Ingrid Galster

Simone de Beauvoir und
der Feminismus

Ausgewählte Aufsätze

Argument

Gedruckt mit Unterstützung der Mariann Steegmann Foundation und der Universitätsgesellschaft Paderborn

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Deutsche Originalausgabe

© Argument Verlag 2015

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/​4018000 – Fax 040/​40180020

www.argument.de

Buchsatz und Umschlag: Martin Grundmann, Hamburg

Foto auf dem Umschlag © Les films de l’équinoxe,

fonds photographique Denise Bellon

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-86754-970-7

Erste Auflage 2015

Für E.,
in Dankbarkeit

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Einleitung

Erster Teil: SIMONE DE BEAUVOIR

I. Die vier Rollen Simone de Beauvoirs. Eine Würdigung

II. Das andere Geschlecht

1. Das andere Geschlecht, Fundament des egalitären Feminismus

2. »Kurz vor dem Brechreiz«. Die Rezeption von Beauvoirs Anderem Geschlecht 1949

3. Relire Beauvoir. Das andere Geschlecht sechzig Jahre später

4. Plädoyer für eine kritische Edition von Simone de Beauvoirs Anderem Geschlecht

III. Partnerin Sartres

1. Das intellektuelle Paar des Jahrhunderts

2. Genese, Theorie und Praxis des Engagements bei Beauvoir und Sartre

IV. Beauvoir unter deutscher Besatzung

V. Tagebuch und Korrespondenz

1. Auf der Suche nach einem ebenbürtigen Geist (Tagebuch 1926–1927)

2. Die Geburt Simone de Beauvoirs (Tagebuch 1926–1930)

3. Briefe an Sartre und Nelson Algren

4. Korrespondenz mit Jacques-Laurent Bost

VI. Posthume Rezeption in der Pariser Presse

1. Das Ende einer Epoche? Die Nachrufe

2. »Eine machistische und engstirnige Frau«. Die Rezeption der nachgelassenen Schriften

VII. Buchkritiken

1. Psychoanalytische Soziologie? Über das Buch von Toril Moi

2. »Eine gelungene autobiografische Erzählung«. Éliane Lecarme-Tabone kommentiert
Mémoires d’une jeune fille rangée

Zweiter Teil: FRAUEN- UND GESCHLECHTERFORSCHUNG

I. Französischer Feminismus

1. Positionen des französischen Feminismus. Ein Überblick

2. Fünfzig Jahre nach dem Anderen Geschlecht: Wo steht der französische Feminismus heute? Ein Interview mit der französischen Historikerin Michelle Perrot

3. Wege des Feminismus zwischen Frankreich und den USA (1947–2000)

4. Französischer Feminismus vor 1970

II. Frauen in der Wissenschaft

1. Frauen in der Wissenschaft in Deutschland und Frankreich

2. Chancengleichheit in Berufungsverfahren

3. Gleichberechtigung an Hochschulen. Ein Interview mit Ingrid Galster

III. Buchkritiken

1. Frauen – Hüterinnen des Feuers. Katharina Rutschky auf der Höhe der Zeit

2. Atempause. Ute Gerhard liefert eine Bestandsaufnahme des Feminismus

3. Mixität und Parität. Sylviane Agacinski zur Politik der Geschlechter

4. Auf dem Holzweg? Élisabeth Badinter kritisiert den Feminismus

5. Aufstand gegen die Muttermilch. Élisabeth Badinter bekämpft den Naturalismus

6. Von Intellektuellenfrauen und intellektuellen Frauen. Die kulturellen Zentren Pontigny, Royaumont und Cerisy im Genderblick (1910–2002)

7. Romanistik im Dialog? Plädoyer für eine gegenderte Geschichte der romanischen Literaturen

Personenregister

Über die Autorin

Fußnoten

Einleitung

Der vorliegende Band versammelt eine Auswahl von Texten, die in den letzten 25 Jahren bei verschiedenen Gelegenheiten über Simone de Beauvoir und den – vor allem französischen – Feminismus entstanden und in Zeitschriften, Sammelbänden, Kolloquiumsakten, aber auch in Zeitungen veröffentlicht wurden. Das Ensemble bekennt sich zu seiner Hybridität. Neben akademischen Arbeiten, die ihre Thesen so weit wie möglich objektiv-neutral formulieren und präzise belegen, finden sich eher locker verfasste Feuilletontexte, meistens aus der Neuen Zürcher Zeitung, die die Doppelfunktion der Wissenschaftlerin und der kritischen Intellektuellen illustrieren, die Stellung bezieht. Die Texte verhehlen nicht ihre Verankerung in einem bestimmten zeitlichen Horizont; sie wurden kaum verändert in die Buchausgabe aufgenommen und nur hin und wieder durch zusätzliche Anmerkungen ergänzt, wodurch sie ihre je eigene Architektur behalten, aber auch nicht frei von Redundanzen sind. Ihre unterschiedliche Länge ist kein Ausweis für die Bedeutung, die – etwa in den Buchbesprechungen – einer Veröffentlichung beigemessen wird. Zuweilen kann die Wertschätzung sogar umgekehrt proportional zur Länge des Artikels sein, was den aufmerksamen LeserInnen kaum entgehen wird. Statt eines homogenen Ganzen wird hier also eine Art Lesebuch vorgelegt. Jeder Text hat unabhängig von den anderen Bestand und kann je nach Lust und Interesse für die Lektüre herausgepickt werden.

Warum Beauvoir? Die Beschäftigung mit ihr hatte für mich zunächst rein utilitaristischen Charakter. Ich begann meine akademische Laufbahn mit einer Dissertation über Sartre: Ende der 1970er/​Anfang der 1980er Jahre war die Autobiografie Beauvoirs, die man auch als inoffizielle Biografie Sartres betrachten kann, fast die einzige Quelle, wenn man sich über Sartre informieren wollte. Beide interessierten mich danach zunehmend als Figuren, an denen sich die französischen Intellektuellen für ihre eigene Standortbestimmung abarbeiteten (und auch heute noch abarbeiten), per Identifikation oder, umgekehrt, durch ihre Benutzung als Prellböcke. Von diesem Interesse zeugen die beiden ältesten Texte dieser Sammlung, die der posthumen Rezeption Beauvoirs in der Pariser Presse gewidmet sind: die Analyse der Nachrufe 1986 und der Skandalrezeption von Beauvoirs Briefen an Sartre 1990, deren Kenntnisnahme bei ihren AnhängerInnen zu einer starken Ernüchterung führte.

Den Nachrufen sind die vier Rollen entnommen, die man dort Beauvoir zuschrieb: der Vorkämpferin des Feminismus, der Partnerin Sartres, der Linksintellektuellen und der Schriftstellerin, und zwar der Bedeutung nach in dieser Reihenfolge. Für die Würdigung, die zum 100. Geburtstag Beauvoirs in der Neuen Zürcher Zeitung im Januar 2008 erschien, habe ich sie wiederaufgenommen1 und danach gefragt, was man 22 Jahre später zu denselben Funktionen sagen konnte. Dieser Artikel wurde sozusagen programmatisch an den Anfang der Sammlung gestellt und die danach folgenden Beiträge wurden dementsprechend angeordnet, also weder nach der Lebenschronologie Beauvoirs noch nach dem Entstehungsdatum der Texte, wie man es vielleicht erwarten könnte.

Das Inhaltsverzeichnis lässt erkennen, dass ich mich am intensivsten mit der »Vorkämpferin des Feminismus« befasst habe. Als Mitglied eines Teams, das eine kritische Ausgabe von Sartres Theater erarbeitete, fiel mir auf, wie wenig editorisches Interesse Beauvoirs Anderes Geschlecht gefunden hatte, besaß das als Bibel des Feminismus geltende, quasi enzyklopädische Werk von ca. 1000 Seiten in der französischen Ausgabe doch nicht einmal ein Personenregister. Zum 50. Jahrestag des Erscheinens von Beauvoirs Buch im Jahre 1999 versuchte ich daher mit einem internationalen Kolloquium einen Appell für eine kritische Ausgabe zu lancieren. Was die Kenntnis dieser fundamentalen Untersuchung zur »Lage der Frau« (wie Beauvoir sie im Manuskript nennt) angeht, ging es mir zuvor wie den meisten. Ich kannte vor allem den berühmten Satz »Man wird nicht als Frau geboren …«, aber das Buch hatte ich nicht gelesen. Ich holte die Lektüre in einer über mehrere Semester laufenden Vorlesung über den französischen Feminismus auf einer Lehrstuhlvertretung gründlich nach und stellte das Ergebnis in einer gedrängten Darstellung an mehreren Universitäten vor. Ich denke, dass dieser Vortrag auch im Rahmen der vorliegenden Sammlung nützlich sein kann. Im Mai 1999 jährte sich auch zum 50. Mal der Skandal, den das vorveröffentlichte Kapitel über die »Sexuelle Initiation der Frau« in der französischen Presse erregte. Ein Pariser Geschichtsmagazin bat mich aus diesem Anlass um einen kurzen Beitrag, den ich später ausbaute und der zur Publikation einer Anthologie mit den Originalrezensionen führte. Die hier abgedruckte Version, die durch Überlegungen zum Stand des Feminismus in Deutschland erweitert wurde, habe ich im Oktober 1999 auf dem von Alice Schwarzer in Köln zum Jubiläum des Anderen Geschlechts organisierten Event vorgetragen. Schließlich bat man mich auf einem Freiburger Kolloquium 2010, das feministische Theorien Revue passieren ließ, um eine Einschätzung von Beauvoirs Werk sechzig Jahre später. Das Ergebnis befindet sich ebenfalls in diesem Reader.

Die Rolle Beauvoirs als »Partnerin Sartres« scheint heute vor allem zu interessieren, was man an den Titeln einschlägiger Monografien ablesen kann. Zum 100. Geburtstag Sartres 2005 lieferte ich dem schon genannten Geschichtsmagazin einen Beitrag zum »intellektuellen Paar des Jahrhunderts«, das für mindestens zwei Generationen Modellfunktion besaß, obwohl das Paar selbst diesen Anspruch nie gestellt hatte, bis der Mythos bei Erscheinen der posthumen Schriften zunehmend zu bröckeln begann. Ein weiterer Beitrag, der auf einen Vortrag anlässlich des 100. Geburtstags Beauvoirs 2008 in Tutzing zurückgeht, befasst sich mit ihrer Beteiligung an der Entstehung der Engagementtheorie, die Sartre jahrzehntelang eine weltweite Gefolgschaft einbrachte. Man muss nicht zur revisionistischen Richtung der Beauvoir-Forschung gehören, um festzustellen, dass Beauvoir in ihrer Autobiografie tatsächlich ihre Mitwirkung an der Entwicklung wichtiger Konzepte weniger betont hat, als es aus Sartres Kriegstagebuch und der nachgelassenen Korrespondenz hervorgeht.

Mit Beauvoirs Aktivität als Intellektueller, die nach dem Krieg zusammen mit Sartre weltweit Befreiungsbewegungen unterstützte, befasst sich nur ein Beitrag, der ihrer Haltung während der deutschen Besatzung gewidmet ist. Die Untersuchung legt nahe, dass sie den intellektuellen Widerstand in dieser Zeit weitgehend Sartre überließ und ihr Engagement nach dem Krieg auch und vor allem als nachträgliche Kompensationsleistung gesehen werden kann.

Zu der vierten Rolle – der der Schriftstellerin, die gerne unterschätzt wird – habe ich wenig beizutragen, es sei denn, meine Ausführungen zu Tagebuch und Korrespondenz, die allerdings nicht, wie im Falle Sartres, unter der Prämisse einer späteren Veröffentlichung abgefasst wurden. Mit dem nicht edierten Material verhält es sich vermutlich ähnlich: unter anderem 300 Briefe an die Mutter, die im April 2014 in Paris auf einer Versteigerung angeboten wurden, und 300 Briefe an Claude Lanzmann, deren Publikation sich Beauvoirs Rechtsnachfolgerin einstweilen mit guten Gründen widersetzt. Es liegen weiterhin umfangreiche, verschiedene Epochen abdeckende Tagebuch-Korpora vor, die von Sylvie Le Bon de Beauvoir in einer Sendung des französischen Fernsehens zum 100. Geburtstag Beauvoirs im Januar 2008 erwähnt wurden.

Den Abschluss des 1. Teils bilden zwei Buchkritiken, in denen ich paradigmatisch zwei Methodenansätze und zwei Haltungen zu Beauvoir und ihrem Werk einander gegenüberstelle. Wie andere Texte dieser Sammlung erschienen sie 2007 im französischen Original in Beauvoir dans tous ses états bei Tallandier in Paris. In ihrer Rezension mokierte sich die US-amerikanische Romanistin Elisabeth Ladenson über den harten Ton, den ich gegenüber der stark verbreiteten Darstellung Toril Mois anschlage. Ich stelle dem Leser/​der Leserin anheim, ihrem Urteil zu folgen oder nicht.

Der 2. Teil, der den Titel »Frauen- und Geschlechterforschung« trägt, ist zunächst dem französischen Feminismus gewidmet. Die Arbeiten über dieses Thema ergaben sich aus der Beschäftigung mit Beauvoir und stehen daher in diesem Band an zweiter Stelle. Fünfzig Jahre nach Erscheinen des Anderen Geschlechts hielt ich es für angebracht, die Initiatorin der Frauen- und Geschlechterforschung in der französischen Historiografie über den Stand des Feminismus in Frankreich zu interviewen. Die Fragen konnte ich aus einem Überblick über Positionen des französischen Feminismus ableiten, den ich mir dank der genannten Vorlesung kurz zuvor für einen Sammelband verschafft hatte; er ist ebenfalls wiederabgedruckt. Bei der Beschäftigung mit dem Thema, aber auch auf dem Eichstätter Kolloquium zum 50. Jahrestag des Anderen Geschlechts wurde offenbar, dass die Historiografie des französischen Feminismus die Wechselwirkung mit US-amerikanischer Theorie völlig vernachlässigt hatte. Ich recherchierte und kam auf fünf Hin-und-her-Bewegungen zwischen 1947 und 2000, die ich im Jahre 2002 zum Gegenstand eines Vortrags auf einer Gender-Konferenz in Toulouse machte. Das in diesem Aufriss skizzierte großangelegte Forschungsprojekt mit französischer und US-amerikanischer Beteiligung konnte ich leider nicht realisieren. Ich hoffe, dass andere sich seiner annehmen.

Eine weitere Sektion des 2. Teils befasst sich mit der Situation von Frauen in der Hochschullaufbahn. Auch wenn die Verhältnisse in Frankreich nicht ideal sind, kann Deutschland einiges von dem Nachbarland lernen, wo Elitehochschulen und anonyme, landesweite Bestenauslese seit langem den Frauen Karrierewege sichern, für die sie sich nicht bei den Beauftragten von Frauenförderungsmaßnahmen bedanken müssen.

Ich schließe eine Reihe von Rezensionen zu Publikationen deutscher und französischer Frauen- und Geschlechterforscherinnen unterschiedlicher Couleur an, die meistens in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen: Die polemischsten habe ich, um nicht erneut gescholten zu werden, weggelassen. Die vollständige Liste befindet sich auf meiner Homepage.

In den 25 Jahren, in denen die Texte erschienen, gibt es eine Entwicklung, die sich nicht in ihrer Reihenfolge abbildet. Die bedingungslose Apologetin Beauvoirs, die die Nachrufe und die Aufnahme der nachgelassenen Schriften in der Presse analysierte, ist weniger bedingungslos geworden. Besonders nach der Lektüre der Erinnerungen Bianca Lamblins, der jungen jüdischen Geliebten, die Beauvoir und Sartre im Frühjahr 1940 fallenließen, konnte die Komplizität nicht aufrechterhalten werden. Auch die Universalistin, die sich uneingeschränkt zu Beauvoirs Egalitätsfeminismus bekannte, fragt sich inzwischen, ob die Differenzfeministinnen nicht doch in einigen Punkten recht haben könnten. Der von Beauvoir und Sartre vermittelten Freiheitsphilosophie hat dies jedoch keinen Abbruch getan.

Mühlheim, im September 2014

Erster Teil

SIMONE DE BEAUVOIR

 

I. Die vier Rollen Simone de Beauvoirs.
Eine Würdigung

Sie wird am 9. Januar 1908 im Pariser Stadtteil Montparnasse geboren und stirbt am 14. April 1986 in demselben Viertel. Zwischen diesen beiden Daten spannt sich eine ungewöhnliche Biografie: atypisch für eine Frau der französischen Bourgeoisie ihrer Generation, für die Ehe und Mutterschaft das vorgezeichnete Lebensmuster waren. Infolge der Kriegsereignisse verliert die Familie ihr Vermögen. Ohne Mitgift ist eine standesgemäße Heirat nicht möglich. Simone de Beauvoir muss einen Beruf ergreifen, was sie als Frau gesellschaftlich deklassiert. Später erkennt sie, dass ihr nichts Besseres hätte passieren können.

Die konfessionellen Lehranstalten, an denen sie nach dem Besuch einer katholischen Privatschule Literatur und Mathematik studiert, stellen zumindest keine Gefahr für ihre Seele dar, aber dies ändert sich, als sie es durchsetzt, Philosophie an der Sorbonne zu belegen. Dass sie mit dieser Ausbildung zwangsläufig im laizistischen staatlichen Schulwesen unterrichten muss, ist für ihre katholischen Lehrerinnen noch schlimmer: Sie machen – so erinnert sich Beauvoir – kaum einen Unterschied zwischen einem Établissement d’État und einem Freudenhaus! Begierig, schnell unabhängig zu werden, überspringt sie ein Studienjahr. Als Spezialistin für Leibniz bereitet sie im Frühsommer 1929 den mündlichen Teil der Agrégation mit einer Gruppe Kommilitonen vor, zu der Sartre gehört, der ihr galanterweise ein Bild des Philosophen im Bade mit den Monaden überreichen lässt … Die Staatsprüfung in Philosophie ist die höchstangesehene in Frankreich. Sartre besteht sie als Erster, Beauvoir als Zweite. Diese Ränge bedeuten einen Ritterschlag in der Meritokratie, die mit der III. Republik in Frankreich Einzug gehalten hat. Beauvoir ist eine der ersten Frauen, die sich dieser Prüfung überhaupt unterziehen können.

Sie hätte gleich in den Schuldienst gehen können, nimmt sich aber zwei Jahre Auszeit, während Sartre seinen Militärdienst absolviert. Ab 1931 unterrichten beide Philosophie in den Abschlussklassen der Gymnasien, sie in Marseille, dann in Rouen, ab 1936 in Paris. Die Schule dient freilich nur dem Broterwerb. Für sie wie für Sartre gilt der fundamentale Lebensentwurf dem Schreiben. Während Sartre 1938 La Nausée veröffentlichen kann, muss Beauvoir länger warten, bis Gallimard 1943 ihren ersten Roman L’Invitée publiziert, mit dem sie gleich goncourtverdächtig wird. Frankreich ist ein besetztes Land. Das Erziehungswesen untersteht der Vichy-Regierung, die die Republik für die Niederlage verantwortlich macht und vorrevolutionäre Verhältnisse wiederherstellen will. Besonders die Lehrenden sind aufgefordert, den notwendigen Mentalitätswandel herbeizuführen, indem sie die republikanische Trias durch die Werte Arbeit – Familie – Vaterland ersetzen. Weder Sartre noch Beauvoir erscheinen dafür geeignet, was ihre Vorgesetzten richtig erkennen. Dass Beauvoir eine Minderjährige verführt hat, wessen man sie beschuldigt, kann zwar nicht bewiesen werden; dennoch wird sie unehrenhaft aus dem Schuldienst entlassen. Es reicht, dass sie unverheiratet mit einem Mann zusammenlebt, ihre Schülerinnen in die Psychoanalyse einführt und ihnen die Lektüre von Proust und Gide, die als dekadent gelten, empfiehlt. Sartre bleibt verschont.

Beauvoir schreibt vorübergehend für den Staatsrundfunk, vulgo »Radio-Vichy«, dem sie einige Features liefert. Nach der Befreiung von Paris im August 1944 kann sie von der Schriftstellerei leben, denn sie partizipiert an einem der ersten Medienereignisse der wiedererstandenen Republik, der sogenannten »invasion existentialiste«, deren Motor vor allem Sartre ist. Die Lancierung der Temps modernes, die Publikation mehrerer Romane, die wegen der Vichy-Zensur nicht veröffentlicht werden konnten, die Aufführung von Theaterstücken und der berühmte Vortrag »Der Existenzialismus ist ein Humanismus« innerhalb allerkürzester Zeit im Herbst 1945 machen den Existenzialismus zu einer intellektuellen Strömung, die schnell über die Grenzen Frankreichs hinaus wahrgenommen wird. Beauvoir begibt sich auf Vortragsreisen innerhalb und außerhalb Europas, um die Welt mit der neuen Bewegung bekanntzumachen, arbeitet intensiv mit an den Temps modernes, verfasst Essays, Romane und ihre Autobiografie, setzt sich für die Unabhängigkeit Algeriens ein und unterstützt durch Politreisen mit Sartre weltweit Befreiungsbewegungen. Die Autorität, die sie inzwischen als intellektuelle Instanz errungen hat, kommt in den 70er Jahren dem Kampf der Feministinnen zugute. Während Sartre bis zum Ende seines Lebens allen Institutionen gegenüber in einer Haltung der Verweigerung verharrt, unterstützt Beauvoir die sozialistische Regierung, die nach dem Wahlsieg 1981 ein Frauenministerium einrichtet. Als sie 1986 stirbt, folgen ihrem Sarg nicht nur Feministinnen aus aller Welt, sondern auch ehemalige Minister Mitterrands.

Die Nachrufe, die damals in der Pariser Presse erschienen, würdigen sie als Vorkämpferin des Feminismus, als Partnerin Sartres, als Linksintellektuelle und als Schriftstellerin, und zwar der Bedeutung nach in dieser Reihenfolge.2 Was kann man heute, 22 Jahre später, zu den einzelnen Rollen sagen?

Vorkämpferin des Feminismus

Simone de Beauvoir wurde nicht als Feministin geboren. Sie wurde auch nicht dazu gemacht, und dennoch wurde sie dazu. Schon sehr früh wollte sie über sich selbst schreiben und ging das Projekt als Philosophin systematisch an: Was hatte es für sie bedeutet, eine Frau zu sein? Aus der beabsichtigten Grundlegung der Autobiografie wird im Handumdrehen ein enzyklopädisches Werk, denn Beauvoir, die dank ihrer Ausbildung im republikanischen Frankreich als Frau selbst keine Nachteile hatte und von ihren Kommilitonen und Kollegen als völlig gleichrangig betrachtet wurde, stellt mit Erstaunen fest, dass die Welt, in der sie lebt, von Männern gemacht und mit Weiblichkeitsmythen bevölkert ist. Was die Gesellschaft unter »Frau« versteht, ist ein Konstrukt. In ihrer wie in Sartres Philosophie hat die Frau dagegen ebenso wenig wie andere Menschen eine feste Identität. Die Frau will sich in Freiheit verwirklichen, aber scheitert meistens daran, weil ihre Rolle in der Gesellschaft stärker festgelegt ist als die der Männer. Der Grund? Die Prokreation, die sie an die Immanenz fesselt, während die Männer ihre Situation überschreiten können. Nur, wenn die Frauen dieselben Bedingungen erhalten wie die Männer, können sie an der Transzendenz teilhaben. Beauvoir fordert daher 1949 im Deuxième Sexe Geburtenkontrolle (d. h. keine aufgezwungene, sondern bewusst gewählte Mutterschaft) und Teilnahme der Frauen an der Erwerbsarbeit (d. h. ökonomische Unabhängigkeit). Dass sich die Wirklichkeit in den fast 60 Jahren danach in dieser Richtung entwickelt hat, zeigt die Richtigkeit ihrer Diagnose, auch wenn eine selbsternannte Avantgarde – in Deutschland übrigens mit 30-jähriger Verspätung gegenüber Frankreich – versucht, der Differenz zuungunsten der Gleichheit zu Prestige zu verhelfen.3

Dass Le Deuxième Sexe sehr schnell bekannt wurde, liegt nicht nur am Existenzialismus-Boom, sondern auch an dem Skandal, den das Werk 1949 erregte, nachdem das Kapitel über die sexuelle Initiation der Frau in der Mai-Nummer der Temps modernes vorveröffentlicht worden war. Beauvoir beschreibt mit klinischer Genauigkeit einen Koitus, so dass ab der 2. Seite der Zeitschrift, die den Intellektuellen neue Wege weisen wollte, von der »Sensibilität der Vagina«, den »Zuckungen der Klitoris« und dem »männlichen Orgasmus« die Rede ist. François Mauriac, der katholische Leitartikler des Figaro, startet eine Meinungsumfrage unter den jungen Intellektuellen: Führt das Eindringen der »Erotik« in die Literatur die Nation nicht an den Rand des Abgrunds? Die Debatte um Beauvoirs Werk, das der erste Schritt war zu ihrer Autonomie als Schriftstellerin unabhängig von der Gruppe der Existenzialisten, füllte monatelang die Gazetten:4 Dank der Phänomenologie waren Gegenstände wie der Körper und Themen wie Sexualität diskursfähig geworden, jedenfalls bei jungen Intellektuellen, die die katholische Prüderie hinter sich gelassen hatten. Das Buch wurde sofort von einem amerikanischen Verlag übersetzt. Über die Rezeption von Feministinnen wie Betty Friedan und Kate Millett, die den Feminismus weltweit verbreiteten, haben die Ideen Beauvoirs dann unerkannt den Planeten erobert und über die französischen Übersetzungen der Schriften der Amerikanerinnen auch nach Frankreich zurückgefunden.5

Partnerin Sartres

Auch nach dem Ende der Vichy-Regierung war es keineswegs selbstverständlich, dass ein Paar sich öffentlich zu einer freien Verbindung bekannte. Die gleichberechtigte Partnerschaft zweier Schriftsteller, die sich in gegenseitiger Transparenz alle Freiheiten – auch sexueller Art – gönnten, hat mindestens zwei Generationen junger Intellektueller fasziniert, die aus dem Muff bürgerlicher Konventionen ausbrechen wollten. Die frühen Tagebücher, die im April 2008 bei Gallimard erscheinen,6 zeigen freilich, dass Beauvoir, kurz bevor sie Sartre kennenlernte, noch fest damit rechnete, ihren Cousin Jacques zu heiraten, mit dem sie schon als Kind eine Freundschaft verband. Sie vermitteln aber auch ihre Bedenken: Wird sie innerhalb der Ehe noch genug Freiraum haben zu denken und zu schreiben? Für Jacques ist die Ehe eine Art Besiegelung, ein Schlusspunkt. Sie aber will sich weiter entwickeln.

Die genaue zeitliche Planung, die sich immer wieder in ihren Tagebüchern findet, sieht vor, dass mit Abschluss ihres Studiums auch die »affektive Frage« geregelt sein muss. Genau zu diesem Zeitpunkt tritt Sartre in ihr Leben: Sie hat den Mann gefunden, von dem sie sich intellektuell dominiert fühlt, der ihr neue Horizonte eröffnet, der sich aber auch nicht binden will. Der berühmte Pakt ist ein Kompromiss, den beide aushandeln. Sartre – dies verrät eine Tagebucheintragung seinerseits – hätte nach einem Jahr gern seine Freiheit zurückerlangt, aber Beauvoir hat sie ihm nicht zurückgegeben. So musste sie ihm Polygamie zugestehen, zu der auch sie berechtigt war: Vermutlich hätte sie gern darauf verzichtet, wenn Sartre monogam zu haben gewesen wäre. Die Verbindung mit dem ungefähr gleichaltrigen Nelson Algren nach dem Krieg und die Liaison mit dem 17 Jahre jüngeren Claude Lanzmann, die sie als 44-Jährige einging, brachten ihr vor allem eine sexuelle Erfüllung, die sie mit Sartre nie gekannt hatte. Die Beziehung zu Sartre hat jedoch weiterhin intellektuell und emotional Priorität. Umgekehrt ist Beauvoir für Sartre der Fels in der Brandung seiner vielen Frauengeschichten, aber auch mehr. Wenn er sie »mon petit juge« nennt, so auch darum, weil sie ein eingespieltes Arbeitsteam sind. Sartre liefert die Ideen, Beauvoir nimmt sie mit ihrem scharfen analytischen Verstand auseinander. Ein Brief, den sie ihm Ende Oktober 1940 ins Kriegsgefangenenlager nach Trier schreibt, zeigt sehr deutlich diese Komplementarität. Sie hat ihn seit sieben Monaten nicht mehr gesehen und ist gespannt darauf, welche Entwicklung sein Denken genommen hat. »Es ist das erste Mal«, schreibt sie, »dass ich mich vor ganz neuen schönen Theorien befinden werde, die nicht an mir als Erster ausprobiert wurden, die ich nicht Stück für Stück bekämpft haben werde«. Dieses gemeinsame Denken war zweifellos bis zum Schluss für sie das wichtigste Band.

Linksintellektuelle

Wohlmeinende Feministinnen haben allerdings in letzter Zeit den Spieß umdrehen und Beauvoir den kreativen Part zuordnen wollen, den diese in weiblicher Selbstverleugnung für sich nicht reklamiert habe. Einer der Belege ist für sie die Genese der Engagementtheorie. Diese lässt sich aufgrund des lange verschollenen ersten Heftes von Sartres Kriegstagebüchern rekonstruieren. Die Anregung ging in diesem Fall tatsächlich von Beauvoir aus. Seit Juli 1938 war sie mit dem acht Jahre jüngeren Pastorensohn und ehemaligen Schüler Sartres Jacques-Laurent Bost liiert, der kurz nach der ersten gemeinsamen Nacht seinen Militärdienst antreten muss. Dieser ist noch nicht zu Ende, als der Krieg ausbricht. Beauvoir fürchtet um sein Leben und fragt im Oktober 1939, ob sie und Sartre nicht etwas versäumt hätten, als sie sich in der Zwischenkriegszeit nicht um Politik kümmerten. Tragen sie nicht durch ihre Passivität die Verantwortung, wenn Bost im Krieg fallen sollte? Sartre, der bis dahin über Verpflichtung nur auf individueller Ebene reflektiert hat, entwickelt daraufhin die Engagementtheorie, was ihm umso leichter fällt, als er genau zu diesem Zeitpunkt durch die Lektüre Heideggers die Historizität entdeckt.7

Auch wenn dieses – wichtige – Beispiel die enge Symbiose von Beauvoirs und Sartres Denken zeigt, so ist Sartre generell der theoretisch Führende. Dass sie ihm allzu eilfertig beim Wechseln seiner Theorien folge, wirft ihr im Übrigen eine junge Geliebte im Dezember 1939 vor, worauf Beauvoir mit Absicht frivol antwortet, dass diese Änderungen Leben in ihre Existenz bringen. Dieses trifft auch für die Politik zu, jedenfalls bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Sartre ist über die politischen Vorgänge im Allgemeinen besser informiert als sie, so dass sie ihn im November 1939 von Paris aus, wo ihr alle Informationsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, in einem Brief an die Front um ein kurzes Exposé über die zunehmende Kriegsbedrohung von September 1938 bis September 1939 bittet, das sie als Hintergrund für ihren Roman braucht. Dass die Geschichte mit unwiderstehlicher Gewalt im Krieg und während der Okkupation über sie hereinbricht, wie sie es in ihrer Autobiografie schreibt, und sie die »force des choses« lehrt, lässt sich auf der Grundlage der zeitgenössischen écrits intimes, die nicht für die Publikation bestimmt waren, kaum aufrechterhalten. Für Beauvoir wie für Sartre ist die Kriegserfahrung vor allem eine Gelegenheit, ihr Denken zu erneuern. Inszeniert der 1941 beendete Roman L’Invitée ebenso wie das im Herbst 1943 verfasste Theaterstück Huis clos noch die konfliktive Intersubjektivität, so steht bei dem unmittelbar danach verfassten Résistanceroman Le Sang des autres die Reziprozität und Solidarität im Vordergrund: Die philosophische Grundlage liefert in beiden Fällen Hegels Phänomenologie des Geistes, die, von Jean Hyppolite übersetzt, 1939 und 1941 in zwei Bänden erscheint und die Beauvoir in der Pariser Nationalbibliothek liest, während Sartre im Gefangenenlager zusammen mit einem Priester Sein und Zeit im Original entziffert und, wie man weiß, auf seine eigene Weise rezipiert. So gerüstet, treten beide in der politisch und kulturell von der Linken dominierten Nachkriegsszene an, wobei Beauvoir an Sartres subversivem Image partizipiert. Auch wenn der intendierte Widerstand in Sartres Okkupationsstücken nur von wenigen erkannt wurde, galt er doch den jungen Intellektuellen als Vertreter einer Gegenkultur zur Ideologie Vichys, deren Niedergang mit Stalingrad vorhersehbar und mit der Landung der Alliierten in der Normandie definitiv besiegelt war. Obwohl auch Beauvoir den Traditionalismus Vichys verabscheute, hatte sie weniger als Sartre in puncto Résistance vorzuweisen. Vielleicht musste sie daher umso radikaler ihre neuen Überzeugungen vertreten, wenn etwa der Algerienkrieg ihr schlaflose Nächte bereitet, wenn sie regelmäßig mit Sartre in die UdSSR reist, als sich andere längst vom sogenannten real existierenden Sozialismus abgewandt hatten, oder wenn sie Anfang der 70er Jahre mit den jungen Maoisten auf die Straße geht. Ein Satz ist es vor allem, der sie wie Sartre definitiv nach dem Fall der Mauer für viele zum Symbol des politischen Irrtums macht, auch wenn sie sich später zu moderateren Positionen bekannte. Um im Jahre 1954, als sie mit Sartre die Kommunistische Partei unterstützte, das »rechte Denken« zu charakterisieren, schrieb sie in den Temps modernes: »Die Wahrheit ist unteilbar, der Irrtum vielfältig. Es ist kein Zufall, dass die Rechte sich zum Pluralismus bekennt.« Zumindest aus heutiger Sicht kann man kaum jenen widersprechen, die in diesem Zitat eine mögliche Grundlage des Totalitarismus erkennen.

Schriftstellerin

In der Rangordnung der Rollen, die Beauvoir einnahm, befindet sich jene der Schriftstellerin an letzter Stelle, vielleicht zu Unrecht. Das Konzept der engagierten Literatur, in dem das Signifikat auf Kosten des Signifikanten privilegiert wird, hat wahrscheinlich dazu geführt, die Betrachtung der Form zu vernachlässigen. Während eine Avantgarde-Autorin wie Hélène Cixous Beauvoir mit absoluter Verachtung straft, hat Roland Barthes, den man nicht unbedingt zur Arrière-Garde zählen kann, noch kurz vor seinem Tode in einem seiner letzten Interviews darauf hingewiesen, wie verführerisch neu der Stil in Beauvoirs (und Sartres) Essays war. Literatur, Philosophie und Politik, die zuvor getrennten Registern angehörten, gingen bei ihnen – zweifellos aufgrund der Phänomenologie – eine Allianz ein. Die Beschreibung des Körpers mit philosophischen Begriffen war im Deuxième Sexe derartig ungewohnt, dass man Beauvoir 1949 in Paris trotz der unterstellten Obszönität ihres Textes einer unpassenden und preziösen Oberlehrerhaftigkeit bezichtigte. Man kann sich fragen, ob die Gender-Theorie einer Judith Butler schon da wäre, wo sie heute steht, wenn Beauvoir 1949 nicht damit begonnen hätte, die Geschlechterfrage philosophisch anzugehen.

Als narrative Gattung erscheint – trotz des Intellektuellenromans Les Mandarins, für den sie 1954 den Prix Goncourt erhielt – die Autobiografie am eindrucksvollsten, insbesondere der erste Band Mémoires d’une jeune fille rangée, nicht nur wegen der gelungenen Verbindung von individuellem Lebenslauf und kollektiver Geschichte. Große Literatur entsteht unter Zwang, so auch dieser Band, in dem Beauvoir sich von einer Schuld freischreibt, Schuld gegenüber ihrer Freundin Zaza, der sie so viel verdankte und die sie sterbend allein ließ, weil ihre neue Liebesbeziehung zu Sartre sie völlig in Anspruch nahm. Starke Prosa weist auch die Verarbeitung des Todes ihrer Mutter auf, die sie nicht schätzte, weil sie sich in die konventionelle Frauenrolle ihrer Gesellschaftsschicht gefügt hatte: Sartre hat den kurzen, ungemein dichten Text, der den ironischen Titel Une mort très douce trägt, als das Beste bezeichnet, was sie überhaupt geschrieben habe. Im Augenblick des Todes ist es ihr endlich möglich, Empathie mit ihrer Mutter zu üben. Die letzten Sätze weisen über das individuelle Schicksal hinaus: »Es gibt keinen natürlichen Tod: Nichts, was dem Menschen widerfährt, ist jemals natürlich, denn seine Anwesenheit stellt die Welt in Frage. Alle Menschen sind sterblich: Aber für jeden Menschen ist sein Tod ein Unglücksfall und, auch wenn er um ihn weiß und sich fügt, ein unverdienter Gewaltakt.«

Erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5./​6. Januar 2008 anlässlich des 100. Geburtstags von Simone de Beauvoir

II. Das andere Geschlecht

1. Das andere Geschlecht,
Fundament des egalitären Feminismus

Nicht nur zum Ende des Jahrtausends, das gerade vorbei ist, sondern auch zum Ende des Jahrhunderts ist, wie wir alle wissen, häufig Bilanz gezogen worden. Man versuchte, das zu benennen, was das 20. Jahrhundert am stärksten charakterisiert habe. Dabei fiel häufig der Begriff des Totalitarismus. Man kann aber auch anderer Meinung sein und mit der französischen Philosophin Élisabeth Badinter annehmen, dass das 20. Jahrhundert ein großer Schritt vorwärts gewesen ist in der Befreiung der Hälfte der Menschheit – der Frauen –, jedenfalls in den westlichen Gesellschaften.8 In diesem Zusammenhang wird immer wieder die 1949 erschienene grundlegende Studie zur »Lage der Frau« Das andere Geschlecht genannt, obwohl im Einzelnen die Weise, wie das Buch gewirkt hat, längst nicht untersucht ist.9 Es wurde sehr schnell nach seinem Erscheinen in zahlreiche Sprachen übersetzt: heute sind es 33. Auch ohne detaillierte empirische Rezeptionsstudien kann man stark vermuten, dass ohne Das andere Geschlecht die Feminismusdebatte mit ihren konkreten Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben nicht da wäre, wo sie heute ist. Dasselbe gilt für die Frauen- und Geschlechterforschung. Ich möchte Ihnen heute sagen, wer die Frau war, die dieses Buch geschrieben hat; wie sie dazu kam, es zu schreiben; welches die wichtigsten Thesen und ihre philosophischen Prämissen sind und wie die Aufnahme dieses Buches vor fünfzig Jahren aussah und heute aussieht.

Eine untypische Biografie

Zunächst also: Wer war Simone de Beauvoir?

Simone de Beauvoir wurde 1908 in Paris geboren in einer Familie des höheren Bürgertums, ja sogar niederen Adels – de Beauvoir –, dessen Lebensvollzug genauen Codes und sozialen Riten unterlag, die die Klassenzugehörigkeit signalisierten. Zu diesen Kennzeichen und Distinktionsmerkmalen gehörte es, dass die Frauen nicht arbeiteten, genauer gesagt: keiner Erwerbsarbeit nachgingen. Simone de Beauvoirs Lebensmuster war quasi vorgezeichnet – hätte eine Wirtschaftskrise der Familie nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie verarmte. Man konnte der Tochter keine Mitgift geben. Damit wurde eine standesgemäße Heirat unmöglich. Beauvoir musste wider die Regeln ihrer Klasse einen Beruf ergreifen, um sich selbst zu ernähren. Nichts Besseres hätte ihr, wie sie später erkannte, passieren können.10

Sie studiert Philosophie und legt 1929 im Alter von 21 Jahren ihre Staatsprüfung, die Agrégation, ab. Abgesehen davon, dass es damals kaum Frauen gab, die bis zu dieser Prüfung vordrangen – sie durften sie überhaupt erst seit 1920 ablegen –, war sie auch zu ihrer Zeit die Jüngste, die sie bestand. Sie wurde die Zweite ihres Jahrgangs; an erster Stelle stand jemand, dem sie lebenslang verbunden bleiben sollte und den sie kurz zuvor kennengelernt hatte, Jean-Paul Sartre. Die bestandene Prüfung ist zugleich Garantie für die finanzielle Absicherung: Sie und Sartre sind in den dreißiger und vierziger Jahren Gymnasiallehrer, zunächst in der Provinz, dann in Paris. Lehrersein ist für sie jedoch nur ein Brotberuf: Beide wollten schon als Kinder Schriftsteller werden.

Jede freie Minute, die ihr der Unterricht lässt, wird also ins Schreiben investiert. Wenn in Briefen oder Tagebuchnotizen aus dieser Zeit der Begriff »Arbeit« auftaucht, dann ist nicht etwa die Schule gemeint, sondern der Roman, den sie gerade schreibt. Die dreißiger Jahre ziehen sich endlos lang in Etüden hin, die sie entweder selbst verwirft oder die von den Verlagen abgelehnt werden. Einige Feministinnen behaupten heute, Beauvoir habe besondere Schwierigkeiten gehabt, sich auf dem literarischen Markt durchzusetzen, weil sie eine Frau war.11 Dabei entgeht ihnen, dass auch Sartre in den dreißiger Jahren lange auf der Stelle trat, bis ein Freund dem Verlag Gallimard seinen ersten Roman ans Herz legte, mit dem er in der Pariser Literaturszene eine Art Geheimtipp wurde. Beauvoir musste länger warten, bis ihr erster Roman erschien. Inzwischen war der Krieg ausgebrochen und Frankreich von den Deutschen besetzt. Im August 1943 publizierte Gallimard L’Invitée (deutsch Sie kam und blieb). Beauvoir hatte gerade ihre Stelle als Lehrerin verloren. Der Anlass für die Suspendierung war das Leben, das sie führte, und der Unterricht, den sie erteilte. Die mit den Deutschen kollaborierende Regierung von Vichy, der das Erziehungswesen unterstellt war, verteidigte andere Werte als vorher die Republik.12 Die von der Französischen Revolution proklamierten Menschenrechte – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (oder besser: Solidarität) – waren diskreditiert. Der antirepublikanische Vichy-Staat, der vorrevolutionäre Verhältnisse wiederherstellen wollte, hatte sie durch Arbeit, Familie, Vaterland ersetzt. Beauvoir erregte als Lehrerin Anstoß, weil sie weder in ihrer Lebensführung noch in ihrem Unterricht diese Werte mittrug: Sie war kein Vorbild. Denn sie lebte in »ungeordneten Verhältnissen«: Sie besaß kein »Heim«, wohnte im Hotel, korrigierte Klassenarbeiten im Café und hatte einen Geliebten. Überdies empfahl sie ihren Schülerinnen die Lektüre von Proust und Gide, Autoren, die als dekadent galten. Weiterhin informierte sie sie über die Psychoanalyse und forderte sie auf, sich eine psychiatrische Anstalt von innen anzusehen. All das war für damalige Verhältnisse nicht tragbar, denn Beauvoir unterrichtete zuletzt zukünftige Lehrerinnen, die die Vichy-Ideologie an ihre Schülerinnen weitergeben sollten. Beauvoirs Erziehung trug sicher nicht dazu bei, ihre Schülerinnen von der Bedeutung der Familie und der Mutterschaft zu überzeugen.

Genese

Die Dokumente, die ich hier resümiert habe, sind erst seit Anfang der neunziger Jahre bekannt.13 Ich denke, die unehrenhafte Entlassung aus dem Schuldienst im Namen von Werten, die nicht die ihren waren, gehört zu den Ursachen, die sie einige Jahre später dazu treiben, gegen ebenjene Werte in ihrem Buch über die Lage der Frauen anzuschreiben. Nach der Befreiung Frankreichs ist die Vichy-Ideologie nämlich ihrerseits in Ungnade gefallen. Nun triumphiert wieder die republikanische Trias, von der Beauvoirs Thesen getragen sind: Freiheit – Gleichheit – Solidarität.

Beauvoir selbst hat den Zusammenhang, den ich hier etabliert habe, nicht hergestellt, als sie sich in ihrer Autobiografie zur Genese des Anderen Geschlechts äußerte. Da sie nicht mehr unterrichtete, war sie seit 1943 als Schriftstellerin ungeheuer produktiv. Dass ihre Schriften – anders als in den dreißiger Jahren – sofort Interessenten, d. h. Verlage fanden, hat mit der existenzialistischen Mode zu tun, die nach der Befreiung Frankreichs massiv einsetzte. Was eigentlich diese Mode auslöste, dafür gibt es verschiedene Erklärungen.14 Die Forschung ist sich in jedem Fall einig darüber, dass man von ca. Mitte der vierziger bis Mitte der fünfziger Jahre im literarischen und intellektuellen Feld Frankreichs von einer existenzialistischen Hegemonie sprechen kann.15 Beauvoir schrieb und publizierte in kürzester Zeit zwei weitere Romane, philosophische Essays sowie ein Theaterstück und wirkte an der Gründung und Herausgabe einer Zeitschrift mit, Les Temps modernes, die den Intellektuellen neue Wege weisen wollte. Frankreich lag nach dem Krieg wirtschaftlich darnieder, das einzige wirklich bedeutende Exportgut waren die Produkte der Schriftsteller. So befand Beauvoir sich häufig im Ausland, um Vorträge zu halten, mehrfach auch monatelang in den USA. Inmitten dieses Trubels entstand Das andere Geschlecht – in Stücken, die nachher zu einem Ganzen zusammengefügt wurden. Die im Februar 1997 bei Gallimard erschienenen Briefe an den amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren sind dafür höchst aufschlussreich.16

In ihrer Autobiografie hört sich die Genese ihres Buches äußerst logisch an.17 Eines Tages, so notiert sie, hatte sie wieder einmal einen Text fertig und wusste nicht, was sie als nächstes Thema angreifen sollte. Sie habe Lust gehabt, über sich selbst zu schreiben. Als Philosophin ging sie die Frage systematisch an: Was hatte es für sie bedeutet, eine Frau zu sein? Im Grunde gar nichts – zu dem Schluss kam sie zunächst, denn nie habe ihr jemand ein Gefühl der Unterlegenheit vermittelt: Unter ihren Kommilitonen und Kollegen war sie anerkannt wie ein Mann. Die republikanischen Institutionen, vor allem die anonymen Concours, die effektiver als in Deutschland für Chancengleichheit im Erziehungswesen sorgen, hatten dies möglich gemacht. Sartre, mit dem sie alle Projekte besprach (wie er seine Projekte mit ihr besprach), habe ihr jedoch zu bedenken gegeben, dass sie als Mädchen anders erzogen worden sei als ein Junge. Verlässt man sich auf Beauvoirs Erinnerung, so gab diese Bemerkung den Ausschlag. Sie ging ihr nach und war selbst am meisten erstaunt über das, was sie entdeckte: Die Welt, in der sie seit nunmehr fast vierzig Jahren lebte, war eine männliche Welt, ihre Kindheit war von Mythen geprägt, Mythen, die von Männern gemacht worden waren und auf die sie anders reagiert hätte, wenn sie ein Junge gewesen wäre. Beauvoir gab ihr autobiografisches Projekt zunächst auf und befasste sich mit der Lage der Frau im Allgemeinen. Mit der ihr eigenen Arbeitswut und Gründlichkeit las sie sich in kürzester Zeit durch alles hindurch, was die Pariser Bibliotheken für ihr Thema zu bieten hatten. Ich gehe nicht weiter auf die Genese ein und stelle Ihnen das Ergebnis vor.

Aufbau

Ganz einfach ist es allerdings nicht, auf gedrängtem Raum die Quintessenz der gut 900 Seiten zu präsentieren, die das Werk in der deutschen Neuübersetzung aus dem Jahre 1992 umfasst. Ich werde mich auf die Erkenntnisgrundlagen und die Kernaussagen konzentrieren.

Auch wenn es, wie ich sagte, eine Zusammenfügung von Stücken ist, die erst im Nachhinein zu einer Einheit verschmolzen wurden, weist das Buch einen systematischen Aufbau auf. Es wird fast akademischen Ansprüchen gerecht, obwohl es von vornherein für eine breitere Öffentlichkeit geschrieben wurde. Ich sage »fast«, weil es sehr wenig Nachweise enthält, d. h. Fußnoten. In Sartres theoretischen Schriften ist es übrigens genauso. Von Zettelkästen haben beide nicht viel gehalten; sie hatten alles im Kopf.

Einer Einleitung, in der Beauvoir ihre Erkenntnisprämissen offenlegt,18 folgt eine Art Forschungsbericht, in der sie die Wissenschaften und Theorien kritisch Revue passieren lässt, die sich mit Körper, Psyche und Geschichte der Frau befassen. Dann widmet sie das restliche erste Buch zum einen der konkreten Geschichte der Frauen, um mit Hilfe ihres eigenen philosophischen Ansatzes die Ursachen ihrer Unterdrückung genauer zu begreifen, und zwar von der Vorgeschichte bis zu ihrer unmittelbaren Gegenwart. Zum anderen geht sie auf die Mythen oder Bilder ein, die Männer von Frauen konstruiert haben, um sie, wie Beauvoir meint, ihren Zwecken dienstbar zu machen. Den Fakten und den Mythen des ersten Bandes folgt im zweiten Band die gelebte Erfahrung der Frauen. Die Perspektive des ersten Bandes wird umgekehrt. Nunmehr wird aus der Sicht der Frauen die Situation geschildert, in der sie sich in ihren verschiedenen Lebensphasen – von der Wiege bis zur Bahre – vorfinden, eine Situation, der sie sich stellen, die sie sich aber auch verschleiern können. Am Ende ihrer Untersuchung zeigt Beauvoir Perspektiven der Befreiung auf.

Erkenntnisprämissen

Das also ist der Aufbau von Beauvoirs Werk. Beginnen wir nun mit den Erkenntnisprämissen. Beauvoir nennt ausdrücklich als Grundlage ihres Denkens eine »existenzialistische Ethik«. Was ist darunter zu verstehen? Der Existenzialismus ist eine dezidiert atheistische Philosophie. Der Mensch, das Bewusstsein ist weder von Gott noch von einer anderen Instanz oder Größe, die ihm vorgeordnet wäre, abgeleitet. Er hat keine feststehende Natur, ist durch nichts determiniert. Er findet sich vielmehr als reine Faktizität vor in einer Situation, die er zu überschreiten bestrebt ist. Dieses ständige Sichselbstüberschreitenwollen, das Sichlosreißen vom Gegebenen, ist für jedes Bewusstsein konstitutiv. Ich überschreite meine Situation, das mir Vorgegebene, indem ich mich im Handeln frei entwerfe. Diese Bewegung nennt Beauvoir Transzendenz. Sie macht es nun zur moralischen Verpflichtung, sich diesem Selbstentwurf in Freiheit zu stellen, der Tatsache des Nichtdeterminiertseins nicht auszuweichen. Die bewusst erlebte und realisierte Freiheit macht für sie die Würde des Menschen aus. Wer sich mit seiner Situation abfindet, ohne sich selbst frei und verantwortlich in ihr zu wählen, zu definieren, verhält sich in Beauvoirs Sinne schuldhaft. Anders als Sartre noch 1943 in Das Sein und das Nichts sieht sie allerdings auch den Fall vor, dass man an der Selbstüberschreitung gehindert, zur Immanenz gezwungen werden kann. Dies charakterisiert die besondere Situation der Frau. Wie jedes Subjekt will die Frau sich im freien Entwurf selbst begründen, aber sie muss feststellen, dass andere schon ihre Rolle festgelegt und sie zum Objekt degradiert haben. Intersubjektivität hat in Beauvoirs und Sartres Philosophie weitgehend konfliktiven Charakter. Jedes Subjekt nimmt das andere Bewusstsein immer als Objekt wahr, nur schwingt sich dieses Objekt seinerseits zum Subjekt auf, so dass zwischenmenschliche Wahrnehmung grundsätzlich ein permanentes Oszillieren zwischen Freiheit und Entfremdung ist. Anders aber im Geschlechterverhältnis: Beauvoir zufolge haben sich die Männer den Frauen gegenüber dauerhaft die Rolle des Subjekts angemaßt. Der Objektstatus ist das Besondere der Lage der Frau oder condition féminine. Wie kam es dazu und wie kann man aus der Abhängigkeit in die Unabhängigkeit kommen? Diese Fragen will sie in ihrer Schrift beantworten.

Abgrenzung von Biologie, Psychoanalyse und historischem Materialismus

Wenn Beauvoir von einer condition féminine spricht, so meint sie damit keineswegs ein unausweichliches Schicksal. Wäre dem so, hätte es keinen Sinn, über Möglichkeiten der Befreiung nachzudenken. Daher ist die Überschrift »Schicksal«, die sie dem Teil ihrer Arbeit gibt, den ich vorhin »Forschungsbericht« nannte, ironisch zu verstehen. Unter dieser Überschrift befasst sie sich mit der Biologie, der Psychoanalyse und dem historischen Materialismus, um sich anzuhören, was diese Wissenschaften und Theorien über die Physiologie, die Psyche und die ökonomischen Bedingungen der Frauen zu sagen haben. In der Biologie arbeitet sie sich von den Einzellern bis zum Menschen hoch. Ab den höheren Tierarten gilt: In Zeugung und Fortpflanzung verwirklicht sich der männliche Teil, während das Weibchen Schauplatz eines Geschehens ist, das sich in ihm abspielt, es aber nicht persönlich betrifft. Bereits hier ist erkennbar, dass Reproduktion und Mutterschaft eine wichtige Rolle spielen werden bei der Entfremdung, deren Gründe sie sucht. Aber zur Entfremdung müssen sie nicht zwangsläufig führen, denn Anatomie ist kein Schicksal. Sie können keine Hierarchie der Geschlechter begründen. Denn die Daten der Biologie haben für Beauvoir als solche keine Aussagekraft, sie bedürfen der Interpretation. Ob eine Frau weniger Muskeln hat als ein Mann, ist an sich noch nicht bedeutsam; die Tatsache erhält erst Sinn aufgrund ihrer Funktion innerhalb eines bestimmten Kontextes. Dasselbe gilt für Schwangerschaft und Mutterschaft. Wie sie erlebt werden, hängt Beauvoir zufolge von dem Wert ab, den man ihnen innerhalb einer gegebenen Gesellschaft beimisst.19

von der Gesellschaft zuerkannt20nicht kausal, sondern final