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1. Auflage 2015

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Redaktion: Matthias Teiting

Umschlaggestaltung: Melanie Melzer

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

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ISBN E-Book (PDF) 978-3-86413-733-4

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1965 – Das Jahr, in dem Träume wahr wurden

Die Songs »(I can’t get no) Satisfaction« und »Like a Rolling Stone« erscheinen 1965 im Abstand von nur wenigen Wochen. Sie sind Songs des Jahrhunderts, nicht nur des Jahres: »Like a Rolling Stone« wird 2010 vom Musikmagazin Rolling Stone zum besten Song aller Zeiten gewählt. »(I can’t get no) Satisfaction« steht in derselben Liste auf Platz zwei. Es klingt wie eine Ironie der Geschichte, dass das Musikmagazin so heißt wie der Song, den es kürt, doch wie der Zusammenhang zwischen dem Song, dem Namen des Magazins und dem der Band, die »Satisfaction« geschrieben hat, entstanden ist – das ist dann eigentlich auch egal. Vielleicht ist es Zufall. Womöglich wären diese Songs auch gewählt worden, wenn das Magazin Metallic hieße. Oder es wäre »Nothing else matters« auf Platz zwei gekommen. Diese Liste hätte dann aber keinen interessiert, weil »Satisfaction« und »Like a Rolling Stone« einfach die geilsten Songs aller Zeiten sind. Darin sind sich alle einig, oder?

Die Songs sagen, worum es 1965 geht: um Lebenshunger und um die Übelkeit nach dem großen Fressen. Um die Sehnsucht nach mehr, nach Erfüllung, nach Großartigem, den Sternen gar, und zugleich um das einsame Treiben in einem Meer von Möglichkeiten, um das Gefühl der Sinnlosigkeit, das Bewusstsein der Vergänglichkeit.

Vergangenheit – sie ist es, worum es in diesem Buch geht. Das Jahr 1965 ist ein kleiner Abschnitt der Vergangenheit; von all jenem, das gewesen ist und das der Kalender in praktische Scheibchen einteilt. Die Gegenwart braucht diese Zeitscheibchen, um zu funktionieren. Ohne sich auf Zeitscheibchen zu einigen, in denen etwas passieren soll, würden Menschen nichts zustande bringen. Wir brauchen Uhren und Kalender, um mit der Zeit etwas anfangen zu können, und das Einigen auf Zeitpunkte, um miteinander etwas anzufangen.

Die Zeit vergeht. Das kann einem jede Oma sagen. Indem die Zeit vergeht, wird aus aus der Gegenwart Vergangenheit und aus der Zeitgeschichte Geschichte. 1965 war der Erste Weltkrieg noch Zeitgeschichte, denn die Veteranen lebten, um davon zu erzählen. Heute ist er bereits Geschichte. Der Zweite Weltkrieg, über den man 1965 in Deutschland so ungern sprach, weil er sich wie ein dunkles, bedrohlich nahes Paralleluniversum der Gegenwart anfühlte, ist heute dabei, Geschichte zu werden. Bald lebt niemand mehr, der davon erzählen könnte. Der Vietnamkrieg, 1965 begonnen, ist Zeigeschichte: Die Veteranen sitzen in Schaukelstühlen und erzählen ihren Enkeln davon. Oder sie sitzen in Rollstühlen. Oder obdachlos auf einer Straße in Hanoi, Ho-Chi-Minh-Stadt oder Washington. Jeder dieser Zeitzeugen erzählt eine andere Geschichte des Krieges, seine eigene nämlich, und jede dieser Geschichten ist wahr. Jede von Zeugen erzählte Geschichte ist Zeitgeschichte.

Aber was ist Geschichte ohne Zeugen, ohne Zeit, einfach nackte Geschichte? Ist sie nur das Wichtige, das in der Vergangenheit geschehen ist? Enthält sie nur die Geschichten der wichtigen Menschen? Ist sie der Teil der Vergangenheit, der in die Gegenwart fortwirkt und deshalb interessant scheint? Ist sie das, worauf sich alle als wahr einigen können?

Geschichte wirft Fragen auf, aber die Antwort ist ganz einfach: Geschichte ist der Teil der Vergangenheit, der erzählt wird – weil er erzählenswert scheint. Erzählt in Büchern und Chroniken, in Memoiren, Berichten, in der Interpertation von Fundstücken, Gemälden, Kompositionen – in allem, was Teil der Kultur ist. Eine Geschichte zu haben und nicht nur eine Vergangenheit ist eine kulturelle Leistung. Aber sie wird hinterfragt, diskutiert, bewertet. Darf der Erzähler der Geschichte eine Meinung zu seinem Scheibchen der Vergangenheit haben oder nur der, der sich die Geschichte anhört? Ist ein Gefängnisausbruch im Nachhinein betrachtet auch mal lustig? Wer ist böser: ein Militärdiktator oder ein Kindermörder? Was ist wichtiger: ein verlorenes Fußballspiel des Lieblingsvereins oder 850 tote Soldaten in einem Flussbett, dessen Name kaum zu merken ist? Im Moment des Geschehens, in der Gegenwart, ist vielen das Fußballspiel wichtiger. Mit dem Blick auf die Vergangenheit, beim Erzählen der Geschichte, ändert sich manche Meinung.

Die Geschichte ist voller Ironien und Zufälle, Kontraste und Parallelen. Ein Haufen blöder Ideen am selben Tag in verschiedenen Gegenden der Welt – das kann ein solcher Zufall sein. Zwei Männer, die am selben Abend einen Kometen entdecken. Oder zwei Künstler, die im selben Sommer die beiden Songs des Jahrhunderts veröffentlichen. Aber nicht die Zeit stellt solche Zufälle her, damit alles etwas zu lachen haben, wenn sie sich Geschichten erzählen. Die Vergangenheit als Ganzes ist völlig ironie- und spaßfrei. Wir in der Gegenwart stellen diese Zusammenhänge her, damit die Geschichte erzählenswert bleibt. Geschichte wiederholt sich manchmal und manchmal nicht, und manchmal wiederholt sie sich mit einem anderen Ausgang als beim letzten Mal. Niemand weiß, wann welcher Fall eintritt.

Die Vergangenheit kennt auch keine Zufälle. Der eine Moment interessiert sich nicht für den anderen, der gleichzeitig passiert und etwas mit ihm zu tun haben könnte, früher oder später. Der eine umfallende Sack Reis kümmert sich nicht um den anderen, obwohl sie vielleicht vom selben Erdbeben umgeworfen werden – weil sie nichts von dem Erdbeben wissen. Das wissen die Verkäufer erst hinterher. Auch, dass dies jeweils die letzten Säcke Reis an ihren Ständen waren, weil nach dem Erbeben die Nahrungsmittel knapp wurden, wissen sie erst später. Was es gibt, sind direkte Zusammenhänge. Wenn ein offener Sack Reis umfällt, liegen die Körner auf dem Boden. Wenn ein Bomber Napalm über Vietnam abwirft, gibt es am Boden Feuer. Die Geschichte entscheidet, ob eine Tat mit beabsichtigten Folgen richtig war oder falsch, böse oder gut.

Geschichte ist wie Literatur, weil sie erzählt, aber sie ist auch wie Mathematik, denn sie bringt Ordnung und System in etwas, das dem menschlichen Verstand sonst verschlossen bliebe, nämlich das Unendliche, wie sich die Vergangenheit auch nennen ließe. Das Unendliche alles Gewesenen. In diesem sucht der Mensch mit seinem strukturierenden Verstand Muster, entdeckt das Gleichzeitige, das Lustige, das Parallele. Es gibt da den Sack Reis, der irgendwo umfällt. Und dann den Sack Reis, der irgendwo umfällt und damit eine Reihe Dominosteine anstößt, von denen der letzte viel später und an einem ganz anderen Ort eine Mauer einreißt. Welcher Sack welcher ist, weiß man immer erst hinterher. Wo man es im Moment des Fallens schon weiß, sagt man gerne kurz darauf, man habe nun einen Moment erlebt, in dem Geschichte geschrieben wurde. Wie beim ersten Weltraumspaziergang oder in dem Moment, als der amerikanische Präsident das Dokument unterschreibt, das schwarzen Amerikanern das Wahlrecht gibt – das sind zwei solche Momente, die 1965 Geschichte schreiben.

Andere Momente des Jahres 1965 stellen sich erst später als bedeutend heraus. Der, in dem eine japanische Künstlerin einen britischen Musiker kennenlernt. Oder eine Schülerin einen ehemaligen Friseur. Oder der, in dem ein Polizist ein Haus betritt, in dem angeblich eine Leiche liegen soll. Nur der Blick der Gegenwart erkennt die Bedeutung dieser Ereignisse. Er sieht auch die lustigen Augenblicke, die vielleicht keinen Stein ins Rollen gebracht haben, aber die genau deswegen so typisch sind für 1965: der Tag, als sich ein Mann in Wien weiß anmalte und durch die Stadt spazierte. Der Tag, als alle Mofas ausverkauft waren. Der Tag, an dem Bob Dylan mit einer E-Gitarre auftrat, und der Tag, an dem Erich Honecker seinen großen Auftritt im Plenum des Zentralkomitee hatte. Sie alle tragen die Essenz von 1965 in sich, einem Jahr voller Wünsche, Begierden und Ideen, einem Jahr, in dem viel geträumt wurde und mehr Träume wahr wurden, als man sich hätte träumen lassen. Und in dem daher noch viel mehr Träume begannen.

JANUAR 1965

  • Wetter: Für die Jahreszeit erheblich zu warm (+2,3º).
  • In den Charts: The Righteous Brothers: »You’ve Lost That Lovin’ Feelin’«, Drafi Deutscher: »Cinderella-Baby«, Roy Orbison: »Pretty Woman«, Ronny: »Kleine Annabell«, Freddy Quinn: »Vergangen, vergessen, vorüber«, Margot Eskens: »Mama«.
  • Alben: The Rolling Stones: »Rolling Stones No. 2« ist neu im Laden.
  • Buch: »Le Tour de Gaule d’Asterix« (»Asterix: Tour de France«) wird in Frankreich als Einzelband veröffentlicht. Die Erstauflage liegt bei 60.000 Stück. In Deutschland gibt es noch keine Asterix-Bände. In den deutschen Bestsellerlisten stehen immer noch die Erfolgsbücher des Weihnachtsgeschäfts: »Mein Name sei Gantenbein« von Max Frisch, »Die Clique« von Mary McCarthy, »Nur einen Seufzer lang« von Anne Philipe. Außerdem die »Kiesinger-Anekdoten«, gesammelt von Karl Gottfried Bechtle.
  • TV-Event: »Die Schlüssel« von Francis Durbridge, ein Krimi-Dreiteiler im Ersten, wird ein absoluter Straßenfeger. Die erste Folge des Dreiteilers läuft am 18. Januar. Peter Frankenfeld bittet jeden Donnerstag im ZDF zum Quiz »Vergißmeinnicht« und sammelt dabei Spenden für behinderte Kinder. Im Deutschen Fernsehfunk (DDR) läuft die ungarische Historienserie »Kapitän Tenkes« an.
  • Kino: »James Bond 007 – Goldfinger« kommt in Westdeutschland in die Kinos.
  • Geboren: Aiman Abdallah (3.1.), Maybrit Illner (12.1.), Diane Lane (22.1.).

Poff! Bäm! Plopp! Auftritt für das neue Jahr. Nie hielten zum Jahreswechsel so viele Familien in Deutschland ein Neugeborenes im Arm wie in dieser Nacht. Das geburtenstärkste Jahr ist zu Ende gegangen, die Babyboomer liegen in ihren Krippen – und immer noch sind so viele Frauen schwanger wie nie zuvor in der deutschen Geschichte.

Während um Mitternacht die Korken knallen, die Raketen in den Himmel steigen, beschwipste Umarmungen und Küsse zu neuen Beziehungen oder zum Ende von langjährigen Ehen führen, treten neue Gesetze und Verordnungen in Kraft. Die Lohnsteuersenkung freut diejenigen, die wenig verdienen, die Erhöhung des Tagessoldes freut die Bundeswehr-Soldaten, die geringeren Zölle im Binnenmarkt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) freuen Handel und Industrie. Die neue Wirtschaftsunion zwischen Ägypten, Syrien, Jordanien, Kuwait und Irak lässt auch die arabische Welt enger zusammenrücken.

In Rostock feiert der Student Joachim Gauck mit seiner Familie – nicht ganz unbeschwert, denn er schreibt seine Examensarbeit und hängt im Zeitplan hinterher. Das Examen türmt sich vor ihm auf wie eine unüberwindbare Barriere, ebenso die Entscheidung, ob er denn nun wirklich Pastor werden will. Dieses Jahr muss er sie treffen.

Bonn. Der Kanzler zieht um. Ludwig Erhard und seine Frau Luise beziehen den Kanzlerbungalow in Bonn. Jetzt haben die Erhards ein Traumheim, wie es sich viele Paare und Familien wünschen: Alles ebenerdig, bodentiefe Fenster, einen Swimmingpool und ein großes Grundstück. Architekt Sep Ruf setzte damit ein kleines Ausrufezeichen, denn auf Erhards Wunsch wirkt der Bungalow bescheiden und ist doch topmodern. Stilmöbel, Eiche rustikal und dicke Vorhänge sind nicht Erhards Geschmack, er mag klare Formen und gerade Linien. Prunk und Protz haben an dem Gebäude nichts verloren, findet Erhard. Schließlich lebe man nicht im Absolutismus, sondern in einer Demokratie.

Ganz wie es sich gehört schlagen die Politiker in ihren Ansprachen zum neuen Jahr und zu den Dreikönigstreffen der Parteien staatstragende Töne an. Bundespräsident Heinrich Lübke doziert, als ob er den Deutschen erklären wollte, was Demokratie ist: »Der Staat, das sind wir alle. Der Staat ist eine Gemeinschaft freier Bürger, in dessen Schutz sich der Einzelne, die Familien und die verschiedenen Gruppen und Schichten unseres Volks zu ihrem eigenen Wohl und zum Wohle des Ganzen entfalten sollen.« Der Staat diene nicht dem einzelnen Bürger, sondern der einzelne Bürger diene dem Staat als Ganzem. Walter Ulbricht, der Vorsitzende des DDR-Staatsrates und damit Staatsoberhaupt, spricht über Entspannung: »Da die Überwindung der Spaltung Deutschlands nur in gesichertem Frieden, in Freiheit und Demokratie möglich ist, sollten sich die Regierungen der deutschen Staaten verpflichten, konsequent für die internationale Entspannung, für die Ächtung und Abschaffung aller Atomwaffen, für die Minderung der Kriegsgefahr und für Abrüstungsmaßnahmen mit dem Ziel der allgemeinen und vollständigen Abrüstung einzutreten.« Lyndon B. Johnson, Präsident der USA, erinnert in seiner Rede zur Lage der Nation am 4. Januar an die »Great Society«, die »großartige Gesellschaft«, die seinem sozialpolitischen Ziel entspricht. Diese Gesellschaft soll entstehen, indem die Sozial- und Innenpolitik das Problem der Armut löst und außerdem amerikanische Bürger afrikanischer Herkunft endlich rechtlich gleichgestellt werden. Papst Paul VI. erklärt in seiner Neujahrsansprache: »Die Gesellschaft ist nicht glücklich, weil sie nicht brüderlich ist. […] Was UNS betrifft, werden wir nicht müde werden, die Liebe zum Nächsten als das Grundprinzip einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft zu predigen.« Am Ende des Jahres werden die Politiker sich dann an ihren Worten messen lassen müssen …

In Israel wird die gute Neujahrslaune schnell gedämpft. Die islamische Terrororganisation Fatah verübt am Abend des 1. Januar einen Anschlag auf den National Water Carrier (die Landwasserleitung) und beginnt damit den israelischen Wasserkrieg. Der Sprengsatz kann zwar entschärft werden, ohne dass er Schaden anrichtet, aber das Signal ist eindeutig: Der Wasserkrieg hat begonnen. Mit dem Projekt der Landwasserleitung will Israel die Landwirtschaft fördern, indem es Frischwasser von den Bergen, den Jordanquellen und dem See Genezareth im Norden des Landes in den Süden und Westen leitet. Die Kanalsysteme sind bereits fertiggestellt. Die Fatah fürchtet, dass damit der hauptsächlich von Palästinensern bewohnte Osten des Landes zu wenig Trinkwasser bekommen und austrocknen würde. Die Menschen in den östlichen Gebieten sind der Meinung, dass ihnen Israel buchstäblich das Wasser abgräbt, ihre wichtigste Ressource. Israels Nachbarländer Jordanien und Syrien planen nun ihrerseits, die Quellflüsse des Jordan umzuleiten. Die Golanhöhen, wo zwei der Quellen liegen, gehören zu Syrien. Die arabischen Nachbarstaaten haben bereits den Headwater Diversion Plan aufgestellt, um die Jordanquellen auf ihr Territorium umzuleiten.

So richtig beginnt das neue Jahr erst am 3. Januar, einem Montag. Dann ist der Kater ausgeschlafen, die Küche wieder aufgeräumt und die ersten Nachbarn und Freunde kommen bereits aus dem Weihnachtsurlaub zurück. Der stern ruft auf dem Cover schon jetzt den »Mann des Jahres« aus, es soll der chinesische Parteichef und Staatspräsident Mao Zedong sein. Die Quick zeigt Fotos einer sexy Schornsteinfegerin in Hotpants und bauchfreiem Top. Auf dem Bunte-Cover wünscht Heinz Rühmann mit Sektflöte und artigem Anzug und Blume im Knopfloch »Viel Glück im neuen Jahr!«. Auf dem Bravo-Cover fahren die Eiskunstlaufstars Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler in einem feuerroten und mit Luftschlangen verzierten 20-PS-Oldtimer in die Zukunft und wünschen »Prosit Neujahr!«. Der Spiegel fragt in die Runde: »Atomminen an der Zonengrenze?« Es scheint, als wäre im Jahr 1965 alles möglich – zwischen Spießigkeit und wildem Leben, zwischen Weltuntergang und Welteroberung.

»Guten Abend, meine Damen und Herren« – das neue Fernsehprogramm »Nord 3« geht auf Sendung. Nach Bayern und Hessen hat damit auch der Norden ein drittes Programm. Doch wie heißt es? Da es ein gemeinsames Programm des Norddeutschen Rundfunks, Radio Bremens und des Senders Freies Berlin ist, kann es nicht NDR 3 heißen. Manchmal wird es »Nordkette« genannt, manchmal doch »NDR 3«, meistens aber einfach »Das Dritte«. Für die Bürger im nördlichen Teil der DDR ist das Einschalten zwar verboten, der Sender ist aber dennoch gut zu empfangen.

Gleich am 5. Januar gibt es Unerfreuliches zu berichten: In Mexiko ist ein Kirchendach eingestürzt und hat 51 Menschen unter sich begraben. Im Saarland hingegen hat ein Erdrutsch eine Bahnstrecke verschüttet. Neues Deutschland, die sozialistische Zeitung der DDR, hat allerdings gute Nachrichten: In der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon demonstrieren sozialistisch motivierte »Menschenmassen« gegen die von den USA gestützte Regierung. Nordvietnam, richtiger die Demokratische Republik Vietnam, ist bereits seit 1945 kommunistisch. Die Sowjetunion gibt Geld und liefert Waffen, um Nordvietnam und seinen Präsidenten Ho Chi Minh zu stärken. Die USA wollen verhindern, dass auch Südvietnam kommunistisch wird und sozialistische Propaganda die Stimmung in Saigon kippen lässt. Die Nationale Front für die Befreiung Südvietnams hat bereits den bewaffneten Kampf gegen das amerikanische Militär in Südvietnam begonnen. Die Guerillakrieger sind besser bekannt als Vietcong. Die Demonstrationen in der Hauptstadt nimmt der sowjetische Außenminister Andrei Gromyko zum Anlass, den Demonstranten in Südvietnam sowie den Menschen in Nordvietnam »Unterstützung im Geiste des proletarischen Internationalismus« zu versprechen.

Bonn. Bundespräsident Heinrich Lübke tritt am 7. Januar würdevoll und ernsthaft vor das Wachbataillon der Bundeswehr. Es ist an der Zeit, die neue Truppenfahne zu übergeben. Bisher ist die Bundeswehr ohne dieses hochsymbolische Feldzeichen ausgekommen. Lübke, der Unteroffizier und Offizier im Ersten Weltkrieg und Oberleutnant sowie Hauptmann der Reserve im Zweiten Weltkrieg war, hat die Truppenfahne gestiftet, »als Zeichen gemeinsamer Pflichterfüllung«. Jetzt übergibt Lübke den Soldaten des Wachbataillons in einer förmlichen Zeremonie das erste Exemplar. Die Fahne ist quadratisch, hat die Farben Schwarz-Rot-Gold und in der Mitte einen gestickten Bundesadler. Sie wird ausschließlich am Fahnenstock getragen. Für die noch junge deutsche Bundeswehr ist diese Fahne ein Zeichen für die Integration in den Staat.

Der deutsche Wahlkampf kommt aus den Weihnachtsferien zurück und ist ziemlich ausgeschlafen. Der amtierende Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) und sein Herausforderer Willy Brandt (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin, werben um die Wählergunst. Es wird spannend, denn Erhard ist nur Kanzler, weil Konrad Adenauer im Oktober 1963 zurückgetreten ist. Als ehemaliger Wirtschaftsminister gilt er als »Mister Wirtschaftswunder«, als Kanzler hat er noch nicht restlos überzeugt. Mancher hält ihn für einen Interimsmann, einen Lückenbüßer. Willy Brandt dagegen ist seit 1957 Bürgermeister in Berlin, er ist beliebt und geachtet, hat schon zwei Wiederwahlen gewonnen. Den Wahlkampf gegen Konrad Adenauer hat er verloren, jetzt will er es noch einmal wissen. So eröffnet er den Wahlkampf am 8. Januar 1965 mit einem Versprechen: Wenn er Bundeskanzler wird, wird es eine neue Ostpolitik geben.

Kloing. Schnurr, Fauch. Schepper. Frazzl. Kreisch. Wie viele Geräusche kann ein einziges Metallbecken erzeugen? Der amerikanische Komponist John Cage versucht, das herauszufinden. Seine Komposition »Duet for Cymbal« dauert etwas länger als 19 Minuten und besteht ausschließlich aus den Sounds, die das Becken erzeugt, wenn es mit verschiedenen Geräten angeschlagen, gekratzt, bestrichen, angerissen wird. Mit diesem Stück eröffnen John Cage und David Tudor am 16. Januar ihr Konzert im Museum of Art in San Francisco. Das Publikum erwartet sich vor allem Überraschungen von den beiden Klang-Experimentierern, und die wird es an diesem Abend auch bekommen. In der Skulpturenhalle des Museums gibt es Musik ohne Töne, ohne durchgehende Rhythmen, ohne Melodien, aber in einer Lautstärke, wie man das sonst nur von einem Popkonzert kennt. Unter den Zuhörern ist auch der 73-jährige französische Komponist Darius Milhaud, der herausfinden möchte, ob die experimentelle und elektronische Musik tatsächlich die Musik der Zukunft ist. Er und alle anderen gehen an diesem Abend mit einem leichten Sausen im Gehörgang nach Hause.

Ein Mann will in den Westen. Westberliner Bürger beobachten am 19. Januar, wie ein junger Mann in der Spree schwimmt und versucht, im Westen ans Ufer zu gelangen. Schnell verlassen ihn die Kräfte. Niemand hilft. Er ertrinkt. Sein Körper versinkt im Wasser.

»Goldfinger« (wä-wääääh-wep!) »he’s a man …« Die ganze Welt hat sich am Goldrausch und dem Agentenfieber angesteckt. In der Bundesrepublik kommt der neueste James-Bond-Film am 26. Januar in die Kinos. Dass Gert Fröbe in dieser Megaproduktion den Bösen spielt, ist für das deutsche Publikum eine Ehre, kein Affront. Fröbe ist ein Superstar des deutschen Films, jetzt zeigt er der Welt, was ein würdiger Gegner für den schnieken Anzug-Agenten 007 alias Sean Connery ist: ein brachialer, blonder Bauchmensch, ein reicher Psychopath mit hohem IQ und einer Schwäche für Gold. Einen Auftritt bekommen auch die goldigste Frauenleiche der Filmgeschichte, außerdem das James-Bond-Auto Aston Martin DB5 inklusive schießwütiger Sonderausstattung und ein Bond-Girl namens Pussy Galore.

»Njet«, sagt die UdSSR am 16. Januar zum bundesdeutschen Ansinnen, die der Sowjetunion vorliegenden Akten und Dokumente über Naziverbrechen einsehen zu dürfen. Die Tschechoslowakei sagt hingegen am 18. Januar »Jo!« zu dem Antrag, sämtliche derartige Unterlagen zugänglich zu machen.

Wann genau sie sich kennenlernen, bleibt ihr Geheimnis. Aber es ist Künstlerliebe auf den ersten Blick: Der Pop-Art-Künstler Andy Warhol trifft zum ersten Mal das Mannequin und Partygirl Edie Sedgwick und ist hingerissen. Nach Marilyn Monroe, Marisol Escobar, Baby Jane Holzer, Ultra Violet und anderen »Warhol-Superstars« ist Edie nun seine aktuelle Traumfrau: exzentrisch und hübsch mit ihren großen Augen, dem Schmollmund und der zierlichen Figur, schillernd und nach einigen Schicksalsschlägen doch schon gebrochen, eitel und dennoch intelligent. Warhol ist einer der angesagtesten Künstler in New York, sein Atelier, das er »Factory« nennt und wo er an Gemälden, Filmen und Skulpturen arbeitet, ist ein beliebter Treffpunkt und vor allem der Ort legendärer Partys. Man spricht auch von der »Silver Factory«, da die Räume fast komplett mit Alufolie, Spiegeln und silberner Wandfarbe dekoriert sind. Die »Factory« befindet sich in einem verranzten Uraltgebäude in Midtown Manhattan. Edie Sedgwick hingegen wohnt in der besten Gegend New Yorks, zwischen der Fifth Avenue und der Madison Avenue. Sie fährt einen silbernen Mercedes mit Chauffeur, tanzt die Nächte in den Klubs durch und ist Fan des Folksängers Bob Dylan. Sie malt und zeichnet, und wenn sie hungrig ist, lässt sie sich aus einem Sternerestaurant Kaviar und Canapés nach Hause liefern und isst dann nichts davon. Edie ist der Star, den Warhol gesucht hat. Sie soll das Gesicht der »Factory« werden, jener Gruppe aus Künstlern, Musikern, Party-People und Wichtigtuern, die Warhol in New York um sich schart.

Klaus Kratzel will in den Osten. 1961 ist er mit seiner Frau und dem ersten Kind über die Absperrungen zwischen Ost- und Westberlin gestiegen, um der kleinen Familie im anderen Deutschland ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch er ist unglücklich – er hat Geldsorgen, weil er zu viele Dinge kauft, die er sich nicht leisten kann. Ein zweites Kind ist auch schon da. Nach einem mächtigen Streit mit seiner Frau fährt er zum Grenzübergang Friedrichstraße und beantragt die Rückkehr in die DDR. Sie wird ihm sofort gewährt.

Jetzt ist es offiziell: Lyndon B. Johnson wird als amerikanischer Präsident abermals ins Amt eingeführt. Er hat bereits seit November 1963 das höchste Staatsamt inne, seit der Ermordung seines Amtsvorgängers John F. Kennedy. Nun ist er von den Bürgern wiedergewählt worden. Erstmals nimmt auch die First Lady an der Zeremonie der Amtseinführung teil: Claudia »Lady Bird« Johnson hält die Bibel, auf die ihr Mann bei strahlendem Sonnenschein den Amtseid ablegt. Johnson verändert das Ritual der Amtseinführung und zeigt damit, dass für seine Politik, für die USA und die Welt eine neue Zeit anbricht. Anstatt für Frack und Zylinder entscheidet er sich für einen grauen Anzug. Den Hut legt er ab, auf einen Mantel verzichtet er. Seine Ansprache ist das Manifest eines neuen Humanismus, des »Zeitalters des rasanten Wandels« und des Space Age, das im Zeichen von Freiheit, Gerechtigkeit und Einigkeit steht. Johnson formuliert es so: »Stellt euch unsere Welt so vor, wie sie von der Rakete aus gesehen erscheint, die gerade auf dem Weg zum Mars ist. Wie ein Globus im Kinderzimmer hängt sie im Weltraum, und die Kontinente kleben an den Seiten wie kolorierte Landkarten. Wir alle gemeinsam sind Passagiere auf einem Fleckchen der Erde. Und jeder von uns hat in der Spanne seines Lebens nur einen Moment unter unseren Zeitgenossen. Wie unglaubwürdig scheint es, dass wir in dieser zerbrechlichen Existenzform einander hassen und vernichten sollten. Es gibt genug Welt für alle, damit jeder auf seine Weise nach Glück streben kann.« Johnsons Rede dauert nur 22 Minuten, der Applaus währt dreimal so lang.

Während der Inaugurationszeremonie in Washington, die auch im Fernsehen übertragen wird, verhaftet die Polizei in der Stadt Selma im Bundesstaat Alabama 62 Afroamerikaner. Um sich in das Wählerverzeichnis eintragen zu lassen, wollen sie das örtliche Bürgerbüro durch den Haupteingang betreten – und nicht wie vorgeschrieben durch den Seiteneingang. Das gleiche Wahlrecht für alle Amerikaner ist Teil von Johnsons Vorstellung der »Great Society«. Eben hat er am Rednerpult von Washington nochmals bekräftigt, dass jeder Amerikaner, der seinen Mitbürger wegen dessen Hautfarbe oder wegen seines Glaubens missachtet, ein Verräter an der amerikanischen Nation und deren Werte ist. Die Polizei in Alabama scheint die Signale noch nicht gehört zu haben.

Bonn. Das Kampfflugzeug Lockheed F-104 G »Starfighter«, von der Bundesrepublik teuer vom amerikanischen Rüstungsunternehmen Lockheed eingekauft, taugt nichts. Von den 600 Flugzeugen, die seit 1961 in Dienst gestellt wurden, sind bereits 25 abgestürzt. Bei der Wehr-Debatte im Bundestag am 20. und 21. Januar gerät der CSU-Abgeordnete Franz Josef Strauß unter Beschuss. Denn Strauß hat den Flugzeugkauf in den 1950er-Jahren eingefädelt, als er noch Bundesverteidigungsminister war. Den Ministerposten ist er im Zuge der Spiegel-Affäre losgeworden. Der Spiegel hatte die Rüstungspolitik Westdeutschlands und vor allem die Politik des Verteidigungsministers Strauß kritisiert. Das Kabinett Adenauer, mit Strauß als treibender Kraft, witterte daraufhin Landesverrat, ließ die Redaktionsräume durchsuchen und Journalisten verhaften. Wegen des folgenden Aufschreis in der Öffentlichkeit wie auch im Kabinett musste Strauß seinen Posten aufgeben. Der nun amtierende Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (CDU) muss sich in der Debatte für Strauß’ Politik rechtfertigen und spielt die Unfälle herunter. Er dementiert zudem, dass es im deutschen Zonenrandgebiet einen geheimen Atomminengürtel gibt, wie manche glauben. Die Debatte endet weitgehend ergebnislos, abgesehen davon, dass man auch von Hassel bald aus dem Amt jagen will, da er sich in der Quick bundeswehrkritisch geäußert hat.

Der verschlurfte Musiker Lewis Allan Reed fährt in der New Yorker U-Bahn, der Underground. Die Linie D verläuft von Coney Island durch ganz Manhattan bis zur 205. Straße. In der Bahn trifft er Sterling Morrison, einen Kommilitonen von der Syracuse University. Großes Hallo! Und sie haben Zeit zum Reden. Die Stationen auf der Linie D sind lang. Lewis Allan, den alle Lou nennen, und Sterling Morrison haben gemeinsam Kurse in englischer Literatur belegt, und sie spielen beide Gitarre und singen. Über die Musik haben sie sich kennengelernt, über die Musik sprechen sie auch jetzt in der Underground. Sie wollen eine Band gründen, wofür Lou Reed noch einen anderen alten Kumpel dazubittet, John Cale, der Viola spielt und in der Kunstszene vernetzt ist. Sogar einen Namen finden sie schon für ihre neue, in der U-Bahn gegründete Band. »Warlocks« wollen sie sich zunächst nennen. Zauberer.

Die Bürger in Selma/Alabama lassen sich nicht einschüchtern und versuchen weiterhin, den Haupteingang der Bezirksverwaltung zu benutzen – egal, welche Hautfarbe sie haben. Seit dem 19. Januar sind deshalb schon über 200 Bürger mit dunkler Hautfarbe verhaftet worden.

Party in Tel Aviv: Am 21. Januar wird der Shalom Meir Tower eröffnet. Die Welt blickt staunend nach Israel, denn das 36-stöckige Bürogebäude unweit des mondänen Rothschild-Boulevards ist der höchste Wolkenkratzer im Mittleren Osten, Asien und Afrika. Im Hebräischen nennt man ihn »Migdal Shalom«, was »Friedensturm« bedeutet. Tatsächlich ist er nach dem Vater der Bauherren benannt, dem Tel Aviver Bürger Shalom Meir. Die Architekten Yitzhak Perlstein, Gideon Ziv und Meir Levy haben den Bau funktionalistisch kantig gestaltet und doch dem Flair der Hafenstadt angepasst. Die cremefarbenen Kacheln an der Fassade greifen die Farbe der vielen Bauhaus-Gebäude auf, die der Metropole Tel Aviv den Namen »Weiße Stadt« eingetragen habe. Im Hochhaus befinden sich vor allem Büros, in einem seiner Untergeschosse wird die erste U-Bahn-Station Tel Avivs untergebracht. Noch hat sie keine Gleise, denn es gibt noch keine U-Bahn in der Stadt. Wie ein Ausrufezeichen erhebt sich der Tower und sagt: Die Zukunft ist schon hier!

»Ich habe nichts anzubieten außer Blut, Schweiß, Mühsal, Tränen«, hat Winston Churchill im Zweiten Weltkrieg seinen Landsleuten zugerufen. »Kein Sport!« ist sein Lebensmotto gewesen. Schon 1946 forderte er: »Lassen Sie Europa entstehen!« Jetzt gibt es keine markigen Sprüche mehr. Sir Winston Churchill ist tot. Sein Tod kommt im Alter von 90 Jahren nicht überraschend, trotzdem trauert die ganze Welt um den ehemaligen britischen Premierminister. Churchill war ein Jahrhundertpolitiker, darin sind sich alle einig. Weder Faschismus, Imperialismus, Kommunismus noch Antikommunismus oder irgendeine andere Ideologie des 20. Jahrhunderts haben ihn infizieren können. Churchill, der Staatsmann, ist einer der ganz wenigen seiner Generation, der sein Leben lang ein aufrechter Demokrat war und dies in hohen politischen Ämtern bewiesen hat, indem er immer für Demokratie und Freiheit kämpfte. Politiker der ganzen Welt verneigen sich vor ihm. Bundeskanzler Erhard schreibt in seinem Beileidstelegramm an die Queen: »Deutschland hat ihn als großen Gegner, aber auch als großen Vorkämpfer der Versöhnung erlebt. Er hat den Krieg mit Härte geführt, aber sich niemals den Blick für die Gebote des Friedens trüben lassen.« Churchills letzte Worte am 25. Januar sind: »Mich langweilt das alles.«

Andy Warhol sucht ständig neue Künstler und Stars für seine »Factory«. Am 23. Januar stellt sich Bob Dylan vor. Warhol macht Fotos und Filmaufnahmen, aber Dylan, der introvertierte Songwriter, und Warhol, der Pop-Showman, finden keine gemeinsame künstlerische Basis. Warhol schenkt Dylan zum Dank fürs Kommen ein Bild mit einem doppelten Elvis. Edie Sedgwick weiß, wer Dylan ist, sie kennt ihn schon aus der Partyszene und steht total auf ihn, doch Dylan ist einerseits mit seiner Freundin Sara Lowndes zusammen, trifft sich aber andererseits auch noch mit Folk-Sängerin Joan Baez, seiner Ex- und immer wieder Freundin. Er interessiert sich nicht für Edie.

Die Menschen in Syriens Hauptstadt Damaskus sind genervt. Schon wieder ist der Strom ausgefallen. Und das Funken ist auch untersagt. Das Leben könnte besser sein, finden sie. In dieser stockfinsteren, kalten Nacht des 24. Januar scheint eine schwarze Decke des Schweigens über der Stadt zu liegen. Doch der Geheimdienst schläft nicht. Schon länger vermutet er einen Maulwurf in syrischen Führungskreisen. Jetzt ortet ein eigens aus der UdSSR eingeflogenes Spezialgerät Funksprüche, die nicht sein dürfen. Mitten aus Damaskus. Sie finden die Quelle, es ist ein Wohnhaus. Schnell ist der Funker gefunden und dessen Wohnungstür eingetreten: Es ist der beliebte Radiomoderator und Politikberater Kamal Amil Taabs. Der heißt nämlich gar nicht Kamal, sondern Eli Cohen, und ist ein israelischer Meisterspion. Seit vier Jahren horcht er die syrische Führungsspitze aus. Cohen wird verhaftet.

Simone de Beauvoir fällt aus allen Wolken. Die französische Autorin, Philosophin und Frauenrechtlerin dachte, sie kenne ihren Mann und Lebensgefährten, den Philosophen Jean-Paul Sartre, inzwischen ziemlich gut. Über seine Affären mit jungen und weniger jungen Frauen sieht sie nicht seit Jahren, sondern Jahrzehnten hinweg. So ist er eben, ihr Jean-Paul, und auch sie selbst hat Erfahrungen mit anderen Männern und Frauen gemacht. Ehe, Monogamie, Eifersucht – das halten beide für veraltet. Sie leben seit 1929 eine offene, intellektuelle Beziehung mit vielen Freiheiten. Über die bürgerliche Moral und die bürgerliche Beziehungsvorstellung können sie nur lachen. Nun aber erzählt ein Bekannter des Paares bei einem Treffen mit Simone Unerhörtes: Jean-Paul hat am 26. Januar offiziell die Adoption einer gewissen Arlette Elkaïm beantragt. Dass er mit der 30 Jahre jüngeren Frau kein väterliches, sondern ein erotisches Verhältnis hat, weiß Simone. Es stört sie nicht, denn sie und Sartre führen eine offene Beziehung. Dass er nun aber eine ganz bürgerliche Verbindung zu der gebürtigen Algerierin wünscht und sie als Verwalterin seines Nachlasses heranzieht, ist ein Stachel in ihrer Seele. Simone und Jean-Paul haben keine gemeinsamen Kinder.

Das hat er nicht wirklich gemacht, oder? Die Bundesrepublik geht einem Gerücht nach, nach dem Gamal Abdel Nasser, der Präsident der Vereinigten Arabischen Republik, Walter Ulbricht, den Vorsitzenden des DDR-Staatsrates, offiziell zu einem Staatsbesuch nach Kairo eingeladen haben soll. Die Vereinigte Arabische Republik ist der aktuelle Name des Landes Ägypten. Präsident Nasser träumt von einer panarabischen Großmacht, in der sich mehrere arabische Staaten vereinigen. Die Union mit Syrien ist zu diesem Zeitpunkt allerdings schon wieder aufgelöst. Dennoch spricht man vom »Nasserismus«, wenn es um einen grenzübergreifenden arabischen Nationalismus geht. Die Muslimbruderschaft ist seine schärfste Konkurrenz, denn diese will keinen modernen Nationalstaat, sondern einen nach den Regeln des Islam strukturierten »Gottesstaat«. Nasser wirbt weltweit für sein Programm der großen arabischen Nation, auch bei den sozialistischen Staaten. Der bundesdeutsche Botschafter in Kairo, Dr. Georg Federer, lässt sich einen Termin beim ägyptischen Vizekanzler geben und berichtet der Regierung in Bonn, dass Nasser es wirklich getan hat: Ulbricht ist offiziell eingeladen. Der Bundestag debattiert und kommt zu dem Schluss, dass die Beziehungen zwischen der BRD und Ägypten sich deutlich werden abkühlen müssen, sollte Nasser Ulbricht tatsächlich wie ein Staatsoberhaupt behandeln. Denn das würde bedeuten, dass Nasser die DDR anerkennt. Deutsche Honoratioren sollen alle Termine in Ägypten absagen, man erwägt Wirtschaftssanktionen.

Viele Leute wollen in den Westen. Bonn beschließt daher am 27. Januar ein Hilfspaket für DDR-Flüchtlinge. Jeder, der es aus der DDR in die Bundesrepublik schafft, wird fortan eine Einrichtungsbeihilfe oder einen Rentenausgleich bekommen, die Flüchtlinge können Kredite für die Existenzgründung oder den Wohnungsbau beantragen. 1,75 Milliarden D-Mark will Deutschland jedes Jahr aufbringen, um die Menschen aus dem »anderen Deutschland« zu fördern. Vor dem Grundgesetz sind DDR-Bürger in der Bundesrepublik keine Flüchtlinge, sondern Deutsche.

Smog. Das aus den englischen Vokabeln »fog« (Nebel) und »smoke« (Rauch) zusammengesetzte Modewort verbreitet Furcht und Schaudern. Es klingt ein wenig nach »Nebel des Grauens«, nach Rauchvergiftung, nach gefährlicher neuer Substanz. Smog ist ein Begleiter des Fortschritts, mit dem man nicht gerechnet hatte. Im Ruhrgebiet sind im Dezember 1962 etwa 150 Menschen an der Luftverschmutzung gestorben. Smog ist gefährlich, da sind sich alle einig. Was mit dem Ozon ist, weiß man dagegen noch nicht so recht. Der Deutsche Wetterdienst beginnt daher im Januar 1965 von seiner bayrischen Station Hohenpeißenberg aus Ballons in die Atmosphäre aufsteigen zu lassen, die den Ozongehalt der Luft über Deutschland messen sollen. Das Observatorium Hohenpeißenberg ist Deutschlands älteste Wetterwarte und liegt idyllisch und smogfrei im Voralpenland. Dort und in anderen Erholungsgebieten versetzt man auch das Schwimmbadwasser mit Ozon, da man meint, dies sei gesünder als Chlor. Ozon ist gut. Der Smog in den Städten ist bedrohlich, der Smog muss weg. Daher tritt am 29. Januar im Bundesland Niedersachsen die Smog-Verordnung in Kraft. Nach ihr kann die Landesregierung bei Smog etwa den Autoverkehr begrenzen.

Gamal Abdel Nasser empfängt den deutschen Botschafter Federer in Kairo und lässt der Bundesregierung ausrichten, was er wenig später per Spiegel-Interview auch der deutschen Bevölkerung ausrichten lässt: »Ostdeutschland unterhält seit 1956 mit uns freundschaftliche Beziehungen. Wir haben wirtschaftliche und andere Abkommen mit Ostberlin geschlossen, auch Kreditverträge. Außerdem unterstützt Ostdeutschland Israel nicht. Die Ostdeutschen sind sehr nett zu uns, und schon seit zwei Jahren sprechen wir über einen Besuch von Herrn Ulbricht.« Westdeutschland hingegen habe Ägypten verraten, denn obwohl Ägypten wie gewünscht die Wiedervereinigungswünsche Deutschlands unterstützt hat, habe die BRD gegen den Willen Ägyptens Waffen an Israel geliefert.