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Brigitte Melzer

Das Erbe der MacDougals

Roman

hockebooks

20

An diesem Abend bezog Eòran im Stall Posten.

Er saß vor der Tür, eine Laterne neben sich, und starrte düster brütend auf den Durchgang zur Scheune. Seine Waffen hatte er vorsorglich Tormond übergeben, ehe dieser die Tür hinter ihm verriegelt hatte. Sein Zorn war noch immer nicht vollends verraucht. Allerdings war er sich inzwischen nicht mehr sicher, wem dieser Zorn überhaupt galt. Sheona, die zu fliehen versucht hatte, oder Cinhaé, die sich nach wie vor weigerte, in ihm etwas anderes als einen barbarischen Entführer zu sehen. Vielleicht war er auch nur wütend auf sich selbst, weil er sich wünschte, dass sie in ihm etwas anderes als einen Verbrecher sah.

Nachdem die MacRaes fort und die Frauen wieder in der Scheune eingesperrt waren, war Eòran zum Bach zurückgegangen, um den Eimer zu holen. Er hatte ihn in der Scheune abgestellt und ein Tuch danebengelegt. »Das ist frisches Quellwasser«, hatte er an Sheona gewandt gesagt. »Es ist eiskalt. Tränkt das Tuch damit und wickelt es um den Knöchel Eurer Schwester. Es sollte gegen die Schwellung helfen und den Schmerz ein wenig lindern.« Dann hatte er die Scheune verlassen und war erst nach Einbruch der Dunkelheit zurückgekehrt.

Er war noch immer erleichtert, wie mühelos es Tormond und Niall gelungen war, die MacRaes zu täuschen. Nachdem die Männer das Haus durchsucht hatten ohne etwas zu finden, waren sie unverrichteter Dinge von dannen gezogen. Sie hatten noch ein paar Stunden verstreichen lassen, um sicherzugehen, dass sich die MacRaes nicht noch in der Nähe aufhielten, dann war Niall zu ihnen gekommen, um sie zum Hof zurückzuholen. Bald darauf war auch Murray mit den Pferden wieder zu ihnen gestoßen.

Von Zeit zu Zeit, wenn Eòran spürte, dass ihm die Lider schwer zu werden drohten, erhob er sich und wanderte im Stall auf und ab. Wenn er im Schritt innehielt, konnte er hören, wie sich die Frauen nebenan unterhielten. Er glaubte, Sheonas Stimme zu vernehmen gefolgt von Cinhaés Erwiderung. Selbst ohne zu verstehen, was sie sagte, war der erboste Unterton nicht zu überhören. Vermutlich sprechen sie über mich. Er hielt seine Neugierde in Zaum und verzichtete darauf, zu lauschen. Zweifelsohne hatten sie nichts Gutes über ihn zu sagen.

Schließlich kehrte Ruhe ein. Eine Weile wanderte Eòran noch auf und ab, dann beschloss er noch einmal nach dem Rechten zu sehen, ehe er erneut seinen Posten an der Tür beziehen wollte. Im Durchgang hielt er inne. Die Frauen hatten sich unter ihren Decken zusammengerollt und schliefen. Eine Weile stand er da und beobachtete Cinhaé. Selbst im Schlaf wirkte sie angespannt. Er hätte ihr gerne den Schmerz genommen, doch er besaß kein Mittel, das das vollbrachte. Er hatte nicht einmal Branntwein. Ehe er sichs versah, war er auf dem Weg zu ihr. Seine Sohlen knirschten leise. Neben ihrem Lager ging er in die Hocke. Warum musste er ständig an sie denken? Selbst wenn er nicht an sie dachte, war sie auf seltsame Weise präsent. Ging sein Interesse an ihr tiefer? Unsinn, schalt er sich selbst. Es waren lediglich ihr Mut und ihr Starrsinn, die ihn beeindruckten. Vielleicht lag es auch daran, dass sie ihm in gewisser Weise ähnlich war. Auch sie kämpfte darum, ihre Schwester zu schützen.

Getrieben von einem Drang, den er sich weder erklären noch beherrschen konnte, schob er ihr vorsichtig eine Locke aus dem Gesicht. Dabei streiften seine Finger ihre Wange. Cinhaé regte sich im Schlaf. Hastig zog er die Hand zurück und erhob sich. Sein Blick fiel auf den Wassereimer. Das Tuch entdeckte er nirgendwo. Zumindest diese Hilfe hatte sie angenommen.

*

Cinhaé erwachte vom leisen Knarren der Tür.

Sie öffnete die Augen und sah sich um. Ein schwacher Lichtschein fiel vom Durchgang her in die Scheune und half ihr sich zu orientieren. Gedämpfte Stimmen drangen an ihr Ohr. Neugierig schlug sie die Decke zurück und setzte sich auf. Sie löste das Tuch von ihrem Gelenk und legte es auf den Boden. Eine Weile hatte das eisige Wasser tatsächlich den Schmerz betäubt. Jetzt jedoch war der Wickel warm geworden. Sie nahm sich vor, es noch einmal zu tränken und erneut um den Knöchel zu wickeln, ehe sie sich wieder hinlegte. Zunächst jedoch wollte sie wissen, was nebenan vor sich ging.

Statt sich zu erheben, kroch sie auf Händen und Knien zum Durchgang. Vorsichtig schob sie sich heran, bis sie Finns mächtige Gestalt neben der Tür erblickte. Neben ihm stand MacDougal. Er wandte ihr den Rücken zu. Cinhaé zog sich ein Stück um die Ecke zurück, bis sie sicher war, dass die Männer sie nicht sehen konnten. Sie setzte sich auf den Boden und lehnte sich an die Wand.

»Was machst du überhaupt hier?«, vernahm sie Finns tiefe Stimme.

»Schsch!«, zischte Eòran. »Sie schlafen.«

Als Finn fortfuhr, sprach er so leise, dass Cinhaé Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Du hast seit zwei Tagen kaum geschlafen! Willst du dich völlig aufreiben?«

Ein Knirschen war zu vernehmen. Leise Schritte, die mal hierhin und mal dorthin wanderten. »Ich bin wegen Cinhaé hier.« MacDougals Stimme verharrte nun nicht mehr an einem Ort. Er war jetzt ganz in der Nähe des Durchgangs. Sein schlanker Schatten reckte sich in die Scheune. Cinhaé hörte seine Atemzüge so deutlich, als stünde er unmittelbar neben ihr. Mein Gott, jeden Moment wird er um die Ecke blicken und mich finden! Aber MacDougal rührte sich nicht vom Fleck. »Ich fürchte, dass sie etwas im Schilde führt.«

»Sie hat sich doch – im Gegensatz zu ihrer Schwester – ganz friedlich verhalten«, erklang Finns brummige Stimme erneut.

»Genau deshalb«, gab MacDougal leise zurück. »Sie war einfach zu friedlich. Das passt nicht zu ihr.« Er bewegte sich. Cinhaé erstarrte, als ihr bewusst wurde, dass er näherkam. Jetzt konnte sie ihn sehen! Im Durchgang blieb er stehen und lehnte sich seitlich gegen die Mauer. Wenn er den Kopf nur ein Stück zur Seite wandte, würde er sie entdecken! »Ich weiß nicht, was es ist, aber etwas stimmt mit ihr nicht.«

»Wie meinst du das?«

»Hast du ihre Augen gesehen?« Ohne einen Blick über die Schulter zu werfen, verließ MacDougal den Durchgang wieder und entschwand aus ihrer Sicht. Augenblicklich wurden auch seine Worte leiser, sodass sie genauer hinhören musste. »Sie hatte Angst! Letzte Nacht hat sie versucht, zu fliehen. Sie hat gekämpft wie eine Löwin! Warum hat sie es nicht noch einmal versucht, als die Männer ihres Gemahls in der Nähe waren? Warum hat sie stattdessen versucht, uns auf Sheona aufmerksam zu machen?«

»Vielleicht fürchtete sie, es könne zu einer offenen Konfrontation mit MacRaes Kriegern kommen, bei der wir sie und ihre Schwester als Schutzschilde benutzen würden«, überlegte Finn. »Hast du sie danach gefragt?«

»Sinnlos.« MacDougals Stimme war jetzt wieder nahe der Tür. »Sie sagt mir ja nicht einmal, wie es ihr geht, wenn ich sie danach frage. Sie ist stur wie ein Maulesel!«

»Ich finde ihre Tapferkeit beeindruckend.«

»Du verwechselst Starrsinn mit Tapferkeit.«

Finn lachte leise. Ein unterdrückter Laut, der Ähnlichkeit mit einem heiseren Bellen hatte. »Sie ist in der Tat etwas unberechenbar. Aber ich mag sie. Eine Schande, dass ein Mädel wie sie ausgerechnet mit MacRae verheiratet ist!«

Unwillkürlich rückte Cinhaé näher an den Durchgang heran, um MacDougals Antwort zu hören. »Es interessiert mich nicht, wessen Weib sie ist. Ich will nur nicht, dass sie Ärger macht.« Dann seufzte er leise. »Trotzdem mache ich mir Sorgen. Sie ist erschreckend bleich und der Knöchel scheint ihr große Schmerzen zu bereiten. Aber sie nimmt keine Hilfe an.«

»Was hast du erwartet?« Jetzt war es Finn, der sich bewegte. Cinhaé drückte sich enger an die Wand, als seine Stimme näherkam: »Du machst ihr Angst! Da wunderst du dich, wenn sie dich nicht in deiner Nähe haben will?«

»Ich will einfach nicht, dass ihr etwas zustößt.« MacDougals Geständnis überraschte Cinhaé. Einen Atemzug später fügte er hinzu: »Ihrer Schwester natürlich auch nicht. Aber Sheona ist weder verletzt noch befindet sie sich in einem Zustand, der besonderer Fürsorge bedarf.« Seine Stimme klang näher. Er musste sich in ihre Richtung gewandt haben.

»Zustand?«, hakte Finn nach. »Was für ein Zustand?«

»Sie erwartet ein Kind. Das hat mir Owen gesagt.«

Das war es also. Er wusste, dass Aonghas’ Frau ein Kind unter dem Herzen trug. Und da sie in seinen Augen mit Aonghas vermählt war, dachte er, sie sei gesegneten Leibes. Für einen Moment hatte sie tatsächlich angenommen, er mache sich um ihretwillen Gedanken um ihr Wohl. Aber warum hat Owen ihm nicht die Wahrheit gesagt?

»Hast du schon einmal daran gedacht, was passiert, wenn MacRae nicht auf deine Forderungen eingeht?«, wechselte Finn das Thema.

»Dann lasse ich die Frauen frei«, erwiderte MacDougal ohne zögern. »Kyle ist dann für mich verloren.« Die Trauer, die bei diesen Worten in seiner Stimme mitschwang, ließ Cinhaé den Atem stocken. MacDougal fuhr ohne Unterbrechung fort: »Natürlich werde ich den Teufel tun, ihnen das zu sagen. Ich lasse sie lieber in dem Glauben, dass ich sie umbringen werde, wenn sie sich nicht zurückhalten. Auf diese Weise machen sie vielleicht keine Dummheiten, bei denen sie nur selbst zu Schaden kommen würden.«

Die plötzliche Erkenntnis, dass ihnen – nach all der Angst, die sie seit gestern ausgestanden hatte – nie wirklich Gefahr durch ihn gedroht hatte, nahm eine große Last von ihr. Mit einem Mal brach die Anspannung über ihr zusammen. Cinhaé begann zu zittern, als sich die Gefühle, die sie während der vergangenen Stunden unterdrückt hatte, endlich Bahn brachen. Heiße Tränen quollen zwischen ihren Wimpern hervor und rannen stumm über ihre Wangen. Würde Eòran MacDougal tatsächlich die Größe besitzen, zu wissen, wann er verloren hatte?

»Ich löse dich ab.« Nur undeutlich drangen Finns Worte zu ihr durch. »Schlaf ein wenig.« MacDougal schnaubte. »Ruh dich wenigstens aus«, beharrte Finn. Seine Stimme entfernte sich nun wieder von ihr. Einen Moment später vernahm sie das leise Knarren der Tür. Von außen wurde der Riegel vorgelegt. Die Stimmen schwiegen. Dennoch war sie nicht allein. Sie hörte das leise Rascheln von Stoff, als sich ihr Bewacher – war es noch immer MacDougal? – im Stall bewegte. Cinhaé schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Wand. Ein Teil von ihr wünschte sich, Aonghas möge sich nicht auf die Übergabe einlassen. Dann würde MacDougal Sheona und sie irgendwo in den Wäldern freilassen – weit weg von Dun Cunnartach –, sodass sie ihren Weg nach Eilean Donan fortsetzen konnten. Das hieße jedoch, dass das Leben seines Bruders verwirkt wäre. Obwohl sie MacDougal noch immer die Pest an den Hals wünschte, wollte sie nicht, dass sein Bruder starb. Wenn Aonghas jedoch auf die Übergabe einging, fände sie sich schneller, als ihr lieb wäre, in seiner Burg wieder.

Ohne die Augen zu öffnen, ballte sie die Hände zu Fäusten. Was sollte sie tun? Nach allem, was sie eben gehört hatte, war MacDougal vielleicht doch kein so schlechter Mensch. Konnte er ihr womöglich helfen? Sie schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, sich ihm anzuvertrauen. Er würde seine Pläne ihretwegen nicht ändern. Das konnte er nicht. Er würde seinen Bruder nicht opfern, um ihr zu helfen. Selbst wenn er nicht vorhatte ihnen etwas anzutun, blieb Cinhaé keine andere Wahl, als zu fliehen.

»Ich hoffe, Ihr begreift allmählich, dass er kein schlechter Mensch ist.«

Cinhaé riss die Augen auf. Finn lehnte mit verschränkten Armen im Durchgang und sah sie an. Der Lampenschein warf zuckende Schatten auf seine Züge. »Das mit dem Maulesel hat er nicht so gemeint.«

»Ihr wusstet, dass ich wach bin?«, fragte sie, nachdem sie ihren ersten Schrecken überwunden hatte.

»Ich habe Euer Lager gesehen.« Er deutete mit dem Kopf zu ihrer Decke an der gegenüberliegenden Wand. Es war deutlich zu erkennen, dass niemand darunter lag.

21

Dumpf grübelnd starrte Owen auf die Wache. Das Mondlicht fing sich in der Speerspitze des Mannes und ließ sie silbern schimmern. Er bewachte den Eingang zum Kerker. Unten, hatte Owen herausgefunden, waren noch einmal drei Männer vor den Zellen postiert. Niemandem war der Zugang gestattet. Nicht einmal ihm.

Seit er nach Dun Cunnartach zurückgekehrt war, suchte er nach einem Weg an den Kriegern vorbei. Er hatte versucht seine Autorität als Aonghas’ Freund in die Waagschale zu werfen. Ohne Erfolg. Er war nicht einmal bis in den Kerker gelangt. Am Nachmittag desselben Tages hatte Aonghas ihn zu sich rufen lassen.

»Ich habe gehört, du wolltest heute in den Kerker«, kam er ohne Umschweife zur Sache. »Was wolltest du dort?«

Owen unterdrückte einen Fluch. »Ich wollte mir den Jungen ansehen«, behauptete er. »Ich wollte wissen, ob er seiner Mutter ebenfalls so ähnelt wie sein Bruder.«

Aonghas hatte sich mit seiner Antwort zufriedengegeben. Dennoch war Owen ab da vorsichtiger. Seit er wieder in Dun Cunnartach war, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Aonghas ihn beobachtete. Womöglich bildete er sich das auch nur ein. Bei dem, was er über das verschlagene Vorgehen seines einstigen Freundes wusste, war es nicht verwunderlich, wenn er in allem, was der Chief sagte oder tat, eine Falle sah. Dabei war die Geschichte, die er bei seiner Rückkehr zum Besten gegeben hatte, durchaus plausibel. In weiten Teilen hatte er die Wahrheit gesagt. Owen hatte Aonghas berichtet, dass er der Kutsche gefolgt war, ganz wie er es angeordnet hatte. Dann waren die Männer erschienen. Aus einem Versteck heraus hatte er den Überfall beobachtet und die Entführer verfolgt. Bald darauf hatte er ihre Spur verloren und war daraufhin nach Dun Cunnartach zurückgekehrt.

Zu seinem Schrecken hatte Aonghas ihn erneut ausgesandt. Dieses Mal in Begleitung eines Trupps Clanskrieger. Owen sollte ihnen zeigen, wo er MacDougals Spur verloren hatte. Zähneknirschend war er mit den Männern aufgebrochen. Statt sie jedoch nach Süden ins Glen Moriston zu führen, wo Eòran und seine Männer ihren Unterschlupf hatten, lenkte er sie in den Norden an den Loch Carron. Drei endlose Tage jagte er den Trupp durch die Highlands, führte sie über Wege, von denen er wusste, dass sie dort nichts finden würden. Erst dann wagte er, die Suche abzubrechen und in die Burg zurückzukehren.

Mittlerweile war eine Nachricht Eòrans eingelangt, in der er Aonghas aufforderte, sich auf die Übergabe vorzubereiten. Während Owen verzweifelt nach einem Weg suchte, in den Kerker hinein – und mit dem Gefangenen wieder heraus – zu kommen, schmiedete Aonghas Pläne für die Übergabe. Wie nicht anders zu erwarten, war er entschlossen Eòran eine Falle zu stellen. Aonghas beabsichtigte die Übergabe nicht nur zu nutzen, um Eòran zu fassen zu bekommen, sondern auch Cinhaé. Er musste um jeden Preis verhindern, dass sie auf ihre Brüder traf. Um Cinhaé machte Owen sich beinahe noch mehr Sorgen als um Eòran. Der Junge konnte auf sich achtgeben. Cinhaé hingegen befand sich in einer aussichtslosen Lage. Und ich komme nicht an ihre Brüder ran, um sie zu warnen! Er hatte Gabhan und Blane noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Die MacKenzie-Brüder waren mit ihren Clanskriegern ausgezogen und durchstreiften das Glen Affric auf der Suche nach ihren Schwestern und deren Entführern. Owen verfluchte sich dafür, dass er nicht daran gedacht hatte, Eòran zu sagen, in welcher Gefahr Cinhaé sich befand. Er war so überzeugt gewesen, dass es ihm gelingen würde, lange vor der Übergabe mit Kyle zu fliehen. Dann wäre Cinhaé nicht einmal in die Nähe von Dun Cunnartach gekommen. Jetzt jedoch würde Eòran sie zur Übergabe bringen.

Nachdem all seine Vorhaben, Kyle zu befreien und die MacKenzies zu warnen, gescheitert waren, blieb ihm nur noch eines: Er verfasste eine Nachricht an Eòran und deponierte sie in dem Versteck, das er ihm genannt hatte. Jetzt half nur noch beten.

22

»Bald seid Ihr wieder zu Hause, Cinhaé.«

Als sie vor Tagesanbruch aufgebrochen waren, hatte Eòran sich das Claymore auf den Rücken geschnallt und Cinhaé vor sich in den Sattel gehoben. Endlich war es so weit: Der Tag der Übergabe war gekommen. Schon seit dem Morgen war er ruhelos, hatte immer wieder seine Waffen kontrolliert und war mit den Männern mehrmals den Plan durchgegangen.

Finn war nach wie vor skeptisch. Vor allem, nachdem er erfahren hatte, dass Eòran sich auf Owens Informationen verlassen wollte. Eòran hatte lange auf eine Nachricht von Owen gewartet. Täglich hatte er die Stelle aufgesucht, die Owen ihm genannt hatte, doch es hatte beinahe sechs Tage gedauert, ehe er die erste Nachricht vorgefunden hatte. Keine erfreulichen Neuigkeiten. Owen berichtete ihm, dass er keine Möglichkeit sah, an Kyle heranzukommen, und forderte ihn auf, Vorbereitungen für die Übergabe zu treffen. Daraufhin hatte Eòran sich in der Nähe von Dun Cunnartach umgesehen, um einen geeigneten Ort für sein Vorhaben zu finden. Schließlich entschied er sich für einen felsigen Einschnitt im Wald. Einen Platz, der nur von zwei Seiten zugänglich war. Eine Seite würde Eòran mit seinen Männern nehmen, die andere war für die MacRaes gedacht. Und für Kyle. Kaum war die Entscheidung getroffen, hatte er eine Nachricht mit den Einzelheiten an Aonghas MacRae gesandt. Noch am selben Tag hatte Owen ihm erneut eine Botschaft hinterlassen, in der er Eòran vor Aonghas’ Plänen warnte.

Die Zeile, die er über Cinhaé geschrieben hatte, stellte Eòran vor ein Rätsel. Sie darf keinesfalls in die Nähe von Aonghas’ Männern kommen! Nach einer Weile kam er zu dem Schluss, dass Owen ihm sagen wollte, er solle Cinhaé so lange wie möglich bei sich behalten. Nur auf diese Weise war ein sicherer Rückzug garantiert.

Eòran beschloss, sie erst freizulassen, wenn Kyle und die anderen in Sicherheit waren. Wenn endlich alles vorüber war, so hoffte er, würde er auch wieder zur Ruhe kommen. Während der letzten Nächte hatten ihn die Albträume schlimmer denn je gequält. Jede Nacht war er mehrmals aufgeschreckt. Dann hatte es lange gedauert, bis er wieder Schlaf gefunden hatte.

»Zu Hause«, wiederholte Cinhaé so leise, dass Eòran nicht sicher war, ob die Worte überhaupt für ihn bestimmt waren. Der seltsame Unterton entging ihm jedoch keineswegs.

Während der vergangenen Tage hatte er sich bemüht, ihr aus dem Weg zu gehen. Doch was er auch tat, es hatte ihn immer wieder in ihre Nähe gezogen. Er hatte sich damit begnügt, sie zu beobachten oder mit Sheona zu sprechen, da er ohnehin wusste, dass Cinhaé nicht auf seine Fragen antworten würde. Zumindest hatte sie sich friedlich verhalten und keine weiteren Fluchtversuche unternommen. Es war deutlich zu sehen, dass ihr der Knöchel noch immer Schmerzen bereitete. Sie humpelte mehr, als dass sie ging. Wenn sie ihr Bein nicht belastete, schien sie keine Schwierigkeiten zu haben. Jetzt jedoch, unter der ständigen Bewegung des Pferdes, war der Schmerz in ihre Augen zurückgekehrt. Bald seid Ihr zu Hause, dann kann sich ein Heiler um Euer Bein kümmern.

Seit sie das Gehöft hinter sich gelassen hatten, wirkte sie unruhig. Ihr Körper war angespannt. Anfangs hatte er geglaubt, es läge an seiner Nähe. Dann jedoch fiel ihm auf, dass ihr Kopf in ständiger Bewegung war. Als suche sie unablässig die Umgebung ab. Aber wonach? Sie konnte unmöglich von Aonghas’ geplantem Hinterhalt wissen. Wofür also fürchtete sie sich?

»Wenn Euer Gemahl vernünftig ist, wird Euch nichts geschehen.«

Cinhaé wandte sich zu ihm um. Der Blick in ihre unergründlichen grünen Augen ließ ihn für einen Moment den Atem anhalten. Seit er sie und ihre Schwester entführt hatte, hatte sie ihn unablässig beschimpft, bekämpft oder schlichtweg ignoriert. Jetzt jedoch wirkte sie klein und hilflos.

Plötzlich schüttelte sie den Kopf. »Das könnt Ihr nicht verhindern.«

Eòran runzelte die Stirn. Er wollte etwas erwidern, als Finn sein Pferd neben ihn lenkte. »Wir sind bald da.«

Sein Blick wanderte über die sanft geschwungenen Hügel und senkte sich auf den Waldrand. Auf sein Zeichen hin kam der kleine Trupp zum Halten. Im Schatten der Bäume saßen sie ab und sammelten sich um ihn. Er hob Cinhaé aus dem Sattel und stützte sie. Es begann zu regnen. Große Tropfen, die auf das Blattwerk prasselten. Der Geruch von feuchter Erde stieg Eòran die Nase. In der Ferne erhob sich das Schlagen von Trommeln über dem Regen. Neben ihm zuckte Cinhaé zusammen.

»Das ist nur das vereinbarte Zeichen.« Seine Worte vermochten nicht, die Furcht aus ihrem Blick zu bannen. Um sie zu beruhigen, fügte er hinzu: »Macht Euch keine Sorgen. Bald seid Ihr wieder bei Eurer Familie. Selbst Eure Brüder sind hier.« Owen hatte ihn informiert, dass die MacKenzie-Brüder in Dun Cunnartach waren. Tatsächlich zeigten seine Worte Wirkung. Schlagartig schien ein Teil der Anspannung von ihr abzufallen. Für einen Moment schloss sie die Augen. Als sie sie öffnete, hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Einmal mehr verriet ihre Miene nicht, was in ihr vorging.

Einen Moment lauschte er dem stampfenden Rhythmus der Trommeln. »Die MacRaes schicken sich an, die Burg zu verlassen.« Die Entschlossenheit, die er in den Gesichtern seiner Männer fand, stimmte Eòran zuversichtlich. Wir werden es schaffen. »Weiß jeder, was er zu tun hat?« Alle nickten Sie waren den Plan oft genug durchgegangen. Sein Blick fiel auf Tormond, der Sheona bewachte. »Du bringst sie zum verabredeten Ort. Die anderen kommen mit mir.« Er wandte sich an Cinhaé. »Verabschiedet Euch von Eurer Schwester.«

»Was!«, schnappte sie. »Ihr sagtet, Ihr würdet uns beide freilassen! Ihr verdammter –«

Eòran wollte nicht debattieren. »Wenn Ihr Euch nicht verabschieden wollt, können wir auch sofort aufbrechen.« Er verstärkte seinen Griff und schob sie zum Pferd.

»Wartet!« Cinhaé sah ihm in die Augen. »Bitte.«

Eòran gab ihren Arm frei. Humpelnd überwand Cinhaé die wenigen Schritte, die sie von ihrer Schwester trennten, und griff nach Sheonas Händen. »Gabhan und Blane sind hier«, hörte Eòran sie sagen. »Wenn du sie siehst, dann sag ihnen, was ich dir über Aonghas erzählt habe.«

»Cin–«

»Sheona, bitte! Versprich es mir!«

Während Eòran sich fragte, wovon sie sprach, umarmten sich die Schwestern. Schließlich legte er Cinhaé eine Hand auf die Schulter. »Es wird Zeit. Kommt.« Er führte sie zu seinem Pferd zurück, half ihr in den Sattel und saß hinter ihr auf, ehe er sich ein letztes Mal zu Sheona umwandte. »Lebt wohl.« Dann wendete er sein Pferd und bedeutete den anderen, ihm zu folgen.

»Was hat das zu bedeuten, MacDougal?«, verlangte Cinhaé zu wissen. »Wo lasst Ihr Sheona hinbringen?«

»Zur Übergabe.«

»Warum trennt Ihr uns?«

»Macht Euch keine Sorgen.«

»Das sagtet Ihr schon.«

Eòran unterdrückte ein Grinsen bei diesem Rückfall in ihre gewohnt kämpferische Art und trieb sein Pferd voran. »Ich halte mein Wort. Schon bald werdet ihr beide frei sein. Nur eben nicht am gleichen Ort und nicht zur selben Zeit.«

Unter dem Drängen der Trommeln trieb Eòran sein Pferd voran. Bald konnte er über den Baumwipfeln den höchsten Turm Dun Cunnartachs ausmachen. Bleigrauer Stein, der dem Regen ebenso trotzte, wie er einem herannahenden Feind standhalten würde. Eòran zügelte sein Pferd und lauschte über das Rauschen des Regens hinweg. Halb erwartete er, jeden Augenblick das Dröhnen von Dudelsäcken zu hören, die die MacRaes in die Schlacht riefen. Doch es blieb aus.

»Wie sieht es aus? Wie stehen unsere Chancen?« Murray hatte sein Pferd neben Eòran gelenkt, die Augen auf die Burg gerichtet, deren Mauern hier und da zwischen den Bäumen auszumachen waren.

»Das sag ich dir heute Abend«, entgegnete Eòran und sprang aus dem Sattel. Er griff nach dem Zügel, als ihn ein wuchtiger Tritt vor die Brust zurücktaumeln ließ. Der Zügel wurde seinen Fingern entrissen. Während er um sein Gleichgewicht kämpfte, riss Cinhaé das Pferd herum und sprengte los.

»Finn! Niall!«, rief er.

Die beiden Männer erfassten die Situation sofort. Finn gab Murray, der hinter Eòran gestanden hatten, ein Zeichen. Augenblicklich verteilten sich die drei und kreisten Cinhaé ein. Sie wollte durchzubrechen, doch Niall ahnte, was sie vorhatte. Er trat sein Pferd in die Flanken und versperrte ihr den Weg. Noch einmal zerrte sie heftig am Zügel und versuchte ihm auszuweichen, doch Finn und die anderen hatten den Kreis inzwischen enger gezogen. Es gab kein Entkommen mehr. Eòran bahnte sich einen Weg zwischen den Pferden hindurch. Er packte Cinhaé und hob sie aus dem Sattel. Sobald sie stand, griff er nach ihren Schultern und hielt sie fest, damit sie ihm nicht noch einmal entwischen konnte. Die Anspannung war in ihren Körper zurückgekehrt. Der Gedanke, sie zu verlieren und damit Kyles Freilassung zu gefährden, ließ ihn zornig reagieren. »Was soll das?«, fuhr er sie an.

Er rechnete damit, dass sie erneut in Schweigen verfallen würde. Umso mehr erstaunte es ihn, als sie plötzlich das Wort ergriff. »Bitte, tut das nicht!« Das Flehen ihrer Worte spiegelte sich in ihrem Blick wieder. »Lasst Euch nicht auf diese Übergabe ein! Sie wird uns allen den Tod bringen!«

Ihre Angst ließ seine Wut verfliegen. »Cinhaé«, sagte er sanft, »Ihr habt mein Wort, dass ich auf Euch achtgeben werde.«

»Das könnt Ihr nicht«, sagte sie heiser.

»Nicht?« Eòran trat noch näher.

»Wir müssen los!«, rief Finn.

Eòran nickte. Sein Blick ruhte noch immer auf Cinhaé. Auch wenn es ihm nicht gefiel; er musste sie ruhigstellen. Das Risiko, dass sie die Übergabe in Gefahr brachte, war sonst einfach zu groß. »Finn, ich brauche einen Strick und ein Tuch!«

»Ich habe ein Seil hier«, entgegnete Finn.

»Schneid ein Stück ab und fessle ihre Hände auf den Rücken.«

Cinhaé versteifte sich unter seinem Griff und versuchte sich loszureißen. Eòrans Finger gruben sich fest in ihre Schultern, während er beobachtete, wie Finn das Seil zurechtstutzte und aus dem Sattel glitt. Eòran hielt sie noch immer fest, als Finn ihr die Hände auf den Rücken band. Er spürte, wie sie sich abmühte, sich seinem Griff zu entziehen, doch ihre Kraft reichte nicht aus.

»Gib mir das Tuch«, verlangte Eòran, kaum dass ihre Hände gebunden waren, »und noch ein Stück Seil.«

Finn reichte ihm das Tuch. Als Cinhaé begriff, was er vorhatte, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen. »Das könnt Ihr nicht machen, MacDougal! Ich muss Euch etw–!«

Eòran stopfte ihr das Tuch in den Mund und erstickte ihre Widerworte. Damit sie den Knebel nicht ausspucken konnte, benutzte er das Seilstück, das Finn ihm jetzt gab. Er zog es quer über ihren Mund, nicht zu fest, damit es ihr nicht ins Fleisch schnitt. »Tut mir leid«, sagte er und knotete die Enden an ihrem Hinterkopf zusammen, »aber das ist zu wichtig, als dass ich ein Risiko eingehen könnte.«

»Vielleicht wäre es besser, wenn wir sie hier zurücklassen«, schlug Murray vor.

Cinhaé riss erschrocken die Augen auf.

»Nein.« Eòran schüttelte den Kopf. »Wenn etwas schiefgeht, müssen wir schnell sein. Womöglich brauchen wir sie, um unseren Rückzug zu sichern.« Abgesehen davon gefiel ihm der Gedanke nicht, sie allein zurückzulassen. »Sie bleibt bei mir.«

Sie führten die Pferde zwischen den Bäumen hindurch, bis sie das Ende des Waldes erreichten. »Ab jetzt müssen wir leise sein«, mahnte Eòran. Owen hatte ihn gewarnt, dass ein Teil von MacRaes Kriegern sich bereits im Wald verborgen halten würde, während die anderen Dun Cunnartach erst unter Eòrans Augen verlassen würden. Wir werden den Spieß umdrehen und dich in deine eigene Falle tappen lassen, MacRae. Eòran sah zu Cinhaé. Sie schien ihren Widerstand aufgegeben zu haben. Dennoch würde er nicht zulassen, dass sie Kyles Leben in Gefahr brachte. Mit einem kurzen Ruck an ihrem Arm zwang er sie, stehen zu bleiben.

»Hört mir jetzt genau zu«, sagte er eindringlich und sah ihr dabei fest in die Augen. »Ich gebe auf Euch acht. Aber ich werde nicht zusehen, wie Ihr mit Eurem Verhalten dieses Unterfangen gefährdet. Wenn Ihr also erneut versuchen solltet, zu fliehen oder sonst etwas anstellen wollt, werde ich nicht zögern und Euch niederschlagen! Habt Ihr das verstanden?« Sie sagte etwas. Gedämpfte Laute, die er durch den Knebel nicht verstehen konnte. »Wenn Ihr mich verstanden habt, nickt!«, forderte er sie auf. Wieder verließen einige unverständliche Worte ihren Mund. »Verdammt noch mal, Cinhaé«, zischte er, »wollt Ihr, dass ich Euch sofort niederschlage?«

Sie schüttelte heftig den Kopf. Ihre Augen hingen an ihm, griffen nach ihm. Noch einmal versuchte sie etwas zu sagen. Dann gab sie auf und sank buchstäblich unter seinem Griff zusammen. Endlich nickte sie.

Sie ließen die Pferde im Schutz einer Hügelgruppe zurück und brachten das letzte Stück zu Fuß hinter sich. Eòran hielt Cinhaé am Arm und stützte sie, so gut er konnte. Erneut bemerkte er ihren Blick, der beinahe panisch nach allen Seiten zuckte. Sollte er sie fragen, was sie ihm hatte sagen wollen? Unwillkürlich schüttelte er den Kopf. Die Gefahr, dass sie die Gelegenheit lediglich nutzen würde, um Alarm zu schlagen, war zu groß.

»Murray, du wartest mit Cinhaé hier. Niall, du bereitest die Pferde vor! Finn, du kommst mit mir!« Eòran übergab Cinhaé an Murray und schlich mit Finn zwischen den Hügeln hindurch. Vor der letzten Kuppe presste er sich dicht auf den Boden und robbte voran. Das struppige Gras war nass vom Regen. Langsam hob er den Kopf und spähte über den Scheitel des Hügels hinweg. Unter ihm eröffnete sich der Blick auf den Wald. Zu seiner Rechten lag Dun Cunnartach. Die Mauern verhangen von einem grauen Regenschleier. Die Trommeln waren jetzt lauter.

»Tut sich was?« Finn kam neben ihn. Auch er lag auf dem Bauch und lugte in Richtung der Burg.

Eòran wollte gerade antworten, als er eine Bewegung auf den Mauern wahrnahm. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Der Mann, den er erblickte, war ihm zu vertraut, als dass er ihn nicht auch auf die Entfernung erkannt hätte. Er sah ihn Nacht für Nacht in seinen Träumen. Aonghas MacRae. Neben ihm zwei andere Männer, einer hager und gebeugt, der andere groß. Owen war nicht bei ihnen. MacRae gab ein Zeichen. Die Trommeln verstummten. Dann wurden die Tore geöffnet. Einen Moment später verließ ein Trupp von acht Reitern, mit Owen an der Spitze, die Burg. Aufmerksam beobachtete Eòran die Reiter, die jetzt die Ebene zwischen Burg und Waldrand erreichten. Sein Blick wanderte über die Köpfe der Männer, bis er Kyles dunklen Schopf in ihrer Mitte entdeckte. Sie hatten ihm die Hände auf den Rücken gefesselt und die Beine mit einem Strick, der unter dem Pferdebauch durchführte, zusammengebunden.

»Gott sei Dank!« Seit Owens letzter Nachricht hatte er insgeheim befürchtet, Aonghas würde Kyle gar nicht aus der Burg lassen. Doch Owen hatte Recht behalten. Aonghas legte seinen Köder aus, und er tat es so, dass kein Zweifel daran bestand, er würde sich auf die Übergabe einlassen.

Am Waldrand hielt der Trupp inne. Einer der Männer lenkte sein Pferd neben Kyle. Eòran versuchte zu sehen, ob sein Bruder verletzt war. Gesicht und Plaid waren schmutzig, aber es schien ihm gut zu gehen. Der Clanskrieger packte einen Leinensack und stülpte ihn Kyle über den Kopf.

Dank Owens letzter Botschaft kannte Eòran Aonghas’ Pläne. Der Chief ging davon aus, dass Eòran einen Späher in Sichtweite der Burg postieren würde, während Eòran und die anderen am Übergabeort warteten. Deshalb würden MacRaes Männer Kyle gut sichtbar in den Wald bringen. Dass sie ihm das Gesicht erst verdeckten, nachdem sie die Burg verlassen hatten, sprach dafür, dass Owens Informationen zutrafen. Eòrans Späher sollte die Nachricht überbringen, dass Kyle die Burg verlassen hatte und auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt war. Im Wald jedoch wartete ein zweiter Trupp. Dort würden sie Kyle gegen einen anderen Mann austauschen. Sie würden seine Gewänder wechseln und ihm ebenfalls einen Sack über den Kopf ziehen. Diesen Mann würden sie zum Übergabeort bringen, während Kyle von Clanskriegern bewacht im Wald zurückblieb. Sobald Aonghas’ Männer beide Brüder in ihrer Gewalt hätten, hatten sie den Befehl, sie zu töten. So einfach mache ich es dir nicht, Onkel. Gemeinsam mit seinen Männern war Eòran zu dem Schluss gekommen, exakt das Gegenteil von dem zu tun, was MacRae erwartete. Deshalb hatten sie lediglich Tormond mit Sheona zum Treffpunkt geschickt. Er sollte dort warten, bis sich die Männer näherten, um sicherzugehen, dass sie Sheona fanden, und sich dann unbemerkt zurückziehen.

Eòran schob sich langsam rückwärts, darauf bedacht, den Kopf unten zu halten. Sobald er die Hügelkuppe hinter sich gelassen hatte, richtete er sich auf und kehrte mit Finn zu den anderen zurück. Die Pferde waren fertig. Murray und Niall hatten die Hufe mit Stoff umwickelt, damit man sie nicht bereits von Weitem hörte. Eòran schwang sich in den Sattel, dann packte er Cinhaé, hob sie vor sich aufs Pferd und zog sie eng an sich. »Wenn es zum Kampf kommt, duckt Euch!«, wies er sie an. Dann wandte er sich an seine Männer: »Es geht los!«

*

Cinhaé war einer Panik nahe.

Sie verfluchte ihr Zaudern. Zu spät hatte sie sich entschieden, MacDougal ins Vertrauen zu ziehen. In dem Augenblick, als sie ihm sagen wollte, dass sie nicht die wertvolle Geisel war, für die er sie hielt, und ihr Leben in Gefahr war, hatte er sie geknebelt. Verdenken konnte sie es ihm nicht. Ihr Verhalten hatte ihm keine andere Wahl gelassen.

Der Knebel nahm ihr die Luft. Ein Gefühl der Enge, das ihre Angst nur weiter schürte. Abwechselnd jagten heiße und kalte Schauer durch ihren Leib. Ihr Atem ging hektisch, dennoch schien es, als wolle nie genug Luft den Weg in ihre Lungen finden. Immer wieder musste sie sich zwingen langsam ein- und auszuatmen. Blane und Gabhan sind hier, rief sie sich ins Gedächtnis. Ich muss nur zu ihnen gelangen, ehe Aonghas’ Männer mich zu fassen bekommen. Er konnte unmöglich all seinen Männern den Befehl erteilt haben, sie zu töten. Das würde er nicht wagen. Die Möglichkeit, dass einer von ihnen sein Vorhaben an ihre Brüder verraten könnte, war zu groß. Aber wem konnte sie trauen? Solange sie das nicht wusste, musste sie jedem MacRae, den sie zu Gesicht bekam, aus dem Weg gehen.

MacDougal trieb sein Pferd an und lenkte es an der Spitze seiner Männer in den Wald. Wegen ihrer Fesseln konnte sie sich nicht festhalten und wurde wild im Sattel hin und her geworfen. Jede Erschütterung übertrug sich schmerzhaft auf ihren Knöchel. Ohne MacDougals Arm, der fest um ihre Taille lag, wäre sie vom Pferd gestürzt. Der Regen schlug ihr ins Gesicht und ließ die Welt hinter einem Wasserschleier verschwimmen. Schemenhafte Baumreihen jagten an ihr vorbei, ein Gewirr aus Grün und Braun. Blinzelnd bemühte sie sich um eine klare Sicht. MacDougal hatte etwas von einem Kampf gesagt. Der bloße Gedanke, mitten im Gefecht vor ihm auf dem Pferd zu sitzen, steigerte ihre Furcht noch weiter. Wie sollte sie etwas ausweichen, das sie im Regen nicht einmal sehen konnte!

Plötzlich zügelte er das Pferd. Sie spürte, wie er über sie hinweg in den Wald spähte. »Da drüben sind sie«, vernahm sie seine gedämpfte Stimme. »Finn! Sieh nach!«

Hinter ihr erklang ein Geräusch. Cinhaé wandte den Kopf und sah, wie Finn aus dem Sattel glitt. Geduckt huschte er zwischen den Bäumen davon und war rasch außer Sicht verschwunden. Es dauerte nicht lange, bis er zurückkehrte. Vor MacDougals Pferd blieb er stehen.

»Es ist genau, wie dein neuer Freund gesagt hat«, berichtete er leise. »Der Trupp mit Kyles Doppelgänger ist mit Owen und den Männern, die wir beim Verlassen der Burg gesehen haben, auf dem Weg zur Übergabe. Kyle ist noch im Wald, bewacht von acht anderen.«

»Wie sind sie postiert?«

Finn nahm einen Ast vom Boden auf und ritzte einen Lageplan in die Erde. Er unterstrich jede seiner Bewegungen mit der passenden Erklärung. Was genau er aufzeichnete, vermochte Cinhaé nicht zu erkennen. Sie wagte nicht, sich zur Seite zu neigen, da sie fürchtete, sonst aus dem Sattel zu fallen. MacDougal folgte den Ausführungen seines Freundes umso genauer.

»Wo ist Kyle?«, wollte er wissen.

Finn markierte eine Stelle im Erdreich. »Sie haben ihn an einen Baum gebunden.«

»In Ordnung. Wir werden uns verteilen und an sie heranpirschen. Mit ein wenig Glück können wir drei von ihnen ausschalten, ehe es zum Kampf kommt.«

»Drei?« Niall sah in die Runde. »Wir sind zu viert, Eòran.«

»Du wirst bei Cinhaé bleiben. Wir können sie nicht allein zurücklassen.« Sie spürte, wie MacDougals Blick ihren Nacken versengte. »Ihr würdet nur Dummheiten machen, nicht wahr?«

Sie schüttelte den Kopf, was er mit einem leisen Lachen quittierte.

»Wie geht es danach weiter?«, wollte Murray wissen.

»Sobald wir Kyle haben, werden wir uns trennen«, erklärte MacDougal. »Ihr verschwindet mit Kyle. Ich nehme Cinhaé mit mir. Ich warte, bis ihr ein paar Stunden Vorsprung habt, dann lasse ich sie frei und folge euch.«

Cinhaé zweifelte nicht daran, dass sie sich am Gehöft treffen würden. Sie brauchten nicht zu fürchten, dass Sheona oder sie ihren Unterschlupf verraten würden, denn auch beim Verlassen des Hauses waren ihre Augen verbunden gewesen. Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre sie nicht imstande, dorthin zurückzufinden.

»Wir lassen die Pferde zurück.« MacDougal saß ab, hob Cinhaé vom Pferd und trug sie zu Niall, um sie vor ihm in den Sattel zu setzen. »Ihr wollt doch freikommen, oder?« Als sie nickte, sagte er: »Dann verhaltet Euch ruhig.« Er sah sie noch einen Moment lang an, dann machte er kehrt, zog sein Schwert und gab seinen Männern ein Zeichen, ihm zu folgen.

Cinhaé hatte nicht vor, Aonghas’ Krieger auf sich aufmerksam zu machen. Allerdings wollte sie auch nicht abwarten, was geschah. Wenn es ihr gelang, Niall zu entkommen, wäre sie nicht nur frei, sondern hätte auch noch ein Pferd.

*

Mit dem Claymore in der Hand huschte Eòran zwischen den Bäumen hindurch. Immer wieder zuckten seine Blicke nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass seine Männer nicht außer Sicht gerieten. Seine Sorge um Kyle, die zuvor bei jedem Schritt präsent gewesen war, hatte er zurückgedrängt. Er war jetzt vollkommen ruhig. Weder Cinhaé noch Kyle fanden Platz in seinen Gedanken. Seine ungeteilte Aufmerksamkeit richtete sich auf das, was ihnen bevorstand.

Vor ihm schälten sich die schemenhaften Umrisse einiger Männer aus dem Grün des Waldes. Eòran hielt im Schatten einer Hochlandtanne inne und gab seinen Männern ein Zeichen, ebenfalls zu verharren. Während die anderen zurückblieben, pirschte Eòran sich durchs Unterholz voran, schlängelte sich zwischen Büschen und Sträuchern hindurch, bemüht, keinen Laut zu verursachen. Am Rande der kleinen Lichtung, auf der MacRaes Krieger Posten bezogen hatten, ließ er sich auf den Bauch nieder und robbte das letzte Stück vorwärts. Zu seiner Erleichterung regnete es immer noch, sodass er nicht fürchten musste, ein verirrter Sonnenstrahl könne sich in der Klinge seines Claymores widerspiegeln und seine Anwesenheit vorzeitig verraten.

Die Männer hatten ihre Pferde am Rande der Lichtung zu Eòrans Linken angebunden. Keinen halben Meter vor ihm war Kyle. Er saß mit dem Rücken an eine Kiefer gelehnt. Die Arme hatten sie ihm um den Stamm herum nach hinten gefesselt. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihm den Sack abzunehmen. Eòran zwang sich, seinen Blick von Kyle zu wenden und sich weiter umzusehen. MacRaes Krieger, die im Zentrum der Lichtung zusammenstanden und sich unterhielten, wirkten nicht sonderlich wachsam. Sie hatten nicht einmal ihre Waffen gezückt. Von Zeit zu Zeit hörte er einen der Männer lachen. Eòran kroch noch näher an Kyle heran. Erst unmittelbar hinter ihm hielt er inne. Kyle bewegte den Kopf.

Eòran kam noch ein Stück näher. »Ich bin es. Eòran«, flüsterte er. »Ich schneide die Stricke durch. Bleib sitzen und gib weiter vor, gefesselt zu sein. Rühr dich nicht, bevor du Lärm hörst. Hast du verstanden?«

Ein leichtes Zucken von Kyles Hand bejahte Eòrans Frage. Eòran legte sein Schwert zu Boden und zog sein Sgian Dubh. Sehr vorsichtig machte er sich damit auf der Rückseite des Stammes an den Fesseln zu schaffen. Er musste sie lösen, ohne dass sie auf der Vorderseite, wo die MacRaes es sehen konnten, zu Boden fielen. Sobald sie nur noch an einem dünnen Faden zusammengehalten wurden, hörte er auf.

»Nur noch ein kräftiger Ruck, dann bist du frei.« Er legte Kyle das Sgian Dubh in die Hand und nahm sein Schwert wieder auf. Sein Blick wanderte über die Lichtung. Niemand hatte etwas bemerkt. Dieses Mal nahm er sich die Zeit, die Männer ein wenig länger zu beobachten. Sie waren nicht ganz so arglos, wie er zunächst angenommen hatte. In unregelmäßigen Abständen lösten sich zwei oder drei aus der Gruppe, schritten den Waldrand ab und sahen zu Eòrans Erleichterung aus der Ferne nach ihrem Gefangenen.

Eòran spielte mit dem Gedanken, einen Kampf zu umgehen und zu versuchen Kyle unbemerkt fortzuschaffen. Das Risiko war jedoch zu groß. Es würde ihnen bestenfalls gelingen, ein paar Meter Vorsprung zu erzielen, ehe die MacRaes sein Verschwinden bemerkten und Alarm schlugen. Dann wären sie ohnehin gezwungen, sich dem Kampf zu stellen. Nur dass wir dann das Überraschungsmoment nicht mehr auf unserer Seite hätten und uns acht Kriegern stellen müssten. Wenn sie sofort angriffen, konnten sie zumindest einige der MacRaes unschädlich machen, bevor es zum offenen Kampf kam.

Nachdem er die Clanskrieger einige Zeit beobachtet hatte, sah sich Eòran um. Ein Stück schräg hinter sich entdeckte er Murray, der im Schatten eines Baumes kauerte, den Blick in ständiger Bewegung zwischen Eòran und der Lichtung. Eòran gab ihm ein Zeichen. Murray nickte knapp, dann wandte er den Kopf und gab die Order wortlos an Finn weiter. Einen Atemzug später kam Bewegung ins Unterholz, als sich die beiden vorsichtig näher heranpirschten. »Halt dich bereit«, raunte er in Kyles Ohr. »Wenn es losgeht, verschwinde aus dem Kampfgetümmel.«

Eòran wartete, bis die MacRaes eine weitere Runde gemacht hatten und zu ihren Kameraden zurückkehrten. Dann richtete er seinen Blick erneut auf Murray, der ihm am nächsten war, und hob die Faust. Murray tat es ihm nach, sodass auch Finn es sehen konnte. Eòrans Arm schnellte nach vorne – der Befehl, loszuschlagen. Gleichzeitig sprang er auf und setzte über den Strauch hinweg, hinter dem er sich verborgen gehalten hatte. Murray und Finn brachen beinahe zeitgleich zwischen den Bäumen hervor.

Mit erhobenem Schwert stürzte sich Eòran auf den ersten MacRae und mähte ihn nieder, ehe der sein Claymore ziehen konnte. Ihm blieb weder Zeit, zu sehen, wie es seinen Männern erging, noch, ob Kyle seine Fesseln gelöst hatte, denn kaum war der Mann vor ihm gefallen, trat ihm ein anderer entgegen und griff an. Eòran parierte den Hieb und stieß die Klinge seines Gegners von sich, nur um sofort selbst zum Angriff überzugehen. Der MacRae duckte sich unter Eòrans Schlag hinweg, machte eine Drehung und holte aus. Eòran, der gerade selbst ein weiteres Mal zum Schlag ansetzte, unterbrach seinen Schwung abrupt. Er duckte sich unter der erhobenen Waffe seines Gegners hindurch und war im Begriff, sein Schwert nach vorne zu stoßen, als er aus dem Augenwinkel den Schatten einer Klinge gewahrte. Er fuhr herum. Stahl raste ihm entgegen. Eòran warf sich zu Boden. Das Claymore fuhr über ihn hinweg, durchschnitt die Luft mit einem atemberaubenden Zischen. Eòran rollte sich zur Seite und sprang sofort wieder auf die Beine. Regenwasser tropfte ihm aus den Haaren und lief ihm in die Augen. Mit einer hastigen Bewegung wischte er sich über das Gesicht. Jetzt sah er sich zwei Männern gegenüber, die sich mit drohend erhobenen Waffen näherten. Seine Augen zuckten von einem zum anderen, während er abzuschätzen versuchte, welcher von ihnen zuerst angreifen würde. Zoll um Zoll schoben sich die Männer näher. Eòrans Blick richtete sich für einen Moment auf einen Punkt hinter den Männern. Da bemerkte er zwei MacRaes, die sich von der Lichtung entfernten – in jene Richtung, in der Niall und Cinhaé warteten. Eòran wich einen Schritt zurück, brachte mehr Abstand zwischen sich und seine Gegner. Rasch verschaffte er sich einen Überblick. Finn war jener Stelle am nächsten, an der die Männer zwischen den Bäumen verschwunden waren. »Finn!« Eòran deutete mit der Schwertspitze in Richtung des Waldes. »Ihnen nach!«

Er sah, wie Murray einen hastigen Angriff gegen Finns Gegner führte, um ihm Freiraum zu verschaffen. Finn rannte los.

»Eòran!«

Kyles Ruf ließ ihn herumfahren. Ein Schwert schoss ihm entgegen. Eòran machte einen Schritt zur Seite. Sein Fuß rutschte im Schlamm weg. Noch im Fallen rollte er sich herum. Nicht schnell genug, um der Klinge zu entgehen. Er wartete auf den unweigerlichen Treffer. Über ihm prallte Stahl auf Stahl. Eòran fuhr herum. Kyle hatte sich das Claymore eines gefallenen Gegners gegriffen und damit die Klinge seines Angreifers in der Luft abgefangen. Jetzt wandte sich der MacRae Kyle zu und trieb ihn mit wuchtigen Hieben zurück. Fluchend sprang Eòran auf die Beine. Kyle mochte imstande sein, sich mit dem Schwert eine Weile zur Wehr zu setzen, doch er war kein Krieger. Schon nach wenigen Schritten hatte sein Angreifer ihn vor einer Baumgruppe in die Enge gedrängt. Eòran wich einem Angriff des zweiten MacRae aus, der noch immer vor ihm stand, und streckte ihn mit einem gezielten Hieb nieder. Die Wucht schleuderte Eòran das Schwert aus der Hand. Vor ihm holte Kyles Gegner zu einem Schlag aus, den er unmöglich würde parieren können.

»Kyle! Runter!« Mit großen Sätzen, auf dem rutschigen Untergrund mehr schlitternd als laufend, erreichte Eòran den MacRae, packte ihn bei der Schulter und riss ihn herum, fort von Kyle. Ehe sein Gegner das Schwert in Position bringen konnte, drosch Eòran ihm die Faust ins Gesicht und schickte ihn zu Boden.

»Schwert!«, rief er Kyle zu und streckte die Hand aus. Kyle, der sich wieder auf die Knie gekämpft hatte, warf ihm das Claymore zu, mit dem er sich eben noch verteidigt hatte. Eòran fing die Waffe auf. Keinen Moment zu früh, denn der MacRae vor ihm hatte sich von seiner Überraschung erholt und griff an. Mit einem Hieb schlug Eòran den Mann nieder. Hastig sah er sich nach weiteren Gegnern um. Es gab keine. Die MacRaes waren besiegt. Eòran reckte Kyle die Hand entgegen und zog ihn auf die Beine.

»Bleib bei den Männern!« Mit dem Schwert in der Hand machte Eòran kehrt und rannte los. »Murray«, rief er, als er die Lichtung überquerte. »Fessle die Überlebenden, dann bring Kyle fort! Ich stoße später zu euch!«

*

Cinhaés Augen wanderten unablässig über den Wald. Sie suchte nach einem geeigneten Fluchtweg, den sie nehmen konnte, sobald sie Niall losgeworden war. Unter der Bewegung war ihr die Kälte nicht aufgefallen, jetzt jedoch, im Schatten der Bäume, wo ihr eine kühle Brise den Regen unablässig ins Gesicht blies, begann sie zu frieren.

Seit MacDougal mit seinen Spießgesellen losgezogen war, wartete sie auf eine Gelegenheit, Niall zu überrumpeln. Seine Aufmerksamkeit müsste nur für einen Augenblick nachlassen. Doch Niall war wachsam. Sein Blick schien unablässig auf sie gerichtet zu sein. Sobald sie auch nur zuckte, verstärkte er den Griff, mit dem er sie trotz ihrer Fesseln hielt. Ohnehin bereiteten ihr die Fesseln das größte Kopfzerbrechen. Wie sollte sie damit den Zügel führen? Aber wie konnte sie die Stricke loswerden? Sie hatte nicht einmal ein Messer! Ich brauche einen scharfkantigen Felsen! Zunächst aber musste sie entkommen!

Ein Geräusch schreckte sie aus ihren Gedanken. Ein Knacken im Unterholz. Niall hatte es auch gehört. Cinhaé spürte, wie er sich hinter ihr im Sattel umwandte.

»Verflucht!« Er riss das Pferd herum.

Das Tier stieg wiehernd auf. Cinhaé wurde nach hinten geworfen, prallte gegen Nialls Brust und wurde wieder nach vorne geschleudert. Niall packte sie am Arm, ehe sie stürzen konnte. Die Hufe des Tiers fanden auf den Boden zurück. Die Gefahr eines Sturzes war abgewendet, da sah sie sich plötzlich Aonghas’ Männern gegenüber, die sich in ihrem Rücken angeschlichen hatten. Zwei schlammverschmierte Clanskrieger. Der vordere hatte mit dem Claymore zum Schlag ausgeholt. Der Knebel dämpfte Cinhaés Schrei, als ihr die Klinge entgegenraste.

»Pass auf! Die Frau!«, rief der hintere der beiden.

Cinhaé sah den Schrecken in den Augen ihres Angreifers, ein Spiegelbild ihres eigenen Entsetzens. Er versuchte das Schwert herumzureißen. Aber es war zu spät. Der Schlag würde sie unweigerlich treffen. Niall reagierte blitzschnell. Er verpasste ihr einen Stoß. Cinhaé sah noch, wie die Klinge Nialls Bein traf, dann wurde sie zu Boden geschleudert. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen. Die gefesselten Arme gruben sich in ihre Rippen. Rasender Schmerz explodierte in ihrem Knöchel. Dann verschwamm die Welt.

Als sie wieder zu sich kam, schien sich der lodernde Schmerz von ihrem Fuß auf den gesamten Körper ausgebreitet zu haben. Keuchend rang sie um Atem. Da erst wurde ihr bewusst, dass der Strick, der ihren Knebel an Ort und Stelle halten sollte, verrutscht war und jetzt lose um ihren Hals hing. Sie spuckte das Tuch aus und schnappte nach Luft. Undeutlich war sie sich bewusst, dass nicht weit von ihr entfernt ein Kampf tobte. Sie erinnerte sich an den Schrecken der beiden Männer. Er hat mich nicht absichtlich angegriffen. Sie haben mich nicht gesehen. Dann war sie nicht in Gefahr. Das war die Gelegenheit! Solange Niall in den Kampf verwickelt war, konnte er nicht auf sie achtgeben.