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Martin Schwarz

Das Buch-Buch

Buchobjekte
Bücherbilder
Egon Plüsch und
der entschlüpfte Roman

Der ”Roman“ (Das Textzusammenfügungs-Experiment) soll nicht die Buchobjekte erklären und die Abbildungen der Buchobjekte sollen nicht den ”Roman“ illustrieren, wobei es doch beabsichtigte und unbeabsichtigte Übereinstimmungen gibt.

Inhalt

Kapitel 1

Beim Formen meiner Buchobjekte lugte öfters eine Idee zwischen den geschichteten Seiten hervor. Wie man sich diesen Sachverhalt vorstellen soll? Sie gehören vielleicht zu den Lesern, die ein offenes Buch etwas weiter von sich weg halten müssen, um die Zeilen lesen zu können. Sie brauchen eine Brille! Jedoch wenn die Idee immer noch nicht zu sehen ist, liegt es nicht an Ihrer reduzierten Wahrnehmungsfähigkeit – die Ideen lugen, gucken oder drängen sich natürlicherweise ausschliesslich in der Imagination aus den schmalen Zwischenräumen der Seiten. Wesentlich entdeckungsfreudiger müssten wir sein, wenn eine Idee nicht zwischen den Seiten erscheint, wenn ein geplanter Buchanfang, z.B. ein Notizblatt eines Entwurfes ein unsichtbarer Bestandteil des Objektes geworden ist – unsichtbar zwischen den anderen, bereits bemalten, zerknüllten oder verleimten Seiten und darum nicht mehr zu erkennen ist oder sogar zu Papiermaché geknetet wurde. Es ist meine Gewohnheit, entwurfsmässig bekritzeltes Papier auf diese Weise zu verarbeiten. Bevor ich die um mich liegenden Blätter vermantsche, schreibe ich die Entwürfe für einen Buchanfang noch schnell auf dieses Papier. Nichts endet, bevor es beginnt — so wollte ich beginnen. Es wäre doch bestimmt kein schlechter Anfang gewesen. Das Wort ”Nichts“ als erstes. Jedoch ist es nun zu spät und mir ist bereits der Fehler passiert, so unspektakulär wie oben begonnen zu haben. Sie als Leser werden mich noch öfters ertappen, wie ich mich entlang der Wörter verirre und ich werde von mannigfaltigen Dichtern, sich widersprechenden Philosophen und vertieft-forschenden Wissenschaftlern mit dem ”Nichts“ konfrontiert. Ärgern Sie sich bitte nicht. Begleiten Sie mich eher mit nachsichtigem Bedauern auf die oft verhängnisvolle Reise über den Wörtersee, wo sich ein Sturm auftürmt und mir im heulenden Getöse ein Mann aus dem Volk zusätzlich noch eine Last von Worten übergibt – ja nun – eben nochmals zurück zum Anfang. Ein Buch zu schreiben ist eine grenzenlose Freude – ja, nein – so ist es nicht. ”Erfüllend” wäre ein gern gehörtes Prädikat. Ich möchte behaupten, es ist ein Gedankengeknutsche, begleitet von einem beglückenden Ächzen in einer Plackerei mit stummem, wohltuendem Stöhnen. Worte finden, Worte wegdrängen, Worte suchen. Dann wiederum erreichen mich die Sätze und ich empfange alles wie eine hochsteigende und sich ausbreitende Flut in einem Land ohne Wehr. Hin und wieder – mehr oder weniger häufig – werde ich Zitate von bekannten und weniger bekannten Wortkünstlern in meinen Text einstreuen und die Leserin oder der Leser wird bemerken, dass diese Wort-Edelsteine durch meinen grauen Wörtergrund so richtig brillant erleuchtet werden. Denn ausschliesslich Edelsteine wären nur ein unüberblickbares Blendwerk. So bin ich in einem gewissen Sinne den grossen Geistern zu Dienste – eine mir selbsterschaffene Ehre. Aber eben, welch ein Mühen. Bereits jetzt müsste ich wieder nach einem Buch suchen und nach einer darin enthaltenen Textstelle, lasse dies jedoch bleiben und gebe darum ein Zitat von Friedrich Nietzsche – dem vielbewunderten, der doch kein Vorbild zu meiner Orientierung ist – nur sinngemäss wieder und daher mit weniger Wörterglanz: ‚Die Dichter gebären mit Schmerzen, denn warum soll dies auch anders sein als bei den Weibern?‘ Allzu sehr will ich die Geburt meines Textes nicht zu einem masochistischen Unternehmen werden lassen und ich mache meinen hartnäckigen Willen nachgiebig und weich und strapaziere mein Können nicht grossmeisterlich, denn es gibt wohl sowieso keine unvergängliche Poesie, die aus mir herauszuzwingen wäre. Jedoch, da ich es nicht lassen kann – denn es gehört zum Künstler, sich zu formulieren und zu fabulieren, ist ein forcierter Poesieversuch entstanden: ‚ab fliesst nur, in Dichtung und Wahrheit – durch die Abflussdichtung, so nass war es.‘ Der Versuch ist mir mäßig gelungen.

In der erhellten Nacht ein Buch zu schreiben, bringt ungeahnte Entdeckungen. Überraschende Schwierigkeiten sagen wiederholt ”guten Tag.“ Letzteres beginnt auch schon damit, dass sich die schreibende Fürstin Marie-Gabrielle Hohenlohe zu mir einmal folgendermaßen äusserte: „Der Erfolg von einem Buch entscheidet sich bereits mit dem ersten Satz.“ Und da ich mir einen völligen Misserfolg nicht erschreiben wollte, hatte ich verhängnisvollerweise unnötig viele Versuche damit verbracht, einen ersten guten Satz zu finden. Der erste Satz in ihrem Buch ‚Alison liebt einen Franzosen‘ lautet: ”George Henely faltete die Times zusammen.“ Bei mir fehlt ein solcher einfach nachzuvollziehender Vorgang, so werde ich vielleicht mein Versäumnis wieder gut machen und auf einen guten Schlusssatz hinarbeiten – sofern ich meinen mahnenden Vorsatz nicht bereits einige Sätze weiter vergesse. Ein Buch selbst zu machen, ist manchmal auch eine Form von Eigensinn. Künstler, die Bücher oder Ausstellungskataloge machen wollen, begeben sich bald auf einen Weg voller Demut: ”Wer unterstützt mich? – Wer hilft mir bei der so genannten Druckvorstufe?“ Dann begibt man sich in einen ‚Dschungel‘ von Ratschlägen, Meinungen und Finanzberechnungen und ist dann noch abhängig, dass das Buch richtig angeboten wird und überlegt um die Weihnachtszeit, ob der Verlagsvertreter ein Geschenk bekommen soll, obwohl er vielleicht ein Atheist ist. So versuche ich, die Schwierigkeiten zu meistern und vieles selbst zu machen und verschwende Zeit und Kräfte an Buchmessen und ernte Freuden. Gleichzeitig kann ich jedoch sagen, dass es für mich jeweils vieleicht die phantastischsten beruflichen Erlebnisse im Jahr sind. Es ist einfach überwältigend, wenn man (damit meine ich immer auch ‚Frau‘) durch das Angebot der verschiedenen Verlage geht: Dieses riesige Angebot von Fantasie und Wissen steigert sich bei mir zeitweise zu einem philosophisch-religiösen Erlebnis. Es ist unfassbar, wie vielfältig der Mensch seine Existenz reflektiert und zu ergründen versucht. Die Leipziger Buchmesse, angegliedert und innerhalb der grandiosen, lichtdurchfluteten Glashalle, bestehend aus tausenden von Gestellen und Tischen, in und auf denen die Bücher mit ihrem noch lockenden und unerschlossenen Geheimnis ruhen, belebt von noch mehr zumeist schreitenden Menschen. Und wie die Menschen doch so unterschiedlich schreiten! Die eine Person setzt einen Fuss vor sich hin und scheint dann den ganzen Körper nachzuziehen. Eine andere Person schwingt ihren Körper tänzerisch durch den Raum inmitten von Büchern und elegant ergänzen sich die Glieder in ihrer Bewegung. Geschwind zappeln die Beine eines Studenten, und wie schwebend läuft er gezielt zu einem präsentierten Buch. Eine junge, schwarz gekleidete Frau setzt ihren umlederten Fuss mit den massiven Schuhsohlen energisch auf das vorgesehene Bodenstück vor sich und dann ebenso den andern Fuss in unüberhörbarem Takt – welches gewünschte und gesuchte Buch lenkt ihren Schritt? Mit einem Büchlein in der Hand kommt eine voluminöse Frau daher, und unter ihrem langen Rock ist die Bewegung der Beine kaum zu sehen – wie geschoben von einer unsichtbaren Person zieht sie vor meinen Augen wie auf Rollen vorbei. Ich, in der Buchmesse als Verkäufer und Kontaktperson stehend, mache zwischenzeitlich meine Ausflüge zu andern Verlagen und in die Buch-Antiquariatsmesse und ich komme dann wieder zurück zu meinen angebotenen Produkten. Käme Friedrich Nietzsche an meinen EigenArt-Verlagsstand, würde er mir aufmunternd zuflüstern: „Wir gehören nicht zu denen, die erst zwischen Büchern, auf den Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen – unsere Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich werden. Unsere ersten Wertfragen in Bezug auf Buch, Mensch und Musik lauten: kann er gehen? Mehr noch, kann er tanzen?“

Ich würde ihm erklärend antworten: ”Wir sind doch nicht in einer Tanzveranstaltung und ich bedaure dies etwas, dass ich nicht gleichzeitig ein Werk schaffen kann und ich empfinde es sowieso als ein Ungehorsam gegenüber dem Kunst- und Literaturbetrieb, dass ich mich soweit selbst zu verwirklichen suche. Wenn dies jeder Kunstschaffende machen würde, wäre die Folge ein heilloses Durcheinander in der undurchschaubaren Hierarchie des ganzen Betriebes. Anderseits hatte ich mich zu viele Jahre dieser Lebendigkeit verweigert, im Glauben, alleine im Atelier den Versuch machen zu müssen ‚Grosses zu erschaffen“. So machte ich mir an der Buchmesse wenigstens impressionistische Notizen ”wie die Menschen schreiten“ für den damals noch unbestimmten Buchinhalt. Schreitend: Zögernd-ängstlich, wiselig-fröhlich, schüttelnd – wie wenn Regentropfen vom Schuh in die Luft befördert werden sollen, oder im geraden Gehschritt ohne bewegliche Kniegelenke, ein Anderer wankendschwankend und doch wie in panischer Eile, mit Schuhen wie Tierchen, die den munteren Menschen sorglos weitertragen oder unstet – vor- und zurückwippend von süchtig suchenden Augen getrieben – ein Bibliophiler, forsch und nichts beachtend, wie von einer Mechanik angetrieben, im Gegensatz zum anderen Besucher: langsam, wie wenn die Bewegungen gleich versiegen würden. Jemand wollte mit seinen schönen Schuhen richtig auftreten und gleich wieder hüpfend abtreten – wie er das macht, ist mir unerklärlich.“

Mir bedeuten Bücher sehr viel – müsste ich mich jedoch entscheiden, was ich auf die viel beschworene, einsame Insel mitnehmen dürfte: eine Bibliothek oder eine Frau, so würde ich mich doch für das Zweite entscheiden. Dies könnte bereits ein Thema sein zur psychologischen Ergründung in einem ganzen Buch. Jedoch, bei genauerem Nachdenken bin ich mir über meine Wahlentscheidung doch nicht mehr so sicher – wäre es doch möglich – die erwählte Frau macht mir rechthaberische Vorwürfe, dass ich ohne körperliche Ertüchtigungsübungen eine Kokosnuss vom Baum zu pflücken versuchte und ich nun, nach dem unheldenhaften Absturz, für gar nichts mehr zu gebrauchen wäre. Bald träumte ich dann, im säuselnden Wind liegend, von einer Palme mit raschelnd-flatternden Bücherfrüchten anstatt von harten Nüssen unter dem Blätterdach und ich würde mich an Angelus Silesius erinnern: “Ein Buch wäre der bequemste Freund. Man kann sich mit ihm unterhalten, so lange und so oft man will, man ist ganz ein Empfangender, kann in jeder Stimmung die rechte Kost wählen und ist nie enttäuscht.“

Und mit einem Gedanken an Stefan Zweig würde das Verlangen nach Büchern noch größer: ”Eng und einsam wird ein Leben, das nicht mehr als sich enthält: Lernst du erst dich hinzugeben, wird Dir jedes Buch zur Welt!“ Nun auf dieser grünen Insel in einsamer Zweisamkeit mahnt mich ein wiederkehrender Gedanke von JeanClaude Wolf an meine Buchobjekt-Kreationen, und ich werde wenigstens einmal aus pflanzlichen Blättern ein Objekt formen: ‚Leidenschaft für Bücher kann sich in der relativ harmlosen Sammelwut manifestieren; relativ harmlos ist sie deshalb, weil sie gewöhnlich nur dem Sammelnden selber schaden kann, insbesondere seinen Finanzen. Wer von der Sammelleidenschaft besessen ist, zieht es vor, in den meisten anderen Lebensbereichen geizig zu sein. Wenn der Sammelwütige nicht schäbig gekleidet ist, so trifft man ihn doch im Verein der Billigesser, die an den einschlägigen Orten speisen oder sich heimlich vier Tage lang von einem Kohlkopf ernähren. In Buchhandlungen und Antiquariaten kennt man ihn als süchtigen Stammkunden. Harmlos ist der Sammler vielleicht auch deshalb, weil es ihm um eine Meidung der Bücher als Lese-Objekte geht; als BücherFetischist wird er die meisten erworbenen Bücher nie lesen, sondern sie wandern ins Regal, Trophäen eines privaten Prestiges. Der wahre Bücherhamster liebt den Einband, das Druckbild, das Vorsatzblatt, die Gestalt, die Farbe und den Geruch seiner Bücherchen, kurz: er hat ein irrationales, zärtliches Verhältnis zu ihnen. Das Buch wird zum Ersatzpartner, zum stummen und doch beredten Begleiter. Das Buckobjekt als sinnlicher Gegenstand wurde auch zum Kunst- und Ausstellungsobjekt erhoben. Damit hat es sich immer mehr von einem Medium der Mitteilung in ein fast naturwüchsiges Produkt verwandelt, das von Staub und Stockflecken, Würmern und Pilzen befallen werden kann und schließlich wie ein ”objet trouvé“ von der Strasse oder aus dem Wald dahinmodert.‘

Zu meinem ersten Versuch, einen begleitenden Text zu meinen Buchobjekten zu verfassen, kann ich mir kein Lob aussprechen und nicht mal anerkennend wenigstens auf die eine meiner Schultern klopfen. Ich brauche Hilfe und ich erschaffe mir eine Romanfigur: ‚Plüsch‘ wird sie genannt und mit Vorname ‚Egon‘. Zweiter kaum erwähnter Vorname wäre ‚Albert‘, also Egon Albert Plüsch. Er hat sein Vorwort zu meinem geplanten Buch nach unserm ersten Zusammentreffen wieder mitgenommen und er will dieses nun wesentlich andern und zu einem Nachwort umschreiben. Deshalb schreibe ich hier in Erinnerung das Wesentliche noch einmal. Egon Plüsch war anfänglich zuvorkommend, einfühlsam, hilfreich, praktisch und kooperativ, und so hatte er mich gleich persönlich besucht, um sein bereits geschriebenes Vorwort zu meinem Romanentwurf vorzulesen, in der Absicht, den Inhalt zu diskutieren und eventuell zu verbessern, zu ergänzen oder zu kürzen. Ziemlich übermüdet erschien Egon im Büro meiner Verlagsräume in Oberwinterthur und erwähnte, dass er bald seinen Wohnort wechsle, völlig überarbeitet sei und darum gleich zur Sache kommen wolle. Nach einer knappen Stunde anstrengender und beglückender Arbeit mit seinem Vorwort, dem Vorwort zu den gefundenen Schriftstücken aus einem grossen, sperrigen Koffer, verabschiedete er sich und nahm den Text mit wenigen, angefügten Korrekturen wieder mit. Nach drei Wochen, erhielt ich den Text immer noch nicht, nach etlichen weiteren Wochen desgleichen und ich begann mich nach dem Verbleiben von Herrn Plüsch zu erkundigen. Ich konnte auch mit all meinen einfallsreichen und detektivischen und bereits etwas besorgten Bemühungen seinen neuen Aufenthaltsort nicht in Erfahrung bringen, auch nach etlichen Monaten erhielt ich keine Nachricht von ihm und so logischerweise ebenso wenig vom vermutlich weiterbearbeiteten Vorwort.

So müsste ich versuchen, das Vorwort aus der Erinnerung wieder auferstehen zu lassen. Ich mache dies jedoch morgen, übermorgen und auch später nicht. Viele andere Schriftstücke stehen bereits einige Wochen unsichtbar und unerkannt in einem verschlossenen Koffer, ohne befestigte Adresse vor meiner Haustüre. „Ist dieser Koffer für Sie oder ist er für Herrn Plüsch bestimmt?“, so wurde ich von einer Nachbarin gefragt und da ich keinen so grossen Koffer erwartete, sah ich mich selbst auch nicht als Empfänger; dies umso weniger, als es ein alter Uberseekoffer war – eigentlich fast schon eher eine Kiste. Ausserdem fühle ich mich in Europa heimisch und habe gar keine Abenteuerlust nach Ubersee. Dann, nach wenigen Stunden kam überraschend der mir damals noch ziemlich unbekannte Egon Plüsch vorbei und nahm den schweren, ungeöffneten Koffer an sich und transportierte ihn mit Hilfe eines Transporteurs ab. Vor der Haustür erschall ein Ächzen, Rumpeln und Motorengeratter, bis die Geräusche des sich entfernenden Transportautos allmählich abklangen.

Heute nun ist Herr Plüsch bereits wieder hier in meinem kleinen Verlagsraum und erzählt vom Kofferinhalt, den gesammelten Papieren zu meiner Arbeit und allerlei Dazugehörigem als Material für das neue Buch. Ein zusammengeschnürter Stapel Papiere – relativ wenig aus dem Kofferinhalt, trägt er unter dem Arm. „Ist dies alles für mich bestimmt – so quasi zu meiner Selbsterkenntnis?“ – frage ich ihn. Doch warum soll ich eine korrekte Antwort erwarten, zumal mir ja Etliches als unglaubhaft, unmöglich, fabulierend erscheint, wie bereits sein Name „Egon Plüsch“ mich befremdete, beim ersten Mal, als ich ihn hörte. Jedoch, was kann der Mann für seinen Namen, da darf ich ihn doch nicht bereits anfänglich mit etwas Negativem belasten. Er ist ja wahrlich nicht der Einzige, welcher einen nicht wohlklingenden Namen trägt. Auch soll schicksalhaft sein Geburts- und zeitweiliger Wohnort „Kissenburg“ bei Ulm sein, so dass einige Personen, welche seinen Namen und die Ortschaftsbezeichnung vernehmen, eher in der aktivierten Fantasie eine gemütliche Sitzgruppe vor sich sehen oder etwas Ähnliches wie ein organisches Möbel. So soll sich am vergangenen Montag eine ihm flüchtig bekannte Frau grundlos auf seine Oberschenkel gesetzt haben, als er auf der Parkbank den Sonnenuntergang genoss – anlehnend fühlte sie sich eingepolstert im feinsten, anschmiegsamen Plüsch. Dabei soll sie, die sich schrankenlos Annähernde, Egon ins Ohr geflüstert haben: „Bei allen Plüschbindungen ist darauf zu achten, dass der Polfaden immer zu seinem Grundfaden – dem Stützfaden – richtig einbindet, damit alle Polnoppen den gleichen Stand haben. Es ist nun so: ändert man also die Lage des seitlich vom Polfaden stehenden Grundfadens, so wird die Polnoppe eine andere Lage erhalten.“ Egon war das Eingeflüsterte unverständlich und er vermutete es handle sich vielleicht um einen außergewöhnlichen erotischen Wunsch. Doch als sie mit ihrem Getuschel fortfuhr merkte er, dass es sich um ein vorgetragenes ästhetisches Fachwissen handelt: „Sind in demselben Plüschgewebe die Polnoppen verschieden gestützt, so sehen wir durch den Lichtreflex zwei verschiedene Farbtöne. Diesen Sachverhalt hat sich meine Firma der Brüder Carl und Adolf Vorwerk aus Wuppertal-Barmen ausgenutzt und sich ein Verfahren zur Herstellung von im Stück gefärbten Plüsch patentieren lassen, bei dem die Musterung je nach Einfall des Lichts in hell und dunkel erscheint, wodurch ein besonders schöner Effekt erzielt wird.“

Er erzählte weiter von seinen Erlebnissen, auch detailgetreu wie bei dem Beispiel der hier wiedergegebenen Expertise, allerdings nicht zu einer mit Plüsch überzogenen Parkbank, vielmehr zu einem Tischproblem. Ich begehrte noch kurz auf und erklärte, dass in dem zu konzipierenden Bücherbuch logischerweise der Gegenstand der Erörterung das Buch sei und nicht der Tisch. Als Erwiderung äusserte er ein wenig spöttisch die Idee: „…so fertigen Sie doch ein kleines Buchobjekt an mit vier Puppenbeinen in Schuhen unten am aufgeklappten Buch befestigt, als Buchtisch.“ Ohne in seinem Geplapper innezuhalten, tischte er mir seinen Bericht von einer Tischlerprüfung auf und friedfertig gestimmt, liess ich es zu. Nun haben wir den folgenden Salat als Kuckucksei:

”Verlangt wurde ein künstlerisches Gesellenstück: halb Tisch – halb Mensch. Der Geselle investierte alle seine Kräfte, denn innerhalb von fünf Wochen musste das Prüfungswerkstück zur Begutachtung bereit sein. Hier Auszüge aus den damaligen Anforderungen: Es mussten Holzstücke auf eine Bohle oder auf ein Brett mit möglichst wenig Verschnitt aufgezeichnet werden. Bei der Auswahl der einzelnen Stücke musste die Holzstruktur richtig erkannt und der Zuschnitt unter Beachtung der natürlichen Eigenschaften des Holzes vorgenommen werden. Es war die Fertigkeit in der Führung vom Sägen und Hobeln nachzuweisen und die Sägeschnittflächen mussten eine gleichmässige Schnittspur zeigen. Also deckte er sich ein mit den unterschiedlichsten Hölzern, konstruierte seinen Plan, wie aus der Tischplatte der Mensch herauswachsen soll. Als erstes hobelte er aus einem sehr massiven Hartholz das Schlüsselbein, welches dann wie ein Strebepfeiler zwischen das geplante Brustbein und die Schulter eingefügt werden sollte. Die gehobelten Flächen und Kanten bearbeitete er mit mehr als fachüblicher Genauigkeit, hobelte winkelund fluchtgerecht, bearbeitete die Oberfläche weiter mit Ziehklingen und Schleifpapier, dass die Hobelansätze nicht mehr zu sehen waren. Während Tagen verfeinerte er seine Konstruktion und bearbeitete das Schulterblatt, welches ja zum grössten Teil an der hinteren Fläche des Brustkorbes gelegen ist. Er arbeitete, ja, er schuftete sogar bis tief in die Nacht, und vergass beinahe das Essen, und bestand bald nur noch Haut und Knochen. ‚Ist es wohl genügend gut, mein Prüfungsstück?‘ – dachte er, sich selbst hart prüfend, als er an der Unterschulterblattgrube schnitzte. Er hobelte aus, machte Falze, Nuten und Kehlungen mit dem Falz-, Sims-, Nut- und Kehl-Hobel. Der sich mit der Arbeit überfordernde Tischler fertigte im ganzen Umfang gleichmässige und stellenweise organisch-geschwunge Linien mit punktierten Kanten. Nun stand schon alles in ziemlicher Stabilität auf der Tischplatte, und er, als Gedrängter in vollem Arbeitseifer, versuchte, die Fugen am Ende der Bretter zu schliessen und bewegte sich wie ein lebendiges Skelett um seinen Tisch-Holzknochen-Bau. Arge Mühe bereiteten ihm die beiden Unterarmknochen, Elle und Speiche und er verzweifelte fast, als er entdeckte, dass er die Speiche irrtümlicherweise an der Kleinfingerseite enden liess und die Elle auf der Daumenseite. Er änderte dies und mit kleinsten Holzstückchen machte er sich an die Arbeit der Hand. Die Handwurzelknochen, bestehend aus acht kleinen, meist vieleckigen, in zwei Reihen gruppierten Knochen, bearbeitete er aus Stirnholz mit Bohrer, Mikrosäge, Raspel, Schneidewinkel und Schleifpapier. Diese tage- und nächtelange Feinarbeit erschöpfte ihn nun völlig. Die vorbereiteten Holzstückchen für die Finger blieben neben seiner erlahmten Hand liegen. Ein halblebendig scheinender Holz- und Knochenhaufen derartig in Form und Farbe verbunden, gelblich bleich mattiert und halb gebeizt, und ein Betrachter hätte den Tischknochenmenschen fast nicht mehr vom Holzarbeiter auseinander halten können. Den Tischlergesellen ängstigten die eigenen nächtlichen, gespenstischen Schattensilhouetten, seine einzigen Begleiter. Die begonnene Furnierarbeit war nicht mehr zu bewerkstelligen, entkräftet brach er leider vor der Fertigstellung des tragenden Rücken-Gerüstes seines Tischmenschen zusammen. Er verstarb und der Furnierleim tropfte von der Tischplatte.“

Hier ein anderer Text zu einem Tischproblem von Bertrand Russell notiert, und ich bin hoffentlich nachher bald wieder auf dem Weg zum Buchkonzept:

„Ernest Nagel scheint sich auf eine leidenschaftliche Verteidigung des gesunden Menschenverstands eingelassen zu haben und weist ganz richtig darauf hin, dass alle Wissenschaft vom gesunden Menschenverstand ausgeht. Er behauptet mit Leidenschaft, er habe ”Tische“ gesehen, aber fügt hinzu, er meine das in dem Sinn, in dem wir gewöhnlich die Wörter ‚sehen‘ und ‚Tisch‘ verwenden. Ich könnte zustimmen, wenn er den Ausdruck ‚einen Tisch sehen‘ als Ganzes nähme. Wie Nagel habe ich oft das Erlebnis gehabt, dass man ‚einen Tisch sehen‘ nennt. Mein Einwand ist, dass der Ausdruck, wie er gewöhnlich verstanden wird, eine falsche Metaphysik enthält. Ich sehe etwas Kontinuierliches, Rechteckiges, Glänzendes und Braunes. Mein Sehen ist gewiss ein Ereignis in mir. Auf jeden Fall ist das, was ich sehe, wenn ich ‚einen Tisch sehe‘, mit meinem Sehen gleichzeitig, während der Tisch als der mit meinem Sehen verbundene physikalische Gegenstand etwas früher ist. (die Sonne ist acht Minuten früher, einige Sternennebel Hunderttausende von Jahren früher). Was ich sehe, hat sekundäre Qualitäten, die seit Locke als nicht zum physikalischen Gegenstand gehörig anerkannt sind und primäre Qualitäten, für die dasselbe seit Berkeley anerkannt ist – oder seit Kant von denen, die Berkeley nicht mögen. In welchem Sinn kann man dann sagen, man sehe den physikalischen Gegenstand, der nach der Physik der Tisch ist?

Hat man einmal den vom Tisch zu meinem Perzept (Vorgang des Wahrnehmens im Gehirn) führenden Kausalvorgang in all seiner Komplexität erkannt, dann wird klar, dass mein Perzept nur durch ein Wunder dem Tisch überhaupt sehr ähnlich sein könnte. Mehr noch, wenn dieses Wunder wirklich geschieht, kann uns nur eine göttliche Offenbarung versichern, dass es geschieht. Keine solche Offenbarung ist mir gewährt worden, und deshalb bin ich im Zweifel gelassen, ob der Tisch meinem visuellen Perzept in andern Hinsichten gleicht als in denen, von denen es die Physik behauptet.

Ernest Nagel ist über mich entrüstet, weil ich das Wort ‚sehe‘ in einem unüblichen Sinn verwende. Ich gebe das zu. Der gewöhnliche Sinn impliziert den naiven Realismus und jeder, der nicht naiver Realist ist, muss entweder das Wort ‚sehen‘ vermeiden oder es in einem neuen Sinn verwenden. Der gesunde Menschenverstand sagt: ‚Ich sehe einen braunen Tisch‘. Er wird sowohl der Aussage zustimmen: ‚Ich sehe etwas Braunes‘. Da Tische nach der Physik keine Farbe haben, müssen wir entweder (a) die Physik leugnen, dass ich einen Tisch sehe, oder (b) leugnen, dass ich einen Tisch sehe, oder (c) leugnen, dass ich etwas Braunes sehe. Es ist eine qualvolle Wahl; ich habe (b) gewählt, aber (a) oder (c) würden zu mindestens gleichen Paradoxen führen.

Ich komme schließlich zu einer Behauptung von mir, die Nagel zutiefst schockiert hat, wie sie auch verschiedene andere Philosophen schockiert hat; ich meine die Behauptung, dass wenn ein Physiologe das Gehirn eines andern Menschen anschaut (gegenwärtige Aufzeichnungen der Gehirnaktivitäten), das, was er sieht, in seinem eigenen Gehirn ist und nicht in dem des andern.

Dies war ein weiterer Bericht aus dem Kofferinhalt. Ein verzwicktes Hin und Her waren die aufregenden Umstände, dass der Koffer sich nun wieder hier bei mir befindet. Egon Plüsch wollte sich mit den Worten verabschieden: „Egon Plüsch war mein Name, denn alles Irren findet heim, alles ist nur Saat und Keim!“ Aber nun, – „so bleiben Sie doch noch!“ rief ich ihm zu – „unser Buch braucht doch Wörter, und die Wörter brauchen eine Ordnung“. Er erwiderte mir in klagendem Tonfall, wie man üblicherweise von Kopfschmerzen spricht: „Da erinnere ich mich an einen Ausspruch von Götz Eisenberg zur Philosophie des Kleinbürgers: Wenn das Leben schon keinen Sinn hat, so soll es doch wenigstens eine Ordnung haben…“ und er lamentierte weiter „nicht einmal eine solche Einsicht gibt mir in meinen momentanen Nöten einen Halt, und ich muss gerade jetzt über meine Existenz im Ganzen nachdenken und dass meine Lebendigkeit ja ausschließlich durch ihre Fantasie bedingt ist – jedoch nur keine Sorge – ich komme wieder wenn sich mein Zustand gebessert hat.“ Etwa so lautete seine Erklärung, und Recht hat er – bevor er ganz verschwindet, sollte ich doch wenigstens seine äußere Erscheinung beschreiben: Durchschnittlich groß, borstige Haare, suchender Blick, seinen Bewegungen schienen immer eine gewisse Verzögerung anzugehören und … ach nein, obwohl Egon Plüsch ganz und gar nicht unbeschreiblich ist, lasse ich es bleiben.

So beginne ich nun selbst vom Kofferinhalt mit dem überbordend vielen Papier zu berichten, welches sich vor mir ausbreitet und stapelt. Vieles ist ausgewaschen, zerknittert, verklebt und marmorisiert, obwohl der ganze Inhalt nur wenige Jahre alt ist. Den Grund dieser Patinierung fand ich auch auf einigen Papieren vermerkt – die Malerin Anna-Chronista – erzählt später davon. Welch ein Allerlei war da zu entdecken?! Aufgeschnürte Bündel von Heften, kleine Fachbücher mit gezeichneten Tabellen, gestempelte Belege und Quittungen aller Art. Einige Notizbücher sind randvoll geschrieben, andere beinahe leer. In einem sind z.B. nur fünf Namen vermerkt: Franziska Tinari, Gottlieb Holzuner, Karl Schmitt, Lavinia Meduluso, Rainhold Fass. Von den beiden Frauen sind moderne Poesie-Alben zu entdecken, wenn diese überhaupt noch als Poesie-Alben bezeichnet werden dürfen – sind doch diese schnörkellosen Alben unpoetisch und sachlich mit Fotos, Billetten von Pop-Konzerten, Werbezetteln, Telefonnummern und Adressen gefüllt, welche sich, wie ich später feststellen konnte, wieder auf den Kofferinhalt beziehen. Den Männernamen ist gar nichts zuzuordnen.

Eigentlich bin ich so ziemlich am Anfang und bereits am Ende, weil ich nicht weiß, wie ich von diesem Allem schreiben soll. Was ist erwähnenswert, wo sind Bedeutungen, was ist nichts sagend, banal? Die erkennende Vernunft kommt – woher auch immer, vielleicht später. Eine Vielfalt möglicher Titel ist vermerkt: „Die Kartei der Imaginationen“, „Die Erhellung der Dunkelheit zwischen zwei Karteikarten bei deren Trennung“, „Das verlorene Dokument mit dem verschlüsselten Text zur Lokalisierung vom Aufbewahrungsort des Schlüsselbundes“, ein unverständliches, loses Inhaltsverzeichnis zu einem Etwas mit dazu angehefteten neun leeren Seiten. Das Etwas ist bis zum heutigen Tag unauffindbar, und am heutigen Tag haben sich viele Tage in die Nacht begeben, daher habe ich kaum eine Vermutung, was dieses Etwas von Text sein könnte. Wer will was wann von wem? Aus dem Kofferinhalt sind auch diese Sätze aus einem Notizbuch, und als Leser befinde ich mich mit konstruierter Präzision in einer unwirklichen Gegend: ‚Die äusseren Gedankenmuster und die eigenen inneren Empfindungen können die Person mit sich selbst verschmelzen lassen“. Die Form des Daseins in der Vorstellung desselben spiegelt sich als gleichzeitige bewusste Wahrnehmung. Beigefügt sind weitere Forschungsberichte eines Bewusstsein reflektierenden Experimentes: Ein Ausstellungsbesucher wird an eine neu entwickelte Apparatur angeschlossen, welche die elektromagnetischen Strömungen der Hirntätigkeit mittels hochempfindlicher Sensoren registriert und diese als optische Strukturen vor die betrachtende Person projiziert (Konzept aus dem Jahr 1970). In der gleichzeitigen Wahrnehmung …viele der Notizen sind fragmentiert. Dennoch zu diesem, nach den vielen Aufzeichnungen im Notizbuch weniger erfolgreichen neurobiologischen Experiment einer solopsistischen Visualisierung, sollen sich ausserdem im Dasein die verlorenen Gedanken so sehr gehäuft haben, dass die euphorische Person den weit entfernten Boden eines Abgrundes immer wieder neu und auch nahsicht- und spürbar erfahren musste. Unten ging es wieder in den unbeweglichen, schönen Lift. In Schönschrift auf dem Liftboden sitzend fragt er sich: „Wann und wo wurde bei einer Rückseite gerückt?“ – man kann eben ein Blatt wenden, so oft man will – immer wieder wird eine Vorderseite zur Rückseite und eine Rückseite zur Vorderseite. Mehrere Notizbücher voll oder halbvoll mit unzusammenhängendem Gekritzel und am Schluss noch einige dazu gefügte Blätter, mit Wörtern, deren Sinn manchmal darin zu bestehen scheint, die Leerräume zwischen den hellgrauen Linien zu füllen. Ein lächelndes Tier wird auf anderen Blättern genau beschrieben – mit dem Wort ‚Bemerkenswert‘ bezeichnet und eingelegt im Heft ‚der Schweizer Tierfreund‘ zwischen den Angeboten von Auto-Occasionen. Des Weiteren ein langer Bericht zu einer Person, männlich oder weiblich ist nicht festzustellen, deren Gehirnströme mit den Bildern ihrer Wahrnehmung keine Identität haben wegen einem Ausgeschlossensein von zärtlich-differenzierten Berührungen in der frühen Kindheit, mit anschließender lebenslänglicher, übermäßiger Liebessehnsucht.

Goethe: „Krone des Lebens, Glück ohne Ruh, Liebe bist du!“

Nun entdecke ich eine biografische Notiz zu Goethe aus einem Buch von Hugo Hertwig: „…Dann kommt der Tod Christianes, der ihn zwar tief ergreift, aber nicht verhindert, dass sich ein Mensch, der wie er das Leben bis zum Ende bejaht, noch einmal leidenschaftlich, schmerzlich und hoffnungslos zugleich in die 19jährige Ulrike von Levetzow verliebt. Goethe ist 74 Jahre alt und lässt durch den Großherzog um ihre Hand bitten. Die Mutter bittet geschickt um einen Aufschub. Das genügt Goethe; er reist ab und schreibt unterwegs die bekannte „Marienbader Elegie“. Dieses letzte Liebeserlebnis bringt ihm außer der schweren seelischen Depression eine gefährliche körperliche Krisis, welche die Arzte das Schlimmste befürchten lässt.“ Zur Vergegenwärtigung muss ich mich selbst erinnern, dass der ganze Kofferinhalt sich auf mich als Künstler beziehen soll, wenn auch oft wohl nur am Rande und vereinzelt mit doppelbödigen Wortironien: Verlegen muss ich eingestehen, dauernd finde ich meine Manuskriptseiten nicht, verlegt zwischen allerlei Anderem – also bin ich ein tüchtiger Verleger. Da sind die ersten vier Seiten aus einem Heft, oben handschriftlich bezeichnet von einer unbekannten Person … ”für Befugte!“ – also folge ich dieser Anweisung, indem ich die übereinander geschichteten Blätter zu einem schmalen Streifen falte und stopfe ihn in eine Fuge zwischen zwei Bodenbretter … dann frage ich mich, ob ich dazu meinen Raum noch musikalisch befugen soll, mit einer Fuge von …? So, nun nehme ich noch einen Stapel Papier aus dem Koffer hervor, schliesse diesen endgültig und stosse als Erstes auf ein von mir nicht autorisierten Nachruf meiner selbst – es ist bedrückend unangenehm, bereits zu Lebzeiten eine solche Lebenszusammenfassung geschrieben zu sehen – also werfe ich den Nachruf in den Papierkorb und rufe diesem nicht nach! Sogleich kommt Egon Plüsch in mein Verlags-Büro, bückt sich über den Papierkorb und ruft: “Echo wo bleibst du?“ und verschwindet ebenso nullkommaplötzlich wieder durch die Türöffnung, durch die er eben hereingekommen ist.

Ein von ihm mitgebrachter Zettel liegt neben dem Papierkorb – ein Spiel für zwei sprechend Personen – „Das teilnehmende Echo“.

Ein Musiker ging einst über Feld und Au. (Echo fröhlich): au! Da sah er eine Schnitterin, die ward bald seine Frau. (Echo bedenklich): au! au! Sein Glück, das währte einen Tag, dann traf den Armen Krach auf Krach. (Echo klagend): ach! ach! Da kam der Blitz endlich dazu und half der Frau zur ewigen Ruh. (Echo jammernd): uh! uh! Fritz war ein munterer Bursche, gesund und lebensfroh. (Echo heiter): o! Er schweifte gern ins Weite und schlief wohl auch auf Stroh. (Echo bedenklich): o! o! Jetzt liegt er längst begraben in einem tiefen See. (Echo erstaunend): Eh! Die Mutter sitzt am Wasser und klagt: O weh! O weh! (Echo jammernd): weh! weh!

Anschliessend an den überraschenden Besuch stosse ich in der Erforschung des Papierstapels auf eine Sammlung von bedeutungsschwammigen Buchstabenaugenblicken und ich bewege mich mit meiner Wahrnehmung in die unauslotbaren Tiefen mit psychologischen Benennungen. In meinen Händen halte ich nun eine von mir nicht akzeptierte „fiktive Pathographie“ nach Lange-Eichbaum von Tina Ramses: Martin Schwarz, weltfremder Schwärmer, fortwährender Wechsel der Stimmung, disharmonisch, Hang zum Vergänglichen, vergisst vieles, Zeit, Stunde, Menschen, Bekannte, manchmal sogar seinen Namen. Oft zerstreut, abwesend, gedankenfixiert. Ubermass von Erregbarkeit und innerer Unruhe mit körperlichen Reaktionen: Ohrensausen, Magenknurren, Wippen mit den Beinen. Oft Fehlen jeder psychischen Hemmung, Zornmütigkeit, Klagen über eingebildetes Elend (lamentieren), Tränenseligkeit ohne Grund, wenig liebenswürdige Würde. Zeitweise Verschwendungssucht, dann wieder Geiz. Schulversager, als Kompensation geltungsbedürftig mit zwanghaft verhülltem Exhibitionismus. Überempfindlich, reizbar, labil, euphorisch, ausfallend, zwischen autistischem Traumdenken und pathetischem Welt-Ich-Gegensatz hin und her pendelnd. Mangel an Wirklichkeitsfreude, Uberwiegen des Gedrückten, Verstimmten, Gespannten. Erwartungen an das Leben, welche es nie erfüllen kann. Masslosigkeit im Fühlen und Urteilen. Er behauptet, die Kunstgeschichte sei eine Wahrheit voller Lügen. Seine phantastischen Deutungen sind aus dem herrschenden Gedankenkreise aufzufassen. Geheimniskrämerei. Dennoch, sein gewaltiges Selbstgefühl steigert sich aber nie zum ausgesprochenen pathologischen Grössenwahn. Eitelkeit? – «Bescheidenheit ist eine Zier, die steht allen, nur nicht mir». Im Verhalten, entgegen seiner Vorliebe für unbunte Farben, chamäleonartig. Manchmal trauriger Blick. Unbefriedigtes Sehnen nach etwas, das ihn von sich und seinem mächtigen Innenleben befreit. Nervenschwäche, Schlafstörungen, Schwarzseherei, diffuse Angstzustände vor seinem eigenen Schatten. Zweiteilung in Wille und Vorstellung aus Zwiespalt und Duplizität des eigenen Wesens. Glaubt unter anderem an die Lehre des treibenden Willens, aus eigener überstarker Triebanlage. Selbstvorwürfe wegen seiner Heftigkeit und Streitsucht. Periodische Selbstzweifel bis zur Lethargie als Abwehr von Konfliktlösung – „Nichts, das ist mir schon zuviel“. Humorlos, dennoch brillanter Sarkasmus zumindest in seiner Kunst. Sehr empfindlicher Egoismus mit Schuldgefühlen. Undankbar oder dankt gleich masslos. Kühl gegen andere, sofern sie seinem Ich nicht schmeicheln. Distanziert zur Mutter. 21.12.1978, Heirat mit sich selbst. Fixierung im Gefühl, Kritik und Enttäuschung im Verstand. Körperlich zart, dennoch verhältnismässig gesund und entgegen seinem eigenen Glauben viril. Stimme zaghaft. Unschuldige