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Zeitschrift für Ideengeschichte Heft IX/1 Frühjahr 2015

Lange Leitung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben von
Alexandra Kemmerer & Martin Mulsow

 

 

 

ZUM THEMA

Alexandra Kemmerer, Martin Mulsow: Zum Thema

LANGE LEITUNG

Jürgen Osterhammel: Globalifizierung. Denkfiguren der neuen Welt

Lydia H. Liu: Abgründe des Universalismus. P. C. Chang entgrenzt die Menschenrechte

«Wir müssen nicht immer nur auf Westfalen schauen …» Ein Gespräch mit Martti Koskenniemi und Anne Orford

Martin Mulsow: Vor Adam. Ideengeschichte jenseits der Eurozentrik

ESSAY

Ulrich Raulff: Eine amerikanische Renaissance. Princeton nach dem Krieg

DENKBILD

Michael Wenzel: Seehofers Denkraum. Zur Vorgeschichte der politischen Modelleisenbahn

ARCHIV

Claudia Schmölders: Elsie Butler’s Tyranny. Grundriss eines Klassikers

KONZEPT & KRITIK

Franz Leander Fillafer: Auszug aus Cambridge

Ben Hutchinson: Narziss und Kritik. Walter Benjamin im Kontext

Reinhard Mehring: Neue Wortgewitter aus Karlsruhe

Petra Gehring: Verzeihung. Eine offensichtlich schwierige Einfachheit

Die Autorinnen und Autoren

   
 

Im nächsten Heft: Das Dorf. Mit Beiträgen von Stefan Breuer, Jesko Reiling und einem Essay von Friedrich Wilhelm Graf.

 

Zum Thema

 

 

Wer eine lange Leitung hat, braucht ein wenig mehr Zeit, um zu verstehen. Besonders dann, wenn Orientierung in einer gänzlich neuen Umgebung gefragt ist. Die gigantischen Glasfaserleitungen, die heute auf dem Meeresgrund die Kontinente verbinden, sind die Basis unserer globalen, digitalisierten Kommunikation. Kein Netz ohne sie. Haben sie uns genug Zeit gegeben, um zu verstehen, wie klein und engmaschig die Welt geworden ist? Was bedeutet Globalisierung für die alte Schule der Ideengeschichte? Sollten wir auch dort von den europäischen Kurzverkabelungen absehen und den langen Leitungen nachspüren?

In jüngster Zeit mehren sich die Rufe nach einer global intellectual history oder global history of ideas. Es gelte, große Zeiträume und große Entfernungen in den Blick zu nehmen, von Asien nach Europa, von den Frühkulturen des Nahen Ostens bis in die westliche Moderne, von den Präadamiten bis zu den «letzten Menschen» der Postmoderne. Die Konjunktur der «Big History», sagt David Armitage, sollte für den Ideengeschichtler zum Imperativ werden, nach langer Abstinenz auch wieder «Big Ideas» in ihrer Ausbreitung zu verfolgen. Die britische Wirtschaftshistorikerin Emma Rothschild spricht von «Arcs of Ideas», von Ideenbögen. Aber welche großen Bögen sind zu wünschen, und welche nicht? Sicherlich nicht nur die verwitterten gotischen Kathedralbauten des Abendlands auf den Fundamenten der klassischen Antike, und auch nicht die weltgeschichtlichen Totalentwürfe à la Spengler und Toynbee – sondern ungewohnte, transversale Perspektiven hinweg über Raum und Zeit, Einsichten über die Verflochtenheiten von entfernten Kulturen, von wandernden Dingen und subkutanen Gedanken. «Ideas» stellte schon Arthur O. Lovejoy fest, «are the most migratory things in the world.»

Dieses Heft erzählt solche Migrationsgeschichten. Es nimmt die schwierige Arbeit kultureller Übersetzungen in den Blick, aus denen sich universelle Konzepte wie die Menschenrechte formen; es stellt die Gewohnheit infrage, mit der Suche nach Ideenzirkulationen an den Rändern Europas Halt zu machen, lädt ein zur Suche nach neuen Materialien und Archiven. Der Soziologe Ulrich Beck hat vom Laster des «methodologischen Nationalismus» gesprochen; man kann der Ideengeschichte wenn nicht dies, so doch einen «methodologischen Europäismus» vorhalten.

Doch so einfach lässt sich ein zeitgemäßer Gesinnungskosmopolitismus nicht in Methode und neue Forschungen übersetzen. Jürgen Osterhammel, die neue deutsche Autorität unter den Globalhistorikern, blickt inzwischen skeptisch auf den «Hype» der Globalisierung in den unterschiedlichen Disziplinen und konstatiert, dass zunächst einmal mehr neue Fragen gestellt als neue Antworten gefunden wurden. Die Ideengeschichte ist von der neuen außereuropäischen Stoffmasse fraglos überfordert. Sie wird Wege finden müssen, mit dieser Überforderung umzugehen: enge Zusammenarbeit mit Kollegen aus anderen Fächern; den expandierenden Stoff wieder einfangen und auf ein menschliches Maß bringen, wie der Völkerrechtler Martti Koskenniemi in dieser Ausgabe fordert; das Globale lokalisieren und zugleich das Lokale und Regionale global kontextualisieren. Sie muss aber auch sehen, dass ihr die Standards aus dem alten, geo-akademisch gehegten Raum nicht verloren gehen. Wie die Leitungen verlegt werden, wohin sie führen, und ob am Ende auch einer abhebt, bleibt eine offene Frage.

 

Alexandra Kemmerer

Martin Mulsow

Lange Leitung

JÜRGEN OSTERHAMMEL

Globalifizierung

Denkfiguren der neuen Welt

Niemals zuvor hat ein neuer Begriff die Sozial- und Kulturwissenschaften in ähnlich kurzer Zeit so umfassend in seinen Bann geschlagen wie «Globalisierung». «Globalisierung» schaffte in zwanzig Jahren, wofür die allein vergleichbare Kategorie «Moderne» zweihundert benötigte. Der Senkrechtstart von «Globalisierung» in den Wissenschaften wie in den Medien – beides in sich aufschaukelnder Eskalation – zündete Mitte der neunziger Jahre. Seither ist unendlich viel über die sehr unterschiedlichen Phänomene großräumiger Interaktion und Strukturbildung geschrieben worden, die von Autoren aus vielen Disziplinen unter einem einheitlichen Begriffsdach geparkt wurden. Die Zahl der englischsprachigen, in zwei maßgeblichen Datenbanken erfassten Zeitschriftenartikel mit globalization/globalisation im Titel wuchs von 16 im Jahre 1990 auf 1682 im Jahre 2009.[1] Im August 2014 weist die Library of Congress (Washington, DC) in ihren Beständen etwa 9500 englischsprachige Bücher der Erscheinungsjahrgänge 2000 bis 2013 nach, die den Begriff im Titel führen. Man gelangt zu weitaus höheren Zahlen, wenn auch nicht-englische Varianten – das französische la mondialisation, das chinesische quánqíuhuà, usw. – sowie das Adjektiv «global» mitsamt seinen Äquivalenten berücksichtigt werden, im Deutschen auch substantivische Zusammensetzungen wie «Globalgeschichte», von der verzweigten Semantik von «Welt» ganz zu schweigen.

Es ist zu einem running gag geworden, eine neue gedruckte Äußerung zu Globalisierung mit dem Vergeblichkeitstopos zu beginnen, es sei zwecklos, weitere Tropfen in dieses Wörter- und Datenmeer zu gießen. Schnell gerät man in eine Schweigespirale: Selbst ein wirklich neuer Gedanke, eine Perle theoretischer Originalität riskieren, unentdeckt zu bleiben, während gleichzeitig das publizierte Material so umfangreich ist, dass selbst für einzelne Disziplinen – die bibliometrisch am deutlichsten zu Buche schlagenden sind Ökonomie, Geographie und Soziologie – niemand den nötigen Überblick besitzt, um zu sichten, zu sieben und zusammenzufassen. Keiner entrinnt dem epidemischen Globalismus.

Der Initialschub der neunziger Jahre

Angesichts dieses Überflusses mag der Befund überraschen, dass der Glanz des einstigen Aufbruchs ermattet ist. In den neunziger Jahren wurde das Globale entdeckt – zwar nicht völlig neu «erfunden», aber doch von einem randständigen Interesse intellektueller Minderheiten an Weltzusammenhängen zu einer konstitutiven Zentralthematik mehrerer Disziplinen erhoben. Damals kamen drei große Gegenwartstrends zusammen und inspirierten Wissenschaftler, überkommene Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen: erstens die Entgrenzung des Planeten durch das Ende der kapitalistisch-sozialistischen Systemkonkurrenz, zweitens das Eindringen des Internets mit seiner präzedenzlosen Vernetzungserfahrung in die Alltagspraxis von Wissenschaftlern überall auf der Erde und drittens die zumindest äußerliche Annäherung der größten Gesellschaft der Welt, des post-totalitären China, an den Phänotypus einer Moderne, die dadurch endgültig von einer westlichen zu einer globalen zu werden schien.[2]

Diese neue Weltlage regte sogleich eine ganze Reihe kluger Köpfe an, neue Denkwege zu erkunden. Nahezu alle bis heute maßgeblichen Theorien der Globalisierung entstanden vor der Jahrhundertwende. Seither sind zahllose Lehrbücher erschienen. Sie alle zehren aber noch von den Ideen der Denker des Aufbruchsjahrzehnts von Anthony Giddens bis David Harvey, von Manuel Castells bis Arjun Appadurai.[3] Auch die Grundpositionen politischer Bewertung sind damals formuliert worden, sowohl neoliberale Euphorie über angeblich grenzenlose Marktfreiheit als auch eine Globalisierungskritik, die selten nationalistisch grundiert war und überwiegend die Schwächeren, die Natur und den Eigensinn des Lokalen zu verteidigen suchte.

Die ungeheure Literaturproduktion hat sich schnell von den Ursprungsumständen des neuen Konzepts gelöst, und der Aufbruchsmoment der Jahre vor der Jahrhundertwende wiederholte sich nicht. Die Veränderungen in der realen Welt werden seither nicht immer mit jener schnellen Aufmerksamkeit aufgegriffen, die für die neunziger Jahre charakteristisch war. Die ursprünglichen Theorieansätze sind scholastisch verfeinert, kanonisiert, in Aufsatz um Aufsatz, in Antrag um Antrag auf alles Mögliche angewendet worden. Es entstanden akademische «Felder»; sie spezialisierten und professionalisierten sich. Niemanden kann diese auto-referentielle Eigendynamik überraschen. So entwickelt sich Wissenschaft. Von einer «Mode» zu sprechen, griffe zu kurz.

Der Siegeszug globalistischer Ansätze lässt sich in den verschiedenen Disziplinen auf jeweils spezifische Ursachen zurückführen. Am einfachsten hat es die Soziologie, die ihr ureigenes, bereits an ihrem Beginn intoniertes Thema der «Moderne» leicht mit dem neuen Adjektiv verkoppeln konnte. Zumindest die Makro- und Kultursoziologie ist heute weitgehend eine Interpretation von global modernity geworden. Die Ökonomie hat es so intensiv wie niemand sonst mit der Verdichtung oder gar Vernichtung von Raum und Zeit zu tun. Marktmodelle in ihrer formalistischen Ortlosigkeit lassen sich leicht auf ausgedehntere Zusammenhänge projizieren. Die Geographie als kosmopolitische Wissenschaft vom gesamten Planeten war von Anfang an besser als andere Fächer auf Themen wie Urbanisierung im Weltmaßstab, Migration und Verkehrsentwicklung eingestellt. Die Politikwissenschaft mit ihren über das Nationale hinausgehenden Traditionen des Vergleichs fand – einstweilen noch eher hoffend normativ als beschreibend empirisch – in global governance ein integratives Thema, das international relations, innenpolitische Systemanalyse und politische Theorie zusammenführt.

Globalifizierungspfade

Trotz alledem ist weder der Siegeszug des Globalen beendet noch seine Dauerhaftigkeit sichergestellt. Manche der irenischen Konvergenzannahmen aus den optimistischen 1990er-Jahren sind in der politischen und ökonomischen Wirklichkeit nicht eingetroffen. 2014 ist die Gewissheit eher schwächer als im Jahre 2000, dass die Menschheit in einem gleichermaßen post-imperialen wie post-nationalen global age ihre gemeinsamen Überlebensprobleme vernünftig und durch friedliche «Aushandlung» – eine Lieblingsvokabel der zuversichtlichen Jahre – lösen wird. In den verschiedenen Wissenschaften bleiben kritische Nachfragen vernehmbar, und es gibt für die Befürworter von Globalperspektiven keinen Grund, die Einwände von Skeptikern auf die leichte Schulter zu nehmen und sich bereits auf der Siegerseite eines Paradigmenwechsels zu wähnen. Einige Disziplinen sind nach wie vor wenig vom Globalen affiziert.

Überhaupt spricht manches dafür, eine von Gebiet zu Gebiet mit unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit verlaufende Globalifizierung anzunehmen, die auf einer anderen Ebene als die Realprozesse der Globalisierung angesiedelt ist. Globalifizierung kann verstanden werden als das Eindringen und die Übernahme von grenzüberschreitenden Erkenntnisperspektiven in bestehende Diskurszusammenhänge. Man erkennt sie auf den ersten Blick am häufiger werdenden Gebrauch des Adjektivs «global» oder im Deutschen an Wortbildungen mit «Welt-». In den Literaturwissenschaften wächst (erneut) das Interesse an «Weltliteratur»; für die Musikwissenschaft ist «Weltmusik» nicht länger nur ein Regal im CD-Geschäft; in der Wirtschaftsgeschichte erwacht eine vor langer Zeit eingeschlafene Faszination durch «Weltwirtschaft»; Praktiker von Ideengeschichte beginnen, über die Möglichkeiten von global intellectual history zu debattieren.

Die Globalifizierung sollte nicht mit einem dramatischen global turn verwechselt werden. Sie verläuft inkremental, ist keineswegs unaufhaltsam und produziert zumindest im Anfangsstadium mehr Fragen als Antworten. Auch verdrängt und ersetzt sie nur in seltenen Fällen die bestehenden thematischen Vorlieben von Wissenschaftlergemeinschaften. So besteht zwischen Globalgeschichte und Nationalgeschichte keineswegs der von nervösen Traditionalisten befürchtete Verdrängungswettbewerb.

In der Praxis der Fächer muss Globalifizierung zwangsläufig Unterschiedliches bedeuten. Für die meisten nationalen Historiker-«Zünfte» in Europa – aber nicht länger in Nordamerika oder Australien – ist es immer noch eine Herausforderung, die Geschichte nicht-europäischer «Anderer» als gleichwertig anzuerkennen und sie nicht winzigen Spezialistenzirkeln zu überlassen, die unter sich bleiben. Umgekehrt ist die Ethnologie/Anthropologie von Anfang an die Wissenschaft von Gesellschaften gewesen, die nach «fremden» Regeln funktionieren. Globalifizierung der Ethnologie heißt deshalb, sie aus dem Partikularismus lokaler Fallstudien hinauszuführen.[4] In den Orientwissenschaften würde es bedeuten, die eigenen Exzeptionalismusmythen zu durchschauen und die Peripherien der kulturellen Zentren zu ihrem Recht kommen zu lassen. Eine globalifizierte Sinologie wäre zum Beispiel eine, die sich (auch) für die chinesische Diaspora in Übersee interessierte, ein Thema jenseits des überkommenen Kanons.

Wenige Fächer oder Teildisziplinen sind heute bereits «durchglobalifiziert», mit Sicherheit keine der klassischen Geisteswissenschaften. Globale Perspektiven sind in vielen von ihnen erst programmatisch angemahnt oder im Vorgriff methodologisch begründet worden, ohne dass sie sich schon in langfristig angelegter Forschung hätten bewähren können.[5] Es ist deshalb zu früh, Grundsatzdiskussionen über das Für und Wider globalistischer Frageweisen zu führen oder deren Realisierbarkeit a priori infrage zu stellen. Ebenso unergiebig ist es auch, sich um die legitime Weise der globalen Orientierung zu streiten. So besteht keine Notwendigkeit, sich für einen einzigen der Ansätze zu entscheiden, die heute unter dem Problemtitel einer globalen Ideengeschichte oder – was offensichtlich nicht dasselbe ist – einer global intellectual history Platz finden: Geschichten von wandernden Konzepten und semantischen Unterschieden und Äquivalenzen, von Übersetzungen, von Universalismen und ihrem Verhältnis zueinander, von der Wirkung und Rezeption kanonischer Autoren in fernen Kontexten, von Intellektuellen und Gelehrten und ihren Kommunikationsformen, von weltweit ausgreifenden Medien, von Institutionen transnationaler Wissensproduktion.[6]

Darstellungsweisen

Obwohl Globalifizierung selten ganze Wissensfelder im Handstreich überwältigt, hat eine Öffnung für global angelegte Fragestellungen klare Konsequenzen. Zunächst ändert sich das Repertoire möglicher Darstellungsweisen. Globalgeschichtliches Erzählen wechselt Schauplätze. Es kann sich eine quasi-aristotelische Einheit von Zeit, Raum und Handlung nicht länger leisten. Seine narrativen Muster sind offen und diskontinuierlich. Unterscheidungen bilden bereits den Ausgangspunkt, ergeben sich nicht erst im Verlauf der Analyse. Orte müssen markiert sein, bevor sie in eine vernetzende Beziehung zueinander gesetzt werden können. Hilfreich kann dabei die formale Relation von Zentren und Peripherien sein, die räumliche Strukturierung intellektueller Felder, sogar ihre kartographische Abbildung: des polyzentrischen mittelalterlichen Islam, der europäischen Geschichtsschreibung.[7]

Wenn sich in der Ideengeschichte Denkströmungen verflechten, muss das sich Verflechtende zuerst in seiner Besonderheit sichtbar werden. Werden große zeitliche Bögen gespannt, die mehrere Zivilisationen miteinander verknüpfen, helfen die herkömmlichen Chronologien und Periodisierungen nicht weiter. Es gibt dann, wie Jack Goody argumentiert hat, verschiedene Renaissancen zu unterschiedlichen Zeiten, aber nicht mehr die einzige, zeitlich klar fixierbare Renaissance.[8] Wenn die Sicherheiten überschaubarer und mit sich identischer Entwicklung fehlen, stellen sich Probleme der Synchronizität, die mit der unverwüstlichen Formel von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen benannt, aber noch nicht gelöst sind. An die Stelle eines deutlichen Vorher-Nachher in einem unbefragten Zivilisationsrahmen treten notgedrungen abstrakte Konstruktionen kulturübergreifender Evolutionsschübe, am weitesten ausgearbeitet im Theorem der «Achsenzeit».[9] Andere ideengeschichtliche Epochenkonstruktionen sind bisher problematisch geblieben. Während zum Beispiel in der Geschichte von Wirtschaft, Umwelt oder politischer Herrschaft das Konzept einer globalen Frühen Neuzeit Anklang zu finden beginnt, ist es ideengeschichtlich im Moment noch schwächer fundiert.[10] Man hilft sich mit Analogien und Äquivalenzen, etwa wenn der chinesische Philosoph und Beamte Wang Yangming (1472–1528) mit seinem Zeitgenossen Martin Luther verglichen wird oder Huang Zongxi (1610–95) mit Montesquieu. Die Frage, ob es im islamischen Kulturraum so etwas wie eine genuine Aufklärung gegeben habe, hat heftige Kontroversen ausgelöst.[11]

Sechs Denkfiguren

Mit Globalgeschichte handelt man sich weitere Konsequenzen ein. Trotz einer schnell wachsenden Literatur programmatischen Charakters ist sie bisher nicht breit und anspruchsvoll theoretisch fundiert worden.[12] Aus guten Gründen zögern Globalhistoriker, sich auf bestimmte Positionen der sozialwissenschaftlichen Globalisierungstheorien festzulegen und diese Theorien einfach «anzuwenden». Auch die systemtheoretische Theorie der Weltgesellschaft hat unter Historikern wenig mehr als ein respektvolles Interesse aus relativ großer Distanz geweckt. Der Postkolonialismus, den man ohnehin eher als Perspektivierung und Rhetorik denn als ein artikuliertes Theoriegebäude auffassen sollte, hat mit der Zeit an Einfluss verloren.[13] Dennoch verbindet sich mit Globalgeschichte eine markante Terminologie, an deren Verwendung man Globalifizierung symptomatisch erkennt. Charakteristisch ist ein Lexikon von Grundbegriffen: Zirkulation, Fluss, Hybridität, Vernetzung, Diaspora usw. Diese stehen eher in loser Verwandtschaft nebeneinander, als dass sie ein durchkonstruiertes Theoriekorpus bildeten. Der heutige Globalismus, besonders in der Geschichtswissenschaft, lässt sich kaum als strenge Applikation von Theorien nach dem Vorbild der Bielefelder «Historischen Sozialwissenschaft» charakterisieren, begnügt sich aber auch nicht mit der assoziativen und okkasionellen Brillanz kulturwissenschaftlicher virtuosi. Er schwebt vermittelnd zwischen diesen unterschiedlichen intellektuellen Welten, und man könnte ihn als einen Denkstil zwar heruntertransformierter, aber doch nicht formloser Theorieansprüche charakterisieren, der einen älteren Gesinnungskosmopolitismus ins intersubjektiv Wissenschaftliche methodisiert.

Dieser Denkstil äußert sich in Denkfiguren, mit denen es jede Art von Globalgeschichte, auch globale Ideengeschichte und Ideenträger-Geschichte, zu tun hat. Nur wenige dieser Denkfiguren sind so universal und totalisierend, wie man es prima vista von weltgeschichtlichen Ansätzen erwarten würde. Stufenmodelle gattungsgeschichtlicher Bewusstseinsentwicklung sind ein wenig aus der Mode gekommen, auch wenn sie über die biologische Anthropologie in die Diskussion zurückzukehren scheinen. Die letzte These dieser Art, die empirisch zu Fall gebracht wurde, ist die von der notwendig säkularisierenden, die Religion zum marginalen Zeitvertreib reduzierenden Wirkung der Moderne.

(1) Es ist kein Wunder, dass die neuere Globalgeschichte sich maßgeblich aus der Geschichte imperialer und ökonomischer Expansion entwickelt hat. Einige ihrer wichtigsten Vertreter hatten sich anfangs einen Namen als Spezialisten für Kolonial- und Imperialgeschichte gemacht. Expansion bleibt die fundierende Denkfigur der Globalgeschichte. Wenn vorgeschlagen wird, schon für den Alten Orient und die mittelmeerische Antike von Globalisierung zu sprechen, dann vor allem unter Hinweis auf frühe kolonisierende und reichbildende Ausdehnungsvorgänge, die von städtischen Zentren ausgingen.[14] Auch die Mobilität von Ideen ist als Verbreitung von identifizierbaren Ursprungsorten aus zu sehen: des Monotheismus aus Ägypten, der politischen Ökonomie aus Schottland (und Frankreich), des Postkolonialismus (in seiner «subalternen» Frühform) aus Indien. Die Modi der Verbreitung können sehr vielgestaltig sein: Diffusion, Missionierung, planvoller Import. Immer steht im Hintergrund ein Bild raumgreifender und grenzüberschreitender Dynamik.

(2) Diese zerstreute Dynamik wird in der Figur der Zirkulation eingehegt und kanalisiert. Zirkulation ist nach dem Vorbild geschlossener Kreisläufe gedacht: von Körpersäften, elektrischem Strom oder Geld in nationalen Ökonomien. Sie ist weniger anarchisch als Expansion, kann gesteuert werden und bedarf oft der von außen intervenierenden Beseitigung von Hindernissen, die das Strömen verlangsamen oder stauen. Jede Zirkulation ist von Embolie bedroht. Die außerordentliche Beliebtheit einer suggestiven Semantik und Bildlichkeit des kontrollierten Fließens bei Globalhistorikern und Globalisierungstheoretikern täuscht leicht über Probleme hinweg: Das Verhältnis von Liquidität zu den stabileren Strukturen, die das Strömen erst ermöglichen, tritt in den Hintergrund; agency lässt sich mit einer Wassermetaphorik nicht leicht verbinden; Verlangsamung, Stagnation, Versickern, «tote» Gewässer sind nicht vorgesehen.[15] Was meint man, wenn man von der «Zirkulation von Ideen» spricht? Ältere, heute patiniert anmutende Kategorien wie «Transfer» und «Rezeption» waren in mancher Hinsicht differenzierter.

(3) Zirkulation setzt unweigerlich ein Kanalnetz voraus. Dennoch kommt in der Figur der Vernetzung eine etwas andere Bildvision zum Ausdruck.[16] Während Zirkulation voraussetzt, dass immer irgendetwas in Bewegung ist, kann ein Netz im Zustand der Virtualität verharren. Es erträgt zeitliche und räumliche Diskontinuität: Ein Kommunikationsnetzwerk unter Gelehrten kann schlummern; durch einen Brief oder ein Treffen wird es erneut aktiviert. Räumlich ist das Netz durch drei Unterscheidungen komplexer strukturiert als der Fließkreislauf: Verbindungen vs. leere Zwischenräume, Zentren vs. Peripherien (bzw. Knotenpunkte von unterschiedlicher Verarbeitungskapazität), hierarchisch höhere Netze von größerer Reichweite vs. lokale Netze. Das Netz oder Netzwerk bleibt die analytisch ergiebigste Denkfigur des Globalen, auch deshalb, weil die Möglichkeit stabilerer Systembildungen durch institutionelle Härtung von Netzzusammenhängen anschließbar ist. Über den transitiven Begriff des Vernetzens wird intentionales Handeln eingeschlossen: kein Netzwerk ohne networkers.

(4) Der Offenheit von Expansionen und auch von vielen Arten der Netzwerkbildung, die an ihren frontierartigen Rändern Externes inkorporieren und oft geradezu verschlingen, steht in der Imagologie des Globalen die Verdichtung gegenüber. Globalisierung kann sowohl als Extensivierung wie als Intensivierung gedacht werden; das Verhältnis der beiden Tendenzen zueinander ist bisher theoretisch wenig reflektiert worden. Verdichtung bedeutet zum Beispiel die Multiplizierung von Elementen und der Beziehungen zwischen ihnen in einer endlichen Welt, die Verkürzung von Abständen, die Beschleunigung und Frequenzzunahme von Kontakten, die Kompression von Ursache-Wirkungs-Ketten. All dies wird von Globalisierungseuphorikern als Steigerung von One world-Erfahrungen und erhöhtem Zugang zu Ressourcen und Lebenschancen gefeiert, von Kritikern als klaustrophobe Unentrinnbarkeit verdammt. Verdichtung ist relativ einfach beschreibbar; sofern es sie gibt, sagen schon Statistiken eine Menge aus, für die neuzeitliche Ideen- und Wissensgeschichte etwa solche von Buchproduktion und Buchhandel. Schwieriger ist es, die Folgen von Verdichtung zu verstehen: Was bedeutet es, wenn die Menschen über Nationen- und Kulturgrenzen hinweg immer mehr voneinander wissen? Lineare Aufklärungsnarrative, die Wissen und Vernünftigkeit Hand in Hand voranschreiten sehen, überzeugen ebenso wenig wie düstere «Orientalismus»-Diagnosen.

(5) Standardisierung und Universalisierung sind zu Grundfiguren einer globalen Teleologie geworden (wobei die heute übliche Perhorreszierung jeglichen teleologischen Denkens einer frischen philosophischen Prüfung bedürfte). Damit sind nur noch selten schlichte Konvergenzannahmen gemeint: Dass als Folge von Informationstechnologie und globalem Kapitalismus die Verhältnisse auf der Welt in mancher Hinsicht immer ähnlicher werden (und in anderer nicht), trifft offensichtlich zu. Vielmehr richtet sich das Interesse vor allem auf zweierlei: zum einen auf die Herausbildung weltgesellschaftlicher Rechtsnormen, an erster Stelle der heute ausgiebig diskutierten Menschenrechte, zum anderen auf die Entstehung von Systemen technisch-ökonomischer Koordination, etwa einer einheitlichen Weltzeit oder von Regularien des internationalen Zahlungsverkehrs. Auch die Universalisierung von Leistungswettbewerb – von sportlichen Weltrekorden bis zum Shanghai-Ranking der Universitäten – gehört hierher.[17] Die Denkfigur der Standardisierung sieht ausdrücklich von Konvergenzvermutungen ab; sie setzt nicht voraus, dass sich die einzelnen Einheiten intrinsisch auf ein gemeinsames Fortschrittsziel hin verändern: Ein nordkoreanischer Olympiasieg ist ebenso legitim wie ein norwegischer. Globale Referenzräume sind auf einer Ebene von eigener Autonomie angesiedelt. Dies gilt zum Beispiel für die erst nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur in den Naturwissenschaften allgemein durchgesetzten Konventionen von kulturell neutraler Wissenschaftlichkeit: In allen Ländern der Welt praktiziert man die «deutsche» Fußnote. Kennt die Ideengeschichte solche Referenzräume? Am ehesten vielleicht als literarische («Weltliteratur»), philosophische und überhaupt textliche Kanons, deren Definition durch das 1992 ins Leben gerufene «Weltdokumentenerbe» (Memory of the World) der UNESCO, das übrigens auch auditive Dokumente enthält, amtliche Autorität gewonnen hat.

(6) Nimmt man den ursprünglichen kritischen Impuls von Globalgeschichte ernst, dann reduziert sie sich nicht auf die Genese der allseits integrierten Gegenwart. Eine spannungsarm voranschleichende Auffüllung und Verdichtung des Planeten – immer mehr Menschen haben immer mehr miteinander zu tun – wäre eine Rahmenerzählung von bedenklicher Trivialität.[18] Deshalb bleibt aus den Dependenz- und Weltsystemtheorien der 1970er-Jahre die Denkfigur der räumlichen Asymmetrie von Macht wichtig, anders gesagt, von Überwältigung und Widerstand. Sozialer Ungleichheit innerhalb nationaler Gesellschaften entspricht auf internationaler Ebene das Gefälle zwischen Reichen und Armen, zwischen Starken und Schwachen. Da sich, anders als simple Erwartungen mancher Globalisierungstheoretiker erwarten ließen, die geopolitische Lage auf der Welt keineswegs vereinfacht und harmonisiert hat und zum Beispiel von einer Pax Americana keine Rede mehr sein kann, muss eher mit einer Vielzahl von regionalen Asymmetrien und Konflikten gerechnet werden.[19] Die Diskussion darüber, wie die Ideengeschichte, besonders für das Zeitalter der europäischen Weltdominanz, auf solche konfliktreiche Pluralität reagiert, beginnt erst.[20] Jedenfalls reichen die verbreiteten Dichotomien von Okzident/Orient, Ideenexport/Ideenimport oder Verwestlichung/local knowledge nicht länger aus.

Ideenordnungen

Anders als die üblichen Geschichten von Globalisierung, kann globale Ideengeschichte keine Fortschrittsgeschichte sein. Vielmehr ist sie dies nur in dem äußerlichen Sinne, dass die technische Verbesserung von Kommunikationsmitteln im Laufe der Jahrhunderte die Chancen erhöht hat, Ideen fern von ihrem Ursprungsort bekannt und wirksam werden zu lassen.[21] Sie vermeidet damit das notorische Problem, sich entscheiden zu müssen, wann Latenz- und Frühformen in die «eigentliche» Globalisierung übergingen.[22]

Die Globalifizierung der Geschichtsschreibung begann in einer paradoxen Situation. Kaum hatte das 1979 von Jean-François Lyotard angeratene Mißtrauen gegenüber langbögigen Konstruktionen mit Erklärungsanspruch, den berühmten métarécits, in den 1980er-Jahren unter Historikerinnen und Historikern selbstkritische Resonanz gefunden, da tauchten die ersten Versuche auf, das umstrittenste aller Großnarrative in der longue durée, das vom Aufstieg des «Westens», in weniger triumphalistischer Akzentuierung neu zu erzählen.[23] Der zu erwartende Streit zwischen Mikro- und Makrohinsichten blieb allerdings aus. Die neue anti-eurozentrische Globalgeschichte war auf ihre Weise zeitgeistnah und modernisierungskritisch. Auch einigte man sich bald auf den salvatorischen Kompromiss, mit dem Soziologen Roland Robertson von glocalization zu sprechen,[24] und favorisierte die These, die zuerst von dem australischen Wirtschaftshistoriker Eric L. Jones vorgetragen wurde, Europa habe seinen neuzeitlichen Erfolg im Wesentlichen kontingenten Ursachen zu verdanken, es habe einfach Glück gehabt.[25]

Die globale Ideengeschichte ist von solchen Problemen weniger betroffen. Die «lokale» Spezifik des einzelnen Textes, der sorgfältiger Interpretation bedarf, und der einzelnen Biographie bleibt ihr unterhintergehbares Fundament. Eine Ideengeschichte der großen epistemischen Formationen oder auch nur der übermächtigen Strömungen und Tendenzen, als deren bloße Exempla die Texte erscheinen, hat an Überzeugungskraft verloren. Der Ideengeschichte fehlen zumindest bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Makrokonstrukte in Analogie zu «Weltwirtschaft», «globalem Migrationssystem» oder «internationaler Ordnung». Im 20. Jahrhundert bietet die international immer einheitlicher organisierte und auf universale Qualitätsmaßstäbe und Wettbewerbsparameter (Preise, Rankings) bezogene Wissenschaft erstmals eine globale Ordnung der Wissensproduktion. Sie aber fällt nach allgemeiner Übereinkunft in die Domäne der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, nicht in die der Ideengeschichte.[26]

 

 

 

  1 Liu Xingjian/Hong Song/Liu Yaolin: A Bibliometric Analysis of 20 Years of Globalization Research, 1990–2009, in: Globalizations, Bd. 9. Nr. 2 (2012), S. 199.

  2 Dies wurde bei S. N. Eisenstadt und anderen Autoren unverzüglich im Theorem der «multiplen Moderne(n)» gefasst. Vgl. Thomas Schwinn: Multiple Modernities. Konkurrierende Thesen und offene Fragen. Ein Literaturbericht in konstruktiver Absicht, in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 38, Nr. 6 (2009), S. 454–476.

  3 Vgl. zur Übersicht: David Held/Anthony McGrew (Hg.): Globalization Theory. Approaches and Controversies, Cambridge 2007; Ulf Engel/Matthias Middell (Hg.): Theoretiker der Globalisierung, Leipzig 2010; Andrew Jones: Globalization. Key Thinkers, Cambridge/Malden, MA 2010. Das bis heute beste Lehrbuch erschien am Ende des Jahrzehnts als Summe dieser Pionierphase der Konzeptualisierung: David Held u.a.: Global Transformations. Politics, Economics and Culture, Cambridge 1999.

  4 Vgl. etwa Gustavo Lins Ribeiro/Arturo Escobar (Hg.): World Anthropologies. Disciplinary Transformations within Systems of Power, Oxford/New York 2006.

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