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Ulrike Jureit | Nikola Tietze (Hg.)

Postsouveräne Territorialität

Die Europäische Union und ihr Raum

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2015 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-642-2

© 2015 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-287-5

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns

Satz aus Stempel Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Ulrike Jureit | Nikola Tietze

Postsouveräne Territorialität. Eine Einleitung

I. Europäischer Raum: Visionen – Begriffe – Ordnungskonzepte

Achim Landwehr

Im Zoo der Souveränitäten. Oder: Was uns die Präsouveränität über die Postsouveränität lehren kann

Susanne Rau

Einheit Europa? Visionen und Figuren der Vormoderne

Nikola Tietze

»Räume und Träume«: Ordnungsimaginationen in der Europäischen Union

II. Wachsende Räume und regulierte Nachbarschaften. Die Europäische Union und ihre Erweiterungslogiken

Jochen Kleinschmidt

Europäische Raumsemantiken. Überlegungen zu einem post-geopolitischen Selbstverständnis

Ulrike Jureit

Wachsender Raum? Die Europäische Union kommentiert ihre territorialen Erweiterungen

Steffi Marung

Die wandernde Grenze. Territorialisierungsentwürfe nach der EU-Osterweiterung 2004

III. Innen und Außen: Grenzkonstellationen im erweiterten Europa

Lena Laube

Postsouveräne Räume: Makroterritorien und die Exterritorialisierung der europäischen Grenzpolitik

Tobias Chilla

Grenzüberschreitende Verflechtung – ein Fall von postsouveräner Raumentwicklung?

Sebastian M. Büttner

Mobilisierte Regionen. Zur Bedeutungsaufwertung des subnationalen Raums in einem erweiterten Europa

IV. Europäischer Superstaat? Facetten einer räumlichen Transformation

Jens Wissel | Sebastian Wolff

Die Europäische Union als multiskalares Staatsapparate- Ensemble. Zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Regulation und strategischer Raumproduktion

Monika Eigmüller

Die Entwicklung des europäischen Rechtsraums als sozialpolitischer Anspruchsraum: Raumdimensionen der EU-Sozialpolitik

Petra Deger

Die Europäische Union als Gestaltungsraum – Postsouveräne Territorialität oder das Ende moderner Staatlichkeit?

Zu den Autorinnen und Autoren

Zu den Herausgeberinnen

Ulrike Jureit | Nikola Tietze

Postsouveräne Territorialität. Eine Einleitung

Im Zuge der Ausdifferenzierung von globalen Märkten, von digitalen Kommunikationsformen und transnationalen Verflechtungsdynamiken scheint die territoriale Ordnung von Staaten mehr und mehr an Bedeutung zu verlieren. Umso erstaunlicher ist es, dass im Rahmen soziologischer, politikwissenschaftlicher sowie historischer Forschungen zum Wandel von Staatlichkeit in der (Post-)Moderne meistens der Souveränitätsbegriff im Mittelpunkt von Theorie- und Konzeptionalisierungsanstrengungen steht, während die Interdependenz zwischen postsouveräner Staatlichkeit und territorialer Ordnung weitgehend unberücksichtigt bleibt.1 An dieser Schnittstelle, das heißt am gegenwärtig zu beobachtenden Wandel von Souveränitätsansprüchen, Staatlichkeitstheorien und räumlichen Ordnungskonzepten, setzen die insgesamt zwölf Beiträge dieses Bandes an. Sie fokussieren im Kontext der fortschreitenden Europäisierung einen signifikanten Veränderungsprozess, durch den sich nicht nur individuelle Rechtsansprüche und Zugangsbedingungen zu Märkten und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen gravierend verändern, sondern durch den vor allem regionale, nationale und supranationale Zugehörigkeiten variiert und anders konfiguriert werden. Denn mit dem Konzept der Postsouveränität, also der Vorstellung einer geteilten, sich überlappenden und damit nicht mehr klassisch-autonomen Souveränität, stellt sich die Frage der territorialen Verfasstheit von Ordnungssystemen und damit auch die der jeweiligen Zugehörigkeitskonzepte faktisch neu. Bisherige, vor allem nationalstaatlich verfasste Angebote, werden immer stärker »supranational übergangen oder ethnisch-regional unterlaufen«2, ohne dass diese Verformungen politisch bewusst gestaltet oder gar wissenschaftlich hinreichend reflektiert werden. An die Stelle klassisch-territorialer Differenzmarkierungen treten indes immer häufiger »invisible frontiers«, die eben nicht mehr nur auf herkömmlichen Raumparametern, sondern auf institutionalisierten, regulatorischen Verfahren innerhalb und jenseits der nationalstaatlichen Ordnungen beruhen. Inwiefern Zugehörigkeit, Letztinstanzlichkeit und Herrschaftsmonopol in politischen Systemen wie dem der Europäischen Union überhaupt noch territorial zu denken sind, stellt eine bisher allenfalls aufgeworfene, aber keineswegs hinreichend analysierte Forschungsfrage dar, und das, obgleich supranationale Systeme wie die Europäische Union nationalstaatliche Territorialkonzepte nachhaltig konterkarieren. Folglich kann Territorialität in solchen supranationalen Gefügen nicht mehr auf gleiche Weise oder zumindest nicht mehr uneingeschränkt als räumliches Organisationsprinzip und damit als ein Kernelement staatlicher Souveränität definiert sein. Möglicherweise hat Territorialität als konstitutives Element europäischer Souveränitätskonzepte sogar ausgedient oder bleibt als völkerrechtliches Anerkennungselement nur noch materieller Bestandteil einer nunmehr »pooled and shared sovereignity«3.

Dieser Sammelband greift das in der Forschung bisher allenfalls grob skizzierte Themenfeld Postsouveräne Territorialität auf und zielt darauf, es sowohl theoretisch wie auch empirisch zu erschließen. Die insgesamt zwölf Beiträge markieren dabei durchaus unterschiedliche, aus verschiedenen Fachdisziplinen hergeleitete Analyseperspektiven, mit denen das Thema am Beispiel der Europäischen Union systematisch ausgelotet und vermessen wird. Der europäische Schwerpunkt ist nicht nur aufgrund aktueller Integrationsdebatten und Krisenszenarien eine Herausforderung, ihm liegt darüber hinaus die Annahme zugrunde, dass es ein spezifisch europäisches Verständnis von Raum und Territorium gibt, mit dem gemeinhin soziale Prozesse fixiert, politische Zugehörigkeiten definiert sowie Herrschafts- und Gültigkeitsräume gerahmt werden. Dieses spezifische Verständnis wird auch im Zuge der europäischen Integrations- und Erweiterungspolitik immer wieder sichtbar, denn schließlich stellt der Raumbegriff schon seit Längerem ein zentrales Element im Selbstverständnis der Europäischen Union (EU) dar. So dient er unter anderem dazu, die Rechtsbeziehungen zwischen den EU-Bürgern wie auch deren Verhältnis zu den EU-Institutionen zu beschreiben. Folglich fasst die EU-Kommission ihre Politik im Hinblick auf die Grundrechtsgarantie, die Justiz und innere Sicherheit unter dem Titel Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zusammen.4 Darüber hinaus beruhen die EU-Grundfreiheiten – die Freiheit des Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs – unweigerlich auf der Vorstellung eines Raums, der die Hoheitsgewalten der EU-Mitgliedstaaten überwölbt, der als »Raum ohne Binnengrenzen« Freizügigkeit ermöglicht und die voneinander abgegrenzten nationalstaatlichen Territorien miteinander verbindet.

Gleichzeitig ruft der Raumbegriff historisch gewachsene Semantiken auf. Denn anders als der englische Terminus area ist Raum seit der Frühen Neuzeit mit einem Territorialisierungsprozess assoziiert, der im Zuge der europäischen Nationalstaatsbildung nach dem Dreißigjährigen Krieg zwar erst allmählich an Wirkungs- und Gestaltungskraft gewann, der aber schließlich im 19. Jahrhundert zu der entscheidenden Semantik nationaler Gemeinschaftsbildung avancierte.5 Seither gehört es zur Grundausstattung europäischen Staatsverständnisses, dass der nationale Staat nicht ein Territorium besitzt, sondern aus einem solchen besteht. Dabei herrscht die Auffassung vor, dass das Staatsgebiet nicht nur für die Existenz eines Staates unabdingbar sei, sondern »ein Moment am Staatssubjekt« selbst darstelle. Das »Sein des Staates selbst, nicht das Haben einer ihm zugehörigen Sache erzeugt den Anspruch auf Respektierung des Gebietes«.6 Georg Jellinek bezieht sich dabei zustimmend auf Hugo Preuß: »Eine Verletzung des Reichsgebiets ist eine Verletzung des Reichs selbst, nicht eines Besitzobjektes desselben, sie entspricht gewissermaßen einer Körperverletzung, nicht einem Eigentumsdelikt.«7 Während noch bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts die Auffassung anzutreffen war, ein Staat könne – zumindest theoretisch – sein Gebiet verlassen und gewissermaßen umziehen, galt dieser spätestens um die Jahrhundertwende staatsrechtlich als sesshaft. Mit anderen Worten: Der Staat hat nicht ein Staatsgebiet oder herrscht über ein solches, sondern er ist ein Staatsgebiet. Mit dieser eben nicht mehr sachlichen, sondern personalen Rechtskonstruktion wird zudem die negative völkerrechtliche Funktion begründet: Aus der räumlichen Integrität des Staates und seiner Persönlichkeit folgt der »Anspruch auf Unterlassung aller sie rechtswidrig schädigenden Handlungen fremder Staaten«.8 Die Gleichzeitigkeit von europäischen Territorialisierungs- und Staatsbildungsprozessen einerseits und der Karriere einer politischen Raumsemantik andererseits, die zumindest in Teilen Europas am institutionellen Flächenstaat orientiert war, führte schließlich nicht nur zu einer begrifflich kaum noch zu differenzierenden Verschmelzung von Nationalstaat und Territorium, sondern auch zu Zugehörigkeitskonstruktionen, die jenseits ihres ethnischen, völkischen oder rassischen Gemeinschaftsversprechens eben auch räumlich konnotiert waren und sind.

Neben diesem nationalstaatlichen Territorialverständnis existiert ein weiteres, nicht weniger einflussreiches Raumkonzept, das sich – selbstverständlich nicht ohne Bezüge zum Nationalstaat – aus den imperialen Traditionen des europäischen Herrschaftsverständnisses entwickelte. Bei aller Unterschiedlichkeit der zum Beispiel britischen, habsburgischen oder osmanischen Imperialarchitektur und ihrer zudem in Größe und Struktur erheblich divergierenden Kolonialreiche formierte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Verständnis von politischen Großräumen, das jenseits oder in Erweiterung nationalstaatlicher und imperialer Verfasstheit europäische Herrschaft ordnete, strukturierte und hierarchisierte. Vor allem im und nach dem Ersten Weltkrieg stabilisierte sich international ein weltpolitisches Ordnungsdenken, das vor allem im »Großraum« die effektivste Form territorialer Herrschaft identifizierte.9 Ob ökonomisch, militärisch oder kulturell – in der Eroberung, Besiedlung oder zumindest doch politischen Beherrschung von Großräumen lag fortan für diejenigen Staaten, die auf längere Sicht zu den weltpolitisch einflussreichsten Kräften zählen wollten, die politische Herausforderung. Für das 20. Jahrhundert avancierte supranationale Großraumpolitik zum zentralen Ordnungsmodell. Während das 19. Jahrhundert ein Zeitalter der europäischen Großmächte mit spezifischen Diplomatie- und Bündnispolitiken wie auch mit ihren imperialen Herrschaftsformen darstellte, wurde Weltpolitik nach dem Ersten Weltkrieg in allen politischen Lagern zunehmend in Großräumen gedacht und konzipiert. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehenden Begrifflichkeiten, Konzepte und Modelle solcher Großraumtheorien können als zeitgenössische Antworten auf tiefgreifende Veränderungen globaler Machtbalancen begriffen werden: Hierzu zählte erstens der Zerfall imperialer Systeme wie des Habsburger und des Osmanischen Reiches, hierzu zählte zweitens der Aufstieg neuer Nationalstaaten mit globalen politischen, ökonomischen und/oder kulturellen Führungsansprüchen (wie zum Beispiel der USA), hierzu zählte drittens die Ausbildung globaler Wirtschaftsstrukturen, mit denen sich jenseits politischer Territorialitätsordnungen ökonomische Herrschaft in großräumlichen Einheiten etablierte und der »Markt«, vor allem der »Weltmarkt« als räumliche Ordnungsform wie auch als politische Bezugsgröße, an Relevanz gewann, und hierzu zählte viertens der bis weit nach 1945 andauernde Dekolonisierungsprozess, der mit Verweis auf das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« weltweit eine enorme Durchschlagskraft erlangte. Großraumtheorien lebten in gewisser Weise von der Konkursmasse imperialer Herrschaftsgefüge wie auch von der globalen Ökonomisierung internationaler Verflechtungen, ihre sowohl wissenschaftlichen wie auch politischen Protagonisten verfolgten dabei vornehmlich das Ziel, das beginnende Zeitalter der Nationalstaaten mit supranationalen Ordnungsentwürfen zu flankieren.

Im Ergebnis zeigt sich, dass das spezifisch europäische Raumverständnis sowohl regionale, nationalstaatliche wie auch globale Momente umfasst, die gegenwärtig auf eine eigenwillige Mischung aus weltgesellschaftlichen Globalisierungs- und nationalen Beharrungsdynamiken treffen. Begrifflich muss hier allerdings klar unterschieden werden: Die Europäische Union ist weder Imperium noch Nationalstaat. Sie ist heute ein aus 28 Mitgliedsstaaten bestehender Zusammenschluss, der sowohl auf der territorialen Verfasstheit seiner Einzelstaaten fußt als auch eine auf »geteilter Souveränität« beruhende Ordnung darstellt.10 Ihr Raum ist somit doppelt verankert: zum einen in der einzelstaatlichen Territorialität, die für bestimmte Politikfelder weiterhin den alleinigen Referenzrahmen bildet, zum anderen in einem supranationalen Gebilde, das sich durch vertraglich abgetretene Souveränitätsrechte und durch staatsübergreifende regulatorische Verfahren konstituiert, das jedoch territorial über keinen anderen Raum als denjenigen verfügt, der sich aus der Summe nationaler Staatsgebiete ergibt. Gleichzeitig ist es ein strukturelles Kernelement dieses europäischen Raumes, dass sich in ihm national wie supranational garantierte Herrschafts- und Souveränitäts- wie auch gewährleistete Rechts- und Solidaritätsansprüche überlagern. Aus dieser räumlichen Grundfigur ergeben sich folgende forschungsleitende Prämissen: Jenseits des unergiebigen Streits darüber, wie groß Europa ist oder sein sollte, erscheint es ergiebiger zu fragen, welche territorialen Leitbilder für die Europäische Union konstitutiv waren beziehungsweise bis heute noch sind. An welchen Modellen supranationaler Verfasstheit orientierte und orientiert sich die EU sowohl hinsichtlich ihrer Herrschaftsarchitektur als auch bezüglich ihres Selbstverständnisses? Welche ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Handlungsrationalitäten folgen aus einer räumlichen Konstituierung, die sich sowohl von imperialen wie auch von nationalstaatlichen Verfasstheiten gelöst hat, sie aber letztlich nicht vollständig aufgibt? Welche Konsequenzen ergeben sich aus einer solchen territorialen Konstruktion für das Verständnis der Binnen- wie auch der EU-Außengrenzen? Wie transformiert sich nicht nur der Nationalstaat selbst innerhalb eines solchen supranationalen Systems, sondern wie lässt sich Territorialität angesichts dieser spezifischen räumlichen Figuralität überhaupt denken?

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes verfolgen das Ziel, diesen und weiteren Fragen nach dem territorial-räumlichen Überlagerungsgeschehen, das in mancherlei Hinsicht den Vergleich mit frühneuzeitlichen Herrschafts- und Zugehörigkeitsarchitekturen anregt, historisch wie gegenwartsdiagnostisch nachzugehen und seine Implikationen für die Selbstbeschreibungen der Europäischen Union zu analysieren. Angesichts der seit Jahrhunderten gewachsenen und sich bis heute wandelnden Räume in Europa ist es naheliegend, das, was wir uns angewöhnt haben, den europäischen Raum zu nennen, zunächst einmal historisch zu vermessen. Dabei soll es in dem hier zu diskutierenden Kontext weniger darum gehen, die bereits detailliert erforschte politische Geschichte Europas darzulegen oder die spezifischen Entwicklungsdynamiken der Europäischen Union ereignis- und politikgeschichtlich zu rekonstruieren.11 Raumtheoretisch ist vielmehr die Überlegung relevant, welche Konzepte und Traditionen für ein europäisches Raumverständnis struktur- und handlungsleitend waren und bis heute sind, beziehungsweise welche räumlichen Bilder, Vorstellungen und Konzepte zum Kernbestand des europäischen Selbstverständnisses gehören. Definiert man die Europäische Union vor allem als ein supranationales Gefüge, in dem sich regionale, nationalstaatliche wie auch postsouveräne Raumbezüge überlagern, dann drängt sich ein vergleichender Blick mit der Vormoderne nahezu auf, nicht um sich an präsouveränen Europaideen zu erfreuen oder um vermeintlich defizitäre Vorläufermodelle zu identifizieren, sondern um den Blick für die Vielfalt von verfügbaren Souveränitäts- und Territorialkonzepten und ihren jeweils spezifischen Handlungslogiken zu schärfen. Achim Landwehr erzählt genau aus diesen Gründen eine andere Geschichte der Souveränität(en), die nicht einfach vormoderne Ordnungen mit der Gegenwart des 21. Jahrhundert kurzschließt, sondern umgekehrt die Pluralität frühneuzeitlicher Souveränitäts- und Territorialitätsmodelle ausbreitet und ihre historisch signifikanten Uneindeutigkeiten der gegenwärtigen Diskussion über Souveränität gegenüberstellt. Postsouveräne Territorialität erscheint vor dem Hintergrund einer nicht auf bestimmte (nationalstaatlich-autonome) Souveränitätsvorstellungen fixierten Betrachtung als eine historisch gewachsene, wenn auch durchaus einzigartig komplexe Raumkonstellation, die sich weder mit präsouveränen Konzepten gleichsetzen noch ohne sie hinreichend analysieren lässt. Wie ergiebig ein methodisch reflektierter Vergleich ausfallen kann, zeigt auch der Beitrag von Susanne Rau. Sie konkretisiert die historische Perspektive anhand von vormodernen Einheitsvorstellungen über Europa, die seit dem 15. Jahrhundert entstanden und die – nicht anders als heute – ebenso vielfältig wie widersprüchlich ausfielen. Die zahlreichen Versuche, Europa als Einheit zu imaginieren, verweisen weniger auf einen – wie auch immer – definierten natürlichen Zusammenhang des Kontinents, sondern umgekehrt auf die allzu offensichtlichen Unterschiede und Heterogenitäten, die durch europäische Zugehörigkeitskonstruktionen wie auch durch räumliche Ordnungskonzepte gerade überwunden werden sollten. Historisch erweist es sich daher als ergiebig danach zu fragen, wann und von wem mit welchen Zielen welche Raumkonzepte konzipiert, idealisiert oder in Anspruch genommen wurden. Hinsichtlich der europäischen Integration ginge es dann zunächst darum, sich dem historischen Moment anzunähern, in dem sich das, was wir heute Europäische Union nennen, zu formieren begann. Dieser Moment scheint vor allem durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, durch sicherheitspolitische Überlegungen (insbesondere gegenüber Deutschland) sowie durch die großräumliche Blockbildung des Kalten Krieges gekennzeichnet gewesen zu sein. In diesem Koordinatensystem konfiguriert sich ein Europa, das den Nationalstaat zwar einerseits überwinden, ihn andererseits jedoch als politisches und ökonomisches Kern- und Sicherungselement bewahren und in ein supranationales System integrieren will.12 Nikola Tietze analysiert dieses Wechselspiel im Rahmen eines historischen Streifzuges durch fünfzig Jahre europäische Einigungs- und Vertragsgeschichte. Zwischen den Römischen Verträgen (1957) und dem Vertrag von Lissabon (2007) identifiziert sie einen mehrstufigen Integrationsprozess, der sich nicht nur, aber doch konstitutiv räumlicher Semantiken bediente. Zwischen dem »Raum ohne Binnengrenzen« (1986) und dem gegenwärtigen »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes« (1999/2007) vertieft sich nicht nur die ökonomische, politische und administrative Vergesellschaftung unter den EU-Mitgliedsstaaten, die Europäische Union stützt darüber hinaus mit diesen und zahlreichen daraus abgeleiteten Raumbildern ein politisches Ordnungssystem ab, in dem sich postterritoriale Handlungszusammenhänge konstituieren und fortschreiben.

Der historische Abriss führt unweigerlich zu der Herausforderung, mit welchen Begriffen sich supranationale Systeme wie die Europäische Union raumtheoretisch überhaupt beschreiben lassen. Dekliniert man die für solche Herrschaftskonstellationen verfügbaren Modelle durch, zeigt sich relativ schnell, dass klassische Konzepte wie Empire, Imperium, Staatenbund oder Bundesstaat der Komplexität von postsouveränen Herrschaftsordnungen kaum gerecht werden und sich damit allenfalls noch Teilaspekte zutreffend kategorisieren lassen. Jochen Kleinschmidt betont daher in seinem Beitrag die Vielfalt räumlicher Selbstbeschreibungen, die im Rahmen europäischer Integrations- und Identitätsdiskurse regelmäßig aufgerufen werden. Dieser scheinbaren Beliebigkeit liegt seiner Meinung nach eine strukturelle Mehrfachidentität zugrunde, die für die Darstellung des Eigenen stets auf alteritäre Raumsemantiken angewiesen bleibt. Diesem vor allem historisch begründeten Dilemma begegnet die Europäische Union mit räumlichen Selbstbeschreibungsformeln, die zwar bewusst »anti-geopolitisch« ausfallen, die aber gerade wegen dieser negativen Verklammerung den in geopolitischen Semantiken eingelagerten Determinismus und Antipluralismus latent halten. Ein Selbstverständnis, das sich zu einem erheblichen Teil aus der Negation konfliktorientierter Herrschaftsmodelle herleitet, hat paradoxerweise zur Konsequenz, ihre binären Codierungen zu übernehmen und sie trotz ihrer historischen Kontaminierung fortzuschreiben. So erweist sich beispielsweise die Hintergrundannahme von wachsenden Räumen für die EU-Erweiterungspolitiken als elementar und löst aufgrund ihres historischen Horizonts unweigerlich Irritationen aus, auch wenn Brüssel nicht müde wird zu betonen, dass es Wachstum hier nicht im Sinne kolonialer Eroberungen verstanden wissen will. Ulrike Jureit analysiert in ihrem Beitrag solche im Rahmen der EU-Erweiterungsprozesse verwendeten Wachstumssemantiken und fragt nach ihren historischen Bedeutungszusammenhängen und Handlungsrationalitäten. Dabei erweist es sich für die Selbstdarstellungen der EU als konstitutiv, solche Raumkonzepte einerseits aufzugreifen und für das eigene Selbstverständnis in Anspruch zu nehmen, sie gleichzeitig aber durchbrechen zu wollen, um sie mit anderen Bedeutungsinhalten aufzuladen. Wachstumssemantiken eignen sich für ein solches Vabanque-Spiel besonders schlecht. Sie sind bekanntermaßen historisch heikel, nicht nur weil sie imperiale Traditionen aufrufen, sondern weil sie mit Großraumtheorien assoziiert sind, die im gegenwärtigen europäischen Identitätsdiskurs ohnehin intensiv und kontrovers diskutiert werden. Analytisch ist es vor diesem Hintergrund überaus ertragreich, europäische Erweiterungs- und Integrationspolitiken nicht nur semantisch, sondern eben auch konkret als Prozesse der Grenzverschiebungen in den Blick zu nehmen. Steffi Marung erzählt eine solche Geschichte vom Wandel einer Grenze. Sie tut dies am Beispiel der EU-Ostgrenze, ist es doch vor allem diese Außengrenze, die in den letzten Jahren in Bewegung geraten ist und das Selbstverständnis der Europäischen Union signifikant verändert hat. Mithilfe mehrerer Perspektivwechsel macht die Autorin deutlich, dass nicht nur in Brüssel, sondern auf zahlreichen Ebenen und unter Mitwirkung verschiedenster Akteure, sei es in Warschau, Lublin oder L’viv, über das verhandelt wurde, was mittlerweile als erweiterter EU-Raum gilt. Die Autorin identifiziert den Prozess der Osterweiterung somit nicht nur als markante Grenzverschiebung, sondern beschreibt die gleichzeitige Etablierung eines umfassenden EU-Grenzregimes, das einerseits auf gemeinsam verwalteten Außengrenzen, andererseits auf der Errichtung und Überformung von »Ergänzungsräumen« basiert, wie sie unter anderem seit 2002 im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) konzipiert und institutionalisiert werden.

Für die europäische Erweiterungs- und Integrationspolitik hat es sich als grundlegend herausgestellt, dass die zwischenstaatlichen Verträge, aus denen der gegenwärtige EU-Raum hervorgegangen ist, von vornherein eine Logik der räumlichen Erweiterung wie auch eine Logik der politischen Vertiefung vorsahen und der gesamte Europäisierungs- und Institutionalisierungsprozess bis heute zwischen diesen beiden Herausforderungen hin- und herschwankt. Die räumlichen Besonderheiten des EU-Raumes manifestieren sich dabei vor allem an seinen Grenzen. Die Europäische Union unterhält weder Binnen- noch Außengrenzen, die sich im klassischen Sinne als nationalstaatlich bezeichnen lassen, vielmehr wird die Abschottung und Durchlässigkeit des Raumes jenseits der äußeren Markierungen durch institutionalisierte, regulatorische Verfahren gewährleistet, die in der konventionellen Vorstellung einer territorialen Umschließung nicht mehr aufgehen. Lena Laube demonstriert eindrucksvoll, dass postsouveräne Territorialität nicht nur veränderte Grenzregime gegenüber Drittstaaten hervorbringt, sondern dass die verschärfte Kontrolle der EU-Außengrenzen zudem flankiert wird durch eine Grenz- und Sicherungspolitik, die zunehmend strategisch wichtige Orte außerhalb des Makroterritoriums einbezieht. Exterritoriale Mobilitätssteuerung heißt die Strategie, die sich für postsouveräne Grenzkonstellationen, wie sie die Europäische Union mittlerweile unterhält, als handlungsleitend herauskristallisiert. Sie erzwingt nicht nur eine europäische Verständigung über Asyl-, Flüchtlings- und Migrationsfragen, sie impliziert auch Kooperationen mit denjenigen Herkunfts- und Transitstaaten, auf deren Territorium exterritoriale Kontrollen durchgeführt werden. Während sich Lena Laube mit veränderten Praktiken der Grenzsicherung nach außen auseinandersetzt, konzentriert sich Tobias Chilla auf die grenzüberschreitende Verflechtung innerhalb der Europäischen Union. Begrifflich favorisiert er für die Identifizierung postsouveräner Territorialitätslogiken das Konzept der »soft spaces«, mit dem sich am ehesten die Gleichzeitigkeit verschiedener Raumbezüge im Mehrebenensystem wie auch die Komplexität der mittlerweile etablierten Instrumentarien grenzüberschreitenden Regierungshandelns erfassen lassen. Auch wenn in der Praxis damit eine gewisse Aushöhlung des Territorialitätsprinzips einherzugehen scheint, bleibt festzustellen, dass die Raumbezüge europäischen Ordnungshandelns zwar deutlich komplizierter, nicht aber unbedingt schwächer werden. Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass jenseits der nationalstaatlichen und supranationalen Ebene andere politische Raumeinheiten wie zum Beispiel regionale Gebietskörperschaften an Einfluss gewinnen. Sebastian Büttner untersucht die subnationalen Regionen als Orte der Um- und Durchsetzung einer europäischen Kohäsionspolitik, wie sie seit 1989 systematisch verfolgt wird. Sie versteht sich als regionalpolitische Initiative, die vornehmlich darauf zielt, die »Entwicklungsunterschiede« zwischen Regionen und Mitgliedsstaaten durch gezielte strukturpolitische Maßnahmen zu verringern. Europäische Kohäsionspolitik erweist sich aufgrund der mit ihr forcierten lokalen und grenzüberschreitenden Handlungszusammenhänge zugleich als ein spezifisches Instrumentarium postsouveräner Territorialisierungspolitik, das allerdings wegen seines zweifelhaften Kosten-Nutzen-Verhältnisses und der insgesamt diffusen Zielvorgabe, Europa durch ökonomischen Ausgleich territorial harmonisieren zu wollen, durchaus strittig ist.

Insgesamt wird deutlich, dass die Europäische Union überlieferte Raumbegriffe und verfügbare, vor allem nationalstaatliche Raumkonzepte aufgreift und variiert. Gleichzeitig wird jedoch erkennbar, dass der EU-Raumbegriff keinen geschlossenen Rechtsraum im nationalstaatlichen Sinne beschreibt, sondern als Ordnungs-, Kommunikations- und Beobachtungsform verstanden werden kann, die es erlaubt, Alteritäten zu markieren, Zugehörigkeiten neu zu bewerten, EU-spezifische Handlungszusammenhänge zu institutionalisieren sowie die durch das Mehrebenensystem entstehenden Verfahrensdefizite auszugleichen. Fragt man also nach dem Raum der Europäischen Union, gerät unweigerlich ein Verflechtungsgeschehen in den Blick, das immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von Nationalstaat und supranationalem System berührt beziehungsweise die Transformation nationalstaatlicher Funktionssysteme vor Augen führt. Jens Wissel und Sebastian Wolff greifen die seit den 1990er Jahren geführte Debatte über den Wandel von Staatlichkeit auf und lenken den Blick auf die räumlichen Dimensionen dieses Transformationsgeschehens. Im Zentrum steht dabei die Entstehung eines multiskalaren Staatsapparate-Ensembles, in dem Akteure und Institutionen auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen miteinander verknüpft und in ein kooperativ-kompetitives Verhältnis gesetzt werden. Dabei zeigt sich, dass dieser Umbau keineswegs eine einseitige Aufwertung der europäischen Ebene auf Kosten der Mitgliedsstaaten zur Folge hat, sondern sich das europäische Staatsprojekt quasi durch die Nationalstaaten hindurch ins Werk setzt. Die Autoren sehen in der multiskalaren Form von Staatlichkeit die Grundlage für die fortschreitende Aushebelung demokratischer Prozesse, die sich im Zuge der europäischen Verschuldungs-, Wirtschafts- und Finanzkrise dramatisch fortsetze und die Ausbildung autoritärer Herrschaftsformen begünstige. Fakt ist sicherlich, dass seit dieser Krise besonders intensiv und besonders kontrovers über die Herausforderungen einer europäischen Sozialpolitik gestritten wird. Monika Eigmüller zeigt in ihrem Beitrag, wie sich die historisch gewachsene Interdependenz von Wohlfahrtsstaatlichkeit und nationalem Territorium im Zuge der fortschreitenden Europäisierung gravierend verändert hat. Aufgrund der zunehmenden politischen Verflechtung sehen sich die EU-Mitgliedsstaaten derzeit einer räumlichen Entgrenzung ihrer sozialen Sicherungssysteme gegenüber, da sie über einige fundamentale Prinzipien sozialpolitischer Gewährleistung nicht mehr souverän entscheiden. Der Sozialraum Europa entwickelt sich zu einem sozialpolitischen Anspruchsraum, der die nationalen Systeme zwar nicht ersetzt, sie aber sehr wohl ergänzt und gerade dadurch verändert. Gleichzeitig befördern diese postsouveränen Anspruchslogiken supranationale Vergesellschaftungsprozesse, und das vor allem dann, wenn die Unionsbürgerschaft mit sozialen Rechten gegenüber der europäischen Ebene verknüpft wird und sich so neue Rechtsverhältnisse unter Umgehung der nationalstaatlichen Ebene ausbilden. Auch Petra Deger knüpft mit ihrem Beitrag an die Debatte über den Wandel von Staatlichkeit an und beleuchtet diese Transformation hinsichtlich des Verhältnisses von Souveränität und Territorialität. Die Autorin benennt vor allem zwei Mechanismen, die sie als Kernelemente europäischer Staatlichkeit verstanden wissen will: Zum einen vertieft sich die europäische Integration durch die Ausgestaltung einheitlicher Verfahren in immer mehr Politikfeldern, zum anderen konstituiert sich eine signifikante Beziehung zwischen Unionsbürgern und der EU, die durch die Gewährleistung individueller Schutzrechte gegenüber dem jeweils eigenen Nationalstaat gekennzeichnet ist. Souveränitätsgewinner ist hier in erster Linie der EU-Bürger, der zur Durchsetzung seiner Individualschutzrechte auf EU-Richtlinien rekurrieren kann, auch und vor allem dann, wenn er seine Ansprüche an einen EU-Mitgliedstaat adressiert, dessen Staatsbürgerschaft er nicht besitzt.

Trotz der fachlich eigenständigen und naheliegenderweise heterogenen Zugänge der einzelnen Beiträge dieses Bandes zeigt sich im Ergebnis, dass raumtheoretische Zugriffe überaus ertragreiche Strategien darstellen können, um das Selbstverständnis der Europäischen Union wie auch ihre Integrations-, Territorial- und Erweiterungspolitiken zu analysieren. Räumliche Darstellungsmuster dienen im europäischen Integrationsprozess generell dazu, territoriale Einheit zu imaginieren, soziale Unterschiede einzuebnen sowie neue Differenzen zu kennzeichnen. Raum erweist sich in diesen Zusammenhängen als eine hochfrequentierte Selbstbeschreibungsformel, die als Ordnungs-, Beobachtungs- und Kommunikationsform mithilfe der Differenz hier/dort gesellschaftsspezifische Unterscheidungen zu markieren erlaubt.13 In dieser Logik fungiert Raum immer wieder als Kontingenzunterbrecher und bedient in einem komplexen wie verworrenen Europäisierungsprozess das offenbar ungebrochene Verlangen nach Übersichtlichkeit, Ordnung und Struktur. Vor allem seit 2008 scheint die Rede vom »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« eine Art Bewältigungsstrategie darzustellen, die Komplexität reduzieren, Unsicherheiten einebnen und stabile Ordnungen suggerieren hilft. Geordnete Räume scheinen im globalen wie auch im europäischen Durcheinander – so eine treffende Formulierung von Marc Redepenning – »irgendwie immer glücklich zu machen«.14 Nicht nur historiografisch, sondern auch gegenwartsdiagnostisch gehört die Analyse von Territorialisierungsprozessen daher mittlerweile zu den zentralen Forschungsgegenständen einer raumtheoretisch fundierten Gesellschaftsanalyse. Raum im Sinne von Territorialität stellt in diesen Zusammenhängen den zentralen Begriff dar, mit dem sich eine Dimension von »Weltbindung« analytisch beschreiben lässt.15 Territorialisierungen sind demnach gesellschaftsspezifische Ordnungsprozesse, die in der Regel auf Identifizierung, Kontrolle und Herrschaft über einen mehr oder weniger metrisch definierten Raum zielen. Während damit üblicherweise makrosoziologische Herrschaftsordnungen wie Nationalstaat oder Imperium aufgerufen sind, eröffnet ein Forschungsansatz, wie er mittlerweile fachübergreifend im Sinne eines »making geography«16 diskutiert wird, die theoretische wie empirische Möglichkeit, supranationale Herrschaftsordnungen in ihren raumtheoretischen Logiken zu reflektieren. Die Europäische Union ist hierfür ein ebenso einzigartiger wie auch ertragreicher Forschungsgegenstand, bildet ihre strukturelle Ausdifferenzierung doch einen komplexen Wandlungsprozess ab, mit dem sich nicht nur Vorstellungen von Herrschaft, Souveränität und Staatlichkeit gravierend verändern, sondern mit dem sich darüber hinaus eine signifikante Raumkonstellation konstituiert, die wir Postsouveräne Territorialität genannt haben. Was lässt sich über diese spezifische Form der räumlichen Weltbindung bisher sagen?

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich trotz bestehender Forschungslücken einige Kernelemente benennen: Postsouveräne Territorialität ist weder Höhe- noch Endpunkt einer wie auch immer zu erzählenden Geschichte moderner Souveränitäten, sondern sie stellt eine historisch gewachsene, wenn auch bisher einzigartige Form kontinentaler Raumordnung dar, die sich im Zuge der europäischen Integration ausgebildet hat und die sich gegenwärtig (und mit durchaus offenem Ende) weiter fortschreibt. Geht man davon aus, dass eindeutige oder gar absolute Souveränitätsverhältnisse historisch allenfalls Ausnahmeerscheinungen sind und sich Souveränitätsverhältnisse im Allgemeinen eher in der Professionalität ihres Defizitmanagements unterscheiden, dann ist Postsouveränität kein Verlustmodell, sondern eine komplexe Variante bereits eingeübter wie auch neuartiger Mechanismen geteilter Herrschaftsausübung. Für die territoriale Konstellation der Europäischen Union erweist sich die vertraglich vereinbarte Übertragung und Auffächerung staatlicher Souveränitätsrechte (»pooled and shared souvereignity«) als ebenso konstitutiv wie die Verschränkung von lokalen, nationalstaatlichen und supranationalen Herrschafts- und Handlungsebenen. EU-Raumbilder wie beispielsweise der »Raum ohne Binnengrenzen«, der EURO-Raum oder der »Schengen-Raum«, generieren vielfältige postterritoriale Handlungszusammenhänge, die durch vereinheitlichte Verfahren in europäisch verzahnten Entscheidungs- und Handlungsstrukturen gekennzeichnet sind. Sie bringen in dieser Hinsicht zum einen EU-spezifische Institutionen, wie zum Beispiel die Generaldirektionen, die die Kompetenzbereiche der europäischen Exekutive gliedern, hervor. Zum anderen schaffen sie neuartige Handlungsbühnen, auf denen individuelle wie kollektive Akteure Interessen, Ideen und Rechte durchsetzen können. Europäische Staatlichkeit entsteht also vor allem dort, wo Souveränitäten geteilt, Hoheitsgewalten kombiniert und neue Akteure zur Durchsetzung europäischer Ordnungszusammenhänge institutionalisiert werden. Aufschlussreich ist dabei, wie sich Nationalstaatlichkeit gerade durch die Verklammerung mit supranationalen und lokalen Systemen verändert. Sie verliert vor allem ihre Exklusivität als Adressatin für grundrechtliche und sozialrechtliche Ansprüche. Nicht nur die Praxis geteilter Souveränitäten zeigt hier ihre Wirkungsmacht, auch verbleiben bestimmte Ordnungsfunktionen, wie beispielsweise die Generierung von Identitäts- und Herkunftsangeboten, in der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Uneindeutige oder konflikthafte Elemente in Identitätsbestandteilen werden auf diese Weise an die Mitgliedsstaaten delegiert oder können im Konfliktfall jederzeit (re)nationalisiert werden.

Postsouveräne Territorialität manifestiert sich darüber hinaus vor allem in der europäischen Erweiterungs-, Grenz- und Migrationspolitik. Während sich die EU einerseits von konfliktorientierten und geopolitisch aufgeladenen Selbst- und Fremdzuschreibungen nachdrücklich distanziert, erzeugt die Interdependenz von garantierter Freizügigkeit im Inneren und einer immer rigideren Abschottung nach außen genau jenen territorialen Grundkonflikt, den sie doch eigentlich zu überwinden hoffte. Die langjährige Strategie einer zwar nicht geopolitisch, wohl aber wertorientierten Expansionspolitik stößt seit 2007 sprichwörtlich an ihre Grenzen und ist mittlerweile einer Territorialisierungslogik gewichen, die vor allem Schadensbegrenzung betreibt und sich darum bemüht, die einst popularisierten Wachstumsdynamiken durch gezielte Nachbarschaftspolitiken halbwegs geräuschlos wieder stillzustellen. Grenzsoziologisch folgt aus dieser territorialen Umbruchssituation, dass sich die Konstituierung des EU-Raumes einerseits auf die Kontrolle der Außengrenzen konzentriert, andererseits jedoch strategisch wichtige Orte außerhalb des Makroterritoriums zunehmend einbezogen werden und sich Grenzpolitik dadurch räumlich erheblich flexibilisiert. Postsouveräne Territorialität konkretisiert sich hier wie auch im Rahmen subnationaler Förderungs- und Kohäsionspolitiken als grenzüberschreitendes Regierungshandeln, das vor allem durch eine Vielzahl von lokalen, nationalen und globalen Akteuren getragen, durch widersprüchliche und manchmal erstaunlich anpassungsfähige Interessenlagen beeinflusst sowie durch eine Gemengelage aus historischen und gegenwartsbezogenen Erfahrungshorizonten geprägt ist. Obgleich sich durch die Europäisierung von politischen Handlungskontexten das Territorialitätsprinzip gravierend verändert, werden die Raumbezüge politischen Ordnungshandelns in der Europäischen Union keineswegs schwächer, wohl aber komplexer. Territorialisierung ist weiterhin eine zentrale Strategie, mit der soziale Prozesse gerahmt, politische Zugehörigkeiten anerkannt sowie Herrschafts- und Gültigkeitsräume definiert werden, nur liegen die Zuständigkeiten hierfür nicht mehr nur bei einem, sondern bei einer Vielzahl von (nunmehr eingeschränkten) Souveränen, die sich mittlerweile gewissen Pooling-Effekten, wie beispielsweise der atemberaubenden Dynamisierung politischer Entscheidungs- und Handlungsabläufe, gegenübersehen. Das macht politische Handlungsabläufe weder transparenter noch demokratischer. Gerade weil sich nationalstaatliche Prinzipien der territorialen Ordnung nicht einfach auf eine supranationale Ebene übertragen lassen, bleibt der Europäisierungsprozess darauf verwiesen, eigene Formen von Staatlichkeit auszubilden. Das ist kein additiver Vorgang. Die Konflikte um eine europäische Sozialpolitik verdeutlichen die damit einhergehenden Umgestaltungen beispielhaft: Die Ausdifferenzierung europäischer Staatlichkeit vollzieht sich als umfassendes, sich früher oder später auf alle Ebenen staatlichen Handelns auswirkendes Transformationsgeschehen, das vor allem durch die Dichte seiner Austauschprozesse sowie durch die Angleichung politischer Verfahren vorangetrieben wird und das durch die Institutionalisierung postterritorialer Handlungszusammenhänge ordnungspolitische Stabilitäten sowie neue Rechtsverhältnisse zwischen Unionsbürgern und supranationaler Ebene erzeugt. Postsouveräne Territorialität erweist sich im Ergebnis als eine kontinentale Raumkonstellation, die europäische Ordnungszusammenhänge nicht nur rahmt, sondern Formen europäischer Staatlichkeit innerhalb und jenseits lokaler und nationalstaatlicher Systeme räumlich konstituiert.

 

1 Vgl. John W. Meyer u. a., »World Society and the Nation-State«, in: American Journal of Sociology 103, Nr. 1 (1997), S. 144–181; Stephan Hobe, »Der kooperationsoffene Verfassungsstaat«, in: Der Staat 37 (1998), S. 521–546; Neil MacCormick, Questioning Sovereignty. Law, State, and Nation in the European Commonwealth, Oxford 1999; Saskia Sassen, Territory, Authority, Rights, Princeton 2006; Aleksandra Lewicki, Souveränität im Wandel. Zur Aktualität eines normativen Begriffs, Münster 2006; Thomas Risse/Ursula Lehmkuhl, »Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 20–21 (2007), S. 3–9; Philipp Genschel/Bernhard Zangl, »Die Zerfaserung von Staatlichkeit und die Zentralität des Staates«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 20–21 (2007), S. 10–16.

2 Claus Leggewie, »Space – not time? Raumkämpfe und Souveränität. Skizzen zu einer ›Geopolitik‹ multikultureller Gesellschaften«, in: Transit (1994), Heft 7, S. 27–42, Zitat S. 27.

3 Lewicki, Souveränität im Wandel, S. 86.

4 Europäischer Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: http://europa.eu/legislation_summaries/institutional_affairs/treaties/lisbon_treaty/ai0022_de.htm [8. 9. 2014].

5 Während sich vor allem mit Benedikt Andersons Buch »Die Erfindung der Nation« der Nationenbegriff mit einer bemerkenswerten Durchschlagskraft dynamisierte, blieben Untersuchungen zur räumlichen Verfasstheit lange Zeit auf die rechtliche Vereinheitlichung zum Staatsgebiet konzentriert. Dieser Stillstand geriet erst in Bewegung, als Charles S. Maier in seinem ebenso instruktiven wie viel rezipierten Aufsatz Territorialität zum Schlüsselbegriff für die Periodisierung des letzten Jahrhunderts erklärte. Zwischen 1860 und 1970 habe – so Maier – Territorialität die Organisation von Gesellschaften so nachdrücklich geprägt, dass ihre fundamentale Rolle erst im Zuge der Globalisierung und der damit einhergehenden Transformation nationalstaatlicher Ordnung erkannt wurde. Dabei versteht Maier Territorialität nicht als zeitloses Attribut, sondern als historisch gewachsene Formation, die sich seit dem Westfälischen Frieden allmählich als europäisches Raumordnungsprinzip entwickelt habe. Ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts sieht Maier das Konzept der Territorialität nicht nur durch die Verfestigung von Grenzsystemen realisiert, sondern er will darunter auch eine neue Beschaffenheit nach innen verstanden wissen. Der politische Raum sei nun durch die Ausbildung einer zentralen Regierungsgewalt, durch industrielle Erschließung, Infrastrukturprojekte und Ressourcenabbau sowie durch den Aufstieg neuer Eliten anders »gefüllt« als jemals zuvor und habe sich erst aufgrund dieser neuen Qualitäten zu einem »identity space« entwickeln können. Territorialität »means simply the properties, including power, provided by the control of bordered political space, which until recently at least created the framework for national and often ethnic identity«. Vgl. Charles S. Maier, »Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era«, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807–831.

6 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1914), 3. Auflage, Berlin 1929, S. 397.

7 Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften (Berlin 1889), S. 394, zit. n. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 398, Anmerk. 1.

8 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 397.

9 Vgl. Werner Köster, Die Rede über den »Raum«. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts, Heidelberg 2001; Rüdiger Voigt (Hg.), Großraum-Denken. Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung, Stuttgart 2008.

10 MacCormick, Questioning Sovereignty.

11 Hierzu beispielhaft: Wilfried Loth, Der Weg nach Europa, Göttingen 1990.

12 Alan S. Milward, The European Rescue of the Nation-State, London 1992.

13 Diese Formulierung in Anlehnung an: Marc Redepenning, Wozu Raum? Systemtheorie, Critical Geopolitics und raumbezogene Semantiken, Leipzig 2006. Zur sozialwissenschaftlich/gesellschaftsanalytisch orientierten Geografie vgl.: Robert David Sack, Conceptions of Space in Social Thought. A Geographic Perspective, Minneapolis 1980; Benno Werlen, Gesellschaftliche Räumlichkeit, 2 Bde., Stuttgart 2009; ders., Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, 2 Bde., Stuttgart 1995 und 1997.

14 Marc Redepenning, »Eine selbst erzeugte Überraschung: zur Renaissance von Raum als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn – Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 317–340, hier: S. 333.

15 Benno Werlen, Gesellschaft und Raum: Gesellschaftliche Raumverhältnisse. Grundlagen und Perspektiven einer sozialwissenschaftlichen Geographie, in: Erwägen – Wissen – Ethik 24 (2013), Heft 1, S. 3–16.

16 Ebenda, S. 11.

I. Europäischer Raum:
Visionen – Begriffe – Ordnungskonzepte

II. Wachsende Räume und regulierte Nachbarschaften.
Die Europäische Union und ihre Erweiterungslogiken

III. Innen und Außen:
Grenzkonstellationen im erweiterten Europa

IV. Europäischer Superstaat?
Facetten einer räumlichen Transformation

Achim Landwehr

Im Zoo der Souveränitäten.
Oder: Was uns die Präsouveränität über die Postsouveränität lehren kann

Von Fröschen und Vögeln

Die Welt ist aufgeteilt. Unterschiedlich eingefärbte Puzzleteile, die sich in enormer Variationsbreite hinsichtlich Form und Größe über den Globus verteilen. Kein Fleckchen Erde, das nicht erfasst wäre. Kein Platz mehr frei. Die Welt ist verstaatet. Wenn wir über Politik sprechen und über Souveränität, über Staaten und über deren Territorien, dann sehen wir vor unserem geistigen Auge säuberlich geordnete Landmassen, durch eindeutige Demarkationslinien voneinander geschieden. Wenn wir an Staaten denken, denken wir an hochkomplexe Gebilde, die für die Organisation und Verwaltung des von ihnen okkupierten Oberflächenausschnitts unseres Planeten zuständig sind. Eine staatenlose Welt ist – zumindest in der Theorie – undenkbar geworden. Und selbst in Regionen, in denen man davon auszugehen hat, dass es keine funktionierende Staatlichkeit gibt, Somalia oder Afghanistan beispielsweise, setzen wir eben eine solche zumindest voraus, um sie mit einem negativen Vorzeichen versehen zu können: failed states.

Der Vorteil von mental mapsMental maps1