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Widmung

In liebender Erinnerung an meine Mutter Janet (MacLarty) Brown (1925–1993) und meinen Bruder Donald Robert Campbell Brown (1960–1982)

Impressum

Der Autor:

Len Brown ist TV-Produzent und schreibt als Journalist für renommierte Magazine wie New Musical Express, Spin USA, Vox, The Guardian, The Observer, The Independent, South Shields Gazette und The East End News. Seine journalistische Arbeit ist teilweise dokumentiert im Internet unter www.rocksbackpages.com

Titel der Originalausgabe:

„Meetings With Morrissey“, © 2008 by Omnibus Press, A Division of Music Sales Limited, London, ISBN: 978-1-84772-376-5

Deutsche Erstausgabe 2010

ISBN 978-3-85445-487-8

Auch als Hardcover erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-311-6

Copyright © 2010 by Hannibal

Hannibal ist ein Imprint von Koch International GmbH, A-6604 Höfen

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Umschlaggestaltung: Chloe Alexander, London

Coverfoto: Kevin Cummins

Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com, Innsbruck

Übersetzung: Henning Dedekind (Vorwort und Teil eins) und Karin Lembke (Teil zwei und Anhang)

Lektorat: Eckhard Schwettmann

Korrektorat: Otmar Fischer

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Autor und Verlag haben sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Der Verlag und der Autor übernehmen weder die Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Schäden jeglicher Art, die durch den Gebrauch von in diesem Buch enthaltenen Informationen verursacht werden können. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Inhalt

Zitate

Vorwort

Einleitung

Teil eins: The Smiths

1. Die Vergangenheit ist ein fremdes Land

2. Die Welt verändert sich

Bildstrecke 1

3. Used To Be A Sweet Boy – Ich war mal ein hübscher Junge

4. Der „New Morrissey Express“

5. „God How Sex Implores You“ – Wie wichtig Sex doch ist

6. Ich weiß, es ist vorbei: 1987

Bildstrecke 2

Teil zwei: Morrissey

7. Neunzehnhunderthassundachtzig

8. Manchester, so much to answer for

9. Napoleon solo – das politische Wesen

10. Im Exil

11. Rückkehr des Mozzfather

12. Wilde Man in My Head – Oscar Wilde im Kopf

Bildstrecke 3

Quellen

A Walk On The Wilde Side – Morrisseys Menschen: Ikonen und Einflüsse

Sing your Life – Eine Zusammenstellung der wichtigsten Stücke von Morrissey und The Smiths

Weiterführende Lektüre

Danksagung

Diskografie The Smiths

Diskografie Morrissey

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Zitate

„Er ist der beste Textdichter, den ich kenne … alle bewundern ihn, Mann. Seine Platten wird man hören, bis George Bush den Planeten in die Luft jagt.“ – Noel Gallagher

„Ich glaube, die Smiths waren die Band der Stunde. Musikalisch und textlich verkörpern sie die Musik der Achtziger wie niemand sonst. Das soll jetzt gar kein Eigenlob sein, sondern ich finde das tatsächlich. Ich habe noch nie eine Gruppe wie die Smiths gehört.“ – Morrissey

„Ob er jetzt schwul ist oder nicht, er ist der schwule Elvis. Er zählt zu den größten Entertainern unserer Zeit. Die ironischen Ansagen, der Tanz und die Bühnenpräsenz ergeben zusammen ein Gesamtkunstwerk, und genau das ist Morrissey. Er ist ein wahrer Held, durch und durch ein Showman, wie Dean Martin oder Prince.“ – Rufus Wainwright

„Ich glaube, man betrachtet mich als britisches Phänomen … aber ebenso als Sexsymbol.“ – Morrissey

„Er ist ein absolutes Original … Das mit der negativen Seite verstehe ich überhaupt nicht. Ich finde ihn sehr lustig.“ – Bono

„Sein Werk wird bleiben, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er das selbst auch weiß.“ – J.K. Rowling

„Man kann mich mögen oder nicht, ich bin und bleibe ein Individualist … und als solcher entweder zum Kotzen oder interessant. Der Schlüssel­begriff in meinem Vokabular ist Individualismus.“ – Morrissey

Vorwort: „It’s Time The Tale … Zeit, dass die Geschichte erzählt wird.“

Vor vielen Jahren trat ich schon einmal mit der Idee einer Biografie an Morrissey heran. Es war irgendwann zwischen dem Tod der Smiths und der (was Morrissey anbelangt) ungewollten Geburt von Johnny Rogans The Severed Alliance. Als Morrissey im Falle Rogan seine berühmte Fatwa erklärte, nahm ich davon jedoch trotz mehrerer Treffen mit ihm wieder Abstand. Im Sommer 2003 aber traf ich mich mit ihm in Manchester in einem Pub in der Nähe der Granada-Fernsehstudios auf ein Glas Bier. Auf dem Rückweg schlenderten wir die Deansgate entlang. Da fragte er mich, ob ich Inhaber der Rechte an meinen Interviews mit ihm sei. Als ich seine Frage bejahte, wirkte er erstaunt, dass ich daraus noch keine biografische Zusammenstellung oder etwas Ähnliches gemacht hatte. Ich bin zwar etwas langsam, aber das machte mich doch nachdenklich. Als ich ihn später nochmals auf das Buch ansprach, war er wenig interessiert, doch bei einem Konzert im Manchester Opera House am 7. Mai 2006 verkündete er von der Bühne: „Wie Len Brown euch noch berichten wird, habe ich hier im November 1973 Mott the ­Hoople und Queen gesehen.“ (Eine Woche zuvor hatte ich mit meinem Bruder Don in der Newcastle City Hall ein anderes Konzert derselben Tournee besucht.)

Trotzdem bin ich ein eher zurückhaltender Biograf. Als jemand, der einer Karriere als Musikkritiker bewusst abgeschworen und sich gegen eine Laufbahn im Dunstkreis der „Prominenz“ entschieden hat, mangelt es mir zunächst vielleicht an der Arroganz und dem Selbstbewusstsein, das man braucht, um diese Geschichte zu erzählen. Zweitens kann ich natürlich nicht so tun, als wäre ich ein Vertrauter, Liebhaber oder enger Freund meines Objekts, obwohl ich dieses als Journalist und Musikfan gut kenne. Vielmehr ist es so, dass ich bei unseren Treffen und oft langen Gesprächen Morrissey stets als Menschen geschätzt habe und seine Kunst immer noch sehr bewundere. Seine Stimme und seine Texte haben in meinem Leben bis heute eine wichtige Rolle gespielt. Als Interviewpartner bringt er mich immer zum Lachen, er ist provokativ und geistreich und definitiv eine der interessantesten und originellsten Persönlichkeiten in der Populärkultur. Wenn man einmal jemandem wie Morrissey begegnet ist, erscheinen einem 99 Prozent aller anderen Interviewpartner unintelligent, gewöhnlich, spießig und sogar nichtssagend.

Dies ist keine autorisierte Biografie, und ich will mich auch nicht dafür entschuldigen, wenn ich abgegraste Themenbereiche nochmals anspreche. Es sind bereits einige Morrissey-Biografien erschienen, doch scheinen die meisten von geldgierigen Opportunisten, aufdringlichen Fans, schwulen Kavalieren oder findigen Internetsurfern zusammengeschrieben worden zu sein. Die Autoren lassen sich nach Belieben in alle möglichen Kategorien einordnen. Sämtliche bis heute verfassten Biografien sind jedoch von Personen geschrieben (oder besser zusammengetragen) worden, die nicht ein einziges Interview mit Morrissey geführt haben. Im Großen und Ganzen haben diese Bücher trotzdem eine gewisse Berechtigung: Sie erzählen die offensichtlichen Geschichten aus einer distanzierten, journalistischen Vogelperspektive heraus. Mit einer erwähnenswerten Ausnahme hat es jedoch beinahe den Anschein, als wären sie an einem einzigen Nachmittag heruntergerattert worden, um schnell noch auf den letzten Smiths- oder Morrissey-Zug aufzuspringen.

Die Ausnahme ist natürlich Johnny Rogans Buch The Severed Alliance. Zwar hat sich Rogan nicht mit Morrissey getroffen, doch er sprach mit den anderen Smiths und fand durch sorgfältige Nachforschungen die Wahrheit (besser gesagt, Rogans Version der Wahrheit) über Morrisseys Leben heraus. Wie bei allen anderen von Rogans Themen – The Byrds, Neil Young, Van Morrison, The Kinks, John Lennon – ist auch hier die detektivische Kleinarbeit beeindruckend. Doch trotz sauberer Recherche und akademischer Vorgehensweise gelingt es The Severed Alliance meiner Meinung nach nicht, zum Herzen und der Seele seiner zentralen Figur vorzudringen.

Der vorliegende bescheidene Wälzer versucht, einer gewissen Nachfrage gerecht zu werden, vielleicht sogar eine Lücke zu schließen. Es ist die erste Biografie bzw. es sind die ersten Memoiren, deren Autor über mehrere Jahre in direktem Kontakt zu Morrissey gestanden hat. Es ist daher unvermeidlich, dass das Buch randvoll mit meinen eigenen Kommentaren und persönlichen Eindrücken von Morrissey ist, doch ich hoffe, dass sich durch meine journalistischen Begegnungen mit ihm – vom Besuch meines ersten Smiths-Konzerts im Jahre 1983 bis zu einem Treffen auf der „Ringleader Of The Tormentors-Tournee 2006 – ein runderes und lebendigeres Bild des Künstlers, seiner Musik und seiner Inspirationsquellen ergibt.

Er ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Durch meine Arbeit als freier Journalist und als Fernsehproduzent/-regisseur hatte ich das Glück, viele berühmte Musiker kennenzulernen: inspirierende Künstler wie Kate Bush, Youssou N’Dour, Noel Gallagher, Gil Scott-Heron und Peter Gabriel; sympathische, aber schüchterne Charaktere wie Rod Stewart, Ringo Starr und Elton John; sogar brillante und schwierige Talente wie etwa Ray Davies oder Dusty Springfield. Morrissey jedoch schien immer etwas Besonderes zu sein. Nicht nur aufgrund der Qualität seiner Texte, ihrer geistreichen Querverweise oder weil er stets den Mut hatte, Tabuthemen anzusprechen, sondern auch, weil er seinen Hang zur Depression und eine fast schon kriminelle Schüchternheit auf eine ganz eigene Weise überwunden und so sein Ziel erreicht hat.

Zu seinen großen Verdiensten gehört zwar die Verherrlichung der Außenseiterrolle – in Texten, Interviews und sogar bei der Covergestaltung der Smiths-Platten –, aber ich würde gerne versuchen, ihn von jenen Minderheiten zurückzufordern, die zu glauben scheinen, er wäre ihr Eigentum. Obwohl er von vielen Mitgliedern der lesbischen und schwulen Gemeinde zu Recht als Vorbild verehrt wird und daneben zur Galionsfigur der Tierschützer- und Vegetarier-Lobby geworden ist, denke ich doch, dass es wichtig ist, seine Kunst in einem weiteren und weniger eingeengten Kontext zu betrachten. Kurz gesagt, hat er während der letzten 25 Jahre versucht, auf dem Gebiet der Popmusik das zu leisten, was sein Held Oscar Wilde exakt ein Jahrhundert vor ihm auf solch dramatische Weise erreicht hat.

Wilde vertrat die Ansicht, dass Kunst an sich grundsätzlich abweichlerisch sei, und sagte einmal, „jeder Versuch, das Themenspektrum der Kunst zu erweitern“, erscheine „der Öffentlichkeit extrem geschmacklos; und doch hängen die Lebendigkeit und die Weiterentwicklung der Kunst zu einem großen Teil davon ab, dass sie ihr Themenspektrum ständig erweitert.“ Morrissey hat diese Ansicht verinnerlicht und Wildes Herausforderung angenommen. Man kann ihn mögen oder hassen – dazwischen gibt es nichts –, doch hat er eindeutig das Themenspektrum der Popmusik erweitert. Den meisten Popsongs gelingt es nicht, einen Bezug zum wirklichen Leben herzustellen oder auf dessen viele Missstände aufmerksam zu machen. Stattdessen bedienen sie kommerziell attraktive, radiofreundliche Klischees von Liebe, Geld, „konventionellem“ Sex, dem Streben nach Wohlstand und dem Wunsch nach Statussymbolen. Morrisseys Texte hingegen haben den Status quo stets in Frage gestellt und angezweifelt.

Wenn man diese Richtung einschlägt und sich derart gegen den Wind stemmt, löst man freilich Kontroversen aus. Im Jahre 1992 sagte er: „Die Wahrheit ist, dass wir in dieser aufregenden Welt der Popmusik eingeschränkt sind. Ob man nun über Leute schreibt, die an den Rollstuhl gefesselt sind, wie in ‚November Spawned A Monster‘ oder den Rassismus thematisiert wie in ‚The National Front Disco‘, so wird der Kontext doch meist übersehen. Die Leute lesen den Titel, wenden sich mit Grausen ab und sagen: ‚Worum es in diesem Song auch geht – so etwas sollte es nicht geben, weil Millionen von Menschen dieses Thema grässlich finden.‘“

Das ist es, was Morrissey so anders und interessant macht und diejenigen, die ihn nicht mögen, so sehr irritiert. Weit davon entfernt, das traditionelle, PR-taugliche Bild von Großbritannien zu bedienen, jenes arroganten, überlegenen Englands mit Weltherrschaftsanspruch, hält Morrisseys Kunst dem modernen Großbritannien bewusst und schonungslos einen Spiegel vor, in welchem häufig die Opfer und die Schurken aus den dunklen Tagen der Vergangenheit zu sehen sind. Viele von ihm still verehrte schwule Ikonen beispielsweise – von Oscar Wilde über Joe Meek bis hin zu Joe Orton – wurden von der bürgerlichen Gesellschaft gestoßen und getreten. Offensichtlich ist Morrissey überzeugt, dass wir von unseren Opfern mehr lernen können als von unseren Berühmtheiten.

Als Folge davon wird ihm häufig vorgeworfen, er sei pessimistisch, bewusst übellaunig und konzentriere sich ausschließlich auf die negativen Erscheinungen des modernen Lebens: auf die Rassisten, Kindsmörder, korrupten Polizisten, Schläger, Schwulenhasser, Hooligans, Bandenchefs und Heuchler … Andere indes haben ihm mit derselben Vehemenz vorgeworfen, er sei nostalgisch und hänge einem mythischen England aus der guten alten Zeit nach. Das trifft jedoch ganz und gar nicht zu. Morrissey selbst kommentierte dies einmal so: „Wenn ich etwas aus den Sechzigern lobe, einen Film oder eine Platte, dann meine ich das auch so. Ich grabe keinen Wikingerhelm aus und fange an, mir irgendetwas zusammenzuträumen. Ich finde, dass es eine sehr produktive und interessante Zeit war. Insbesondere mit der Kunst ist es seit Beginn der Siebziger bergab gegangen. Die Siebziger waren grauenvoll.“

In diesem Kontext ist es unbedingt notwendig, die Ereignisse zu verstehen, die ihn als Kind in den Sechzigern und als Teenager in den Siebziger geprägt, frustriert und beeinflusst haben. Es ist nicht das harmlose, unkritische Opium fürs Volk, das Rohmaterial der vorherrschenden christlichen und heterosexuellen Populärkultur, sondern die härteren, aber reizvolleren Aspekte des wirklichen Lebens: der inter-rassische Sex und die Minderjährigenschwangerschaft in Bitterer Honig, der Klassenkampf der Arbeiterschaft in Samstagnacht und Sonntagmorgen, die (bis 1967) illegale Darstellung homosexueller Ängste in Filmen wie Victim oder The Leather Boys und der Aufstieg des Feminismus im Norden, verkörpert von Pat Phoenix als Elsie Tanner, die er einmal als erste „zornige junge Frau“ in der Seifenoper Coronation Street beschrieb.

Für meine Ohren und mein Verständnis wirft Morrissey einen eher realistischen denn verklärenden Blick zurück und dokumentiert durch seine Musik und Poesie viele der extremen Ereignisse und Elemente, die ihn aufgewühlt und geängstigt haben – von der durch die Regierung geschürten öffentlichen Feindseligkeit den Iren gegenüber bis zum Aufstieg rechtspolitischer Kräfte; von der organisierten Kriminalität der Krays, der Richardsons und Manchesters Quality Street Gang bis hin zu den Moormorden, die für viele das Ende aller Unschuld bedeuteten.

Im Jahre 1995 verglich Michael Bracewell im Observer Morrissey mit Alan Bennett und nannte ihn den Chronisten eines aussterbenden Britentums. Er verwies darauf, dass „er im Gegensatz zu Bennett die Existenz eines fatalen und fehlgeleiteten Nationalismus erforscht hat – die widerwärtige Politik der Perspektivlosen aus dem East End.“ Nicht alle sind in ihrer Analyse so großzügig gewesen. Anfang bis Mitte der Neunziger – exakt ein Jahrhundert nach dem Ruin Wildes – wurde Morrissey kritisiert und sogar diffamiert (insbesondere von der Musikpresse, die ihn in den Achtzigern wie einen Gott verehrt hatte), weil er das Tabuthema Rechtsextremismus auch nur angeschnitten hatte. Dabei hatte es im England seiner und unserer Jugend eine aggressive und verheerende Rolle gespielt.

Rückblickend erscheint es so, dass Morrissey sich weigerte, uns die Probleme vergessen zu lassen, mit denen wir als Nation konfrontiert waren und sind, und ganz bewusst jene durchgestylten Jubelveranstaltungen verderben wollte, deren einziges Ziel es war, Großbritannien als uneingeschränkt großartig darzustellen. Er ist ganz eindeutig jemand, den die konservative Partei Margaret Thatchers als „Nörgler“ gebrandmarkt hätte, einer jener Störenfriede, die es sich offenbar zum Ziel gesetzt haben, viele der unter den Tisch gekehrten und bewusst vergessenen Aspekte der Geschichte unseres schönen Landes ans Tageslicht zu zerren.

Meiner Meinung nach macht ihn gerade dies zu einem einzigartigen Künstler. Freilich haben auch viele andere in anderen Medienbereichen schwierige politische und soziale Probleme angesprochen, insbesondere in Film- und Fernsehdokumentationen. Doch zu wenige haben versucht, solch komplizierte und kontroverse Fragen im knappen Rahmen eines dreiminütigen Popsongs zu diskutieren.

Mehr noch: Als Sänger, Showman und Textdichter hat er sich innerhalb der Popkultur als einzigartige Stimme etabliert. Wie bei Michael Stipe, Bono, Kate Bush, James Brown, Bob Dylan, Youssou N’Dour, Al Green, Van Morrison, Stevie Wonder, Nina Simone, Brian Wilson, Michael Jackson, John Lennon (und ich würde hier auch Phil Ochs, Ismael Lo, Pete Docherty, Richard Hawley und Sandy Denny nennen, um vollends subjektiv zu werden) erkennt man Morrisseys Stimme sofort, wenn man sie hört. Sie wurde oft imitiert, aber nie erreicht – nicht einmal von Bernard Manning bei seiner bemerkenswerten Coverversion von „Girlfriend In A Coma. Selten hat Morrissey die Widersprüchlichkeiten seines Privatlebens zur Werbung für sein Produkt ausgenutzt. Seine provokativen Interviews, sein umfangreiches Werk und sein charismatischer, sich auf der Bühne windender Körper reichten aus, um sich 25 Jahre im Rampenlicht zu halten. Warum sonst wäre er 2007 nach Sir David Attenborough, aber noch vor Sir Paul McCartney zur zweitgrößten lebenden Ikone Großbritanniens gewählt worden?

Oscar Wilde sagte einmal: „Ich werde einst ein Rätsel für die Welt der Freuden sein, aber ein Sprachrohr für die Welt des Schmerzes“, und zweifellos ist Wildes Leben, seine Philosophie und sein Umgang mit der Sprache eine Blaupause für Morrisseys Karriere als Agitator in der britischen Popmusik gewesen. Wenn Wilde erklärte, das Geheimnis des Lebens sei die Kunst, dann scheint Morrissey, anders als die meisten Sterblichen, sein Leben diesem Zweck gewidmet zu haben. Bei der Lektüre dieses Buches mögen viele Leser zu dem Schluss kommen, dass er sich ein wenig zu stark an Wilde orientiert oder vielleicht zu viele Ideen geklaut und zu viel von dem viktorianischen Stil, Witz und Verve übernommen hat.

Mit den Smiths und als Solokünstler hat Morrissey aber schlicht und einfach Wildes Manifest zu seinem eigenen gemacht, es in einen zeitgemäßen Kontext gesetzt und dadurch seinem Publikum des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts nähergebracht. Das geht weit über ein simples Plagiat hinaus, ist über jeglichen Verdacht des Diebstahls erhaben und nähert sich bisweilen fast einer Reinkarnation. Sicher hat sich niemand in der Geschichte der Popmusik so perfekt, so wunderbar und so erfolgreich nach dem Vorbild einer Legende aus der Vergangenheit neu erfunden. Gott allein weiß, was aus Steven Patrick Morrissey geworden wäre, hätte ihn seine Mutter nicht mit dem Wilde’schen Evangelium großgezogen.

Ich gehe sogar so weit, zu behaupten, dass auf Morrisseys Kunst im Bereich der Popmusik einige der Wahrheiten zutreffen, die Richard Ellmann im Schlusswort seiner Biografie Oscar Wildes zum Ausdruck bringt: „Was er uns hinterlässt, ist das Bemühen, die höchste Stufe der Erzählkunst zu erreichen, die Kunst mit sozialem Wandel zu assoziieren, individuelle und gesellschaftliche Impulse zu vereinen, das Exzentrische und Einzigartige davor zu bewahren, dass es keimfrei gemacht und standardisiert wird; das Bemühen, eine Moral der Unerbittlichkeit durch eine des Mitleids zu ersetzen … Er erlangte Bewunderung und wurde gleichermaßen verunglimpft. Legenden rankten sich um ihn, aber auch üble Gerüchte. Er wurde der Sünde der Effemination und des Plagiats bezichtigt. Dass er ein ausgesprochen gütiger Mensch war, war weniger bekannt.“