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IMPRESSUM

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Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgaben erschienen unter dem Titel

»Indjáninn« (Teil I) und »Sjóræninginn« (Teil II)

im Verlag Forlagið, Reykjavík.

© Jón Gnarr mit Hrefna Lind Heimisdóttir, 2010 und 2012

Published by agreement with Forlagið, www.forlagid.is

Für die deutsche Ausgabe

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Herburg Weiland, München

unter Verwendung eines Fotos von © Jón Gnarr

Foto von Jón Gnarr (S. 1) © Hördur Sveinsson

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50141-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10801-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

EINIGE WORTE VORAB

Wahrscheinlich fragen sich viele, ob dieses Buch eine Biografie oder ein Roman ist. Es ist beides. Es ist nicht gänzlich wahr, aber auch nicht vollkommen erfunden. Ich meine, dass Lügen das größte Hindernis in der geistigen Entwicklung des Menschen sind. Aber ich schmücke Vieles aus. Ich schreibe aus dem Gedächtnis. An Einiges erinnere ich mich nicht mehr und bin deshalb auf die Erinnerungen anderer angewiesen.

Ich hoffe, für dieses Buch den richtigen Ton gefunden zu haben. Er begann Mitte Juni 2006 in mir zu klingen. Vorher dachte ich, der Lärm in mir wäre mein Ton, doch im Grunde überdeckte er nur den wirklichen Ton. Wenn man seinen wahren Ton gefunden hat, erkennt man das daran, dass die Seele in seinen Klang einstimmt.

Es wäre schade, wenn dieses Buch und das darauffolgende als Biografien gelesen würden. Sollte irgendeine Bibliothek das Buch unter Sachbüchern einsortieren, werde ich mich beschweren. Warum? Weil Memoiren Fiktion sind. Jede Erinnerung ist Fiktion. Unser Gehirn ist der größte Täuschungskünstler im Universum. Zwei Menschen können unterschiedliche Erinnerungen an dasselbe Ereignis haben.

Ich möchte, dass man bei diesem Buch weint. Ich möchte auch, dass man lacht. Aber das ist keine Pflicht.

TEIL EINS
INDIANER

Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war wüst und leer. Finsternis lag über dem Abgrund, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.

Da sprach Gott:

»Es werde Licht!«

Und es ward Licht.

Das war am 2. Januar 1967, mittags um kurz nach zwölf. An diesem Tag bin ich offiziell entstanden. Davor gab es nichts, und ich war nur ungeformte Materie im Bewusstsein des Universums, ein schlafender Tropfen in einem Meer ohne Wasser, in einer Ewigkeit ohne Zeit.

Mein Zustandekommen war für die Familie ein harter Schlag. Mama war 45 Jahre alt. Papa war 50. Sie fühlten sich zu alt für ein Baby. Und damals war so etwas sehr ungewöhnlich. Mama schämte sich. Sie versuchte zwar nicht direkt, ihre Schwangerschaft zu vertuschen, ging damit aber auch nicht offen um. Ich war die Folge eines unbedachten Augenblicks in einer lauen Frühlingsnacht bei Flókalundur am Barðaströnd, etwa dort, wo einst der Landnehmer Raben-Flóki an Land gegangen war. Er hatte dieses Land Island genannt. Mich nannten sie Jón Gunnar. Jón nach meinem Großvater und Gunnar zu Ehren meiner Tante Gunna.

Der errechnete Geburtstermin fiel auf den Neujahrstag. Also wurde eifrig spekuliert, ob ich vielleicht das erste Baby des Jahres würde und zusammen mit Mama auf einem Foto in die Zeitung käme. Davon wollte Mama jedoch nichts wissen. Sie war überhaupt nicht darauf aus, mehr Aufmerksamkeit zu erregen als nötig. Also versuchte sie, die Wehen hinauszuzögern.

Die Ärzte bereiteten sie darauf vor, dass ich aufgrund ihres hohen Alters wahrscheinlich geistig behindert auf die Welt käme. Sie empfahlen ihr eine Fruchtwasseruntersuchung, damals ein ziemlich gefährlicher Eingriff, der das hohe Risiko einer Fehlgeburt mit sich brachte. Mama wollte davon nichts wissen. Ärzten vertraute sie sowieso nicht, sondern nahm die Dinge, wie sie kamen, und zwar ohne Gejammer oder großes Trara. Mama hasste Unaufrichtigkeit und Drückebergerei. Durch eigene, bittere Erfahrung hatte sie gelernt, gelassen zu bleiben. Und sie hatte ebenfalls gelernt, dass der leichteste und angenehmste Weg nur selten der richtige ist. Und da sie nun mal schwanger war, würde sie dafür auch die Verantwortung übernehmen und das Kind zur Welt bringen und großziehen, behindert oder nicht.

Meine Geburt war für meine Familie ein weiterer Schlag. Behindert bin ich zwar nicht. Doch nach der Geburt sahen sie sich mit einer anderen, niederschmetternden Tatsache konfrontiert: Ich bin rothaarig. Der Schock hätte nicht größer sein können, selbst wenn ich schwarz auf die Welt gekommen wäre.

Papa ist dunkelhaarig. Mama ist blond. Alle meine Geschwister sind braunhaarig. Niemand in der Familie hat rote Haare. Niemand. Schon seit unzähligen Generationen nicht.

Oma Anna äußerte sofort den Verdacht, dass das nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könne. Sie konnte Rothaarige noch nie leiden. Für sie waren Rothaarige die Zigeuner des Nordens, Menschen zweiter Klasse, die allenfalls als Haifischköder taugten. Sie hatte im Leben noch keinen ehrbaren und anständigen Rothaarigen getroffen. Rotschöpfe waren Diebe. Von Natur aus.

Das sorgte für reichlich Gesprächsstoff und allerlei Gemunkel. Die Leute begannen, die Vaterschaft anzuzweifeln.

– Jaja, witzelte Papa, sieht tatsächlich so aus, als hätte ich an dem Jungen überhaupt nicht mitgewirkt.

Oma fand das überhaupt nicht komisch.

– Vielleicht hättest du mal ein bisschen öfter zu Hause sein sollen!

Oma Anna hat mich nie wirklich akzeptiert. In ihren Augen war ich ein Bastard, ein schwarzes Schaf inmitten einer blütenweißen Herde, ein hässlicher Schandfleck im Familienalbum. Wenn mich jemand lobte oder bewunderte, brummelte sie gerne:

– Intelligent mag er ja sein, und ansehnlich ist er auch, das lässt sich nicht leugnen … Aber er ist und bleibt nun mal ein Rotschopf!

Das neue Haus ist fertig, und wir sind gerade eingezogen. Es ist groß, riecht nach Feuchtigkeit und frischem Beton.

Ich drücke meine Nase an die ungestrichene Wand und atme diesen unverkennbaren Geruch ein. Er wird zu einer Erinnerung, die sich in mein Gedächtnis brennt. Vierzig Jahre später ist diese Erinnerung noch immer lebendig, und sobald ich einen Neubau betrete, ist das Gefühl wieder da.

Das Wohnzimmerfenster ist mit Plastikplane abgedeckt. Fast überall fehlen noch die Türen. Auch draußen ist alles ziemlich chaotisch, Gräben und Schotterwege und halbfertige Häuser. Manche sind schon bewohnt, andere noch im Rohbau und mit Gerüsten verkleidet. Zwischen den Häusern warten leere Grundstücke auf ihre Bebauung. In manchen Erdlöchern sammelt sich Wasser wie nach einem Bombenangriff. Bei anderen liegt schon das Betonfundament, aus dem dunkle Eisenstäbe ragen. Dazwischen überall Betonmischmaschinen und Bauwagen.

Unser Haus ist ein zweistöckiges Reihenhaus aus Beton, das Endhaus in einer Zeile von dreien. Vor dem Haus ist ein Parkplatz. Wir haben die Hausnummer eins. Im Souterrain gibt es noch eine Zweizimmerwohnung mit eigenem Eingang vom Garten aus. Diese haben Papa und Mama vermietet.

Unsere Wohnung ist groß. Zuerst kommt man in eine geräumige Diele. Gleich rechts befinden sich eine kleine Abstellkammer und eine große Küche mit einem Fenster zur Straße. Geradeaus geht es in unser riesiges Wohnzimmer, und von da aus in einen Fernsehraum mit vielen Bücherregalen. Hinter dem Wohnzimmer liegt eine große Vorratskammer, in der die Kühltruhe steht. Von dort führt eine Treppe ins Kellergeschoss, wo es einen weiteren Vorratsraum gibt. Das Wohnzimmer hat einen Südbalkon mit Aussicht über das ganze Fossvogur-Tal und rauf bis nach Kópavogur. Der Balkon hat zwei Zugänge, einen vom Wohnzimmer und einen vom Elternschlafzimmer.

Links von der Diele geht es in einen langen Flur mit einem großen Einbauschrank. Auf der einen Seite liegen zwei Schlafzimmer mit Fenster zur Straße. Das erste ist das Zimmer meiner Schwester Eyrún und dient nach ihrem Auszug als Telefonzimmer. Zwischenzeitlich wird es dann Oma Guðrúns Zimmer, die eine Weile bei uns wohnt, während sie auf einen Platz im Altersheim wartet. Und daneben, am Ende des Flurs, liegt das Zimmer von Oma Anna. Sie wohnt ein paar Jahre bei uns, bis zu ihrem Tod. Danach wird aus ihrem Zimmer mein Zimmer.

Neben meinem Zimmer ist ein großes Bad mit Badewanne und Waschbecken und einer Nische für die Waschmaschine. Das Bad hat kein Fenster, nur eine Luke in der Decke, die hinauf auf den Dachboden führt.

Gegenüber am Ende des Flurs ist das Elternschlafzimmer. Es ist das größte Schlafzimmer in der Wohnung und hat eingebaute Kleiderschränke. Dort bei Mama und Papa schlafe ich während der ersten Jahre. Über der gesamten Wohnfläche erstreckt sich ein großer, leerer Dachboden. Das Haus steht mitten auf einer uneingezäunten Wiese.

Ich habe drei Geschwister, die alle viel älter sind als ich. Mein Bruder Óskar ist bei meiner Geburt schon 25 und längst von zu Hause ausgezogen. Dann habe ich noch zwei Schwestern: Anna Stína ist 20 Jahre älter als ich und lebt in Norwegen, und Eyrún ist zwölf Jahre älter.

Wir sind eine durchschnittliche isländische Familie. Mama ist Hausfrau und arbeitet nebenher in der Küche des Städtischen Krankenhauses. Sie ist als jüngstes von acht Geschwistern in Reykjavík geboren und aufgewachsen. Opa war gelernter Maurer, konnte aber aus Krankheitsgründen nicht lange in seinem Beruf arbeiten. Er litt an Rheuma und war, als ich auf die Welt kam, schon lange tot. Mama hat mir von ihm erzählt, seine Finger seien so verkrümmt gewesen, dass er sie nicht mehr bewegen konnte. Oma Anna, Mamas Mutter, war Hausfrau. Nachdem ihr Mann ausgefallen war, sprangen Mamas Geschwister ein und brachten die Familie durch. Sie wohnten alle zusammen in einer winzigen Wohnung im Þingholt-Viertel. Mamas ältere Brüder verdienten sich hier und da ein paar Kronen und organisierten Lebensmittel für die Familie, meistens Fisch, den sie den Fischern unten am Hafen abkauften.

Papa kam im Großen Frostwinter von 1918 zur Welt. 1918 war für die Isländer und die Weltbevölkerung überhaupt ein schweres Jahr – ein Jahr, in dem hier unter anderem die Spanische Grippe grassierte und 300 Isländern das Leben kostete.

Papa war im Westen Islands geboren und aufgewachsen, als eines von sechs Geschwistern. Sein Vater war Bauer und Postbote. Seine Mutter war Oma Guðrún.

Ich habe diesen Opa nie kennengelernt. Genau wie mein anderer Opa starb er lange vor meiner Geburt. Er hatte Tuberkulose und lag monatelang im Lungensanatorium von Vífilsstaðir. Doch schließlich wurde er wieder ganz gesund und machte sich an einem milden Sommertag im Jahr 1954 auf in Richtung Westen. In Stykkishólmur besorgte er sich eine Überfahrt nach Brjánslækur, doch auf dem Weg über den Breiðafjörður kenterte das Boot und versank im Fjord. Wrackteile hat man nie gefunden. Danach zog Oma nach Reykjavík zu ihren Kindern.

Papa war Anfang zwanzig, als er in die Stadt kam. Er wollte Schauspieler werden und schrieb sich in der Schauspielschule ein, doch weil er kein Geld hatte, musste er das Studium wieder aufgeben. Er konnte weder das Schulgeld aufbringen noch sich etwas zu essen kaufen. Bei der Polizei suchten sie zu dieser Zeit gerade Leute, und da er gesund und kräftig war, wurde er sofort eingestellt.

Vierzig Jahre lang war er Polizist und meldete sich keinen einzigen Tag krank. Aufgrund seiner politischen Gesinnung – er war überzeugter Kommunist – brachte er es bei der Polizei jedoch nie zu etwas Höherem. Er ging in den Straßen von Reykjavík auf Streife, schlug sich mit Randalierern herum, nahm Unfälle zu Protokoll und erledigte alles, womit andere nichts zu tun haben wollten. Zum Schluss wurde er – pro forma – zum Wachtmeister ernannt und durfte im Präsidium an der Pforte sitzen. Schließlich war er, nachdem er sich jahrzehntelang in miserablem Schuhwerk für den Staat die Hacken wundgelaufen hatte, auch nicht mehr gut zu Fuß. Später entschädigte ihn der Staat immerhin dadurch, dass er ihm ein funkelnagelneues Hüftgelenk spendierte.

Das Leben zu Hause verläuft in ruhigen, festen Bahnen. Wenn ich morgens aufwache, ist Papa schon aus dem Haus. Er kommt erst am späten Abend zurück und schaut die Nachrichten. Später, wenn er wieder ausgeruht ist, unterhält er sich manchmal noch ein bisschen mit mir.

Er weiß so viel, und es gibt so vieles, was ich wissen will. Wir schauen zusammen Neues aus Wissenschaft und Technik, und dann erklärt er mir alles, was ich nicht verstanden habe.

Mama weiß nichts. Das ist ihr auch völlig egal. Sie will überhaupt nicht wissen, wie ein Flugzeug funktioniert oder warum Schiffe nicht sinken, obwohl sie so schwer sind.

Sie redet mit mir in kurzen, klaren Sätzen. Wenn Papa nicht zu Hause ist, frage ich Mama manchmal nach Dingen, die ich nicht verstehe.

– Keine Ahnung, frag deinen Vater, lautet ihre Standardantwort.

Aber Papa ist nach der Arbeit meistens viel zu müde. Er muss schließlich jeden Tag arbeiten, und manchmal auch nachts. Ab und an hat er sogar an Weihnachten Dienst. Dann kommt er nur kurz nach Hause, um etwas zu essen, und muss dann gleich wieder weg.

Wenn Papa sehr müde ist, habe ich oft das Gefühl, dass er überhaupt nicht hört, was ich sage, obwohl ich direkt vor ihm sitze. Er ist mit seinen Gedanken oft ganz woanders.

Gunni hat mich mal gefragt, ob mein Vater taub sei. Er war nämlich mal mit seinem Vater zu Hause im Garten, als Papa und ich dort vorbeikamen. Gunnis Vater grüßte ihn, aber Papa antwortete nicht. Da rief Gunnis Vater noch mal, diesmal lauter, aber Papa reagierte immer noch nicht.

Er ist nicht taub. Mama hat ihn erst kürzlich zum Hörtest geschleppt. Papa ist nicht taub. Er ist bloß geistesabwesend.

Außerdem verwechselt Papa oft Leute. Manchmal sieht er in der Zeitung eine Todesanzeige und glaubt, ein Freund oder Verwandter sei gestorben.

Auch wie jemand heißt, kann er sich nie merken. Manchmal redet er meine Freunde mit falschen Namen an. Ich habe genau drei Freunde. Sie heißen Gunni, Stebbi und Anton und wohnen alle in unserer Straße. Papa hat sie schon oft getroffen, aber für ihn heißen sie alle Siggi. Dabei habe ich gar keinen Freund, der Siggi heißt.

Papa ist Kommunist, aber Mama wählt die Selbständigkeitspartei. Papa ist gegen die Selbständigkeitspartei. Für ihn sind das »die Konservativen« oder sogar »die Scheiß-Konservativen«. Die Konservativen sind die Feinde der Kommunisten und geben Morgunblaðið heraus.

Mama hat längst nicht so viel Interesse an Politik wie Papa. Ihr ist es völlig egal, wer mit wem verfeindet ist. Sie wählt die Selbständigkeitspartei einfach deshalb, weil schon ihre Mutter und ihr Vater und ihre ganze Familie das so gemacht haben. Bräuche und Traditionen sind ihr ungeheuer wichtig.

Wenn Mama einmal etwas beschlossen hat, lässt sie sich nur äußerst selten wieder davon abbringen und ist auch nicht bereit, darüber zu diskutieren. Sie interessiert sich einfach nicht für Veränderungen und neue Ideen und hat es am liebsten, wenn alles so bleibt, wie es schon immer war. Für ihre Mitmenschen interessiert sich Mama dagegen schon. Sie redet viel über andere Leute und stellt gerne Überlegungen an, warum sie dies und jenes tun oder lassen. Eine Klatschtante ist sie aber trotzdem nicht.

Mama hat über andere eine sehr klare Meinung. Entweder ist jemand in Ordnung, oder eben nicht. Dabei ist sie nicht überheblich und fragt nie nach Beruf oder Herkunft. Aber wenn sie über Unbekannte keine zuverlässigen Informationen hat, ist sie misstrauisch. Sie beurteilt die Menschen allein nach ihrem persönlichen Eindruck, und wenn das Urteil einmal gefallen ist, bleibt es in der Regel bis in alle Ewigkeit. Wenn Mama jemanden nicht leiden kann, besteht wenig Aussicht darauf, dass sie ihre Meinung noch einmal ändert. Und wenn sie mit Leuten aneinandergerät, redet sie einfach nicht mehr mit ihnen.

Mama macht sich die Dinge nicht unnötig kompliziert. Sie regt sich nicht weiter darüber auf, dass Papa Kommunist ist. Ab und zu unternimmt er den halbherzigen Versuch, sie in politische Diskussionen zu irgendeinem bestimmten Thema zu verwickeln, aber damit kommt er bei ihr nicht weit.

Mama liest dänische Zeitschriften. Ihre Freundinnen überlassen ihr ab und zu ganze Stapel davon. Ich finde diese Hefte todlangweilig. Nichts als Kochrezepte und Interviews mit Prinzessinnen oder Leuten, die in Dänemark berühmt sind.

Ich habe Die Jugend abonniert. Ich mag diese Zeitschrift, besonders die Comics. Manchmal kauft Mama mir auch ein Donald Duck-Heft. Donald Duck ist klasse. Er ist meine Lieblingscomicfigur. Er ist so wie ich. Er hat tolle Ideen, die dann zum Schluss doch in die Hose gehen. Donald ist ein anständiger Kerl, dem ständig irgendwelche Missgeschicke passieren. Genau wie mir. Er muss immer für Onkel Dagobert schuften. Trotzdem ist er chronisch pleite. Onkel Dagobert ist ein ausgemachter Geizkragen, aber zugleich auch äußerst nützlich, denn er hat einen Tresor voller Geld und lädt Donald und Tick, Trick und Track zu allerhand waghalsigen Abenteuern ein, in Länder, die vielleicht noch nie ein Mensch betreten hat, wenn nicht gleich bis in den Weltraum. Ich bin mir absolut sicher, dass ich später mal so werde wie Donald Duck.

Papa hat zwei Zeitschriften abonniert. Eine davon ist der Polizei-Anzeiger. Ein todlangweiliges Blatt. Darin stehen vor allem Artikel über Verkehrsthemen und Interviews mit Polizisten über irgendeinen Stumpfsinn. Alle Fotos sind von Polizisten, die Geburtstag haben oder einen Pokal in irgendeiner Sportart gewonnen haben, meistens im Schwimmen.

Die andere Zeitschrift heißt Sowjet-Nachrichten. Die lese ich manchmal, obwohl ich kein Wort verstehe. Darin steht nämlich lauter komisches Zeug, zum Beispiel Meldungen wie: »Neue Traktoren nach Nischnewartowsk«. Daneben ein Foto von mit Traktoren beladenen Eisenbahnwaggons und fröhlichen, fahnenschwenkenden Menschen.

Die Leute auf den Fotos in dieser Zeitschrift sind immer fröhlich und haben immer Fahnen in der Hand. Manchmal gibt es auch Bilder von Militärparaden, bei denen die Soldaten feierlich durch die Straßen marschieren. So, als hätten sie in der Sowjetunion immer Nationalfeiertag. Anton hat gesagt, die Sowjetunion ist ein schreckliches Land, und die Fotos von dort sind alle gefälscht. Er sagt, wenn man nicht immer fröhlich seine Fahne schwenkt, kommt der Geheimdienst und nimmt einen mit, dann foltern sie dich und schicken dich ins Arbeitslager nach Sibirien, wo es entsetzlich kalt ist, weil da immer Winter herrscht und es keinen Sommer gibt.

Anton weiß ziemlich viel. Aber alles weiß er auch nicht. Zum Beispiel hat er mal erzählt, dass Mädchen keinen Pimmel hätten.

– Und womit pinkeln sie dann?, fragte ich.

Er dachte nach und zuckte dann mit den Schultern.

– Mit dem Po, glaube ich.

Ich fand das seltsam. Aber ich traute mich nicht, Mama danach zu fragen. Mama redet nicht gern über so was. Und auf die Idee, Papa zu fragen, kam ich erst gar nicht.

In unserer Straße wohnen zwei Mädchen, die nicht doof sind. Als ich die eine mal draußen beim Seilspringen sah, ging ich zu ihr und fragte sie.

– Womit pinkeln Mädchen eigentlich?

Sie starrte mich an, als wäre ich der dümmste Junge, der ihr je begegnet war.

– Anton sagt nämlich, Mädchen pinkeln mit dem Po, fügte ich hinzu.

– Der Toni Trainingshose?

– Ja.

– Mädchen pinkeln doch nicht mit dem Po! Bist du total bescheuert?

– Mit was pinkeln sie dann?

– Mit der Scheide.

Darauf sauste ich auf schnellstem Weg zu Anton, um mein neu erworbenes Wissen mit ihm zu teilen.

– Sie pinkeln mit der Scheide.

– Mit der Scheide?

– Ja, erklärte ich und klang wie einer, der sich auskennt.

– Und was ist das?

Das wusste ich auch nicht. Ich rannte zurück, aber da war das Mädchen nicht mehr da.

Manchmal bekommt Papa Bilder zugeschickt, auf denen irgendwelche Männer drauf sind. Große Bilder in breiten Rahmen. Die Kerle gucken immer ziemlich grimmig, tragen schwarze Kleidung und oft auch schwarze Hüte. Und sie sind alt. Ich weiß, dass diese Leute die Chefs in der Sowjetunion sind.

Wenn solche Bilder in der Post sind, gibt es zwischen meinen Eltern jedes Mal Ärger. Papa will die Bilder zu den Familienfotos im Wohnzimmer hängen. Mama ist strikt dagegen.

– Warum denn nicht?

– Weil das nicht in Frage kommt. Darum.

– Darf ich nicht mal ein Bild aufhängen, das man mir geschenkt hat?

– Nein.

– Darf ich es dann vielleicht ins Fernsehzimmer hängen?

– Erst recht nicht.

– Und warum nicht?

– Weil das lächerlich ist.

– Lächerlich? Was ist denn daran lächerlich?

– Wenn dir das nicht selber klar ist, habe ich auch keine Lust, mit dir darüber zu diskutieren.

– Dieses Bild ist ein Geschenk.

– Hör auf mit diesem hirnverbrannten Gewäsch! Du wirst dieses Bild hier nicht aufhängen, und damit basta.

Mama hat immer das letzte Wort. Sie hat hier das Sagen. Und da Papa die Porträts nicht ins Wohnzimmer hängen darf, kommen sie nach unten in den Keller. Da hängen sie nun, die Herren Gromyko, Breschnew, Chruschtschow und Stalin, und tauschen vielsagende Blicke aus.

Mama zieht mir den Matschanzug an.

– Gehen wir auf den Spielplatz?, fragt sie.

Ich nicke. Der Spielplatz ist ein Ort mit Klettergerüsten und einem Zaun drumherum. Da gibt es Schaukeln und eine Wippe und einen riesengroßen Sandkasten mit Baggern aus Stahl, auf denen man sitzen und Sand schaufeln kann. Auf dem Platz spielen Kinder.

Ich trage eine rote Matschhose und ein blaue Matschjacke. Mama zieht mir noch schwarze Stiefel, eine Mütze und Handschuhe an, dann gehen wir los.

Auf dem Spielplatz regnet es immer. Mama bringt mich oft hin und lässt mich da. Mir gehört dort alles: die Schaukeln und die Wippe und die Hütte. Die anderen Kindern dürfen mit allem spielen, aber nur, wenn sie mich vorher um Erlaubnis fragen. Wenn ein Kind spielt, ohne um Erlaubnis zu fragen, ziehe ich es an den Haaren, bis es heult.

Mir gehört auch ein Junge auf dem Spielplatz. Er heißt Ragnar. Der Junge muss nicht um Erlaubnis fragen, weil er mir gehört.

Einmal sind Ragnar und ich vom Spielplatz abgehauen. Wir haben am Zaun Autoreifen aufgestapelt und sind rübergeklettert, als die Frauen nicht hinsahen. Dann rannten wir weg und verliefen uns. Überall waren Autos. Erst fing Ragnar an zu heulen, und dann ich. Da schloss ich die Augen und legte mich einfach auf den Bürgersteig. So was haben wir nie wieder gemacht.

Manchmal gehe ich in den Raum, wo sich die Frauen aufhalten. Sie sitzen rum und rauchen. Wenn ich reinkomme, putzen sie mir die Nase, und ich kriege einen Zuckerwürfel.

Ich nehme vor Mama Reißaus. Sie ruft nach mir, aber ich antworte nicht. Sie ist doof, und ich will nicht mit ihr zusammen sein, deshalb renne ich, so schnell ich kann. Ich will mich verstecken und suche nach einem guten Versteck. Mama ruft wieder. Es gibt keinen Ort, an dem man sich verstecken kann, nur große Straßen und Autos.

Ich renne auf die Straße. Ein großes Auto hupt so laut, dass ich zusammenzucke. Ich habe es gar nicht bemerkt, es war auf einmal da. Ich hüpfe auf eine Verkehrsinsel. Die Autos rasen auf beiden Seiten an mir vorbei, und ich kann nicht über die Straße zurücklaufen. Sie kommen unentwegt von vorne und hinten, wohin ich mich auch drehe. Ich sitze fest. Und ich habe Angst.

Ich schaue immer wieder nach rechts und nach links. Die Autos dröhnen in rasendem Tempo vorbei. Ich fange an zu weinen. Niemand unternimmt etwas. Den Autos sind kleine Jungen wie ich völlig egal. In meinem Kopf dreht sich alles, ich presse die Augen zusammen und lasse mich ins Gras fallen. Das Gras riecht gut. Aber es riecht auch nach Benzin. Aus der Ferne höre ich Mama rufen.

– Bleib ganz still liegen!

Langsam und ruhig sinke ich ins Gras und in den Boden, tief hinunter in die Erde, zu den Würmern. Ich summe, und die Geräusche um mich herum verstummen.

Jemand berührt mich an der Schulter. Es ist ein Mann.

– Alles in Ordnung mit dir, Junge?

Ich sage nichts, will nichts sagen. Ich will meine Ruhe haben und mich wieder berappeln. Ich habe Angst.

Der Mann ist stark. Er hebt mich hoch und nimmt mich auf den Arm. Bei ihm fühle ich mich sicher. Er trägt mich über die Straße. Die Autos fürchten sich vor ihm und bremsen. Alle Autos gehören ihm, und er bestimmt über sie.

Auf der anderen Straßenseite wartet Mama. Sie ist ganz anders als sonst, nicht müde und trübsinnig, sondern aufgeregt und hat Tränen in den Augen. Ich finde es schön, das zu sehen.

Ich trage meine Sonntagskleidung, die Mama mir angezogen hat, und darüber die Jacke. Wir sitzen im Wartezimmer, und ich lese in meinem Heft. Ein intensiver und ungewohnter Geruch liegt in der Luft, beißend, süßlich und steril. Ich weiß nicht, woher dieser Geruch kommt. Vielleicht aus einem Schwimmbad?

– Jón bitte!, sagt die Frau.

Mama bedeutet mir, zu gehen. Ich stehe auf und schlendere durch einen Flur, finde dort aber niemanden. Hier riecht es genauso. Ich gehe wieder zurück und in den anderen Flur.

Ich versuche, eine Tür zu öffnen, aber sie ist abgeschlossen. Als ich mich suchend umschaue, sehe ich, dass mich ein Arzt beobachtet, aber er sagt nichts. Ich sage auch nichts, gehe in sein Zimmer und setze mich auf einen Stuhl. Er schließt die Tür und setzt sich mir gegenüber.

Ich vertiefe mich in mein Heft. Es ist ein Indianer-Heft. Ich kann nicht lesen, aber ich schaue mir die Bilder an und studiere sie ausgiebig. Die Indianer spionieren die Cowboys aus. Die Indianer sind gut, und die Cowboys sind böse.

– Willst du deine Jacke nicht ausziehen?, fragt der Arzt.

Mir ist warm. Ich schlüpfe aus der Jacke, ohne von dem Heft aufzuschauen, und lasse sie auf den Boden fallen.

Der Arzt heißt Einar. Er ist nett, aber seltsam. Immer, wenn ich etwas sage, denkt er darüber nach und schreibt etwas in sein Buch. Ich weiß nicht, was er schreibt. Vielleicht eine Geschichte. Vielleicht eine Geschichte über einen Jungen wie mich, der frech zu seiner Mutter ist. Vielleicht versteht er mich ja und begreift, dass ich nicht böse bin. Oder bin ich doch böse? Manchmal ziehe ich andere Kinder an den Haaren und bin frech zu Mama oder mache beim Spielen meine Sachen kaputt. Manchmal sind die Leute auch sauer auf mich und schimpfen mit mir, aber ich weiß meistens nicht, warum. Es gibt böse Männer, die kommen und ungezogene Jungen mitnehmen.

Oben im Regal steht ein Kran.

– Was ist das?, frage ich und zeige auf den Kran.

– Das ist ein Kran.

– Der ist ja komisch.

– Er ist aus Bilofix.

Ich betrachte den Kran. Bilofix ist ein Bausatz wie Lego. Er besteht aus Holzteilen mit Löchern drin und bunten Plastikschrauben, mit denen man die Teile zusammenbauen kann. Außerdem gibt es noch Räder. Ich habe schon mal mit Bilofix gespielt.

– Den will ich haben, sage ich.

Der Arzt steht auf, holt den Kran und gibt ihn mir. Der Kran ist super. Er hat eine Schnur, die man hochkurbeln kann, wenn man an einem Rad dreht, aber einige Schrauben sind lose. Ich schraube sie ab und an anderen Stellen wieder dran. Ich würde den Kran gerne auseinander- und wieder zusammenbauen. Manchmal baue ich etwas aus Lego, zum Beispiel ein Haus, und schmeiße es dann auf den Boden, sodass es auseinanderkracht. Aber das ist nicht schlimm, weil Lego nicht zerbricht und man immer wieder etwas Neues bauen kann. Bilofix ist genauso, Meccano auch, aber Meccano ist aus Metall.

Der Kran fällt auseinander, und ich kriege ihn nicht wieder zusammengebaut. Außerdem verheddert sich die Schnur immer, aber das ist nicht schlimm. Ich habe nichts kaputt gemacht. Das weiß ich, weil Einar nicht sauer ist. Er schaut mich nur forschend an und schreibt etwas in sein Buch.

Ich wickle die Schnur um die Holzteile und werfe alles auf den Boden. Dann nehme ich das Blatt, das zu dem Bilofix gehört. Darauf sind Anleitungen und Bilder, aber das ist mir alles zu kompliziert.

– Ich kann das nicht.

Einar steht auf, nimmt die Bilofix-Teile und legt sie in eine Kiste. Dann setzt er sich wieder und schreibt in das Buch.

– Deine Mutter hat mir erzählt, dass du nicht gerne mit anderen Kindern spielst?

Das stimmt. Es macht mir keinen Spaß. Ich bin lieber alleine, weil ich nicht weiß, was andere Kinder wollen. Sie nehmen meine Spielsachen und bringen alles durcheinander. Sie sind einfach nur seltsam.

Meistens werde ich ganz konfus, wenn ich mit anderen Kindern zusammen bin, und fühle mich unwohl. Manchmal bin ich so frustriert, dass ich anfange zu weinen. Ich habe Angst vor ihnen, obwohl sie nicht böse zu mir sind. Ich verstehe sie nur nicht, und sie verstehen mich auch nicht. Es ist, als sprächen wir nicht dieselbe Sprache. Sie sind besser als ich. Sie können alles Mögliche, was ich nicht kann, und werden nie ausgeschimpft, aber ich bin stärker als sie.

Kinder überrumpeln mich immer. Eigentlich finde ich sie gar nicht blöd und möchte nicht böse zu ihnen sein, aber wenn ich Angst kriege, reiße ich an ihren Haaren. Am liebsten wäre mir, sie würden gehen und mich in Frieden lassen.

– Warum willst du nicht mit ihnen spielen?, fragt er.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

– Bist du so schüchtern, Jón?

Ich bin nicht schüchtern, aber ich habe Angst. Ich habe Angst vor Leuten, auch vor Einar, aber das sieht man mir nicht an. Ich will, dass er aufhört mit mir zu reden und mich anzuschauen. Ich will nach Hause in mein Zimmer. Ich will nicht ich sein, und ich will nicht hier sein. Am liebsten würde ich in mich hineinkriechen, immer weiter, ganz tief in mich hinein, wo mich niemand stört und niemand sauer auf mich ist.

Manchmal kurz vorm Einschlafen fühle ich mich ganz seltsam. Dann wird mein Daumen riesengroß, und ich krieche in ihn rein. In dem Daumen sind zwei Männer, die sich unterhalten. Sie sprechen leise, und ich höre nicht, was sie sagen. Sie bemerken mich nicht. Ich gehe an ihnen vorbei in einen langen Gang, die Treppe hinunter und dann über eine lange Leiter weiter nach unten. Nachdem ich durch einen anderen langen Gang gelaufen bin, komme ich am Ende zu einem Raum, der wie eine weiche Baumwollkugel ist. Ich schlinge die Arme um meinen Körper und lege mich auf den Fußboden. Und dann schlafe ich ein.

– Jón?

Plötzlich fängt es vor dem Haus an zu dröhnen, und der Boden vibriert.

– Was ist das?, frage ich.

– Was glaubst du denn, was es ist?, entgegnet der Arzt.

Ich weiß es nicht, vielleicht ärgert uns jemand. Vielleicht ist es ja der Teufel, der mich holen kommt. Der Teufel weiß über mich Bescheid. Er ist böse.

Einmal hat Mama mich ins Telefonzimmer gerufen. Sie gab mir den Hörer und sagte, da wolle eine Frau mit mir sprechen. Ich bekam Angst. Die Frau fragte mich, ob ich ungezogen sei. Ich verneinte, doch sie sagte, sie wisse alles über mich. Dann fragte sie mich, ob ich wisse, was mit bösen Jungen gemacht werde. Als ich darauf nichts sagte, meinte sie, der Teufel würde ungezogene Jungen wie mich holen und in einen schwarzen Sack stecken. Dann fragte sie, ob ich es darauf anlegen würde, dass der Teufel mich holen käme. Ich sagte Nein.

Nach dem Telefongespräch ging ich in mein Zimmer, konnte kaum mehr atmen und bekam nur noch Luft, indem ich gähnte. Ich wurde furchtbar müde und wollte in meinen Daumen kriechen.

Das Dröhnen geht weiter. Einar schaut mich abwechselnd an und schreibt in sein Buch.

– Das kommt aus der Ecke, sage ich.

Ich bin böse und hässlich. Vielleicht ist der Teufel gekommen, um mich zu holen. Vielleicht kommt er aus der Erde, und Einar ist ein Freund des Teufels. Vielleicht ist es Mama egal, wenn der Teufel mich holt. Vielleicht ist sie schon gegangen, und ich darf nie wieder zurück nach Hause. Ein schwerer Stein legt sich auf meine Brust. Ich bin schutzlos, ich habe mein Messer nicht dabei.

Jäh springe ich auf und lausche. Das Geräusch kommt aus der Heizung. Aus der Heizung in meinem Zimmer kommen manchmal auch Geräusche, aber eher ein leises Blubbern und nicht solcher Lärm. Dann begreife ich, was es ist. Jemand bohrt. Ich atme erleichtert auf und setze mich wieder.

– Hattest du Angst, Jón? Hattest du Angst vor dem Geräusch?

– Nee.

– Weißt du, wie alt du bist?

– Sechs.

– In welcher Schule bist du?

– Foxvox!

– Fossvogur?

– Ja, hab ich doch gesagt.

– Ist es schön in der Schule?

– Ja.

– Wie heißt deine Lehrerin?

– Kristín. Ich hab auch einen Schulranzen. Der ist rot, und vorne drauf ist ein Bild von einem Jungen, der steht vor einem Baum und gibt einem Mädchen einen Apfel.

– Ist das ein schöner Ranzen?

– Stebbi sagt, es ist ein Mädchenranzen.

– Wer ist Stebbi?

– Mein Freund.

– Du hast also doch Freunde?

Ich möchte nicht über dieses Thema reden, das finde ich doof. Lieber denke ich an den Geruch meines Schulranzens.

Ledergeruch ist mein Lieblingsgeruch. Ich mag meinen Schulranzen, weil man darin gut atmen kann. Manchmal stecke ich den Kopf rein und atme den Geruch ein, und dann geht es mir gut, aber manchmal riecht es auch nach dem Pausenbrot, das in dem Ranzen war.

Gerüche sind wichtig. Meine Schwester Eyrún ärgert mich manchmal, indem sie mich an Hirschhornsalz riechen lässt. Das riecht übel. Ich mag fast alle Gerüche, außer Kacke- und Pissegeruch von anderen und Gurken.

Gurkengeruch ist am allerschlimmsten. Davon wird mir schwindelig. Einmal wollte Mama mir ein Brot geben, auf dem Gurkenscheiben waren. Sie warf die Scheiben einfach weg und schmierte stattdessen Pastete auf das Brot. Aber ich roch es trotzdem. Gurken riechen so stark. Irgendwie grün und stachelig.

Auf dem Tisch liegen Papier und Filzstifte. Filzstifte riechen gut. Ich schnuppere gerne an ihnen. Aber man muss aufpassen, dass man sich dabei nicht anmalt. Rote Filzstifte riechen nach Apfelsinen.

Ich nehme ein Blatt und Farben und male ein Bild vom Teufel mit dem schwarzen Sack. Dann male ich noch ein Messer und eine Pistole, mit der man den Teufel umbringen kann. Wenn der Teufel kommt, töte ich ihn mit dem Messer.

– Was ist das?, fragt Einar und betrachtet das Bild.

– Der Teufel.

– Und wer ist das?

– So ein Typ.

– Kennst du ihn?

– Nee.

– Weißt du, wo er wohnt?

– Er ist ein Freund vom Schwarzen Mann.

– Und wer ist das?

Darüber möchte ich nicht reden. Es macht mich traurig, deshalb schweige ich lieber. Vielleicht verschwindet das alles, wenn ich nicht mehr darüber rede. Ich werde nicht über den Teufel reden. Ich möchte noch nicht mal an ihn denken. Und ich werde auf keinen Fall über den Buhmann reden.

Einar schaut mich forschend an. Ich wünschte, er würde das lassen. Ich möchte nicht, dass er mich sieht. Vielleicht kann er sehen, was ich denke. Mama sieht mir immer an, wenn ich etwas angestellt habe. Der Arzt denkt bestimmt darüber nach, was er mit einem so bösen und hässlichen Jungen wie mir machen soll.

Ich hole mir die Sachen aus der Spielzeugkiste und stelle sie auf den Tisch: ein großer Stier, Cowboy-Figuren, ein Löwe und ein Elefant. Der Stier greift alle Cowboys an und tötet sie. Er tötet auch den Löwen und den Elefanten und stößt sie mit den Hörnern vom Tisch. Ich stelle den Stier auf den Tisch und baue eine Festung um ihn herum, damit niemand ihn töten oder verletzen kann. Dafür verwende ich alle Gegenstände, die auf dem Tisch liegen.

Ich nehme das Telefon und baue aus der Schnur einen Zaun. Aus dem Telefonhörer tutet es, aber das stört mich nicht. Niemand darf den Stier verletzen. Der Stier passt auch auf sich selber auf und kann alle, die ihn töten wollen, mit den Hörnern aufspießen. Wenn der Teufel kommt, stößt der Stier ihn tot.

Nachdem der Stier sicher ist, blättere ich wieder in meinem Heft.

Einar schreibt etwas in sein Buch. Ich kenne das J. Das ist mein Buchstabe. Aber es ist schwierig, ihn zu schreiben, allerdings nicht ganz so schwierig wie R und S.

Stebbi kann schon lesen. Einmal hat seine Mutter auf die Buchstaben auf dem Kühlschrank gezeigt und uns gefragt, wie sie heißen. Ich wusste es nicht. Es gibt ja auch so viele Buchstaben. Aber Stebbi wusste es: A-D-M-I-R-A-L.

Einar geht in den Flur und ruft nach Mama. Sie unterhalten sich, aber ich höre ihnen nicht zu. Es ist mir egal, was sie sagen.

– Zieh jetzt deine Jacke an, sagt Mama.

Ich ziehe sie an, während ich mein Heft weiterlese.

Ich will nicht hier sein. Ich will gehen und meine Ruhe haben. Auf einmal sind wir draußen, und ich möchte da nie wieder hin.

Jón Gunnar war aufgrund von mangelnder Impulskontrolle und starker Rückzugstendenzen vor anderen Kindern bei mir zur Untersuchung. Er wirkt orientierungslos und handelt impulsiv, kann sich nicht lange auf eine Sache konzentrieren und ist sich seiner Umwelt nicht bewusst. Als Jón Gunnar, der mit seiner Mutter im Wartezimmer saß, aufgerufen wurde, ging er erst in einen falschen Flur und wollte dann in einen falschen Raum, bevor er in mein Büro kam. Er grüßte mich, ohne mich anzuschauen, und las in einem Indianer-Heft, das er mitgebracht hatte. Er trat einfach ein, ohne ein Gefühl für mich als fremde Person zu entwickeln, setzte sich an den Schreibtisch und las in seinem Heft. Er behielt seine Jacke an, und als es ihm nach kurzer Zeit zu warm wurde, frage ich ihn, ob er die Jacke nicht ausziehen wolle. Er las einfach weiter, schlüpfte dabei aus der Jacke und ließ sie neben sich auf den Boden fallen.

Nachdem er eine Weile in meinem Büro gesessen hatte, begann er sich umzuschauen, entdeckte etwas oben im Regal und sagte: »Ich will das haben«. Es war ein Kran aus Bilofix, mit dem er sich sofort beschäftigte. Obwohl der Kran ziemlich kompliziert war, zögerte Jón Gunnar nicht, ihn auseinanderzunehmen und daran herumzuschrauben. Schon nach einer halben Minute war der Kran nicht mehr wiederzuerkennen, die Schnur war verknotet, und der Kran drohte auseinanderzufallen. Da nahm Jón Gunnar die Schnur, wickelte sie um die einzelnen Teile und wollte sie zusammenbinden. Als ihm dies nicht gelang, ließ er den Kran einfach auf dem Boden liegen und schaute sich die Bilofix-Anleitung an, auf der verschiedene Vorlagen abgebildet sind. Er sagte: »Ich kann das nicht und das nicht und das nicht«, fand schließlich die einfachste Vorlage und sagte: »Das kann ich«. Er machte jedoch keine Anstalten, das Modell nachzubauen, ließ die Bilofix-Sachen auf dem Boden liegen und störte sich nicht daran, dass er darübersteigen musste, um mit etwas anderem zu spielen.