm mehr wächst und kein Wasser quillt. Da fand er am Wege einen Maulwurf, den das Tageslicht oberhalb der Erde überrascht hatte. Der tappte geblendet umher und konnte den Zugang zu seinem Bau, in dem seine Jungen hungerten, nicht finden, obgleich er nur einen Sprung weit davon entfernt war. Der arme Junge hatte auch mit ihm Mitleid, und er nahm ihn und trug ihn zurück zu dem Loch, aus dem er aus der Erde gekommen war.

»Ich danke dir«, sagte der Maulwurf, »dass du dich meiner und meiner Jungen erbarmt hast. Nimm dir nun von meiner rechten Pfote eine Kralle und hebe sie dir gut auf. Ich bin der König aller Maulwürfe, und vielleicht kann auch ich dir einmal von Nutzen sein. Wenn du mich aber brauchst, so kratze mit der Kralle auf der Erde, und ich werde zu dir kommen, wo immer du seist!«

Der Knabe nahm mit Dank die Kralle und verwahrte auch sie gut. Dann ging er weiter über die endlose Heide, um den Wald zu suchen, hinter dem das jenseitige Gestade liegen sollte.

Wie viele Tage und wie viele Nächte er über diese Heide zog — wer kann es wissen? Eines schönen Morgens aber, als er aus dem Schlafe erwachte, sah er in der Ferne, so weit, als sei es in der andern Welt, den Schein eines Lichtes, fast so wie ein Feuer, das sich die Hirten am Eingang der Schafhürde machen. Dort war das Gehöft der Zauberin mit der Herde der verhexten Pferde.

Der arme Junge freute sich sehr, als er sich dem Ende der Welt und dem jenseitigen Gestade so nahe sah, und seine Freude wurde noch größer, als er am Abend des dritten Tages am Hause der Zauberin anlangte.

Da war er nun. Aber du lieber Gott, was musste er sehen? Das Haus der Hexe, das mitten in der Heide stand, war umgeben von einem hohen Zaun, und auf jeder Latte des Zaunes stak ein Menschenschädel. Die Waldhexe hatte also recht gehabt — hier gingen die Dinge nicht gerade spaßhaft zu!

Der arme Junge ging um den ganzen Zaun herum, fand jedoch keinen Eingang. Aber die Hexe musste doch irgendwo heraus- und hineinkommen? Er suchte auf dem Boden nach Fußspuren, und so fand er schließlich, unmittelbar neben dem Stamm eines in den Zaun einbezogenen Baumes, eine Stelle, wo sich die Latten beiseite schieben ließen. Da fasste er sich ein Herz, schlüpfte hindurch und näherte sich der Hütte, die wie ausgestorben dastand.

Die alte Hexe saß im Hausflur auf einem hohen Stuhl mit drei Beinen, vor ihr aber stand auf einem Dreifuß ein großer Kessel — über einem Feuer, das ohne Rauch brannte. In der Hand hielt sie das Schienbein eines Riesen, mit dem sie die Zauberkräuter im Kessel umrührte.

Als der arme Junge ihr guten Abend sagte, sah sie ihn von oben bis unten an, und: »Willkommen, junger Held!« begrüßte sie ihn freundlich. »Ich erwarte dich schon lange. Schon lange klirrt dieser Kessel und sagt mir unaufhörlich, dass du zu mir unterwegs bist.«

Er freute sich über diesen guten Empfang, und die Alte, wie sie ihn so ansah und mit weicher Stimme sprach, erschien ihm durchaus nicht widerwärtig. Sie aber war auch wirklich erfreut — nämlich darüber, dass es endlich wieder einmal ein Mensch wagte, zu ihr zu kommen. Sie hatte Haus und Hof und Garten mit einem hohen Zaun umgeben und auf jede Latte einen Menschenschädel gespießt — und zwar um sich vor den bösen Elfen zu bewahren, die durch dieses Gatter nicht hindurch-konnten. Drei Latten aber waren noch nicht mit Köpfen besetzt.

Sie machten nun miteinander ab, der arme Junge solle ein Jahr lang die Herde hüten und als Lohn ein Pferd erhalten, das er sich selber auswählen dürfe. Falls er aber die Herde verliere, müsse er der Zauberin seinen Kopf überlassen. Zum Zeichen dessen nahm die Alte die Mütze des jungen Helden und setzte sie auf eine der freien Latten. Dann gab sie ihm ein Abendbrot, damit er nicht hungrig mit der Herde zur Weide gehe — denn die Pferde sollten ja die ganze Nacht draußen sein.

Während der Knabe aß, ging die Alte in den Stall und prügelte die Tiere mit dem Schienbein des Riesen. Sie gebot ihnen, ja nicht aus den Quellen der Flur zu trinken, weil das schläfrig mache. Der arme Junge aber wusste davon nichts und als er mit der Herde auf die Weide kam und einen Durst fühlte, um den man vom Morgen bis zum Abend gehen würde, nur um ein Tröpfchen Wasser zu finden, da legte er sich an den nächsten Quell und trank, und sowie er getrunken hatte, schlief er auch schon ein.

Am andern Morgen, eine gute Weile vor Sonnenaufgang, erwachte er vom Schlaf, aber die Herde war verschwunden, und nirgends war auch nur die Spur eines Pferdes zu sehen. Man braucht sich nur klarzumachen, dass seine Mütze schon auf der Stange saß, um zu verstehen, wie groß seine Verzweiflung war. Er sah sich nach allen Seiten um — vergebens. Die Morgendämmerung brach immer heller herein, und er stand ganz verloren da und wusste nicht, wohin er sich wenden sollte.

Da fiel ihm der Dienst ein, den er einst der Wespenkönigin erwiesen hatte. Eine Wespe fliegt schnell — vielleicht kann sie die Herde entdecken und ihm Nachricht über sie bringen? Er nahm also das Haar, das er unter dem Flügel der Wespenkönigin herausgezogen hatte, und rieb es zwischen den Fingern. So schnell wie man denkt und nicht denkt hörte man da von allen Seiten ein Summen, das anschwoll und immer stärker wurde, so dass man hätte meinen können, die Welt gehe zugrunde. — Herrgott! da kam eine Wespe nach der andern, ein Schwarm nach dem andern, ganze Reihen, ganze Wolken von Wespen, größere und kleinere, alle bereit, die Erde zu umkreisen und die Befehle des armen Jungen zu erfüllen.

»Hab keine Angst«, sagte die Wespenkönigin, »denn wenn die Herde noch auf der Erde ist, bringen wir sie dir, ehe sich die Sonne am Himmel zeigt.«

Darauf wurde alles still um den armen Jungen herum, weil die Wespen nach allen Richtungen flogen und sich im Handumdrehen über die ganze Erde ausbreiteten.

Viel Zeit verging nicht, da zeigte sich in der Ferne eine Staubwolke, die in rasender Eile herankam, und die von den stechenden Wespen gejagten Pferde stürmten daher, dass die Erde unter ihren Hufen erdröhnte.

Der arme Junge dankte den Wespen für ihre Hilfe und wandte sich dem Hause zu, als sei gar nichts vorgefallen.

Die Alte sah ihn schief an, als er noch vor aufgehender Sonne mit den Pferden im Hofe erschien. Sie sagte, es sei gut, und der Junge durfte sich schlafen legen. Dann aber ging sie in den Stall und schlug in blinder Wut auf ihre Pferde ein, weil sie sich nicht gut genug versteckt hatten. »Und wenn ihr euch diese Nacht nicht besser verbergt, kriegt ihr morgen noch mehr!« schrie sie.

Am Abend wollte der arme Junge nicht essen, weil er glaubte, dass er den unlöschbaren Durst in der vergangenen Nacht durch die Speisen der Zauberin bekommen habe. Als er aber mit der Herde auf die Weide ging, befiel ihn wieder, sobald er das klare Wasser sah, ein so verzehrender Durst, dass es ihm die größte Mühe machte, nicht zu trinken. Und dabei quoll unter jedem seiner Tritte helles, sprudelndes Wasser aus der Erde! Da konnte er sich endlich nicht mehr beherrschen. Er verließ sich auf den Beistand der Wespen und legte sich an eine der Quellen, und kaum hatte er getrunken, so schlief er auch schon ein.

Diesmal aber wachte er noch später auf, weil er später eingeschlafen war — später erst rieb er das Haar, das er unter dem Flügel der Wespenkönigin herausgezogen hatte — und später trafen die Wespenschwärme ein, um ihm die Herde zu suchen und sie heimzujagen.

Doch was musste er sehen? Viel Zeit verging nicht, als, schau an, ein Schwarm nach dem andern zurückkehrte und jeder die Kunde brachte, dass sich die Herde nicht auf der Erdoberfläche befinde, sondern sich irgendwo auf dem Meeresgrund verborgen halten müsse. Und gleich sollte die Sonne aufgehn! Wenn er aber der alten Hexe die Pferde nicht mit dem ersten Sonnenstrahl zurückbrachte, war er verloren.

Da entsann sich der arme Junge der Fischschuppe. Rasch nahm er sie und rieb daran, und schon erschienen in den Quellen zu seinen Füßen Hunderte und Tausende von Fischen und Fischchen, die alle Rinnsale anfüllten, dass es nur so ein Gewimmel war, und fragten ihn, was er wünsche und befehle. Er sagte ihnen das Was und Wie, und allsogleich kam Leben und Bewegung in alle Wässer und Flüsse, Teiche und Meere, die Wespen aber flogen über alle Berge, und sowie die Herde von den grätigen Fischen aufgejagt worden war, eilten sie hinter ihr her und trieben sie weiter, und der arme Junge hatte gerade noch so viel Zeit, dass er die Tiere sammeln und nach Hause bringen konnte — da ging auch schon die Sonne auf.

Diesmal war der Blick der Alten noch unfreundlicher. Doch sagte sie wieder, es sei gut, und er durfte sich niederlegen. Den Pferden aber gab sie eine noch gehörigere Tracht Prügel. Denn bei den Hexen hatte das Jahr nur drei Tage, und wenn sich die Tiere auch die nächste Nacht nicht ordentlich versteckten, konnte der junge Held seinen Lohn fordern.

Das wusste auch der arme Junge. Darum fing er an, von seinem Brot zu essen, als er mit der Herde auf die Weide ging; und so oft er abbiss, wuchs seine Kraft und ließ auch der Durst nach. Wenn er jedoch die Quellen sah oder das Wasser über die Steine plätschern hörte, wurde er wieder durstig, und so aß er das ganze aus dem Mehl gebackene Brot auf. Jetzt hätte er das Kleiebrot angreifen müssen, er getraute sich’s aber nicht, denn er dachte daran, was er noch alles vor sich habe, und an seinen weiten Rückweg, so dass er fürchtete, dann ohne Wegzehrung zu sein. Er verließ sich also auch diesmal auf die Unterstützung der Wespen und der Fische, legte sich an einen Quell und trank, und sowie er getrunken hatte, schlief er auch gleich ein.

Als er aufwachte, war es bereits heller Tag, nur die Sonne war noch nicht aufgegangen. Er rieb das Haar — aber die Wespen kamen mit der Nachricht zurück, dass die Herde nicht auf der Erdoberfläche sei. Er rieb die Fischsuppe — aber die Fische brachten den Bescheid, dass auch im Wasser keine Spur von ihr zu finden wäre. Der arme Junge! Da stand er nun! Und auf dem Pfahl hing schon seine Kappe! Da nahm er in seiner Verzweiflung rasch die Kralle des Maulwurfs und kratzte mit ihr auf dem Boden.

Jetzt hättet ihr das Wunder schauen sollen! Die Wespen summten, die Fische rührten das Wasser auf, die Maulwürfe aber begannen die Erde zu durchwühlen-sie zu durchfurchen, als ob sie sie ganz zu Mus machen wollten. Und da zogen auch schon, wie gejagte Schatten, die Pferde auf den armen Jungen zu. Wollten sie ins Wasser, so wurden sie von den Fischen gescheucht, suchten sie sich in die Erde zu verkriechen, so wurden sie von den kralligen Maulwürfen vertrieben, und so mussten sie dahin gehen, wohin die Wespen sie jagten. Und gerade als die ersten Sonnenstrahlen die Wipfel der Pappeln vor der Hütte berührten, trieb der Junge die Herde in den Pferch neben dem Hof der alten Hexe ein. Die sah ihn zornig an und sagte nichts mehr.

Jetzt aber kam es darauf an! Das Jahr war um, und der arme Junge kraute sich hinter den Ohren: Welches Pferd aus der riesigen Herde sollte er nun wählen?

Ja, so geht es den Übereiligen! Denn wahrscheinlich hätte ihm die Waldhexe damals auch dies noch sagen können, wenn er nicht so schnell davongegangen wäre. Aber nun war’s zu spät, sie zu fragen.

›Was tut es schließlich?‹ dachte er bei sich, ›ich wähle mir eben irgendein Pferd aus, es sind ja schließlich lauter schöne, feurige Rösser und keine Schindmähren!‹

Wie er so durch die Herde ging, stieß er auf ein krankes Füllen, mit dem er gleich Mitleid bekam, weil es auch gar so elend und ungepflegt aussah. Wem aber wäre es eingefallen, gerade dieses zu wählen? Doch soviel er sich auch wandte und drehte, immer wieder blieb er bei dem Pferdchen stehen, denn er war gar zu gutherzig, und er dachte bei sich: ,Wenn ich auch nicht viel mit ihm werde ausrichten können, so erweise ich doch einem armen Tiere eine Wohltat. Und wer weiß — wenn ich es fleißig kämme, bürste und striegle, wird womöglich noch ein gutes Pferd aus ihm!«

So entschied er sich denn für das Füllen, und damit er sein Pferdchen gut besorgen könne, nahm er als Zugabe auch noch die Tasche mit, in der sich Kamm und Bürste und Striegel befanden.

Die Alte wurde giftgrün, als sie hörte, welches Pferd er herausgesucht hatte, denn gerade dieses war das verzauberte, von dem die Waldhexe gesprochen. Aber was konnte sie tun? Sie riet ihm wohl, sich ein besseres zu wählen, sagte ihm, das Füllen hielte die weite Reise nicht aus und er würde deshalb bald ohne Pferd sein — und für guten Dienst gebühre ihm doch ein guter Lohn! Schließlich aber, als sie sah, dass er sich nicht davon abbringen ließ, musste sie Wort halten und ihm das Füllen geben.

Aber Hexe bleibt Hexe, und kaum dass der arme Junge Abschied genommen hatte, zu Pferde gestiegen und davongeritten war, ging sie an den großen Kessel, hob ihn vom Feuer, zog den Dreifuß beiseite und bestieg ihn. Dann verwandelte sie sich in Gesicht und Haltung, und schnell, wie der Fluch reitet, eilte sie dem Jungen nach, um ihn mit ihren Zaubermitteln zu verderben und sich ihr Pferd zurückzuholen. Der aber fühlte, dass ihm etwas Furchtbares folge, und er gab seinem Pferde die Sporen. Doch: »Du spornst mich umsonst an«, sprach das Pferd, »denn wir können der Hexe nicht entkommen, solange wir noch auf ihrem Gebiete sind. Wirf den Kamm hinter dich, um ihr ein Hindernis in den Weg zu legen!«

Als der Junge hörte, dass sein Pferd sprechen konnte, da wusste er, dass er gut gewählt hatte. Er holte also rasch den Kamm aus der Tasche und warf ihn hinter sich, und aus dem Kamm wurde ein langer, hoher Balkenzaun, über den die Hexe nicht hinüber konnte. So musste sie einen Umweg machen, und unterdessen hatten Roß und Reiter einen Vorsprung gewonnen.

Doch bald vernahm er von neuem das Getrappel des Dreifußes, und: »Wirf die Bürste!« sagte das Pferd. Der Junge tat wie geheißen, da wurde aus der Bürste ein dichtes, ausgedehntes Röhricht, durch das die Alte nur mühsam und mit Ach und Weh hindurchdringen konnte. »Jetzt noch den Striegel!« rief das Pferd, und als er als drittes auch den fortgeworfen hatte, schaute der arme Junge nach rückwärts und sah hinter sich einen Wald von Messern und Säbeln, zwischen ihnen aber die Alte, wie sie sich hindurchzukommen mühte und sich dabei in lauter kleine Stücke zerschnitt.

So gelangten sie an den siebenten Wald, wo das Reich der Hexe aufhörte. Da blieb das kranke Pferdchen stehen und schüttelte sich — und unversehens wurde es zu einem großen, prächtigen, geflügelten Ross, wie es weder vorher noch nachher jemals eines gegeben hat.

»Jetzt halte dich gut!« sagte es zu dem Jungen. »Nun werde ich dich so führen, wie noch nie ein Held vom diesseitigen zum jenseitigen Gestade gelangt ist, denn auch ich habe dort eine Schwester, die zu suchen ich einstmals ausgezogen bin!« Und mit Windeseile flog das Pferd über den riesigen Wald dahin und ließ sich auf das jenseitige Gestade hinab. Der Junge war wie betäubt von dem rasenden Ritt. Als er aber zu sich kam, stand nicht ein Pferd neben ihm, sondern — ein schöner Prinz mit langen blonden Locken!

»Ich danke dir, dass du mich erlöst hast!« sprach der Prinz. »Wisse, ich bin der Sohn des Weißen Kaisers, und ich hatte mich aufgemacht, um meine Schwester zu befreien, die von einem Drachen geraubt worden war. Am Rande des Waldes aber traf ich auf die Waldhexe, und die klagte mir, dass sie nicht mehr gehen könne, und bat mich, sie doch ein Stückchen zu tragen. Als ich sie aber aus Mitleid Huckepack nahm, da verwandelte sie mich in ein Pferd und verdammte mich dazu, so lange in dieser Gestalt zu bleiben, bis sich ein Held meiner erbarme und mich bestiege, damit ich ihn zum jenseitigen Gestade trüge; erst dort solle ich meine menschliche Gestalt wiedergewinnen.«

Wie freute sich der arme Junge, dass er nun nicht mehr allein war! Er nahm das Kleiebrot, brach es entzwei und teilte es mit dem Kaiserssohn, damit sie Brüder seien auf Leben und Tod. Der Prinz kostete von dem Brot, und als er davon aß, wuchs seine Kraft und seine Liebe. Dann eilten sie vorwärts.

Ferne, ferne, fast schon nicht erkennbar, sah man über die Wipfel der Bäume glänzende Gebäude und hohe Türme aufragen. Das mussten die Paläste des Drachen sein.