Cover

London Crimes

/ Schlimmer als dein Tod

Psycho-Krimi

von Kris B.

 

Was dir bevorsteht

 

Jessica lebt für den Tanz. Ist sie auch bereit, dafür zu sterben?

 

Sie ist der Star der Company. Doch kurz vor der Premiere des neuen Stückes verschwindet die schöne, unberechenbare Diva spurlos. Detective Inspector Frederick London begibt sich bei der Suche nach der Vermissten in ein Gespinst aus Lügen, Geheimnissen, Eifersucht und Wahnsinn. Er hat nicht viel Zeit, hinter den glitzernden Kulissen der Theaterwelt Leben und Seelen zu retten …

Kapitel

 

Blackout / 5

Party / 7

Sexpotz / 25

Fehler / 37

Training / 49

Ausfall / 65

Verschwinden / 82

Widerstand / 102

Verführung / 127

Marter / 137

Strafe / 162

Kreuzschlitz / 182

Herzkammer / 210

Scherben / 234

Liebesgabe / 243

Geheimnis / 264

Tanz / 277

Zähmung / 289

Rose / 298

 

Wenn dir … / 305

Leseprobe / 306

Außerdem empfehlen wir dir … / 309

Kris B. / 311

Impressum / 312

Blackout

 

Ihre Gedanken trieben ziellos umher, ihr Körper hatte keine Form. Sie wusste nur, dass sie aufwachte, auch wenn es Stunden zu dauern schien.

Lange starrte sie in die Dämmerung, während jeder Atemzug ihr mehr Luft zu nehmen als zu geben schien. Wo bin ich? Ihr Geist war ein langer Korridor mit geschlossenen Türen, in dem namenlose Schatten vorbeihuschten und im Nichts verschwanden.

Sie versuchte, um Hilfe zu rufen, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht. Sie lag wie in einer Zwangsjacke, die sie innerlich und äußerlich fesselte.

Eine schwere Stille erfüllte den Raum mit den sich ablösenden Tapetenbahnen. Der Lack der geschlossenen Tür war vergilbt und rissig. Es roch nach Schimmel.

Wer bin ich?

Wieso lag sie in diesem faulig riechenden Raum, in dem nichts darauf hinwies, dass er überhaupt bewohnt war?

Nein, das war kein Zimmer, in dem man an einem normalen Morgen erwachte. Irgendetwas war hier schrecklich verkehrt.

Party

 

Vorsichtig steuerte Jessica Warner durch den Londoner Abendverkehr. Die Straßen waren von einer dünnen Eisschicht überzogen, in der sich Ampeln und Scheinwerfer spiegelten. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren, denn vor ihrem geistigen Auge sah sie sich schon auf der Bühne stehen, die sie ganz für sich alleine haben würde, weil heute keine Probe angesetzt war. Sie konnte es kaum erwarten. Und zugleich war sie nicht sicher, ob sie nicht doch lieber umkehren sollte.

War es fair, Roger bei der Vorbereitung seiner Geburtstagsfeier allein zu lassen? Aber er hatte sie ja regelrecht verscheucht. Als sie ihm helfen wollte, das Wohnzimmer zu dekorieren, war ihr die Schachtel mit den Reißnägeln heruntergefallen und Roger hatte sie angepflaumt, sie wäre ungeschickt und solle gefälligst besser auf den edlen chinesischen Seidenteppich achtgeben. Schon da wäre sie am liebsten abgehauen. Dann hatte auch noch Alan angerufen und gesagt, dass er nicht kommen konnte. Er brütete eine Erkältung aus und wollte nicht riskieren, kurz vor der Premiere die Stars seiner Show anzustecken.

Wie sollte sie den Abend ohne Alan überstehen? Bis auf David und Susan, zwei Mitglieder der Tanztruppe des Caesar, kamen nur Freunde und Verwandte von Roger, und die würden die Luft mit Zigarettenrauch verpesten und langweilige Gespräche über sinkende Zinsraten und Börsenspekulationen führen. Sie würden Jessica von oben herab behandeln und sie spüren lassen, dass sie allesamt glaubten, Roger hätte einen Riesenfehler gemacht, als er sie heiratete. Sogar Roger gab ihr manchmal dieses Gefühl, auch wenn er behauptete, sie über alles zu lieben. Schnauzt man jemanden, den man liebt, derart an, nur weil ihm etwas aus der Hand fällt?

Gereizt hatte Jessica ihren Mantel geschnappt, Roger zugerufen, dass sie jetzt zum Caesar führe, ob es ihm passe oder nicht, und dass sie rechtzeitig zurück sein würde.

Endlich bog sie in die Duke’s Road und ließ den Wagen vor dem Caesar schlitternd zum Halten kommen. Sie schloss die Wagentür mit Nachdruck, so als müsse sie sich überzeugen, dass sie das Richtige tat. Sie fühlte, wie ihre Stimmung sich hob. Hier war sie wirklich zu Hause.

Das Gebäude lag im Dunkeln - bis auf das angestrahlte Schild über der Tür, auf dem in großen, farbigen Buchstaben vor schwarzem Hintergrund The Caesar geschrieben stand. Wegen der Autoabgase von der nahegelegenen Euston Road musste Alan das Schild alle drei Jahre neu streichen. Letzten Herbst hatte er fluoreszierendes Orange und Grün genommen. Vor vierzehn Jahren waren es dieselben Buchstaben gewesen, damals pink und türkis, die sie ermutigt hatten, hineinzuspazieren und sich nach Stepptanzkursen für Kinder zu erkundigen.

Ein eisiger Windhauch streifte ihr Gesicht, als sie die Tür zum Foyer aufschloss. Endlich war sie drin, in Sicherheit, beschützt vor einer Welt, in der sie sich nicht geborgen fühlte. Sie knipste das Licht an und streifte die Handschuhe ab. An der Wand gegenüber der Abendkasse hing das Plakat der neuen Inszenierung: Taming of the Shoe, eine Tanzadaption von Shakespeares Taming of the Shrew, Der Widerspenstigen Zähmung. Mit wenigen Pinselstrichen hatte Alan die Essenz ihres Wesens erfasst. Ihr biegsamer Körper drehte sich in einem roten Minikleid, schwarze Haare flirrten um ihr blasses Gesicht und die dunklen Augen. Sie sah aus wie die Verkörperung eines Adrenalinkicks. Das Plakat war der Wahnsinn, einfach perfekt. Fast perfekt. Sie störte sich nur an den Namen, die diagonal in die rechte untere Ecke gedruckt waren, Jessica Warner & David Powell. Das P unter dem W sah unpassend aus. Jessica Warner & Alan Widmark, das wäre es gewesen! Mit ineinandergreifenden Ws.

Jessica stieg nachdenklich die Treppe hinunter. Sie hatte einen Fehler gemacht, der sie nun auf Schritt und Tritt verfolgte.

David war ein toller Tänzer, ideenreich, ehrgeizig. Nachdem er ans Caesar gekommen war, hatte er Jessica sofort unter seine Fittiche genommen und gecoacht. Er war zugegebenermaßen ein besserer Choreograph als Alan.

Nach einer Weile fing er an, Jessica anzubaggern. Sie hatte sich nicht viel dabei gedacht. Männer und ihre Hormone - das würde vorbeigehen, wenn sie ein paarmal mit ihm geschlafen hatte. Seine Beharrlichkeit hatte ihr Angst gemacht. Und dann hatte etwas Schreckliches passieren müssen, damit sie ihm endlich den Laufpass gab. Nur auf der Bühne, da konnte sie ihm nicht entkommen. Und auch nachher auf Rogers Party nicht …

Sie öffnete die rot gestrichene Tür zu ihrer Garderobe, stellte den Rucksack auf dem Schminktisch ab und zog sich um. Die Heizung lief auf niedrigster Stufe und Jessica beeilte sich, ihren Trainingsanzug überzustreifen. Dann bückte sie sich, nahm die Steppschuhe, die Alan ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, und prüfte routinemäßig, ob alle Schrauben fest angezogen waren. Das dicke, schwarze Leder umhüllte ihre Füße wie eine zweite Haut.

Jessica stieg die Wendeltreppe zur Bühne hoch und ging zur Technikerkabine, wo sie die Bodenspots anschaltete. Der Zuschauerraum lag in samtschwarzer Dunkelheit. In vier Tagen, am Premierenabend, würde es hier von Menschen wimmeln. Zu dröhnender Musik würden sie und David sich dem Rausch des Tanzens hingeben, oder es zumindest versuchen.

Sie wärmte sich mit Dehnübungen und kurzen, immer schneller werdenden Schrittkombinationen auf, bis das Klicken der Schuhbeschläge wie Trommelwirbel klang. Dann übte sie die Teile der Choreographie, die sie am liebsten mochte. Schon nach wenigen Minuten arbeiteten ihre Fußgelenke wie reibungsfreie Kugellager. Ihre Sprünge wurden höher, ihre Drehungen schneller. Sie wirbelte herum, galoppierte über die Bühne und landete aus dem Sprung im Spagat. Sie ging zu dem etwas langsameren Solopart über, hörte in ihrem Kopf die Musik dazu, tanzte ihre Lieblingsstelle wieder und wieder.

Plötzlich explodierte ein Niesen. Jessica erstarrte und blinzelte, als die Lichter im Zuschauerraum angingen. Erleichtert sah sie, dass es Alan war. Er schlurfte in einem blauen Flanellpyjama den Mittelgang herunter bis an den Bühnenrand. Mit fiebrig glänzenden Augen sah er zu ihr hoch. Sein schwarzes Haar hing ihm zerzaust in die Stirn.

„Tut mir leid“, sagte er heiser. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Er nieste erneut und drückte sich ein zerknittertes Taschentuch aufs Gesicht.

„Ich sollte mich wohl eher entschuldigen“, sagte Jessica, „weil ich dich anscheinend aufgeweckt habe.“

Mit einem schiefen Grinsen meinte er: „Deine Beinarbeit ist zwar flott, aber nicht laut genug, um zwei Stockwerke zu durchdringen. Roger hat angerufen. Er wollte wissen, ob du noch hier bist.“

Jessica dehnte ihre Beinmuskeln, um sich abzukühlen. Sie würde wohl heimfahren müssen. „Das habe ich nun davon, dass ich einen Mann geheiratet habe, der mein Vater sein könnte“, sagte sie in gespielt lockerem Ton. „Jetzt werde ich ständig bevormundet und erzogen.“

„Er macht sich halt Sorgen um dich. Hätte ich mir aber auch gemacht bei dem Glatteis. Er sagte, du wärst schon seit zwei Stunden weg und –“

„So lange schon?“ Sie hatte die Zeit völlig vergessen. „Verdammt.“

„Ich ruf’ ihn zurück und sag ihm, dass du unterwegs bist.“

„Du bist ein Schatz.“ Sie seufzte. „Ich könnte aber auch hier bleiben, dir einen Tee mit Zitrone machen und deine Stirn kühlen. Du siehst ziemlich angeschlagen aus.“

Alan suchte sein Taschentuch nach einer freien Stelle ab, in die er sich schnäuzen konnte. „Du kommst mir besser nicht zu nah.“

Fünf Minuten später war sie wieder draußen in der feindlichen Kälte.

David war so aufgeregt, dass er seine Krawatte nicht binden konnte. Mit Jessica zu arbeiten, war eine Sache. Sie privat zu treffen, war etwas ganz Anderes. Es hatte eine Zeit gegeben, da war jedes Zusammensein mit ihr von Verlangen erfüllt gewesen. Ein Jahr lang hatte sie sich ihm hingegeben und dann aus heiterem Himmel die Beziehung beendet. Seitdem fühlte er sich wie amputiert. In seiner Seele brannten Sehnsucht und Wut wie ein nie nachlassender Phantomschmerz.

David fummelte an dem schiefen Krawattenknoten, bis dieser sich wieder löste.

„Lass mich das machen.“ Susan fasste um ihn herum, band geschickt einen Knoten und rieb ihre Wange an seinem Schulterblatt. „Du riechst wundervoll.“

Es war ihm unbehaglich, ihre Hände auf seiner Brust zu spüren. „Es ist schon halb sieben und du hast noch nicht mal angefangen, dich zu schminken.“ Er wand sich aus ihrer Umarmung.

Susan seufzte, griff nach der Haarbürste und zog sie in langen, schwungvollen Strichen durch ihre blonden Locken. „Eigentlich fühle ich mich heute nicht besonders gut. Kein bisschen in Partystimmung. Vielleicht sollten wir besser daheim bleiben. Auch wegen dem Glatteis.“

„Ich hatte noch nie Probleme mit Glatteis“, sagte er gereizt. Der Abend bei Roger und Jessica würde auch ohne Susans Tiraden stressig genug werden. Aber er dachte gar nicht daran, feige zu sein und abzusagen.

Susan klatschte den Rücken der Haarbürste in ihre Handfläche. „Soll ich dir mal was sagen? Roger erwartet gar nicht, dass wir kommen. Er hat uns nur eingeladen, damit Jessica auch jemanden zum Reden hat. Mit seinem Familienclan ist sie nie warm geworden.“

David strich die Krawatte noch ein bisschen glatter und meinte mit gespielter Ruhe: „Dann betrachte es als ehrenvolle Aufgabe, Jessica zu unterhalten.“

„Roger macht mich immer nervös. Er hat so etwas unterschwellig Cholerisches an sich.“ Susan legte die Bürste weg und goss etwas flüssige Grundierung auf einen kleinen Schwamm, mit dem sie ihre Haut betupfte. „Und Nurits Essen ist immer viel zu stark gewürzt. Schon allein der Geruch dreht mir den Magen um.“ Sie sah David im Spiegel an. „Müssen wir unbedingt hingehen?“

David drehte sich um. An das Waschbecken gelehnt, ließ er seinen Blick über ihre schönen Züge und ihren schlanken Körper gleiten, der in einem weißen Seidenkleid besonders gut zur Geltung kam und ihn doch völlig kalt ließ.

Er assoziierte Frauen gerne mit Blumen. Vor Jahren hatte er Susan seine Seerose genannt. Er hatte in ihr ein Wesen von ruhiger, unberührbarer Zartheit gesehen, treibend, verletzlich, fast schon schmerzlich schön in ihrer Perfektion. Jessica war das krasse Gegenteil. Sie war seine rote Rose, dornig, eine geschlossene Blüte voller Geheimnisse.

„Du kannst aufhören, dir Ausreden einfallen zu lassen“, lenkte David ein. „Sag mir einfach, warum du wirklich daheim bleiben willst.“

Susans Kinn spannte sich an. Plötzlich durchschoss es ihn, dass er selbst jetzt, Monate nach der Affäre mit Jessica, immer noch befürchten musste, dass Susan davon erfahren hatte. Sie antwortete nicht, sondern zog ihre Lippen nach. Was, wenn sie es wusste? Wenn sie es die ganze Zeit geahnt hatte?

„Du hast recht. Ich habe ein Problem mit dieser Party, und es ist nicht Roger.“ Ihre grünen Augen verdunkelten sich wie ein beschatteter Teich. David wurde flau zumute. Es wäre entsetzlich, wenn Susan wüsste, dass er sie für Jessica hatte verlassen wollen. Aber es wäre tausendmal schlimmer und würde ihn unendlich demütigen, wenn sie erfuhr, dass Jessica nicht bereit gewesen war, Roger für ihn zu verlassen.

Langsam dreht Susan den Lippenstift in die Hülse zurück. „Es ist wegen Clara.“

David entspannte sich ein wenig. „Clara? Wer ist das?“

„Rogers Tochter aus seiner ersten Ehe. Wir haben sie auf der Gartenparty letzten Sommer getroffen. Sie …“ Susan zögerte und senkte den Blick. „Sie müsste jetzt im achten Monat sein.“

„Du kannst nicht den Rest deines Lebens schwangeren Frauen aus dem Weg gehen.“ Susan war den Tränen nahe und David fühlte sich hilflos. „Vielleicht kommen sie ja gar nicht. Clara und Wie-hieß-er-noch?“

„Kenneth.“

„Kenneth, genau. Die beiden wohnen in Greenwich, wenn ich mich recht entsinne. Kenneth wird wohl genug Verstand besitzen, mit seiner hochschwangeren Frau bei diesen Straßenverhältnissen nicht Auto zu fahren.“

„Tut mir leid, dass ich es erwähnt habe. Ich weiß, dass du meine Gefühle nicht verstehst. Das hast du nie getan.“

David erwiderte nichts. Vor drei Jahren, als es so viel zu sagen gegeben hätte, hatte er seinen Kummer für sich behalten und die Bürde alleine getragen. Er hätte auch nicht in Worte fassen können, was in ihm zerbrochen war, als Susan drei Monate vor dem errechneten Termin ihren Sohn zur Welt brachte. Vor Schmerzen halb bewusstlos, hatte sie es gar nicht gesehen, dieses zarte Geschöpf, ein vollkommenes Menschlein bis ins Detail. Sein Sohn. Noch bevor er den blutverschmierten kleinen Körper hatte berühren können, hatte man ihn fortgebracht.

Dominic war der Name, auf den er und Susan sich geeinigt hatten, nachdem sie im Ultraschall erkennen konnten, dass es ein Junge werden würde. Dominic, bleib bei uns!, schrie er in Gedanken. Etwas in ihm hatte nachgegeben, war in sich zusammengesackt, hatte die Maske der Umgangsformen und Konventionen von seinem Gesicht gezerrt. Er hatte angefangen, die Hebamme zu beschimpfen. Irgendjemand musste Schuld haben, irgendjemand musste bestraft werden.

In den Tagen und Wochen danach hatte er sich nur mühsam davon abhalten können, Susan mit den Fragen zu quälen, um die seine Gedanken unablässig kreisten. Hatte Susan sich in der Schwangerschaft aufgeregt, zu viel oder zu wenig gegessen, hatten sie zu oft miteinander geschlafen? Es musste doch einen Grund dafür geben, dass sein kleiner Junge tot war.

Er schaffte es, über das Schlimmste hinwegzukommen und dabei nach außen beruhigend auf Susan einzuwirken. Es war nicht so, wie sie dachte, dass er sie nicht verstand. Sie war diejenige, die kein Interesse an seinen wahren Gefühlen gezeigt hatte. Obwohl Susan kerngesund war, wurde sie nicht wieder schwanger. Das wurde zum Brennpunkt ihrer Trauer. Alles, was sie wollte, war ein Baby, um Dominic zu ersetzen, den sie nicht einmal gesehen hatte. Je mehr David ihr die Konfrontation mit ihrem Verlust erleichterte, desto tiefer trauerte er selbst.

Susan, die ihre Tränen zurückgekämpft und sich fertig geschminkt hatte, brach das Schweigen. „So, Krise vorbei, wir können gehen.“

Damit begann für David die Krise des heutigen Abends erst. Warum bloß suchte er den Schmerz? Jessica wusste, was sie ihm immer noch bedeutete, aber sie strafte ihn mit Nichtachtung. Seinen verletzten Gefühlen brachte sie nur vernichtende Gleichgültigkeit entgegen.

Er sehnte sich so nach Jessica, aber es half nicht, mit ihr zusammenzusein, denn dann zerrte die Sehnsucht nur noch heftiger an ihm.

Roger lüpfte einen Topfdeckel und sog das Aroma ein. „Wie das duftet!“

Seine Haushälterin Nurit nahm das Lob mit stolzem Lächeln entgegen.

Im Esszimmer war Edgar, der Butler, gerade dabei, das Porzellan auf dem langen, ovalen Mahagoni-Tisch anzuordnen. Eigentlich hätten heute Abend 30 Personen anwesend sein sollen. Roger hatte eine Vorliebe für runde Zahlen. Leider war Alan erkältet. Ein Jammer, denn er war unschlagbar darin, peinliche Konversationslücken zu schließen. Und seine Gegenwart allein hob Jessicas Laune. Clara und Kenneth hatten beschlossen, zu Hause zu bleiben. Tracy, seine Sekretärin, hatte angerufen, um zu sagen, dass sie ohne ihren Mann kommen würde. Er hatte sich im Skiurlaub ein Bein gebrochen. Somit waren sie nur noch sechsundzwanzig.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer sagte Roger zu Edgar: „Ich denke, Sie können jetzt die Kerzen anzünden.“

Er legte CDs von Mozart und Vivaldi in den Player. Nun war alles perfekt, wenn man davon absah, dass Jessica noch nicht zurück war. Ihr Mangel an Mitgefühl war symptomatisch, vor allem, wenn es um seine Gefühle ging. Sie behandelte ihn, als bestünde er nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Hartholz und Granit.

Natürlich sah er sich selbst genau so: eine Festung von einem Mann, groß, stark, athletisch gebaut. Aber Jessica war wie ein blinder Spiegel. Er hatte keinen Schimmer, was sie in ihm sah. Begehrte sie ihn? Wahrscheinlich schon, sonst würde sie nicht dreimal in der Woche mit ihm schlafen. Was auch wieder seltsam war. Warum diese Regelmäßigkeit, die keinen Spielraum für Spontaneität ließ?

Roger drückte auf Play, damit ihn die sanften Geigenklänge beruhigen konnten. Sehr zu seinem Missfallen war er wieder einmal bereit, ihr zu verzeihen, dass sie ihn enttäuscht hatte und lieber tanzen gegangen war, als bei ihm zu sein, wenn die Gäste kamen. Wenn die Liebe aus ihm einen nachgiebigen Schwächling machte, dann wäre er Jessica lieber nie begegnet.

Als er sich bückte, um einen der Reißnägel aufzuheben, der wohl übersehen worden war, klingelte es.

„Was zum Kuckuck geht nur in deinem Kopf vor, Jess?“, schnauzte er sie an, um seine Erleichterung darüber zu verbergen, dass sie heil wieder zurück war. Es blieb ihm leider keine Zeit, ihr eine längere Gardinenpredigt zu halten, denn es klingelte erneut.

„Ich zieh mir schnell was Schickes an“, sagte Jessica unbeeindruckt. „Es dauert keine Minute.“

Sie hatte sich nicht einmal entschuldigt. Wie konnte er ihr vergeben, wenn sie so uneinsichtig war? Mit einem steifen Lächeln machte Roger sich daran, die ersten Gäste zu begrüßen.

Fünfzehn Minuten später kam sie wieder herunter, in einem Figur betonenden, schwarzen Kleid. Sie nahm ein Glas Mineralwasser von Edgar entgegen und mischte sich unter die Gäste. Roger beeilte sich, alle zu Tisch zu bitten. Ein gutes Essen war ein Garant für eine gute Stimmung. Alles verlief bestens, genau die richtige Mischung, niveauvolle Witze, kleine politische Diskurse, ein bisschen familiäres Geplauder. Nur Jessica aß schweigend, dabei hatte er sie zwischen Susan und David platziert. Hatten sie denn so kurz vor der Premiere ihres neuen Stücks nicht eine Menge zu bereden?

David hatte als Choreograph an Off-Broadway-Shows in New York gearbeitet, bevor er vor zwei Jahren nach London gezogen war. Seine Frau Susan war eine naturblonde Schönheit, eine Augenweide für seine männlichen Gäste. Sie unterhielt sich gerade mit Tracy, die letztes Jahr in New York Urlaub gemacht hatte.

Nach dem Essen, als sich alle ins Wohnzimmer begaben, setzte Jessica sich auf das kleine Sofa am Fenster, das sie demonstrativ hochgeschoben hatte, um frische Luft zu bekommen. Sie sah aus, als wäre sie in Gedanken versunken, aber Roger wusste, dass sie sich langweilte. David gesellte sich zu Jessica und fing an, auf sie einzureden, aber ihre Antworten blieben einsilbig. Als Nächstes versuchte Rogers Schwägerin Victoria, sie in eine Unterhaltung zu ziehen, die gerade mal zehn Sekunden dauerte. Roger musste etwas unternehmen, bevor jeder ihre schlechten Manieren bemerkte.

Er setzte sich zu ihr. „Jess, mein Liebling, was ist los? Warum amüsierst du dich nicht?“ Selbst in seinen eigenen Ohren klang das unaufrichtig, was wohl daher kam, dass er innerlich immer noch wegen ihres Zuspätkommens kochte.

„Es ist schon nach elf. Ich sollte längst im Bett sein“, beschwerte sie sich. „Wir haben morgen eine Probe.“

„Es kann ja wohl nicht zu viel verlangt sein, dass du einmal im Jahr ein paar Stunden länger aufbleibst. Oder willst du mir vorwerfen, dass ich Geburtstag habe?“

Sie stand auf. „Dann hab halt Geburtstag und lass mich schlafen gehen. Es wird mich bestimmt niemand vermissen.“

Roger war erschüttert. Er erhob sich ebenfalls und sagte leise und nah an ihrem Ohr: „Siehst du denn nicht, wie selbstsüchtig du bist? Du kannst jetzt unmöglich –“

„Spiel dich nicht so auf“, fiel ihm Jessica lautstark ins Wort.

„Ich spiele mich nicht auf“, zischte er. „Ich bitte dich lediglich um ein bisschen Höflichkeit. Solange wir Gäste haben, bleibst du unten.“

„Dann schick die Gäste weg.“

„Jessica!“

Natürlich starrten alle jetzt in ihre Richtung.

„Ich habe es so satt. Immer machst du mir Vorschriften. Kann ich mein Leben nicht so leben, wie es mir passt?“

„Und was ist mit mir? Du scherst dich doch einen Dreck um mein Leben. Stell dir vor, ich habe auch ein Herz. Ich möchte eine Frau, keine tanzbesessene, gefühlskalte –“

„Ach, halt doch den Mund. Ich kann es dir sowieso nicht recht machen.“

„Hast du jemals überhaupt versucht, meinen Standpunkt zu sehen?“

„Wozu sollte ich das?“, spie sie ihm entgegen. “Du bist nichts weiter als ein alter, muffiger Langweiler.“

Bevor er überhaupt wusste, was er tat, war ihm schon die Hand ausgerutscht und er hatte Jessica mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen.

Es ließ sich nicht ungeschehen machen. Sie stieß einen Schrei aus, griff schützend an ihre Backe, drehte sich um und rannte aus dem Zimmer. Er spurtete ihr nach und holte sie oben an der Treppe ein.

„Jess, es tut mir entsetzlich Leid.“ Er griff nach ihrer Schulter, aber sie schüttelte seine Hand ab und stieß die Tür zum Schlafzimmer auf.

„Hau ab, lass mich in Ruhe. Geh zu deinen blöden Gästen“, brachte sie zwischen Schluchzern hervor.

„Aber ich wollte doch nicht ... Ich schwöre ... Schatz, deine Lippe blutet.“

Mit zitternden Fingern tastete sie ihren Mund ab. Ihr Gesicht war aschfahl.

„Verzeih mir, ich wollte dir nicht wehtun. Es tut mir unendlich leid. So etwas wird nie wieder vorkommen, ich schwöre es.“

Sie ignorierte seine Entschuldigungen und wich ihm aus, als er ihr sein Taschentuch hinhielt.

„Ich werde mich um sie kümmern“, sagte David, der mit dem Champagnerkühler im Arm die Treppe hochkam. „Ihre Backe muss gekühlt werden, damit es keinen Bluterguss gibt. Das hätte uns gerade noch gefehlt.“

Jessica, die sich vom gröbsten Schock erholt hatte, schnappte den Kühler. „Ich brauche niemanden, der mich bemuttert.“

Roger hielt es für besser, sich zurückzuziehen. Er hatte genug von Streitereien, genug davon, Jessica domestizieren zu wollen. Er schlurfte die Treppe hinunter.

Im Wohnzimmer sahen einige ihn neugierig an, andere schauten betont weg. Es herrschte eine Mischung aus Schaulustigkeit und Betretenheit, mit der Roger nicht umzugehen wusste. „Ich … keine Ahnung, was da eben …“

Unbeholfen stand er da.

Seine Schwägerin Victoria rettete ihn. Burschikos meinte sie: „Nun mach nicht so ein Gesicht. Jessica hatte die Ohrfeige verdient.“

Zustimmendes Gemurmel.

Ein paar Minuten später beschloss Roger, noch einmal nach Jessica zu sehen. Es würde ihm sonst keine Ruhe lassen. Auf der Treppe kam ihm David entgegen.

„Wie geht es …?“

David stieß ihn zur Seite, schnappte seinen Mantel und ging ohne ein weiteres Wort.

Oben auf dem Treppenabsatz hockte Susan zusammengekrümmt, als hätte sie Schmerzen. Roger wusste nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte, darum beeilte er sich, Edgar zu suchen, mit der Bitte, sich um sie zu kümmern.

Er würde nie wieder jemanden aus dieser irren Tanztruppe zu sich einladen, das stand fest.

Wie ein Sirenenalarm durchbrach ein Laut die nächtliche Stille. Alan kämpfte sich durch Schichten von Fieberträumen und Kopfweh, bis er endlich wach war. Es klingelte erneut. Das musste jemand sein, der einen Schlüssel fürs Caesar hatte, denn es war nicht das kurze Läuten der Eingangstür, sondern der Zweiton-Gong der Wohnungstür. Im Wohnzimmer lärmten Ginger und Fred, die Papageien. Ginger krächzte: „Hasta la vista, Baby.“

Alan versuchte gar nicht erst, aufzustehen. Schließlich wusste jeder, dass er nie seine Wohnungstür abschloss. Nach dem dritten Läuten hörte er zögernde Schritte im Flur. Kurzsichtig schielte er zur Nachttischuhr. Ein Uhr morgens. Er setzte sich langsam auf und musste sofort niesen. Das reichte, um seinen nächtlichen Besucher zu ermutigen, ins Schlafzimmer zu kommen.

Alan knipste die Nachttischlampe an und schloss für einen Augenblick die geschwollenen Augenlider. Als er sie wieder öffnete, erblickte er Susan. Sie warf sich in seine Arme.

Er streichelte ihren Rücken. „Süße, was ist denn passiert?“

„Ich hasse sie“, weinte sie mit dem Kopf an seiner Schulter. „Sie hat mein Leben ruiniert, dieses egoistische, gefühllose Biest. Ich wünschte, sie wäre tot.“

Alan, der immer noch nicht ganz wach war, machte „Sch-sch“, wie er es bei seiner Tochter Cindy tat, wenn sie sich wehgetan hatte. Susan weinte hilflos, bis sie alle Tränen aufgebraucht hatte.

Er hielt ihre schlaffe Gestalt von sich weg. „Was ist denn nun passiert?“

„Ich kann nicht darüber reden. Es ist ... ist einfach zu entsetzlich.“

Er versuchte es mit einer einfachen Frage. „Du warst doch mit David auf Rogers Party, ja?“

„Ja.“

„Und wie bist du hergekommen?“

„Weiß ich nicht. Ich glaube mit einem Taxi. Nein, warte mal. Rogers Sekretärin hat mich gefahren.“

„Und wo ist David?“

Falsche Frage. Susans Wasserwerke gingen wieder in Betrieb. Alan wartete benommen, bis sie sich gefangen hatte. Das rote Lämpchen an seinem Nachttischtelefon blinkte dreimal. Von Mitternacht bis sieben Uhr morgens war sein Anschluss auf den Anrufbeantworter im Büro umgestellt, darum läutete das Telefon nicht.

„Ich glaube, David sucht nach dir. Wir sollten ihn zurückrufen.“

„Ich werde in meinem ganzen Leben kein einziges Wort mehr mit ihm sprechen. Weder mit ihm, noch mit Jessica, noch sonst jemandem.“ Sie zupfte ein Kleenex aus der Box auf Alans Nachttisch. „Ich wünschte, ich wäre tot.“

„Du kannst heute Nacht in Cindys Zimmer schlafen. Es liegt zwar überall Spielzeug herum, aber das macht dir bestimmt nichts aus.“

Das Lämpchen blinkte erneut. Diesmal kam Alan dem Anrufbeantworter zuvor und nahm das Gespräch an. Wie erwartet, war es David.

„Ist Susan bei dir?“, fragte er.

„Ja, sie ist hier.“

„Dachte ich mir. Hat sie dir erzählt, was passiert ist?“

„Nein, sie hat die ganze Zeit nur geweint.“

„Gut, es geht dich sowieso nichts an. Schick sie heim. Sag ihr, dass ich mich entschuldigen will.“

„Es ist David“, sagte Alan zu Susan. „Er sagt, es täte ihm Leid.“

Susan zerdrückte das mit Mascara verschmierte Kleenex. „Mir tut es auch Leid.“

Das war nicht besonders hilfreich. „Geht es also klar? Möchtest du nach Hause?“

Sie zuckte die Schultern. „Es gibt Probleme, die lassen sich nicht lösen“, gab sie fatalistisch zur Antwort.

David drängte Alan weiter, Susan in ein Taxi zu setzen.

„Vielleicht sollte sie besser bei mir bleiben. Du kannst sie dann morgen abholen“, schlug Alan diplomatisch vor.

Glücklicherweise gab Susan nach. „Ruf halt ein Taxi, wenn David unbedingt darauf besteht. Es hat keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren.“

Alan legte auf und wählte die Nummer von Lady Cabs. „In ein paar Minuten wird jemand da sein. Ich bring dich zur Haustür.“

„Lass nur. Du bist krank. Ich hätte dich nicht belästigen sollen.“ Susan klang jetzt apathisch, was ihn noch mehr beunruhigte als ihr hysterischer Anfall. Sie stand zögernd auf. „Du bist ein lieber Mensch. Du hast keine Ahnung wie es ist, jemanden zu hassen. Gute Nacht, Alan“, murmelte sie noch und verschwand dann so lautlos, dass Alan am nächsten Morgen nicht sicher war, ob der nächtliche Besuch wirklich stattgefunden hatte. Es war wie eine Halluzination gewesen.

Sein Kopfweh hatte nachgelassen. Nach drei Tassen Tee ging es auch seinem Hals besser. Er fühlte sich gut genug, um Eileen zu helfen, seiner Sekretärin, die heute kommen würde, obwohl es Sonntag war. Morgen gingen die neuen Kurse los und sie musste die Anmeldungen durchsehen und einen Belegungsplan für die Studios aufstellen. Dazu kam noch die ganze Vorarbeit für die Generalprobe und die Premiere.

Als Alan den Fuß der Treppe erreicht hatte, öffnete Eileen gerade die Vordertür.

Dann erstarrte sie, auf ihre Krücken gestützt und genauso erschrocken wie Alan.

Jemand hatte das Plakat von Taming of the Shoe in kleinste Fetzen zerrissen, die über das Foyer verstreut lagen.

Sexpotz

 

„Oh nein“, protestierte Eileen, „nicht noch eine Operation. Und schon gar keine Hüfttransplantation mehr. Verschone mich.“

„Du hattest doch erst eine.“ Simon hoffte, es würde nicht den ganzen Sonntagnachmittag dauern, sie zu überzeugen. Er saß auf der Kante ihres perfekt aufgeräumten Schreibtisches im Büro des Caesar und schaute zärtlich auf sie hinunter. „Wir reden hier außerdem nicht über Hüften, sondern über dein Knie.“

Sie schüttelte den Kopf, was ihr feines, braunes Haar zum Schwingen brachte. „Dr. Shelley sagte, mein Fall sei zu kompliziert und er könne das Risiko eines Knie-Implantats nicht verantworten“, erinnerte sie ihn. Simon war Physiotherapeut in Dr. Shelleys Abteilung an der London Clinic und kannte Eileens Krankenakte in- und auswendig.

„Das hatte mit deinen Immunsuppressionsproblemen zu tun, als du die Hüftprothese bekamst. Aber jetzt hat dieser Professor Tiberius Johnson aus den Staaten eine neue Studie veröffentlicht über allogenetische Vascu-“

„Hör bloß auf damit. Es tut mir weh, wenn du mit diesen kalten, medizinischen Fachausdrücken um dich wirfst.“

„So wie dein Bein wehtut. Und das wird es auch weiterhin, wenn du nichts dagegen unternimmst.“ Er legte eine Hand auf ihre Schulter. „Schau, alles, was ich im Augenblick von dir will, ist, dass du zu Professor Johnsons Vortrag mitkommst. Er ist ein gefragter Mann und wird nur für drei Wochen in Europa sein. Ich musste eine Menge Beziehungen spielen lassen, um Karten für uns zu kriegen.“

„Du hast was getan?“ Eileen rückte nervös ihre Brille zurecht. „Du hast alles schon arrangiert, ohne mich nach meiner Meinung zu fragen?“

„Stell dir doch mal vor, wie das wäre, wieder ohne Krücken zu laufen. Treppen wären kein Hindernis mehr, wenn dein Bein nicht mehr steif wäre. Du wärst nicht abhängig von –“

„Ja, ich sehe, worauf du hinaus willst“, unterbrach sie ihn. „Wann und wo ist dieser Vortrag?“

Allmählich gewann er an Boden. „Am Dienstag im Richmond Gate Hotel. Das ist ein ausgezeichnetes Konferenz-Hotel mit exquisiter Küche. Wir werden bestimmt einen tollen Tag haben.“

„Dienstag nächste Woche?“

„Diese Woche.“

„Aber da ist Generalprobe! Das ist ausgeschlossen. Die Zwillinge sind krank.“ Damit meinte sie Mira und Shireen, die für den Kartenvorverkauf zuständig waren. Sie waren nicht wirklich Zwillinge, sahen sich aber täuschend ähnlich. Die beiden hatten sich letzte Woche bei einem gemeinsamen Urlaub in der Dominikanischen Republik ein Darmvirus zugezogen, das ihnen noch eine Weile zu schaffen machen würde. „Alan würde mich jetzt nicht weggehen lassen.“

Simon schaute aus dem Fenster, das lediglich eine trübe Aussicht auf das Haus gegenüber bot, und sage beiläufig: „Alan hat keine Einwände.“

Eileen schnappte nach Luft. „Du hast schon mit ihm geredet? Was ist das? Eine Verschwörung?“

„Du bis zu jung, um den Rest deines Lebens auf Krücken zu verbringen.“ Zur Verdeutlichung tippte er gegen die Metallkrücken, die am Schreibtisch lehnten.

Eileen war noch nicht überzeugt. „Das ist immer noch besser, als wieder im Rollstuhl zu landen. Diese Operationen sind mit einem großen Risiko behaftet.“

Er ließ ihr eine Weile Zeit zum Nachdenken.

„Wärst du sehr enttäuscht, wenn ich Nein sagen würde?“, fragte sie schließlich.

Simon streichelte ihr sachte übers Haar. Er hatte Eileen in der dunkelsten Stunde ihres Lebens kennengelernt. Sie war damals für eine lange, schmerzhafte Nachbehandlung ihrer Unfallverletzungen in die London Clinic gebracht worden. Unzählige Male hatte er sie massiert. Er hätte aus dem Gedächtnis ein Röntgenbild von ihr zeichnen können und dazu eine Landkarte ihrer Narben. Immer, wenn er ihre angespannten Muskeln knetete, wünschte er sich, er könnte durch ihre Haut hindurch all die schmerzenden Knoten auflösen. Er kannte sie so gut. Sie konnte ihn gar nicht enttäuschen.

„Du würdest vielleicht einen großen Schritt vorwärts machen. Bevor du weißt, wie dir geschieht, ziehst du dir ein Paar Steppschuhe an und stiehlst Jessica die Show.“

Eileen lächelte nachsichtig. „Ich habe meinen Vorrat an Hoffnung aufgebraucht. Und davon abgesehen glaube ich nicht, dass es mir irgendwie helfen kann, mir das Geschwafel dieser amerikanischen Koryphäe anzuhören, weil ich ja doch kein Wort davon verstehen werde und keine Ahnung habe, wie sich das auf meinen Fall anwenden lässt.“

„Kein Problem. Nach dem Vortrag kannst du ihn alles fragen, was du willst. Ich habe einen Termin vereinbart.“

Eileen beugte sich vor und umschloss Simons Handgelenk mit ihren Fingern. „Du hast einen Termin vereinbart? Warum hast du ihm nicht gleich gesagt, er soll sein Skalpell mitbringen und die Operation an Ort und Stelle erledigen?“

Simon blieb ganz ruhig. Sie tat nur wütend, in Wirklichkeit mochte sie es, wenn er ihr schwierige Entscheidungen abnahm.

„Du hättest mich viel früher fragen müssen“, grummelte sie.

„Ehrlich gesagt, hatte ich mit dem Gedanken gespielt, dich überhaupt nicht zu fragen, sondern dich am Dienstag zu entführen und im Kofferraum gefesselt nach Richmond zu verschleppen.“

Sie lachte und schüttelte den Kopf, sodass sich eine Strähne ihres weichen Haars im Brillenbügel verfing. „Du wirst ja doch nicht aufgeben, bis ich ja gesagt habe. Da wäre aber noch das Problem, dass ich dort ziemliche Strecken zurücklegen muss: vom Parkplatz zum Hotel, vom Konferenzraum zum Speisesaal und so weiter.“

Gewonnen, dachte er. „Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Du solltest endlich ein Leben führen, bei dem du nicht vor jedem einzelnen Schritt Angst haben musst. Und mach dir keine Gedanken wegen der Wege. Wenn du müde bist, trage ich dich einfach.“

Eileen seufzte abschließend. „Na gut, ich komme mit.“

Er hätte sie am liebsten vor Freude gedrückt, ließ es angesichts ihrer Zerbrechlichkeit aber bleiben. „Ich hole dich um halb sieben ab, dann sind wir rechtzeitig da, um das Frühstücksbüffet zu plündern. Zieh dich schick an.“

Im selben Augenblick schlug die Bürotür gegen die Wand und Jessica stürmte herein.

„Du und Roger, ihr habt genau die gleiche Unart, einfach hereinzuplatzen“, bemerkte Simon.

„Sei bloß still“, herrschte Jessica ihn an.

Erst jetzt sah Simon, dass Jessicas Gesicht unsymmetrisch und geschwollen wirkte. Er glitt vom Schreibtisch, kratzte sich am Kopf und überlegte, ob er ihr Trost anbieten sollte.

„Schau mich nicht an. Und jetzt geh endlich.“ Jessica begann zu weinen.

Simon zog die Tür hinter sich zu und machte sich keine weiteren Gedanken. Eileen würde schon wissen, wie sie Jessica beruhigte.

Laute Musikfetzen drangen an sein Ohr und er ging Richtung Zuhörersaal, wo gerade die Akustik getestet wurde. Pam stand hinter der letzten Reihe.

„Klingt irgendwie substanzlos“, rief sie zur Bühne. Pamela Hay, geschiedene Pamela Widmark, war ein Augenschmaus. Dickes, weizenblondes Haar, Sommersprossen und eine knackige Figur. Als Alan ihm erzählt hatte, dass Pam ihn wegen Martin Shennan, dem Komponisten der Show, verlassen würde, hatte Simon angefangen, ihr nachzustellen. Bisher ohne Erfolg.

Er näherte sich von hinten und überraschte sie mit einem Kuss auf die Schulter. „Hallo, süße Pam. Treibst du’s immer noch mit dem Kerl von der Band?“

Pam stieß ihn in die Rippen. „Martin und ich werden im Mai heiraten. Du bist nicht eingeladen.“

„Zu dumm. Ich bin diplomierter Brautküsser. Der Mann für gewisse Hochzeiten.“

Sie grinste. „Geh mal da rüber“, deutete sie, „und sag, ob der Bass laut genug ist.“

Simon salutierte und marschierte zur linken Seite. Martin stellte das Playback für ein paar Sekunden an.

„Das klingt, als wäre der Bass gar nicht angeschlossen“, diagnostizierte Simon.

Alan, der auf der rechten Seite postiert worden war, pflichtete ihm bei. Sie trafen sich auf der Bühne, wo Martin verärgert mit einem Verlängerungskabel hantierte. „Ich hab den falschen Adapter mitgenommen. Mist.“

Am Rand der Bühne saß Alans sechsjährige Tochter Cindy und spielte mit den elektrischen Kleinteilen. Simon hob sie hoch und warf sie in die Luft. „Hallo, kleine Schönheitskönigin. Hast du vielleicht einen passenden Adapter für Martin?“

Sie kicherte und er stellte sie wieder auf die Füße. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, Pams große blaue Augen mit endlosen Wimpern und Alans glänzendes, schwarzes Haar. Mit Expertenmine durchsuchte sie ihre Schätze und brachte etwas zum Vorschein, das Simon brauchbar erschien. Er reichte es Martin weiter. „Könnte es damit klappen?“

„Super, das ist genau das Teil. Versuchen wir’s noch mal.“ Er stöpselte und schaltete an verschiedenen Verstärkern herum und in Nullkommanix brachte ein stampfender Bass die Luft zum Vibrieren.

Simon setzte sich neben Cindy. „Ist das nicht viel zu laut für dich?“, rief er, um den Krach zu übertönen. „Die hohen Frequenzen zerstören die Flimmerhärchen in deinen Gehörgängen.“

Cindy wartete mit ihrer Antwort, bis die Musik aufgehört hatte. „Mami sagt, du musst allen Leuten immer medizinische Ratschläge geben. Und dann sagt sie noch, dass du dauernd flirtest. Und Martin sagt, du bist ein Sexpotz. Was ist ein Sexpotz?“

Simon versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen. „Martin sollte dir nicht solche Wörter beibringen. Ein Sexpotz, äh, Sexprotz ist ein, also -“

Alan kam ihm zuvor. „Einer, der nie genug kriegt.“ Seine Stimme klang heiser.

Simon stand auf, bevor Cindy fragen konnte, wovon er nicht genug bekam. „Du siehst ganz schön heruntergekommen aus, mein Alter. Die Unterhaltszahlungen machen dir wohl zu schaffen.“

„Nein, Viren. Das fing gestern an mit Kopfweh und laufender Nase. Ich konnte nicht mal zu Rogers Party gehen. Komm mal mit, Simon. Cindy und ich wollen dir was zeigen.“ Alan nahm seine Tochter an der Hand und sie stiegen die Wendeltreppe zu den Garderoben hinunter, wo Alan die Tür zu einem Abstellraum öffnete. „Eine Überraschung für dich. Ich hatte etwas Zeit über Weihnachten. Na, was sagst du dazu?“

Simon war überwältigt. Alan hatte die Wände pfirsichfarben gestrichen und den fensterlosen Raum mit einer Massageliege, einem Kiefernholztisch mit Stuhl, einem kleinen Wandschrank und einem Heizlüfter eingerichtet. Zwei Deckenfluter tauchten den Raum in warmes Licht. „Grandios. Ich liebe es.“ Er umarmte Alan so heftig, dass er einen Hustenanfall auslöste. „Danke. Endlich ist mein Status als ehrenamtlicher Tanzbeinpfleger offiziell.“

Alan sagte: „Ich möchte dir ein Gehalt zahlen.“

„Kommt nicht in Frage“, lehnte Simon ab. „Ich würde nie Geld von dir nehmen.“

„Mir wäre dabei aber wohler. Du verplemperst deine ganze Freizeit bei uns.“

„Das ist meine wahre Berufung, Junge. Ich komme nur zu meinem Vergnügen her. Du solltest mal die Patienten sehen, die ich in der Klinik behandle. Alt, fett, hässlich, haarig.“

„Stinkend“, fügte Cindy hinzu.

Simon wuschelte ihr durchs Haar. „Ich hätte mich zum Tierarzt umschulen lassen, wenn es deine knackigen Tänzerinnen nicht gäbe. Also sei so gut und rede nie wieder von Geld.“

Cindy hüpfte auf die Massageliege. „Warum heißt es eigentlich Liege und nicht Bett?“ Sie legte sich hin, als wolle sie einschlafen.

Pamela stieß zu ihnen. „He Kleines, bist du müde? Sollen wir nach oben gehen?“

Cindy öffnete ihre strahlenden Augen. „Kann ich heute Nacht bei Daddy bleiben?“

„Daddy ist erkältet. Vielleicht nächste Woche.“

Cindy zog eine Schnute und Pam hob sie von der Liege. „Wir könnten Ginger einen neuen Satz beibringen.“

Als sie alleine waren, sagte Simon zu Alan: „Pam hat mir erzählt, dass sie Martin heiraten wird. Ist es sehr schlimm für dich?“

Alan lehnte sich neben ihn an die Massageliege. „Am Anfang wollte ich den Mistkerl mit seiner eigenen Gitarre verdreschen.“

„Du hättest ihn an seinen Verstärker fesseln und dann die Lautstärke voll aufdrehen sollen dafür, dass er dir Pam ausgespannt hat.“

Und meine Tochter. Mir wäre lieber, Cindy könnte in einer zivilisierteren Umgebung aufwachsen, nicht in dieser WG mit lauter Rockmusikern.“

Simon nickte mit gespieltem Ernst. „Haargenau. Sie wäre viel besser aufgehoben bei ihrem bisexuellen Vater und seiner sexy Tanztruppe.“

Alan stieß seinen Ellbogen in Simons Oberarm. „Gerade du musst mir eine Moralpredigt halten.“

Ron, der Elektriker, erschien im Türrahmen, ein schwerfälliger junger Mann mit einem Kopf so rund und glatt wie eine Glühbirne. „Alan, wir haben keine Ersatzlampen mehr.“

„Lass dir von Eileen Geld geben.“

Ron zog ab.

„Wie ist denn die Sache mit Eileen gelaufen?“, wollte Alan wissen.

„Sie war Wachs in meinen Händen, nachdem sie sich erst mächtig geziert hat.“

„Ich frage mich, was sie sagen wird, wenn sie erfährt, dass die Operation ein Vermögen kostet und nur von Professor Johnsons Team in den Staaten durchgeführt werden kann.“

„Wir könnten eine Benefiz-Vorstellung für sie machen.“

Alan lachte, aber es klang unglücklich. „Du denkst immer nur bis zum nächsten Schritt. Du machst Eileen Hoffnungen, ohne zu wissen, ob sie realisierbar sind.“

„Wir werden das Geld schon auftreiben. Da wäre zum Beispiel Roger. Der ist so gut betucht, dass er das Johnson Institute kaufen könnte.“

Stimmen erschollen im Flur. Simon stieß sich von der Liege ab. „Schade ist nur, dass ich nicht zur Generalprobe hier sein werde. Ich hätte den Mädels helfen können, die Reißverschlüsse ihrer engen Lederklamotten zu schließen.“

Alans Niesen klang wie ein Vorwurf.

„Ah, da versteckst du dich.“ David kam herein. Seine stahlgrauen Augen überflogen den Raum. „Das sieht ja aus wie im Puff.“

„Mein neues Behandlungszimmer“, erklärte Simon stolz. „Braucht mich schon jemand?“

„Erst nach der Probe.“ David wandte sich Alan zu. „Die Truppe ist heute etwas dezimiert. Laura kann erst später kommen, weil sie ihren Latin Lover Luigi nach Heathrow bringt. Und Susan hat sich deine Grippe eingefangen. Du solltest lieber allen aus dem Weg gehen, oder du kannst die Show abblasen.“

„Ich kann mich nicht in Quarantäne begeben“, konterte Alan. „Dazu gibt es zu viel zu tun, aber ich verspreche, dass ich niemanden küssen werde.“

„Genau, das Küssen übernehme ich“, bestätigte Simon. „Wo fliegt Luigi denn hin?“

„Nach Rom, nehme ich an. Hoffentlich ist er zur Premiere zurück, sonst ist Laura nicht in Topform.“

Nachdem David gegangen war, überkreuzte Alan seine Arme und bedachte Simon mit einem warnenden Blick. „Lass bloß deine Finger von Laura, sonst startet Luigi noch eine Vendetta.“

Simon versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass Alan ihn durchschaut hatte. Dann kam ihm ein verspäteter Gedanke. „Sag mal, wie hat Susan sich denn von dir angesteckt? Du warst doch gar nicht auf der Party.“

Alan kratzte sich am Kinn. „Letzte Nacht ist etwas Seltsames passiert. Susan kam zu mir, völlig mit den Nerven fertig. Sie wollte sterben, nie wieder mit irgendjemandem reden und war überhaupt sehr melodramatisch. Ich habe keinen Schimmer, was das sollte.“

„Vielleicht ein Ehekrach. Wäre nicht das erste Mal.“

„Was mich vor allem beschäftigt ist, dass sie sagte, sie würde Jessica hassen.“

„Das hat Susan gesagt? Oha.“ Simon begriff langsam, warum Jessica vorhin so aufgelöst gewesen war. Jetzt musste er aufpassen, was er sagte. „Hat sie noch mehr erzählt?“

„Nein. David rief an und wollte, dass ich Susan in einem Taxi heimschicke. Hast du irgendeine Ahnung, was dahinterstecken könnte?“

Er hatte mehr als nur eine Ahnung, aber Alan durfte von alldem nichts wissen. Er trat in den Flur hinaus. „Ich muss dringend mit Jessica reden.“

„Warte.“ Alan griff nach seinem Arm. „Was ist los?“

„Später.“ Er schüttelte Alans Hand ab und hastete die große Treppe zum Foyer hoch. Die Tür zu Eileens Büro stand offen. Er ging hinein und setzte sich auf seinen Stammplatz auf ihrem Schreibtisch. „Wo ist Jessica hin?“

Eileen tippte auf ihrer Computertastatur. „Sie wärmt sich auf.“

„Warum hat sie geweint?“

„Es ist kompliziert.“

Simon griff nach der Stuhllehne und drehte Eileen herum, damit sie ihn ansah.

„Alan hat mir erzählt, dass Susan sich gestern Nacht nach Rogers Party bei ihm ausgeheult hat. Bedeutet das, dass Susan von Davids Affäre mit Jessica weiß?“

Eileens nahm die Brille ab und rieb ihren Nasenrücken. „Susan ist nicht das Problem.“

„Willst du damit sagen, dass Roger es auch spitzgekriegt hat? Das wäre eine absolute Katastrophe.“

„Nein, Roger hat keinen Schimmer. Jessica hätte es ihm beinahe gestanden, aber sie hat es sich zum Glück anders überlegt.“

„Jetzt habe ich den Faden verloren.“

„Roger und Jessica hatten einen Streit. Er hat sie geohrfeigt.“

„Er hat sie geschlagen? Dieser Bastard. Hoffentlich hat sie zurückgeschlagen.“

„Nein, sie hat sich ins Schlafzimmer geflüchtet und David ist ihr hinterher. Danach wurde alles erst richtig schlimm.“

„Inwiefern?“

Eileen setzte ihre Brille wieder auf und drehte die Handflächen nach oben. „Tut mir leid, Simon. Ich habe Jessica versprochen, es niemandem zu erzählen. Nicht einmal dir.“

Er schüttelte den Kopf. „Und Roger? Ich meine, wie ist jetzt der Stand der Dinge zwischen ihm und Jessica?“