image

Meister Eckhart
Vom Trost Gottes

topos taschenbücher, Band 1010
Eine Produktion des Lahn-Verlags

image

Verlagsgemeinschaft topos plus
Butzon & Bercker, Kevelaer
Don Bosco, München
Echter, Würzburg
Lahn-Verlag, Kevelaer
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

ISBN: 978-3-8367-1010-7
E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5013-4
E-Pub: ISBN 978-3-8367-6013-3

2015 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim
Lahn-Verlag, Kevelaer.

Inhalt

Meister Eckharts Mystik eines befreiten Lebens

Leonardo Boff

Der Weg der Nachfolge

Der Weg der Mystik

Meister Eckhart

Das Buch der göttlichen Tröstung

Vom edlen Menschen

Anmerkungen

Meister Eckharts Mystik eines befreiten Lebens

Leonardo Boff

Die Mystik kennt keine Konfessionsgrenzen. Sie durchdringt alle Religionen. Sie ist das Hereinbrechen Gottes in das Leben der Menschen. Gott ist in allen Religionen anwesend, doch gleichzeitig übersteigt er sie auch. Er teilt sich selbst allen Religionen mit und lässt sich von allen finden, die ihn suchen.1

Wir unterscheiden grundsätzlich zwischen zwei Weisen, Gott zu begegnen. Sie schließen einander nicht aus, sondern durchdringen sich gegenseitig. Dennoch weist eine jede von ihnen ihre besonderen Eigentümlichkeiten auf. Gemeint sind der Weg der Nachfolge und der Weg der Mystik.

Der Weg der Nachfolge

Der Weg der Nachfolge2 ist der Weg des Glaubens. Im Glauben seinen Weg gehen bedeutet, in der Dunkelheit vorwärtszuschreiten und „überzeugt zu sein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebräer 11,1). Deshalb trägt aller wahrhafte Glaube immer ein Element der Hoffnung an sich – die Hoffnung, dass das, was man nicht sieht und sinnlich erfährt, tatsächlich existiert und unsere Erfüllung darstellt. Das Christentum hat seiner Art des Glaubensweges die Gestalt der Nachfolge Jesu Christi, des „Urhebers und Vollenders des Glaubens“ (Hebräer 12,2), gegeben. Jesus nachzufolgen setzt voraus, dass man um seine historische Praxis und um die letztgültige Bedeutung weiß, die wir ihr zuschreiben. Das Christentum ist der Glaube, dass sich in ihm Gott ganz hingegeben und sein wahres Antlitz gezeigt hat. Deshalb erweisen sich sein ganzes Leben, seine Haltungen, die Gesten und das Geschick Jesu als entscheidende Bestimmungen eines menschlichen Lebens, so wie Gott es will. Im christlichen Verständnis heißt glauben also so gut wie möglich Jesus nachfolgen – in seinem Leben, in seiner Vision für die Geschichte, und wenn nötig auch in seinem Geschick.

Jesus nachfolgen in seinem Leben

Das Leben Jesu war insbesondere von zwei Leidenschaften geprägt: von der Liebe zum Vater und von der Liebe zu den Unterdrückten. Die Liebe zum Vater findet ihren Ausdruck in der tiefen Intimität des Zwiegesprächs zwischen Vater und Sohn. Jesus erfährt das letzte Geheimnis nicht als Abgrund, sondern als Zärtlichkeit, als Abba (Papi), als unerschöpfliche Quelle von Liebe und Mitleid mit allen, insbesondere mit den Verlorenen und Verzweifelten (vgl. Matthäus 5,45; Lukas 15). Aus dieser Erfahrung resultiert für Jesus eine Praxis der Solidarität mit den Ausgegrenzten und Sündern. Seine Liebe zu den Unterdrückten brach mächtig hervor. Sie sind die Bevorzugten des Reiches Gottes (Lukas 6,1). Der selbstlose Dienst an ihnen ist der wahre Gottesdienst und bildet das letzte Kriterium unseres Heils (Matthäus 25,40).

Jesus nachfolgen in seiner Vision von der Geschichte

Das Reich Gottes bildet den Inhalt dessen, was Jesus will. „Reich“ ist ein Wort für die grundlegendste Utopie des menschlichen Herzens: für eine Welt, in der alles Diabolische und Dunkle überwunden ist, in der die zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen von Gerechtigkeit, Liebe Geschwisterlichkeit und Vergebung geprägt sind, in der sich der Mensch als Kind eines liebevollen Vaters weiß. Jesus verkündet dieses Projekt als den Willen Gottes, und zwar nicht als einen Willen, den er uns auferlegt, sondern als seine Absicht, die er uns als Vorschlag unterbreitet. Deshalb geht mit der Verkündigung des Reiches Gottes immer die Einladung zur Umkehr einher, das heißt, es setzt die bereitwillige Annahme derer voraus, die die Botschaft hören. Dieses Reich fällt nicht einfach plötzlich vom Himmel. Es meint einen gewaltigen Prozess, in dem Gott und Mensch zusammen, ein jeder auf seine Weise, den neuen Himmel und die neue Erde hervorbringen. Jede konkret gelebte Geschwisterlichkeit, jede Veränderung der Gesellschaft, die mehr Leben für alle bedeutet, jede Überwindung von Rache vonseiten der Menschen sind Formen der Vermittlung, die das Reich Gottes konkret werden lassen und vorwegnehmen.

Jesus nachfolgen in seinem Schicksal

Die Praxis, die aus Jesu Projekt resultierte, führte zum Konflikt mit den unterschiedlichen Akteuren der Gesellschaft und Religion seiner Zeit. Jesus musste das erleiden, was alle Propheten und alle anderen erlitten haben, die diese Welt verändern wollten: Verleumdung, Isolierung, Verfolgung und Verurteilung zu Folter und Tod. Er nimmt diese Anfechtungen mutig auf sich. Das Martyrium ist der Preis für die Treue zur Sache, die er niemals verriet. Wer Jesus nachfolgen will, der weiß, dass für ihn die Seligpreisung der Verfolgten ebenso gilt wie für seinen Meister (Matthäus 5,10 f)

Es wird also klar: Im Glauben zu wandeln im Sinne der Nachfolge Jesu bedeutet trotz des Widerspruchs glauben, wider alle Hoffnung hoffen, standhalten, wenn alles um einen herum schwach wird. Der Jünger ist nicht größer als sein Meister (Matthäus 10,25) und kann denselben schmerzlichen Kreuzweg durchmachen wie dieser (Johannes 21,18–19). Hier geht es nicht um außerordentliche spirituelle Erleuchtungserlebnisse. Die kann es geben, wie es etwa bei Jesus am Berg Tabor (Lukas 9,28–36) oder damals der Fall war, als er von der Freude des Heiligen Geistes überströmt war, die in einen Jubelruf mündete (Lukas 10,21–23). Doch das grundlegende Merkmal der Nachfolge Jesu verwirklicht sich in der ethischen Praxis, im Engagement für die Veränderung der Welt, im demütigen Dienst an den Verlassenen dieser Welt. Glaube und Nachfolge gehen mit Einsamkeit (Johannes 16,32), ja bisweilen mit dem Gefühl der Gottverlassenheit (Markus 15,34) einher. Worauf es ankommt, ist der Willensentschluss, treu zu bleiben und gegen jeden äußeren Anschein die Verbundenheit und Gemeinschaft mit Gott durchzuhalten.: „… nicht was ich will, sondern was du willst, möge geschehen.“ (Markus 14,36) Die Verfügbarkeit und die Bereitschaft, den Willen des Vaters zu tun, bilden das unverwechselbare Kennzeichen des Verhaltens Jesu (vgl. Markus 14,36; Matthäus 26,39; Lukas 222,42; Johannes 4,34; 6, 38; 5,19; 20, 30.36; Philipper 2,8; Römer 15,3; Hebräer 10,7–9). Diese Entscheidung, zu glauben, ohne zu sehen, an etwas festzuhalten ohne sichtbare Bestätigung und standzuhalten, obwohl man keinen Ausweg sieht, stellt ein charakteristisches Merkmal der Nachfolge Jesu dar.

Und es ist auch wahr, dass zur Nachfolge Christi auch das gehört, was Paulus die Gaben des Geistes nennt. Insbesondere dem, der durch Praxis und Botschaft Jesu diesem ähnlich werden will, werden Lebensweisheit, Sinn für den geschwisterlichen Dienst und ein Gespür für den wahren Verlauf der Dinge verliehen (1 Korinther 12 und Römer 12). Doch all dies ist auf die Stärkung des geschwisterlichen Zusammenlebens hingeordnet. Was wirklich Bestand hat, sind nicht die besonderen Gnadengaben wie die prophetische Rede, das Sprechen in fremden Zungen und das entsprechende Verstehen (1 Korinther 13,8); was bleibt, das ist die „beste Gabe von allen“, die Liebe, die niemals aufhört (1 Korinther 12,31; 13,8). Sie ist es, die uns das Heil bringt. Ohne sie hat keine Vision, keine Verzückung im Geist im Kontakt mit dem Einen, kein Eintauchen ins unergründliche Geheimnis, das alles durchdringt, vor Gott Bestand, und nichts davon ist von letztgültiger Dauer.

Trotz dieses Weges der Dunkelheit in der Nachfolge Christi kann da und dort die leuchtende Klarheit der mystischen Erfahrung hereinbrechen, die Paulus in der Formel zusammenfasst: „Nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ (Galater 2,20). Doch sie ist nur denen möglich, die ihr Leben in Christus und im Geist Christi gestalten.

Der Weg der Mystik

Zunächst möchte ich das Wort „Mystik“ klären, denn der Wortsinn selbst führt uns die Grundmerkmale dieses Weges der Begegnung mit Gott vor Augen. Das griechische Adjektiv mystikós kommt vom Substantiv mystérion, Geheimnis. Im Alten und Neuen Testament hat das Wort Mysterium (Geheimnis) unterschiedliche Bedeutungen. Zunächst meint es das menschliche Geheimnis, das nicht verraten werden darf, z.B.: die geheimen Pläne des Königs (Tobit 12,7.11; Judit 2,2), die Kriegspläne (2 Makkabäer 13,21), die geheimen Vorhaben des Freundes (Jesus Sirach 22,22; 27,16–21). Es kann auch den endgültigen Ratschluss Gottes bedeuten, der nur Menschen bekannt ist, die eine besondere Erleuchtung von Gott erhalten haben (Daniel 2,28.29.47). Für Paulus ist das große Mysterium Gottes – der grundlegende Plan Gottes – Jesus Christus selbst, das Geheimnis, das seit Ewigkeit verborgen da war und erst jetzt der Kirche durch die Apostel offenbart wurde (1 Korinther 2,6–16; Epheser 3; Kolosser 1,26–29). In der alten Kirche bildet das Wort „Mysterium“ (im Lateinischen wird es mit sacramentum übersetzt) den Schlüsselbegriff, um den christlichen Glauben zum Ausdruck zu bringen. Geheimnis bezeichnet hier den umfassenden Heilsplan Gottes für die Menschen und zur Befreiung der ganzen Schöpfung, der sich seit Anfang der Welt entfaltet, in den Religionen vorausgebildet ist, doch in dichtester Weise im Alten Testament zum Ausdruck kommt, in Jesus Christus zur Fülle seiner konkreten Gestalt gelangt und innerhalb der Zeit von der Kirche durch das Wort, die sakramentalen Zeichen, die liturgischen Feiern und die Praxis der Christen vergegenwärtigt wird.

Diesem Mysterium eignet wesenhaft eine kosmische Dimension (mystérion kosmikón), denn es durchdringt die gesamte Schöpfung und ordnet alles darauf hin, in Christus und im Geist seine Fülle zu finden, um schließlich in Gott, den Vater einzugehen.3 Mystik und mystisch ist all das, was sich auf dieses Mysterium bezieht. Mit anderen Worten: Die profanen und sakralen Wirklichkeiten werden zum Sakrament und zu Mysterien in dem Maße, in dem sie das Mysterium (den göttlichen Plan), dem sie dienen, transparent machen. Ein Mystiker ist ein Mensch, der in der Geschichte und in allen Ausdrucksweisen des menschlichen Lebens den roten Faden, das göttliche Band zu erkennen vermag, das alles ein, ordnet und emporhebt.

Wie wir bereits zu Beginn angedeutet haben, ist die Mystik ein weltweites, allgemeines Phänomen. Das Christentum hat seine besondere Version davon ausgebildet, in deren Zentrum Christus, der Geist, die Dreieinigkeit, die Gnade, die uns zu Tempeln Gottes macht, die göttliche Vorsehung etc. stehen. Wir wollen hier keineswegs die spezifischen Merkmale der christlichen Mystik herausarbeiten. Wir wollen lediglich in knapper Form die grundlegende Frage einer jeden Mystik und deren Sprache erörtern. Dies wird uns helfen, die Mystik Meister Eckharts zu verstehen.

Die Grundfrage jeglicher Mystik

Jede Mystik, sei sie nun christlich oder nichtchristlich, lebt aus einer radikalen Erfahrung: der Erfahrung der Einheit der Welt mit dem höchsten Prinzip oder des Menschen mit Gott. Es handelt sich dabei um eine unmittelbare Erfahrung Gottes oder einfach des Einen.

Diese unmittelbare Erfahrung der Einheit hat eine nicht weniger grundlegende Erfahrung zum Hintergrund: die der Dualität und Trennung, etwa zwischen Gott und der Schöpfung, dem Ich und der Welt, dem Einen und dem Vielfältigen. Die Erfahrung des Auseinanderfallens verursacht Leid und verstärkt die Sehnsucht nach Einheit.

Die Einheit ist das Ergebnis einer radikalen Suchbewegung. Sie bricht als Blüte am Ende eines Prozesses hervor, der nicht selten äußerst beschwerlich ist. Wenn sie auch Inhalt einer unmittelbaren Erfahrung ist, so ist sie doch keine unmittelbare Gegebenheit. Diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen stellt stets eine komplexe Aufgabe für die Interpretation dar. Die Einheit steht nicht im Widerspruch zur Vielfalt. Die Einheit, von der die Mystiker sprechen, ist Einheit der Vielfalt, mit ihr, in ihr und durch sie. Die Erfahrung der Einheit bewirkt, dass auf der Ebene der Erfahrung der Graben überwunden wird, welcher Gott von der Welt trennt.

Wie gelangt man zur Einheit des Vielfältigen mit dem Einen, des Menschen mit Gott? Die Antwort orientiert sich an zwei archetypischen Wegen mit ihren jeweiligen Sprechweisen.

Einer dieser Wege ist die Mystik der Entblößung von der Welt, die Mystik der Wüste, der radikalen Armut und des inneren wie äußeren Leerwerdens. Alles schwindet dahin vor ihm. Es bleibt lediglich die Spur eines flüchtigen Zeichens. Der Geist versenkt sich in solcher Weise in das Eine, dass er sich mit ihm vereint und eins bleibt im mystischen Vergessen allen Seins und auch seiner selbst. Das Zentrum zieht die Strahlen so an sich, dass sie mit der Quelle des Lichts zusammenfallen.

Die Sprache der Mystik der Entblößung mündet im heiligen Schweigen. Alles, was gesagt wird, ist Geschwätz. Die Erfahrung wird nicht in Worte gefasst, sie wird vielmehr gelebt.

Der andere Weg ist der Weg des Eintauchens in die Welt. Man durchdringt die Wirklichkeiten des Lebens. Im Ausgang von der unersättlichen Gottsuche wird die Welt zum sakramentalen Ort seiner Gegenwart. Die Welt wird auf diese Weise transparent, durchscheinend. Gott wohnt in ihrem Innersten, er ist das Herz des Herzens, die Grundlosigkeit des Grundes, die Strahlkraft jeglicher Seinsform.

Die Sprache dieser Mystik ist die der Spekulation und des höchst symbolträchtigen Diskurses und führt zum Lobpreis (Doxologie).

Innerhalb der Mystik der Entblößung betont man die Einheit inmitten der Unterschiedenheit. Für einen Augenblick heben sich die Schleier der Trennung zwischen Gott und Mensch hinweg, und man feiert die mystische Hochzeit zwischen Gott und Mensch. Die Dualität besteht weiterhin, denn eines ist nicht das andere, aber sie lässt sich in eine unaussprechliche Einheit hineinversetzen.

Innerhalb der Mystik des Eintauchens in die Welt legt man die Betonung auf die Unterschiedenheit in der Einheit. In der Erfahrung zeigt sich Gott als der stets Größere (semper maior). Die Einheit ist etwas, das beständig angestrebt wird, und sie blüht im Maße der Intensität auf, mit der man nach ihr sucht.

In beiden mystischen Wegen hat die Erfahrung der Einheit in Gott oder die Erfahrung der Einheit Gottes in der Welt einen Preis: Es bedarf einer harten Lehrzeit. Sie wird keinen kleinlichen, zerstreuten und mit Vorurteilen beladenen Geistern zuteil, und auch denen nicht, die eine bloße Neugierde im Hinblick auf die Möglichkeiten des menschlichen Geistes motiviert. Sie bricht bei denen hervor, die sich selber etwas abverlangen, die reinen Herzens sind, und bei denen, die sie aus ganzen Herzen und aus ganzer Seele herbeisehnen. Wenn die Sehnsucht danach nicht bis in ihre radikalsten Möglichkeiten hinein ausgelotet wird, dann stellen sich die Voraussetzungen der mystischen Leidenschaft nicht ein.

In der Mystik kann man also die Erfahrung der Einheit entweder dadurch machen, dass man sich in Gott versenkt, oder dadurch, dass man sich in die Welt hineinbegibt – und dies immer vor dem Hintergrund der Dualität. Wie kann man die Einheit in der Unterschiedenheit und die Unterschiedenheit in der Einheit adäquat zur Sprache bringen? Wie kann man Gott in der Welt und die Welt in Gott erleben? Die Dialektik ist das Instrument, mit dessen Hilfe die Sprache die Einheit in der Vielfalt und die Vielfalt in der Einheit zum Ausdruck bringt. Die Dialektik ist jene Denkweise, in welcher ein jedes Ding untrennbar mit dem anderen verflochten erscheint. Für das dialektische Denken gibt es nichts absolut Disparates. Alles befindet sich innerhalb einer vereinigenden Bewegung, eines verbindenden Prozesses und eines Vorwärtsschreitens hin zum Ineinanderfallen. Das Ja und das Nein, das Leben und der Tod stellen dialektische Pole ein und derselben Wahrheit und ein und desselben obersten Prinzips dar.

Aus diesem Grund ist die mystische Sprache voller Paradoxe: Gott ist alles und Gott ist nichts. Die Welt ist endlich und die Welt ist unendlich. Die Dunkelheiten sind hell und das Licht ist dunkel. Das große Wissen und Nichtwissen und das absolute Wissen bestehen darin zu wissen, dass man nichts weiß. Die Frage der Dialektik führt uns so direkt zum Problem der der Mystik eigentümlichen Sprache.

Wie sich die Mystik zur Sprache bringt

Jegliche Mystik lebt, wie wir bereits gesagt haben, von der unmittelbaren Erfahrung der Einheit. Dies ist das Grundmerkmal schlechthin, das hier vertieft und detaillierter betrachtet werden soll. Wie ist die Unmittelbarkeit der Erfahrung zu verstehen?

Unser allgemeines und wissenschaftliches Verstehen arbeitet mit Begriffen, Modellen und Worten. Die Worte stehen stellvertretend für die Dinge, und die Paradigmen ordnen das Chaos unseres Verstehens und konstruieren auf diese Weise die vertraute Wirklichkeit. Diese Vermittlung bewirkt, dass unser Zugang zur Wirklichkeit nicht immer direkt, von Angesicht zu Angesicht, erfolgt. Wir bauen eine Brücke zwischen ihr und uns.

Hier taucht ein Problem von großer Tragweite auf: Was ist diese Brücke? Ist sie Teil der Wirklichkeit selbst? Wenn sie einen Teil der Wirklichkeit selbst ausmacht, dann bleibt die Frage unbeantwortet, denn das Problem stellt sich nach wie vor: Wie finden wir Zugang zur Realität? Oder ist die Brücke unsere Subjektivität? Auch dann besteht die Frage fort, denn: Wo ist dann die Wirklichkeit geblieben? Ist sie bloß eine Projektion unserer Subjektivität? Um eine lange philosophische Diskussion zu vermeiden, können wir darauf antworten, dass die Vermittlung die Realität selbst ist, aber in einer anderen, an unser Erkenntnisvermögen angepassten Seinsweise. In einfachen Worten: Ich erkenne den Tisch mittels des Bildes, das ich mir vom Tisch mache. Dieses Bild reproduziert die Wirklichkeit im Einklang mit der Struktur des Erkenntnisvermögens selbst. Dieses schreitet in der Weise der Abstraktion von den konkreten Eigenschaften des Tisches voran. Auf diese Weise hat unser Bild (Idee) vom Tisch weder ein Gewicht wie die Wirklichkeit des Tisches, noch Farbe, noch die Form des wirklichen Tisches.

Innerhalb der Geschichte des menschlichen Denkens stößt man auf einen Disput, der immer wieder in neuer Form ausgetragen wird: Sind wir dazu verdammt, uns die Wirklichkeit lediglich vorzustellen, ohne mit ihr jemals in direkte, unmittelbare Verbindung zu treten? Gibt es denn kein intuitives Erkennen, das sich vom bloß vorstellenden Erkennen unterscheidet?

Die Mystik bezeugt, dass es eine Erkenntnis ohne Vermittlung gibt. Wir kommen unmittelbar mit dem Wirklichen in Kontakt. Das setzt voraus, dass wir mit dem Wirklichen eine einzige Einheit bilden. Darin liegt das innere Geheimnis der Mystik verborgen: in der Erfahrung der Einheit von allem mit dem höchsten Prinzip. Nur der kann von Einheit sprechen, der sich selbst eins fühlt mit dem Einen. Und man fühlt sich nur eins mit dem Einen, wenn man einen direkten Zugang zu Ihm hat und gewahr wird, dass man selbst und das Eine nicht in absoluter Weise, völlig und schlechthin zwei Wirklichkeiten sind. Zwischen beiden gibt es eine dialektische Einheit.