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Die Proteste der letzten Jahre haben die Unzufriedenheit der Bürger offenbart: Politiker scheinen weit weg vom Alltag und mit Großprojekten wie Bahnhöfen oder Flughäfen überfordert. Im Gegensatz dazu sind die Menschen eigensinnig wie nie. Nach Jahren der neoliberalen Predigten sind sie in Eigenverantwortung geübt: Gemeinsam erschaffen sie die Wikipedia, renovieren Klassenzimmer oder gründen gleich selbst Schulen. So werden sie im positiven Sinne zu Kollaborateuren. Anknüpfend an seine Überlegungen aus Interkultur (es 2589), entwirft Mark Terkessidis eine Philosophie der Kollaboration, die beim wütenden und suchenden Individuum ansetzt. Eine Gesellschaft der Vielfalt, so Terkessidis, kann nur funktionieren, wenn viele Stimmen gehört werden und unterschiedliche Menschen zusammenarbeiten.

Mark Terkessidis, geboren 1966, arbeitet als Publizist mit den Schwerpunkten Popkultur und Migration.

 

 

Mark Terkessidis

Kollaboration

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2686.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

 

eISBN 978-3-518-73822-1

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung

 

1. Sich entfremden

Eine neue Kritik der Bürokratie

Verwaltung, Korruption und Dauerkrise

Das Problem mit der Repräsentation

Empörung, Groll und die Politik der Affekte

Entfremdung und Kollaboration

 

2. Suchen

Das suchende Subjekt

Griechische Erfahrungen: Vom Rand ins Zentrum

Unterwegs auf Schiffen

Das unklassifizierbare Individuum

Imaginäre Territorien

Die Zivilität des Odysseus

Optimistische Mutanten

 

3. Sich bilden

Bilder von Lernenden und Lehrenden

Was nicht passt ‌… Wer nicht passt ‌…

Autorität angesichts von Vielheit

Kollaboration und Multiperspektivität in der Pädagogik

Bewegung in der Klasse

Die Rolle des Vorwissens

Neue Bildungsziele

 

4. Schaffen

Kollaborative Kunst als soziale Praxis

Suzanne Lacy vs. Christoph Schlingensief

Wer macht Kunst und wer Kultur?

Wie Asco die Community geärgert hat

Keine Genies und keine unbeteiligten Dritten

Der Sinn von Kunst

Trost in Ruinen

Betriebsprüfung Kunst

Emanzipation und Atmosphäre

Das Prinzip der Improvisation

Magische Aushandlungen

 

5. Kritisieren

Was war Kritik?

Affektive Erkenntnisse

Kritik als Vergemeinschaftung und Reparatur

Kritik als Vorbereitung der kritischen Kunst

Kritik der Folklore

Reparatur des Heimatlieds

Kollaborative Kritik

 

Schluss

Dank

Bildnachweis

Einleitung

Kollaboration hat in Kontinentaleuropa keinen guten Ruf. Die meisten Menschen denken an die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg, an Personen, die sich aus Überzeugung oder Feigheit mit dem Dritten Reich eingelassen haben. In diesem Sinne möchte sicher niemand gern ein Kollaborateur sein. Im Englischen ist der Begriff collaboration hingegen neutral, wenn nicht gar positiv gemeint: Es geht um Zusammenarbeit. Und diese scheint in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen und in vielen Bereichen ein entscheidender Faktor geworden zu sein: In der Wirtschaft, wo Kreativität und Innovation zählen, kommen die Unternehmen mit starren Hierarchien nicht mehr weiter – sie sind auf die Kollaboration ihrer Mitarbeiter angewiesen. Umweltprobleme lassen sich nicht von Individuen, nicht einmal von Nationen lösen, sondern nur, wenn viele Akteure sich auf bestimmte Maßnahmen einigen können. In der Politik läuft mit autoritärer Planung überhaupt nichts mehr – die Bürger erweisen sich zunehmend als störrisch und wollen gehört werden, zumal dazu, was mit ihren Steuergeldern geschieht.

Nun ist der Staat heute keineswegs autoritär, vielmehr ist er häufig einfach nicht zu erreichen. Der neoliberale Rückzug macht sich überall bemerkbar, etwa bei der Infrastruktur. Immer mehr Bürger verlassen sich nicht mehr auf die Behörden, sondern springen selbst ein. An der Grundschule meines Sohnes haben die Eltern nicht gewartet, bis das Klassenzimmer renoviert wurde, sondern haben Geld bei Sozialprogrammen beantragt und den Raum in Abstimmung mit den Lehrkräften neu gestaltet. »Mehr Eigenverantwortung« war der große Slogan der neunziger Jahre, und tatsächlich haben sich die Menschen dieses Prinzip angeeignet. Ihr Vertrauen in die »große« Politik ist ohnehin erschüttert. Politiker gelten als egoistisch und versagen in den Augen vieler vor allem dabei, sich um die grundlegenden »Lebensmittel« zu kümmern: Umwelt, Wasser, Wohnen, Energie, öffentlicher Verkehr etc. Ohne Kollaboration können diese Gemeingüter nicht zugänglich gemacht und erhalten werden, denn wo der Homo oeconomicus ungehemmt seinem wirtschaftlichen Eigeninteresse nachgeht, kann es keine Lösung für die Probleme geben, die unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen betreffen.

Viele Menschen lassen eine »Kultur des Teilens« entstehen, für die es gleich eine ganze Reihe englischer Wortschöpfungen gibt: Share Economy (oder Shareconomy), Wikinomics, Collaborative Economy oder Mesh. Als Beispiel wird immer wieder das unkommerzielle Teilen von Quellcodes, Wissen, Musik etc. im Netz genannt. In der Tat ist es jedes Mal von Neuem beeindruckend, wie selbstverständlich wir heute auf Wikipedia zurückgreifen, auf ein Lexikon, zu dem Personen weltweit ihr Wissen beisteuern und dessen Fundus sich weitgehend selbst reguliert. Von Carsharing bis Crowdfunding: Die Beispiele werden immer zahlreicher. Viele Menschen wollen Dinge nicht mehr um jeden Preis besitzen, ihnen reicht ein gesicherter Zugang zu bestimmten Gütern. Seit den PISA-Studien ist Kollaboration auch im Bildungsbereich ein Thema: Finnische Schulen sind unter anderem deswegen so erfolgreich, weil sie das Top-down-Prinzip zugunsten von Zusammenarbeit aufgegeben haben. Konjunktur hatte der Begriff Kollaboration auch in der Kunst. Schon in den sechziger Jahren war die alte Vorstellung des genialischen Individuums, das aus sich selbst heraus schafft, ad acta gelegt worden. Statt Objekten sind Prozesse des Austauschs relevant geworden – zwischen Künstlern, zwischen Künstlern und Publikum, zwischen unterschiedlichen Personengruppen.

Auch weil wir in einer Gesellschaft mit Menschen verschiedener Herkunft, mit unterschiedlichen Religionsbekenntnissen etc. leben, wird ohne Kollaboration in der Zukunft nichts mehr gehen. Die globalisierte Welt ist urban, und die Städte sind von Migration, Mobilität und Vielheit geprägt. Anders als bei der klassischen Idee der griechischen Polis ist die Sesshaftigkeit der Bewohner nicht länger eine sinnvolle Voraussetzung für eine Definition des politischen Gemeinwesens. Die geographischen und kulturellen Positionen der Bürger sind flüchtig; niemand befindet sich mehr auf seinem angestammten Platz, die Stadt ist eine vielgliedrige Parapolis geworden.1 Das Wort bezeichnet die uneindeutige, quasi illegitime »para«-Version der Polis. Zudem verbirgt sich darin das neugriechische Adjektiv para poli, das »sehr viel«, durchaus aber auch »zu viel« bedeutet: Man könnte also von einem Ort des »sehr viel«, der Fülle sprechen. Dieser Ort ist nicht leicht zu begreifen. Viele Probleme müssen auf einmal bearbeitet, viele Stimmen gleichzeitig gehört und viele Ansprüche zu jedem Zeitpunkt miteinander vermittelt werden.

Vor fünf Jahren habe ich in meinem Buch Interkultur versucht, die herkömmliche Perspektive auf Integration umzudrehen und einen institutionellen Rahmen für die Parapolis abzustecken. Wenn von Integration die Rede war, dann wurde die Sichtweise schnell normativ: »Wir«, die wir angeblich schon immer in einem Land gelebt haben, sind die Norm, und diejenigen, die »zurückgeblieben« (in sozialer Hinsicht) oder »hinzugekommen« (eingewandert) sind, haben »uns« gegenüber Defizite, die es zu beseitigen gilt. Doch die Vielheit lässt sich nicht mehr auflösen oder eindämmen, sie muss als unwiderrufliche Tatsache und Voraussetzung jeden Handelns betrachtet werden. Die Fragen, die ich mir stellte, lauteten also: Sind alle unsere Institutionen, sind Behörden, Schulen oder Gesundheitseinrichtungen »fit« für die Vielheit? Und wenn nicht: Was müssen sie unternehmen, um es zu werden? Es hat seitdem Veränderungen gegeben, aber die Fragen sind geblieben. Ich glaube, es ist wichtig, einen Schritt weiterzugehen: Was wäre eigentlich das ethische, also das praktisch-philosophisch handlungsbegründende Leitprinzip des Wandels in der Parapolis? Deshalb ein Buch über Kollaboration.

Die Entstehung der Demokratie im neuzeitlichen Europa brachte auch eine Furcht der Regierenden vor der Bevölkerung mit sich: Wenn das Volk der Souverän sein und jeder Bürger in Freiheit leben sollte, wie genau sollte dann die Zustimmung zur Regierung funktionieren und wie dafür gesorgt werden, dass nicht jeder einfach tat, was er wollte? Sicher, der Staat besaß das Gewaltmonopol, aber reiner Zwang hatte ja nichts mit Demokratie zu tun. Die Lösung bestand schließlich in einer Art gesellschaftlichem Training: Die Individuen sollten sich selbst steuern. Das Leitprinzip hieß Disziplin. Eine Technik, mit deren Hilfe die Personen durch andauernde körperliche Übung und individuelle Überwachung in sogenannten Einschließungsmilieus (Familie, Schule, Militär, Fabrik, Büro, Gefängnis etc.) quasi dressiert wurden. Dabei entwickelten sie ein Gewissen, ein »Über-Ich«, welches die Überwachung dann sozusagen von innen organisierte und Schuldgefühle entstehen ließ, wenn man die Disziplin nicht einhielt.2

Spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts regte sich Widerstand gegen den Apparat der Disziplin. Vor allem in den sechziger Jahren begann die Jugend, sich gegen die permanente körperliche Drangsalierung und die Verbote rund um die Sexualität aufzulehnen. Sie hatte das gesellschaftliche Momentum auf ihrer Seite. Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren noch geprägt von der Welt der Industrie. Das Leben der Menschen richtete sich im Großen und Ganzen nach den Imperativen der Produktion – Arbeit, Karriere, Konkurrenz, Leistung, Besitzindividualismus, Familie und intaktes Heim. Der Massenkonsum brachte jedoch ganz andere Werte ins Zentrum der Gesellschaft: Geldausgeben statt Sparsamkeit, Stil statt Genügsamkeit, Wegwerfprodukte statt Dauerhaftigkeit, schnelle Befriedigung statt ständigen Bedürfnisaufschub. Die Disziplin des 19. Jahrhunderts geriet in eine massive Krise angesichts einer Gesellschaft, die sich vom Mangel befreit hatte und in deren Zentrum Konsum stand. Sie entsprach auch nicht mehr den Wünschen und Bedürfnissen verschiedener Gruppen, insbesondere der Jugend, in deren Konsumansprüchen der Konflikt zum Ausdruck kam.

Seitdem hat sich der Griff der Disziplin gelockert, aber verschwunden ist sie nicht. An ihre Stelle ist bisher kein anderes Leitprinzip getreten. Zwar sprechen die Kritiker des Neoliberalismus und des Sicherheitsstaats von einer Kontrollgesellschaft, in der das Verhalten der Individuen nicht mehr zentral überwacht, sondern durch Peer-Begutachtung, Grenzwert-Ermittlung und penetrante Evaluation reguliert wird.3 Doch das lässt die gesellschaftlichen Zustände zusammenhängender erscheinen, als sie tatsächlich sind. Zudem übersehen diese Kritiker konsequent die Freiheitsgewinne der letzten Jahrzehnte und die oben beschriebenen neuen Formen der Selbstorganisation. Fast erwecken sie den Eindruck, als würden sie ihre eigene Machtlosigkeit genießen, wenn sie einen neuen Apparat der Kontrolle beschwören – immer liegt gleich die Systemfrage auf dem Tisch und am Ende regiert die Ohnmacht. Der Ansatz der Kollaboration geht dagegen von der Widersprüchlichkeit der Verhältnisse und der Aktivität der Individuen aus und entwickelt daraus einen pragmatischen Rahmen für Veränderung.

Wir sind Kollaborateure, im positiven wie im negativen Sinne. In den letzten Jahren haben viele Evolutionsbiologen eine erstaunliche Wende vollzogen. Hatten viele von ihnen vor drei Jahrzehnten noch das »egoistische Gen« als Antrieb der menschlichen Entwicklung ausgemacht, so sprechen sie jüngst der menschlichen Fähigkeit zur »Super-Kooperation« diese Rolle zu.4 Allerdings bleiben wir auch Kollaborateure im pejorativen Sinne. Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, deren Kapriolen viele Menschen ablehnen, zu der wir aber keine einfache Alternative zur Hand haben. Wir leben in einer Demokratie, von der wir oft das Gefühl haben, sie sei doch ziemlich auf den Hund gekommen und niemand würde uns ohne egoistische Hintergedanken noch vertreten. Dennoch arrangieren wir uns auf die eine oder andere Weise mit diesen Umständen. Die Frage dabei ist: Handelt es sich um eine fremdbestimmte oder eine autonome Form der Kollaboration? Kollaboration ist notwendig, aber sie könnte als Strategie mit mittlerer Reichweite einen durchaus utopischen Charakter entfalten. Selbst wenn wir das große Ganze nicht immer verändern können, wäre die Füllung der Zwischenräume mit kollaborativen Herangehensweisen ein wichtiger Schritt in Richtung einer vertieften Demokratie, eines besseren Zusammenlebens, gerechter verteilter Bildungschancen oder einer neuen Qualität der Arbeitsbedingungen.

Nun wird Zusammenarbeit unter dem Begriff »Partizipation« in jüngster Zeit häufig beschworen, aber nur selten eingelöst. Denn wenn die Leute nicht »partizipativ« genau das tun, was die jeweiligen Behörden von ihnen erwarten, wenn sie etwas kritisieren oder anders machen wollen, dann kommt der Prozess gewaltig ins Stocken. Oft genug sind die Angebote zur Zusammenarbeit auch eher symbolischer Natur. Beispielsweise erhielt ich von der Stadtverwaltung meiner Geburtsstadt Eschweiler im Rheinland vor Kurzem eine Einladung zu einem Planungsworkshop zum Thema »Innenstadtnahes Wohnen für ältere Menschen«. Zur Auswahl stand genau ein Termin – und zwar eine Woche später. Leider traf der Brief an meinem sechshundert Kilometer entfernten Hauptwohnsitz in Berlin ein. Entweder ging die Stadtverwaltung davon aus, ich sei arbeitslos (aber wovon sollte ich dann das Ticket in den Westen bezahlen?) oder ich sei so glücklich über die angebotene Partizipationsmöglichkeit, dass ich alles stehen und liegen lassen würde, um meine ansonsten gut bezahlte Expertise kostenlos zur Verfügung zu stellen. Es geht hier nicht darum, die Kommune im schlechten Licht dastehen zu lassen; immerhin unternimmt sie etwas in Sachen Beteiligung. Außerdem habe ich Anfragen mit ähnlich absurdem Charakter aus den unterschiedlichsten Richtungen bekommen. Doch angesichts dieser Art der Ansprache muss man sich nicht wundern, dass man bei den entsprechenden Workshops häufig auf wenig informierte Wichtigtuer trifft, die wiederum viele ernsthaft Interessierte von der Beteiligung abhalten.

Kollaboration sollte anders laufen, Kollaboration ist kein Feigenblatt. Wenn ich sie hier als Leitprinzip formuliere, dann plädiere ich für ebenjene Eigenverantwortung, die eine neoliberale Regierungsführung und eine konkurrenzorientierte Wirtschaft gebetsmühlenartig eingefordert haben. Die Individuen betrachten sich als emanzipiert, sie sind eine Vielheit, was bedeutet: Die Gesellschaft funktioniert nur, wenn durch Kollaboration möglichst viele Stimmen gehört werden. Zu diesem Thema ist für die Bereiche Wirtschaft und Arbeit schon viel geschrieben worden. In den Entwicklungsabteilungen der großen und kleinen Unternehmen gehört das schnelle Veröffentlichen bzw. Teilen von noch unfertigen Ergebnissen zum Alltag – die Kollaboration ermöglicht die Arbeit an verschiedenen Baustellen, die sich langsam zu einem Ganzen zusammensetzen. Ich will aber nicht längst bekannte Erkenntnisse wiederkäuen. Dieses Buch ist auch kein Ratgeber, wie Beteiligungsverfahren am besten zu bewerkstelligen wären, davon gibt es mehr als genug. Ich habe es eher auf den praktisch-philosophischen Rahmen der Kollaboration angelegt. Kollaboration ist etwas ungleich Schwierigeres als Kooperation. Bei Kooperation treffen verschiedene Akteure aufeinander, die zusammenarbeiten und die sich nach der gemeinsamen Tätigkeit wieder in intakte Einheiten auflösen. Kollaboration meint dagegen eine Zusammenarbeit, bei der die Akteure einsehen, dass sie selbst im Prozess verändert werden, und diesen Wandel sogar begrüßen.

Jedes Nachdenken über dieses Thema startet beim Individuum. Wie müssen die Personen eigentlich beschaffen sein, um zu Kollaborateuren werden zu können? Über die »Wutbürger« ist viel berichtet und diskutiert worden, und tatsächlich glaube ich, dass die Wut eine wichtige Voraussetzung ist. Das Suchen ist eine weitere. Wir stehen heute alle auf schwankendem Grund, wir sitzen im selben Boot auf schwieriger See, und zu akzeptieren, dass wir Wesen auf der Suche sind, macht uns bereit für Kollaboration.

Die ersten beiden Kapitel behandeln diese individuellen Dispositionen, danach soll darüber gesprochen werden, welche kollektiven Kräfte auf die Individuen einwirken, wie Subjektivität gebildet wird und wie diese Kräfte durch Kollaboration verändert werden können. Es geht um Erziehung, Bildung, Therapie, Kunst, Ästhetik und Kritik in der Parapolis. Dabei wird ein Rahmen für Kollaboration entworfen. Kollaboration ist kein unstrukturierter, irgendwie basisdemokratischer Diskussionszusammenhang, sondern durchaus praktisch und auf ein Ergebnis orientiert: Autorität wird daher nicht verleugnet, sondern sollte transparent im Sinne der Zusammenarbeit ausgestaltet werden (Kapitel 3). Das Ergebnis muss allerdings nicht immer ein Gegenstand sein: Manchmal ist der Prozess selbst entscheidend – Kollaboration ist nicht objektiv, sondern von Subjektivierung getragen. Zudem kommt sie nicht ohne Umwege aus: Fehler sind zugelassen, sie werden sogar als bedeutsam betrachtet (Kapitel 4). Kollaborative Kritik wiederum beinhaltet nicht nur ein Urteil über einen Gegenstand, sondern wird auf gemeinschaftliche, reparierende, vorbereitende, unterstützende Weise ein Bestandteil des Prozesses selbst (Kapitel 5).

Vor fünf Jahren habe ich in Interkultur eine interkulturelle Alphabetisierung gefordert. Auch dieses Buch handelt wieder vom Erlernen einer neuen Sprache – jener der Kollaboration. Spracherwerb ist niemals einfach, aber es gibt zahlreiche Belohnungen. Man lernt Neues kennen: neue Wörter, neue Ausdrucksmöglichkeiten, neue Beziehungen, neue Menschen, ja sogar neue Gefühle.

Im besten Fall sogar eine unbekannte Version von Glück.

Anmerkungen

1

  

Vgl. Tom Holert und Mark Terkessidis, Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2006; Mark Terkessidis, Interkultur, Berlin: Suhrkamp 2010.

2

  

Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. ‌M.: Suhrkamp 1992.

3

  

Vgl. Gilles Deleuze, »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders, Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a. ‌M.: Suhrkamp 1993; Giorgio Agamben, »Die Geburt des Sicherheitsstaates«, in: Le Monde diplomatique, 14. März 2014.

4

  

Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, Heidelberg: Spektrum 2006; Martin A. Nowak, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheimnis der Evolution, München: C. ‌H. Beck 2013.