Inhalt

Cover

Titel

Vorwort

Der Biss in das Vollkommene

Zur Symbolik des Apfels

Die Freiheit davor und die danach

Was bringt und was nimmt der Sündenfall?

Die Versuchung gilt dem Ich des Menschen

Wie das Verbotene uns angeht

Ein Verbot, das Erkenntnis schafft

Logik gibt es erst nach dem Fall

Verstellung

Die Entdeckung des Als-ob

Die Macht des Lachens

Zwischen Spott und Spiritualität

Die halbe Klugheit

Oder: Keine Erkenntnis ohne Sterblichkeit

Zwischen Schuld und Unschuld

Das Mysterium der Ich-Werdung des Menschen

Geschlechtertrennung

Mythos und Evolution

Scham

Schutz der Intimsphäre und Spiegel unseres höheren Selbst

Puppe, Bär und Dornauszieher

Bilder des verlorenen Paradieses?

Was wäre, wenn …

… der Mensch nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen hätte?

Erbsünde

Verteidigung eines unmöglichen Begriffs

Ist es die Angst, die böse macht?

Oder: Wie schwindelig macht die Freiheit?

Der besondere Ausgleich und das soziale Hauptgesetz

Überwindungen des Sündenfalls

Neues Vertrauen finden

Karma als Zusammenhang der Welt der Sinne und des Geistes

Impressum

Über die Autorin

Weitere Titel

Fußnoten

Vorwort

Es ist schon eine Generation her, da saßen mein späterer Mann und ich auf dem Balkon und aßen Apfelkuchen. Den hatte ich mit den Gravensteinern – einer sehr feinen alten Sorte – aus dem Garten meiner Eltern gebacken. Wir kannten uns noch wenig, nur aus einem philosophischen Seminar an der Uni. So war diese Begegnung auch mehr ein Tasten nach den Themen und dem Leben des anderen. Und bald war ich bei dem Thema, das mich damals schon viel beschäftigte: die »Unordnung«, welche das Bewusstsein in der »natürlichen Grazie des Menschen« angerichtet hat. – So drückt Heinrich von Kleist in seiner berühmten Schrift Über das Marionettentheater die Tatsache aus, dass wir das Paradies verloren haben. Mein Freund kannte dieses Stück Literatur damals noch nicht, aber er verstand gleich, worum es geht: um den Abstand nämlich, den wir durch unser Bewusstsein zur Welt und zu uns selbst haben. Wir sind nicht mehr eins mit der Welt und ziehen daraus den Vorteil der offenen Augen und den Nachteil der Verunsicherung im Leben. Dieses Bewusstsein ist Grund für alles, was uns wichtig ist: für jede echte Beziehung, für alles Streben, für unsere Schaffenskraft, für das Lachen, das oft Abstand braucht, und natürlich für die Freiheit; aber auch für die Besonderheit jedes Augenblicks, weil es, seit dem wir zu Bewusstsein gekommen sind, den Tod gibt und wir eine Geschichte haben.

Woran wir da gewiss nicht dachten, das war das klerikale Urteil »schuldig«. Und auch in diesem Buch hat das Thema »Sündenfall« nichts mit einer Verurteilung des Menschen wegen Ungehorsams zu tun. Gleichwohl: Ein pauschales »Ich kann doch nichts dafür« stimmt auch nicht. – Das ist es eben, dass wir es hier mit einer Tat zu tun haben, die wir weder ganz noch gar nicht zurechnen können.

Gern hätte ich ein anderes Wort für das, wovon das dritte Kapitel im ersten Buch Mose spricht, bin da aber sprachlos bis heute. Dennoch lässt sich unendlich viel zu diesem Thema sagen. Die vorliegenden kleinen Texte sind Aspekte dazu. Sie erschienen 2014 in der Zeitschrift Die Christengemeinschaft und wurden für die Buchfassung überarbeitet und ergänzt. Fertig bin ich damit nicht, aber irgendwann muss es auch mal gut sein.

»Unser Sündenfall ist die Poesie unseres Falls«, hat der israelische Aphoristiker Elazar Benyoëtz gesagt und mit »Fall« dabei auch unsere Tatsächlichkeit, also die Wirklichkeit menschlicher Existenz gemeint. Dafür, dass uns für die Poesie unserer Existenz der Stoff nicht ausgeht, ist durch jene Urtat gesorgt. Mein Mann und ich kommen bis heute immer wieder auf das Thema. Dafür hat damals der Apfelkuchen und der Aufsatz von Kleist, den ich ihm dann auslieh, gesorgt.

Ruth Ewertowski

Im März 2015

Der Biss in das Vollkommene

Zur Symbolik des Apfels

Keine andere Frucht hat eine solche Symbolkraft wie der Apfel. In der Mythologie ist er vielfältig präsent und richtet Dinge an, die man nicht von ihm erwartet hätte.

Der goldene Zankapfel etwa, den Eris, die Göttin der Zwietracht, unter eine Festgesellschaft wirft, zu der sie nicht eingeladen war, trägt die Inschrift: »Der Schönsten«. Das führt zu Schwierigkeiten, denn eine der Schönen, Aphrodite nämlich, die neben Hera und Athene Anspruch auf diesen Apfel erhebt, hatte Paris, der entscheiden soll, mit der Aussicht auf die schöne Helena bestochen, damit er ihn ihr zuspricht. Tatsächlich bekommt Aphrodite den Apfel und Paris die Helena, die aber die Frau des Menelaos ist. Das löst dann bekanntlich den Trojanischen Krieg aus.

Der Fruchtbarkeitsgott Dionysos war einst der Schöpfer des Apfelbaumes. Er hatte ihn tatsächlich schon von Anfang an der Aphrodite zugedacht: als Sinnbild ihrer Schönheit und Liebe.

Gaia, die Erdmutter, schenkte Hera zu ihrer Hochzeit mit Zeus einen goldenen Apfel, aus dem später die goldenen Äpfel der Hesperiden hervorgingen. Gemeinsam mit einem Drachen bewachen die Nymphen diese Äpfel in ihrem Garten. Herakles weiß zwar, sie mit einer List zu stehlen, Athene aber bringt sie schließlich wieder zurück in den Garten. Die Äpfel sind heilig und notwendig, denn sie sind es, die den Göttern ewige Jugend verleihen – ein Motiv, das sich in verschiedenen Kulturkreisen wiederfindet, so etwa auch bei den Gestalten des nordischen Götterhimmels. Hier hütet die Asin Iduna die ebenso köstlichen wie lebenswichtigen Früchte. Gehen die Äpfel verloren, so vergreisen die Götter – eine Bedeutung, die auch die Geschichte von Richard Wagners Rheingold mit bestimmt.

Im Umfeld der Artussage spielt das mythische Land »Avalon« eine Rolle, jene keltische Anderswelt, die sowohl ein Ort der Seligkeit und Sitz vieler Helden ist, als auch Anklänge an das Totenreich hat, obgleich es dort weder Tod noch Krankheit gibt. Es ist eine Jenseitswelt, dieses Avalon. Der Name bedeutet »Ort der Äpfel« oder »Apfelgarten«. Als solches hat es einige Gemeinsamkeit mit dem christlichen Paradies.

Seine Annäherung an die Kugelgestalt, die lange Zeit als die vollkommenste Form überhaupt galt, macht den Apfel auch zu einem Symbol der Erde und des Kosmos. In seinem Rund sind sich Anfang und Ende gleich. Es liegt Ewigkeit darin. Als Reichsapfel verkörpert er die Herrschaft über die Welt. Dass dem Apfel im Reichsapfel noch ein Kreuz aufgesetzt ist, erhebt dabei den Anspruch auf eine christliche Herrschaft.

Der Apfel ist ebenso sehr ein Symbol des Lebens, der Schönheit und der Fruchtbarkeit wie auf der anderen Seite auch des Zanks, der Macht und des Todes. Das Bedeutungsfeld dazwischen mag in der Erkenntnis und der Weisheit liegen, die sein Genuss gewährt. Das Essen des Apfels hat etwas Magisches, denn es verleiht wie ein Zaubertrank Kräfte in der einen oder anderen Richtung.

Was der Apfel bedeutet, hängt vom Kontext ab. Im Zusammenhang mit Adam und Eva und der Schlange ist er Sinnbild für Versuchung, Sünde und Tod. In den Händen Christi steht er für die Befreiung von den Folgen des Sündenfalls. Bilder, auf denen Maria dem Jesuskind einen Apfel reicht, sind typisch für das späte Mittelalter und kündigen den Erlöser an, der die Auferstehung bringt.

Die Frucht vom Baum der Erkenntnis

Bei all seiner Bedeutungsvielfalt denken wir doch spontan bei der Sache mit dem Apfel1 an das Essen vom Baum der Erkenntnis, der uns als Apfelbaum vor dem inneren Auge steht, obgleich im biblischen Text nur unbestimmt von »Früchten« die Rede ist und auch eine Feige gut in Frage kommt, da sich Adam und Eva nach dem Genuss der Frucht mit Feigenblättern bedecken. In der christlichen Ikonografie allerdings findet sich fast ausschließlich der Apfel. Die Parallele vom lateinischen »malum« = Apfel und »malum« = das Böse mag auch eine gewisse Rolle gespielt haben und jenen zweifach übersetzbaren Spruch »malum ex malo« – »Aus Bösem erwächst Böses« bzw. »Das Böse kommt vom Apfel« – veranlasst haben. Doch ist diese Verbindung viel abstrakter als die bildliche Vorstellung der runden Frucht, in die zu beißen schon etwas von einer Grenzüberschreitung hat, wird doch ein Rundes, ein in sich Vollkommenes dadurch in seiner Unversehrt- und Unberührtheit beschädigt. Eine Birne oder Banane kann man sich am Baum der Erkenntnis nun gewiss nicht vorstellen. Und Datteln oder Feigen, die in der altorientalischen oder jüdischen Überlieferung eine gewisse Rolle spielen, bleiben mit ihrer Form und Größe doch weit hinter dem Potential des Apfels zurück. Und Kirschen, die etwas Verführerisches haben mögen, sind für den Biss zu klein. Sie zeugen mehr von Naschhaftigkeit als von einer Tat, deren Bedeutung umwälzend ist. Wenn aber Persephone in der Unterwelt, wo sie nichts hätte essen dürfen, um wieder ganz ans Licht des Tages zu kommen, nur einen Granatapfelkern aß, so ist damit in der Geste das Verhältnis von kleinster Ursache und größter Wirkung zum Ausdruck gebracht und ein Symbol befestigt, das für den Vegetationswechsel mit dem Tod im Winter und der Auferstehung im Frühjahr steht.

Gäbe es das Glück, das Lachen, die Erfüllung ohne das Essen vom Apfel?

Ist die Rede vom »Sündenfall«, so wird dies heute meist als unzeitgemäß »katholisch« empfunden. Vor allem vielleicht, weil man sich von keiner Institution eine Schuld oder Sünde zuschreiben lassen will, die man gar nicht als die eigene wahrnimmt und mit der man vielleicht nur über ein notorisch schlechtes Gewissen in Schach gehalten werden soll. Insbesondere die Rede von der »Erbsünde« hat etwas empörend Verklagendes, gegen das sich der Einzelne, der nicht getan hat, was sein Vorfahre getan hat, wehren muss. Auch steht der »Sündenfall« allein für die Seite des Unheils einer mythischen Urbegebenheit, während »die Sache mit dem Apfel« schon auf eine gewisse rhetorisch ironische Distanz geht und zudem eine Leichtigkeit hat, die nicht nur an Tod, Schuld, Krankheit, Irrtum, Egoismus, Gottferne und überhaupt an die von tausend Übeln durchsetzte Unvollkommenheit unserer Werdewelt denken lässt. Es geht ja tatsächlich mit jener so anschaulichen Erzählung vom Beginn menschlichen Bewusstseins nicht nur um eine Daseinsminderung, sondern auch um Daseinssteigerung. Dem Verlust steht einiges an Gewinn gegenüber, und was die Schlange versprach, war nicht nur gelogen: Es werden ja wirklich die Augen aufgetan, Gut und Böse werden erkannt und ein Sein wie Gott wird in gewisser Weise möglich, denn Erkennen und Schaffen werden Fähigkeiten des Menschen. Tatsächlich wird vor allem auch das erreicht, was man spätestens seit der Aufklärung zu betonen nicht müde wird, nämlich eine mündige Lebensführung, die gar nichts mit jener Hybris zu tun haben muss, die dem Menschen in traditionellen Deutungen vorgeworfen wird.

Gäbe es überhaupt menschliche Schöpferkraft, wenn der Mensch nicht von jener Frucht gegessen hätte? Gäbe es die Wissenschaft? Die Kunst? Könnte man Schönheit erleben, ohne das Bewusstsein, das erst die geöffneten Augen bringen? Gäbe es das Glück, das Lachen, die Erfüllung ohne den Fall? Gäbe es die Liebe, die erst dann, wenn sie kein bloßer Instinkt mehr ist, jenen Geist haben kann, der sie zum Größten macht, was zwischen Menschen und zwischen Mensch und Gott möglich ist? – Nein, all das gäbe es nicht, wenn der Mensch nicht jenen Schritt getan hätte, zu dem er den Fuß außerhalb unseres rationalen Denkens gehoben hat, um ihn in diesem auf den Boden zu setzen. In diesem Moment verliert er die reflexionslose Übereinstimmung mit sich und der Welt und gewinnt einen Abstand, mit dem er erst ein bewusst und moralisch handelndes Wesen wird. Erst, wenn er unmoralisch handeln kann, kann er auch gut sein. Erst, wenn wir in jenen Abstand zu uns selbst treten können, können wir die Wahrheit sagen oder lügen. Wir können so tun als ob …, zwischen Schein und Sein unterscheiden und beides miteinander verwechseln, unseren Vorteil suchen, das Vertrauen verspielen und verlieren, zweifeln und: dabei wissen, wie kostbar und wunderbar Vertrauen ist, von dem wir keine Ahnung haben, solange wir es nicht verloren haben. Wir können dann auch versuchen, die Dinge wieder zusammenzuführen, Übereinstimmung herzustellen und das Glück der Einigkeit, der geschlossenen Lücke erleben. Der Fall, der in einen existentiellen Notstand geführt hat, ist zugleich, wie es Friedrich Schiller nennt, ein »Riesenschritt der Menschheit«. Wir verfehlen seine Bedeutung nur, wenn wir ihn einseitig sehen. Dann verspielen wir auch die Chance auf die Erweiterung des Bewusstseins, die nur zu erreichen ist, wenn man die Spanne des Sowohl-als-auch zu denken versucht.

Die Sache mit dem Apfel führt erst eigentlich in ein Verständnis von uns selbst: und dabei in ein Selbst, das wir gespalten finden, nämlich in ein sogenanntes »niederes« und ein »höheres«. Wir sind erst eigentlich unterwegs zu einem höheren Bewusstsein, wenn wir bei dieser Zweiteilung nicht stehen bleiben. Denn das niedere ist nicht einfach das Schlechte und das höhere nicht einfach das Gute, sondern gut im umfassenden Sinn ist unser Weg vom einen zum anderen. Es ist ein Weg, der uns mit der Inkarnation, mit dem Eintritt des Geistigen ins materiell Leibliche aufgegeben ist. In ihm liegt, wie im Biss in das Vollkommene, ein Bewusstsein der Schwelle.

Die Freiheit davor und die danach

Was bringt und was nimmt der Sündenfall?

Für den Kirchenvater Augustin (354  430) war der Fall klar: Gott hat den Menschen gut geschaffen, und dazu gehört, dass er ihm den freien Willen gab. Der Mensch war frei, bevor er sich der Versuchung ergab. Der Grund dafür, dass er nicht widerstand, liegt in seinem Hochmut. Der Mensch wollte sein eigener Herr sein und löste sich deshalb aus dem göttlichen Urgrund, dem er doch eingewurzelt hätte bleiben sollen. »Das geschieht«, so Augustin, »wenn der Geist sich selbst zu sehr gefällt. Dann aber gefällt er so sich selbst, wenn er sich von jenem unwandelbaren Gut abwendet, das ihm mehr gefallen sollte als er sich selbst. Diese Abkehr aber ist freiwillig.«2 Die Folge ist, dass der Mensch die Freiheit verliert. Er ist dem Tod unterworfen, kann nicht mehr gerecht sein, nicht mehr frei von all jenen Antrieben, die ihn immer wieder schuldig werden lassen. Er ist unfrei, weil er unfähig geworden ist, seinen Seelenkräften die richtige Orientierung zu geben.

Heute sehen wir die Sache gewöhnlich anders: Für uns beginnt die Freiheit mit jenem mythischen Urschritt, der uns aus der bloßen Natur und der Unterworfenheit unter die Instinkte in ein (selbst)bewusstes und verantwortliches Dasein geführt hat. Erst mit der Erkenntnis von Gut und Böse wird der Mensch ein moralisches Wesen. Jetzt erst kann er sein Leben in die Hand nehmen und sich entscheiden, bewähren und entwickeln.