Cover

Michael Degen

Familienbande

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Michael Degen

Michael Degen, 1932 in Chemnitz geboren, Schauspieler und Schriftsteller, überlebte den Nationalsozialismus mit seiner Mutter im Berliner Untergrund. Nach dem Krieg absolvierte er eine Ausbildung am Deutschen Theater in Berlin. Er trat an allen großen Bühnen auf und arbeitete mit Regisseuren wie Ingmar Bergman, Peter Zadek und George Tabori zusammen. Seine Autobiographie «Nicht alle waren Mörder» (1999) wurde zum Bestseller; zuletzt erschien «Mein heiliges Land. Auf der Suche nach meinem verlorenen Bruder» (2007).

Über dieses Buch

Er wütete und tobte, trank und frönte dem Exzess – doch vom übermächtigen Vater vermochte sich Michael Mann, genannt Bibi, sein Leben lang nicht zu befreien. Meisterhaft erzählt Michael Degen das Leben des ebenso exzentrischen wie hochbegabten jüngsten Sohnes von Thomas Mann: seine Kindheit im lieblosen Elternhaus, im kalten Zauber des Großschriftstellers, die Jugendjahre im Schweizer Exil, wo er seiner zukünftigen Frau Gret Moser begegnet, seine internationale Karriere als Bratschist. Dann ein plötzlicher Bruch – Michael Mann wird Professor für Germanistik in Berkeley und widmet sich bald dem Werk seines Vaters, um dessen Zuneigung er stets vergeblich gebuhlt hatte. Mit nur siebenundfünfzig Jahren stirbt er an einer fatalen Mischung von Alkohol und Schlafmitteln. Als die greise Mutter Katia von seinem mutmaßlichen Freitod erfährt, meint sie nur: «Er hat ja eigentlich nicht alt werden wollen.» Wo viel Licht ist, da ist auch viel Schatten. Michael Mann konnte nie aus dem Schatten seines Vaters treten. «Familienbande» erzählt sein Leben als Geschichte eines stillen Machtkampfes, eines Daseins, das im Bann allzu großer Talente und Einflüsse zerstört wird. Ein starker, opulenter und anrührender Roman über die Familie Mann – von Bestsellerautor Michael Degen.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Zitat S. 7 u. S. 465: Thomas Mann, Tagebücher 1918–1921, S. Fischer Verlag, 1979, S. 209

Zitat S. 134: Thomas Mann, Gesammelte Werke III, S. Fischer Verlag, 1960, S. 24, Zitat S. 468: Thomas Mann, Briefe 1948–1955 und Nachlese, Aufbau Verlag, 1968, S. 18, © S. Fischer Verlag

Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann

(Foto: Monacensia, München)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-87134-633-0 (1. Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-10881-3

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-10881-3

Wie immer – für Suse

«… so ist festzustellen, daß ich für den Knaben bei Weitem die Zärtlichkeit nicht aufbringe, wie vom ersten Augenblick an für Lisa, – was Wunder nehmen könnte.»

Aus dem Tagebuch von Thomas Mann

Eins

Der Kruzifixus

Er war von Beginn an nicht sehr erbaut darüber, dass man ihn in diese Welt geworfen hatte. Unter Beihilfe eines Vaters, damals schon fast weltberühmt, und einer Mutter, deren ausschließlicher Lebensinhalt ebendieser Vater war.

Misstrauisch beäugte er seine Eltern und verbrüllte fast sein ganzes Babydasein. Dieser wütende Protest mochte vielleicht auch daher kommen, dass er sich mit der Lieblosigkeit seiner Umgebung nicht abfinden wollte. Sobald das unbewegte, kühläugige Gesicht seines Erzeugers über ihm auftauchte, schrie er vor Schreck auf. Diese ausdruckslose Miene versetzte ihn in Wut und Angst. Schon bald versuchte er, mit seinen strampelnden Beinchen das Gesicht über sich zu erreichen. Vergebens. Dafür schrie er. Und wie! Der Vater äußerte einmal, dass der Junge ihn ebenso wenig leiden könne wie er ihn. Am liebsten hätte er sich wohl zum Söhnchen ins Bett gelegt und auf ähnliche Weise gestrampelt. Aber das mochte er überhaupt nicht aussprechen. Schon gar nicht der Mutter gegenüber.

Das widerliche Geschöpf brüllte mit Lust und Energie über Zeiträume hinweg, die erstaunlich waren. Mutter Mielein tastete ihr Kind von oben bis unten ab, betrachtete immer wieder sein ausgeprägtes Geschlecht und betonte wiederholt, dass Buben, im Gegensatz zu kleinen Mädchen, eigentlich viel stiller und gelassener wären. Langsam kam ihr der Gedanke, dass er bei der Geburt innere Verletzungen davongetragen haben könnte. Hatte der Bub sie doch nach dem Platzen der Fruchtblase und den einsetzenden Eröffnungswehen beinahe zerrissen, sodass er mit der Zange herausgezogen werden musste. Doktor Amman, den sie umgehend konsultierte, und auch die Köckenberg, eine sehr brauchbare Amme, konnten sie nur mit Mühe beruhigen. Es sei alles im Lot, versicherte man ihr nach eingehender Untersuchung. Der Junge sei nun einmal mit einem enormen Temperament gesegnet. Das werde sich später noch sehr positiv niederschlagen. «Oder auch nicht», sagte Vater Pielein, dem die geradezu groteske Hässlichkeit des Sohnes sehr zu schaffen machte.

Einige Tage später fand er ihn schon ein wenig anziehender, denn die rechteckig in die Länge gezogene Kopfform hatte sich etwas normalisiert. Doch die Augen – nun ja. Die Augen hatten zwar die bläuliche Färbung seiner um ein Jahr älteren Schwester, verwässerten aber bald zu einem langweiligen Grau und konnten nie das einmalige schwesterliche Strahlen erreichen. Pielein hatte zeitweilig den Eindruck, als wäre ihnen, Mielein und Pielein, nicht mehr als ein billiger Abklatsch der kleinen Lisa, ihrem «Medi», gelungen.

Bald verlangte der Junge äußerst geschickt nach der Brust Mieleins. Dem Vater war es ein Gräuel, Derartiges mit ansehen zu müssen. Er floh vor dem unerklärlichen Ekel, den ihm das männliche Gebaren des Säuglings einflößte. Man fing an, sich aus ordinärer Watte birnenförmige Ohrstöpsel zu drehen, doch das reichte nicht hin. Dann ging man dazu über, die damals gerade aufkommenden Damenbinden zu zerfleddern, deren Material der ältesten Schwester, Eri, undurchlässiger zu sein schien und die sie mit großer Sorgfalt zu winzigen Kügelchen verarbeitete. Es war alles umsonst. Babys Stimme wurde von Nacht zu Nacht kräftiger und ließ besonders Pielein, den kreativen Großverdiener der Familie, leiden. Wenn dieser die Beherrschung zu verlieren drohte und Anstalten machte, in Babys Zimmer zu stürzen, um es zur Ordnung zu rufen, stand immer schon Mielein mit besorgtem Blick in der Tür und bat stumm um Nachsicht. Hilflos kehrte Pielein dann in sein Zimmer zurück, während Mielein den Jungen zu sich ins Bett hinüberrettete. Das hatte stets Erfolg.

Doch die ungewohnte Stille machte es nicht einfacher. Die großen Geschwister, Klaus und Erika, waren hellwach, saßen im Flur vor ihren Zimmern auf dem Boden und warteten kichernd auf den nächsten Anfall ihres kleinen Bruders. Der kam prompt, sobald Mielein den Schlafenden in sein Bett zurückzutragen versuchte. Dann vergrub Aissi, wie man den ältesten Sohn nannte, seinen spitz zulaufenden Nasenerker im Schoß seiner Schwester, um sein hemmungsloses Gelächter zu ersticken. Er wusste, dass Eri sich besser in der Gewalt hatte als er sich. War sie doch weit eher nach Mielein geraten. Zwar sah man auch ihrer Nase die Lübecker Herkunft an, auch übte sie sich schon früh in der undurchsichtigen Mimik väterlicher Tradition, aber die dunklen Augen der Mutter machten ihr Gesicht weicher, morgenländischer. Hier kam die mütterliche Herkunft ans Licht, veredelt durch eine alttestamentarische Melancholie, die sich im Gesicht des jungen Mädchens widerspiegelte.

Wie auch immer. Während sie ihren Jüngsten erneut zu beruhigen suchte, dachte Mielein darüber nach, was es wohl war, das ihn so permanent aus der Fassung brachte. Sie sah sich im Kinderzimmer um und schob das Bettchen mitsamt dem kleinen Michael an die Längswand des Raumes, denn sie hatte irgendwann einmal gehört, dass Schlafstätten häufig ungünstig zu unterirdischen Quellen oder Flussläufen standen, die es allerorten geben sollte. Pielein hielt das zwar für abergläubischen Blödsinn, konnte sie aber nicht davon abbringen und ließ sie ihr Geschiebe fortsetzen, an dem der Kleine offensichtlich Spaß hatte – und obendrein noch zusätzlichen Grund zum Protest, wenn die Bettfahrten aufhörten. Mielein wusste am Ende gar nicht mehr, wogegen er eigentlich anbrüllte. Pielein setzte sich wochenlang zu Freund Richter nach Feldafing ab, um wieder seine streng eingeteilten Tagesabläufe – Kreationsschübe, Spaziergänge, Musikanimationen, Lesestunden und Nachmittagsruhe – aufnehmen zu können, während die Kinder, vor allem die beiden ältesten, sich bemühten, ihrer Mutter unter die Arme zu greifen und den kleinen Brüller zu beschäftigen. Sie beobachteten ihn, lasen in seinem Mienenspiel, wann er wieder in die Windeln machte, und schlossen Wetten darüber ab, ob es Pipi oder A-A wäre, bei dem er sich gerade abmühte. Das darauffolgende «Pipi»- und «A-A»-Geschrei der beiden machte Eindruck auf den Kleinen. Weiß der Himmel, warum er sich eines Tages ausgerechnet «Pipi» zum Einstieg in die sprachliche Verständigung wählte. Das explosive «P» schien ihm allerdings einige Schwierigkeiten zu bereiten, denn er ersetzte es durch ein weiches «B» und schrie sein triumphierendes «Bibi» heraus, um wenig später in höllisches Greinen auszubrechen, weil ihn die kalt werdende Nässe zu quälen begann. Dabei hatte seine Schwester Medi doch gerade jubelnd die Arme hochgeworfen.

Bibi, so wurde er fortan von allen fünf Geschwistern genannt, und allmählich übernahmen das auch die Eltern, schrie – trotz ständig wechselnder Bettstellungen – weiterhin die Nächte durch, wenn Mielein ihn nicht zu sich ins Bett nahm, was ihren eigenen Schlaf erheblich störte. In heller Verzweiflung schob sie schließlich das Gitterbettchen Bibis in ihr Zimmer, und siehe da, er schlief gleich darauf friedlich ein. In seinem Bett, gegen das er doch eben noch so wütend mit den Beinchen angestrampelt hatte. «Es muss sich demnach etwas in seinem Zimmer befinden, das ihn so sehr irritiert», sagte sich Mielein, verließ ihr Schlafzimmer mit dem schlummernden Bibi darin und betrat das seine. Immer horchend, ob der Jüngste drüben nicht aufwachte und sein Brüllen wieder aufnähme, schaute sie sich um. Fest entschlossen, jeden Gegenstand im Raum einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, stellte sie den Stuhl, den Pielein irgendwann einmal hereingebracht hatte, um den Jungen in der Nacht zu beobachten, mitten ins Zimmer und setzte sich darauf.

Ohne das Bett wirkte das Zimmer größer, übersichtlicher. Wickelkommode, Cremedosen, die kleine emaillierte Badewanne – nichts schien ihr, auch aus dem Blickwinkel des Kleinen, anstößig oder gar angsteinflößend zu sein. Die Kronleuchterimitation an der hohen, mit Stuck verzierten Zimmerdecke glitzerte hell und freundlich. Sicher eher ein anziehender Anblick für Kinderaugen. Konnte der Stuhl, auf dem sie saß, ihn beunruhigen? Identifizierte er ihn mit dem unduldsamen und gestrengen Vater? Aber nein, der Stuhl war ja überhaupt erst auf Grund des lautstarken Babyprotests hineingestellt worden. Schließlich blieb ihr Blick an dem bemalten Kruzifix hängen, das an der Wand, an der sein Bettchen gestanden hatte, angebracht worden war. Ein Teil der Einrichtung, den sie bislang nie bewusst wahrgenommen hatte und der wohl weniger als religiöses Mahnmal denn als allzu realistisch bemalter Kunstgegenstand gedacht war. Das schmerzverzerrte Gesicht des «Marterl», die Blutstropfen, die ihm über Wangen und Kinn liefen, mochten für das sensible Kinderauge schon eine Zumutung sein. Denn dieser mosaisch geprägte, quälend ausdrucksvolle Männerkopf jagte auch ihr einen Schrecken ein, jetzt, da sie ihn so bewusst betrachtete. Sie stand auf, war gezwungen, den Stuhl unter das Kruzifix zu stellen, um es auf Augenhöhe ansehen zu können, und nahm es kurz entschlossen herunter. «Ein Kunstgegenstand, nichts als ein Kunstgegenstand», sagte sie sich, während sie es auf dem Boden ihres Kleiderschranks verstaute. Und auch das scharrende Geräusch, das sie dabei verursachte, weckte den Kleinen nicht auf.

Am nächsten Tag schob sie das Bett des Kleinen wieder an seinen Platz im Kinderzimmer, und nicht einmal Böllerschüsse hätten Bibi in der folgenden Nacht wecken können.

Als Pielein sich nach seiner vierzehntägigen Abwesenheit wieder zu Hause sehen ließ – Mielein hatte ihm brieflich die Beruhigung Bibis mitgeteilt –, betrat er das Zimmer seines Jüngsten, um sich von dessen Tiefschlaf zu überzeugen. Doch sogleich zeigte er sich irritiert: «Irgendetwas ist hier verändert», murmelte er leise, während er sich umschaute.

«Der Stuhl», fiel Mielein ihm flüsternd ins Wort, «der Stuhl, den du hereingebracht hast. Ich habe ihn wieder an seinen Platz ins Arbeitszimmer gestellt.»

«Nein, nein», er schüttelte den Kopf, und sein Blick blieb an der leeren Wand über dem Bettchen haften. Er drehte sich zu Mielein um und sah ihr in die Augen. «Du verzeihst, aber ich vermisse eine sehr kostbare Schnitzerei, die ich auf meiner ersten Italienreise erstanden habe. Ein Kruzifix von seltsam intensivem Ausdruck und äußerst ungewöhnlicher Ausführung. Ähnlich der Arbeitsweise unseres deutschen Herrgottschnitzers, des Tilman Riemenschneider. Obwohl, wenn ich es recht bedenke, doch eine Spur zu italienisch, zu leichtfertig in der Farbgebung. Wie gesagt, ich vermisse es. Es war gewissermaßen als Gabe für den Neugeborenen gedacht, zum Eintritt ins Leben und in einen bestimmten Kulturkreis, meine Liebe.» Er ließ den Blick nicht von ihr.

Sie eröffnete ihm daraufhin, dass sie es herabgenommen habe, weil es als eindeutig erwiesen gelte, dass dieses bluttriefende Männlein am Kreuz die Ursache für die schlimmen Irritationen Bibis gewesen sei. «Du siehst ja», sie deutete mit der Hand auf den schlafenden Knaben, «wie friedlich er ist.»

Pielein ließ sich auf dem Stuhl nieder und betrachtete seinen Jüngsten ohne Sympathie. Seine sonst so kühlen grauen Augen hatten eine dunkle Färbung angenommen, und seine Finger zupften an seinem makellos gepflegten Schnurrbart. Mielein stand schweigend hinter ihm und blickte über seine Schulter hinweg in den Raum. Merkte er denn gar nicht, wie müde sie war? Wie sehr ihr schon wieder die geschwollenen Beine zu schaffen machten? Nachdenklich ergriff er ihre Hand, mit der sie sich vorsichtig auf die Stuhllehne stützte. «Das halte ich doch für sehr unüberlegt, meine Liebe», begann er flüsternd, ohne sich ihr zuzuwenden. «Du solltest bedenken, dass der Junge in unseren abendländischen Kulturkreis hineingeboren und unter Berücksichtigung dieser Tatsache erzogen werden sollte. Nachsicht gegenüber kindlichen, um nicht zu sagen, kindischen Aversionen wäre völlig unangebracht. Auf die Dauer würde er nur Schaden daran nehmen.»

«Auf welche Weise würde er denn Schaden nehmen?», fragte Mielein mit zusammengebissenen Zähnen, während sie das schmerzende Standbein wechselte.

«Durch schlampigen Umgang mit den religiösen, politischen oder kulturellen Werten, die sich nun einmal in diesem Umfeld hier entwickelt haben», erwiderte er. «Wir sollten gerade bei den Knaben auf konsequente Erziehung achten. Derart vernachlässigte Kinder können für Denkanstöße von falscher Seite sehr empfänglich sein. Er wird es uns später einmal danken, dass wir ihn zu einem vernünftigen Mitglied unserer europäisch-christlichen Kultur erzogen haben.»

«Du wirst mir aber doch wohl zugeben, dass die abendländische Kultur nicht nur auf der christlichen basiert», widersprach Mielein. Ihr Flüsterton hatte sich zu einem aggressiven Zischen gesteigert.

Auch Pielein wurde zusehends nervöser. Und lauter. «Ich habe nicht die Absicht …»

Mielein hielt – «Pssst!» – flüsternd den Zeigefinger vor die Lippen.

«Ich habe nicht die Absicht», wiederholte er leiser, «eine prozentuale Aufrechnung in Bezug auf Einfluss oder Prägung religiöser und anderer Weltanschauungen zu diskutieren. Das scheint mir überdies auch nicht der passende Ort dafür zu sein. Mir geht es einzig und allein darum, was hier und jetzt in unserer Zeit den Ton angibt. Du brauchst nur am Morgen einmal den Kopf aus dem Fenster zu halten, um zu erkennen, wer das Sagen hat. Bei uns in Bayern hörst du sie sogar durch die geschlossenen Scheiben. Wer käme gegen diese Glocken an? Etwa das Geschrei der Muezzins oder der weinerliche Singsang aus einer Synagoge?»

«Mir geht es nicht um die dominante Stellung der Kirche in unserem Lande, sondern nur um den Schock, den dieses blutende, am Kreuz leidende Männlein im Kinde auslöst», widersprach sie. Unversehens nahm sie wieder einmal seinen gestelzten Sprachduktus an, dem sie sich, je länger ihre Auseinandersetzung dauerte, desto weniger entziehen konnte. «Und nebenbei bin ich erstaunt darüber, dass du ausgerechnet das christliche Element in der europäischen Kulturlandschaft so stark betonst, habe ich dich doch als kritischen Betrachter aller Religionen, ich möchte sogar meinen, als zutiefst ungläubigen Thomas kennengelernt.»

«Das tut nichts zur Sache. Ich werde mich weder heute noch morgen zu irgendeinem Glaubensbekenntnis verführen lassen. Aber wir leben nun einmal in diesem Teil der Welt, und dem haben wir Rechnung zu tragen. Ich möchte dem Jungen nur eine solide Basis für sein Leben schaffen», flüsterte Pielein versöhnlicher. Er stand auf. «Du kannst dich im Übrigen damit trösten», setzte er mit einem leicht maliziösen Lächeln hinzu, «dass der Gründer und Prophet dieser nicht nur in unserem beschaulichen Bayern verbreiteten Bewegung ein Kind deines Stammes gewesen ist. Der italienische Schnitzer hat ihm stark semitische Züge gegeben, wie ich meine. Ich bitte dich also inständig, dieses außergewöhnliche Kunstwerk wieder an seinen Platz zu hängen. Der Kleine wird und muss seiner Herkunft den nötigen Respekt zollen.» Damit schloss er leise hinter sich die Tür.

Diese mit außerordentlicher Intensität geführte Auseinandersetzung hing Mielein noch lange nach, verstörte und beschämte sie stets von neuem. Hatten sie sie doch in Gegenwart des schlafenden Bibi geführt, bei dem sie noch nach Jahren das Gefühl nicht loswurde, er habe trotz seiner geschlossenen Augen alles mit angehört und gar verstanden. «Unsinn, Unsinn», sagte sie sich dann immer wieder. Das Männlein jedenfalls hing in der nächsten Nacht wieder an seinem alten Platz, und der verzweifelte Gesang des kleinen Bibi erfüllte abermals das Haus.

Eines Tages – Klein-Bibis Stimme wurde immer schwächer und seine Augenringe immer tiefer – schlich Mielein, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass Pielein gerade seinen ersten Tiefschlaf absolvierte, ins Zimmer des Jungen, kletterte auf den Stuhl, nahm das italienische Meisterwerk von der Wand und schob es unter das Kinderbett. Allerdings achtete sie sorgsam darauf, vor Pielein und den übrigen Kindern aus den Federn zu kommen, um das Männlein wieder an seinen Platz zu hängen. Erstaunt darüber, dass Bibi ruhig und ungestört weiterschlief, fing sie an, in sich hineinzukichern, und beschloss, auch in den folgenden Nächten den Tiefschlaf Pieleins abzuwarten, wobei sie sich erst mit einem Blick durch den Türspalt überzeugte, ob er auch wirklich seine Nachtlektüre aus der Hand gelegt hatte, um den kleinen, blutbeschmierten Juden wieder unter dem Kinderbett zu verstauen. Das brachte ihr mit der Zeit auch die Augenringe ein, die bei dem Kleinen gar nicht mehr verschwinden wollten. Ein paar Stunden Schlaf fand sie aber dennoch, und Bibi nahm keine Notiz von seinem Gast unterm Bett. Im Gegenteil. Er schien ihn sogar zu beruhigen. Bibi, der bisher selbst im Schlaf seine Bewegungsabläufe brauchte, die sich bis zu konvulsivischen Zuckungen steigern konnten, lag entspannt da und prustete friedlich vor sich hin.

Doch es ging nicht lange gut. Mielein hatte nicht mit den periodisch auftretenden Schlafstörungen Pieleins gerechnet. Eines Nachts drang ein diskretes Klappern und ein Rücken von Gegenständen aus dem Kinderzimmer an ihr Ohr. Sie konnte sich jedoch nicht energisch genug von ihrer Schlafschwere befreien, und als sie am nächsten Morgen zu Bibi ins Zimmer trat, hing das Männlein am gewohnten Ort. Bibi lag friedvoll im Bettchen, spielte mit seiner Rasselkette, die sich um den Bettpfosten geschlungen hatte, und machte einen sehr beschäftigten Eindruck. Hatte Pielein ihn an die Anwesenheit des «Marterl» endlich gewöhnen können? Jedenfalls blieb es nun an der Wand über ihm hängen, ohne dass er dagegen protestierte oder gar seine Kreisch- und Strampelanfälle bekam.

Ob er es von nun an akzeptierte oder einfach ignorierte, wer konnte das wissen? Mielein hatte es selbst nie herausgefunden. Als sie Bibi viel später einmal danach fragte, starrte er sie nur verständnislos an. Konnte sich nicht mal an das Kunstwerk über seinem Bett erinnern, zumal das Männlein schon bald darauf ins Schlafzimmer Pieleins hinübergewandert war und dort eine Zeit lang an bevorzugter Stelle hing, sodass man es stets vom Bett aus betrachten konnte. Später verschwand es auf unerklärliche Weise aus dem Haus in der Poschinger Straße.

Im Zeichen des Stiers

Die ersten Erinnerungen, die bei Bibi haftenblieben, stammen erst aus dem Jahre 1924. Es war am Ostersonntag. Um München herum lag der Schnee noch in rauen Mengen, und Mielein fuhr mit allen sechs Kindern über Bad Tölz auf den Blomberg. Pielein war wieder einmal an den Starnberger See geflüchtet. In sein Buen Retiro, wie Mielein sich den Kindern gegenüber auszudrücken beliebte. Auf dem Berg angelangt, wälzte sich Bibi schreiend im Schnee und wollte sich nicht auf den Schlitten setzen lassen. Mielein, auf ihren Holzbrettern leicht hin und her schwankend, versuchte ihm gut zuzureden, doch Bibi ließ sich nicht überzeugen. Schließlich riss seiner ältesten Schwester der Geduldsfaden. Sie griff ihn sich, setzte ihn vor sich auf den Schlitten und fuhr mit dem schreienden Brüderchen den Berg hinunter.

«Du verrückter kleiner Zwerg», schrie Eri erbost, «willst du wohl stille sein!» Aber Bibi brüllte nur umso verzweifelter und versuchte, sich vom Schlitten zu werfen, doch seine Schwester zerrte ihn zurück und vergaß vor lauter Wut das Steuern mit den Füßen. Beide kippten in voller Fahrt seitwärts vom Gefährt, und während Eri unversehrt blieb, trug Bibi eine stark blutende Schnittwunde an der rechten Wange davon. Mielein, die auf ihren Brettern in rasantem Tempo hinterhergefahren war, wäre beinahe noch dem quer auf der Piste liegenden Sohn über den Bauch geprescht. Nur mit letzter Anstrengung – ihr so vorzüglich eingeübter Schneepflug zeigte keine besondere Wirkung – konnte sie am Ende ausweichen, nahm dabei aber in Kauf, ebenfalls heftig auf die Nase zu fallen.

Da lagen sie denn. Eri fluchte vor sich hin, Mielein, die erst einmal von ihren Brettern loszukommen suchte, bat sie in gleicher Lautstärke, mit dem Fluchen aufzuhören, während die anderen Kinder sich jubelnd neben sie in den Schnee fallen ließen und sich gegenseitig Schnee ins Gesicht warfen. Einzig die kleine Medi, die an der Hand ihres Bruders Aissi herabgestiefelt war, schrie und zeigte auf Bibi, der sich völlig perplex über die Wange strich und fasziniert seine feucht-rote Hand anstarrte.

Mielein hatte sich endlich von ihren Brettern befreit, nahm Bibi auf den Arm und stapfte, umringt von den Kindern, durch den Schnee zu einer kleinen Imbissbaude, wo man den Jungen provisorisch mit Heftpflastern zuklebte. Nachdem Schlitten und Skibretter in einem Taxi verstaut waren, ging es mit einem zweiten Taxi nach Bad Tölz zum Arzt. Dort kannte Mielein sich aus, hatten sie hier doch bis zum Jahr 1917 ein wundervolles Haus besessen, von dem die älteren Kinder heute noch schwärmten, nicht dagegen der große Literaturzauberer, der nach dem Krieg wieder seine Liebe zur See entdeckt und die schier endlose Weite des Meeres gerühmt hatte. «Du weißt doch», pflegte er zu sagen, «wie weit du hierzulande nach oben kraxeln musst, um einen unverstellten Blick auf deine Umgebung zu erhalten.»

Für die älteren Kinder jedoch bedeutete das Haus in Tölz, obwohl es nur einige wenige Jahre im Familienbesitz gewesen war, die längste, lustvollste und unbeschwerteste Zeit in ihrem Leben. Denn ein Jahr, im Erwachsenendasein von so kurzer Dauer, scheint sich für den jungen Menschen ewig zu dehnen. Und erst recht in einem Ort wie Tölz, der mit seinen freundlich bemalten Hausfassaden, seinen Giebeln und Erkern wie eine Spielzeugstadt anzuschauen ist. Mit seinen winzigen Bächlein, die die Straßenzüge unterbrechen, und seinen Einwohnern, die den Zugereisten zwar öfter das lederne Hinterteil zuwenden und in sich hineingrummeln – wenn man ihnen schmeichelt, irgendwann aber doch auftauen.

Auch Mielein konnte sich nicht sattsehen an den niedlichen Bauten, an der Bergkette in der Ferne, die bei Föhnwetter so nahe rückt, dass man sie hätte anfassen mögen. Hier fühlte sie sich fast noch mehr zu Hause als im hektischen München. Bibi dagegen, für den Tölz nur ein Ausflugsort war, zeigte nicht das geringste Interesse am bayerischen Oberland und noch weniger an seinem Winter. Er fror allzu schnell an Händen, Füßen, Nase, und er hasste den Schnee. Selbst in späterer Schulzeit, als er bei Ausflügen auf die Bretter gezwungen wurde und sich, fast gegen seinen Willen, zu einem exzellenten Skifahrer entwickelte, blieb ihm seine Abneigung gegen den Winter mit seinem Schnee erhalten.

Die Geschwister aber hatten großen Spaß daran, ihn wie unabsichtlich auf die Piste zu stoßen und sich viel Zeit mit dem Abschnallen seiner Bretter zu lassen, wenn er auf den Hintern gefallen war. Bei einem seiner Jähzornsausbrüche hielten sie sich den Bauch vor Lachen, weil er dabei riesige Schneewolken um sich herum aufsteigen ließ. Schon damals ein sehr gedrungener, kleiner Mann, mit vorgewölbtem Brustkorb und unverhältnismäßig großem Kopf, stand er da, die Schultern hochgezogen, und starrte seine Geschwister finster und angriffsbereit an. Ging sogar mit stark ausholenden Schritten auf sie los, indem er seine Beine beunruhigend weit nach vorn schleuderte, wenn sie ihre Hänseleien und kindlichen Boshaftigkeiten übertrieben.

Einmal, so erzählte ihm Aissi später, war er in ähnlicher Weise auf das Kindermädchen Traudl losgegangen. Gertraud von Boeck, ein sehr junges, pausbäckiges Mädchen von schlichtem Gemüt, hatte Bibi, er war gerade sechs Jahre alt geworden, den Auftrag erteilt, der Köchin einen Liter Milch zu holen. Also drückte sie ihm eine Henkelkanne in die Hand und schob ihn zur Gesindetür hinaus. Er, der ungeliebte Spaziergänge erträglicher machte, indem er sich in andere und, wie er glaubte, spannendere Welten hineinträumte, machte auch jetzt wieder von dieser Technik Gebrauch. Dieses Mal hatte er die Geschichte vom Untergang des Kreuzers Emden gewählt, der ihn wiederholt beschäftigt hatte, weil dessen Kapitän die tödliche Selbstversenkung befohlen hatte, um das Schiff nicht in feindliche Hände geraten zu lassen. Eine Geschichte, die sein Bruder Golo ihm erzählt hatte und die ihn stets zu Tränen rührte, wenn sie ihm in den Sinn kam. Gehorsam lief er, in der traurigen Rolle des Kapitäns, zum Milchmann am Kufsteiner Platz, ließ sich die Milch einschöpfen, sagte seinen Spruch auf, den ihm die Traudl eingebläut hatte, «Schreiben’s auf d’Rechnung», und verließ, ganz Kapitän, das Geschäft. Ohne Kanne. Sein Arm mit der zur Faust geballten Tragehand hing herunter, während er sich dem Verlust seines Schiffes hingab. Schweigend und mit zusammengebissenen Zähnen, die Rechte am Mützenschirm, stand er auf der Brücke und verabschiedete seine Mannschaft, die gerade von Bord gegangen war. Doch weil es ihm nicht gelang, die soldatische Haltung anzunehmen, die einem solchen Augenblick geziemte – die nicht vorhandene Kanne hinderte ihn daran –, brach er in jammervolles, stilles Weinen aus und trat tränenüberströmt vor Gertraud von Boeck hin, die sich, nachdem sie ohne Erfolg versucht hatte, ihren Schützling zu trösten, nach der Milch erkundigte. Er hielt ihr schluchzend die leere Hand hin, deren Finger noch immer den imaginären Henkel umklammerten. Das Kindermädchen brach in ein kreischendes und taktloses Gelächter aus, worauf Bibi seinen Schädel nach vorn stieß und ihn der Traudl in die Weichteile rammte, sodass der gutmütigen Frau die Augen fast aus den Höhlen traten. Dazu schrie er wie am Spieß. Der Schreck ließ die Traudl so panisch werden, dass sie aus dem Haus flüchtete und im Garten auf die Rückkehr Mieleins oder eines der großen Geschwister wartete. Aissi traf als Erster ein und lief, nachdem er sich einen kurzen Bericht von der immer noch unter Schock stehenden Traudl angehört hatte, ins Haus, um nach Bibi zu sehen. Er fand ihn in seinem Zimmer, auf alles und jeden schimpfend und wild gestikulierend. Aissi hielt ihn fest und befahl ihm, nun endlich zur Ruhe zu kommen. Keiner wolle ihm etwas tun, versicherte er seinem Bruder, und drückte ihn auf sein Bett. Als Bibi sich wieder im Griff hatte, forderte Aissi ihn auf, endlich zu sagen, was vorgefallen war. So erfuhr er also, dass Bibi die Kanne beim Milchmann hatte stehenlassen, weil er dem Untergang der Emden nachgetrauert hatte. «So was kann einem doch schon mal passieren!», rief er. Und Traudl, die dumme Ziege, hatte ihn derart ausgelacht, dass er ihr einen Kopfstoß versetzt hatte. «Nicht wahr», wiederholte er, «das kann einem doch mal passieren!» Er fing wieder an zu weinen und mit der Faust auf das Bett einzudreschen. Schluchzend fragte er seinen großen Bruder, weshalb denn der Kapitän nicht mit den anderen das Schiff verlassen hätte. Aissi erklärte ihm, diese Haltung habe mit einem gewissen Ehrenkodex zu tun, den er selbst auch für ziemlich verblödet halte.

«Aber», so wandte Bibi ein, «vielleicht hat er auch sterben wollen, weil er ohne sein Schiff nicht leben wollte, weil er das Leben überhaupt nicht leben wollte.»

«Wie kommst du denn darauf?», fragte Aissi erschrocken.

«Manchmal finde ich das Leben auch blöde», antwortete Bibi und sah seinen großen Bruder mit einem verlegenen Lächeln an.

Aissi versuchte in dem immer noch verheulten Kindergesicht etwas zu finden, das dieser seltsamen Antwort einen Grund hätte geben können. Die beiden sahen sich in die Augen. Sehr lange. Dann drehte Bibi sich wortlos um und marschierte aus dem Zimmer.

Als Aissi später Eri von seinem Gespräch mit Bibi berichtete, nannte sie diesen einen kleinen Wichtigtuer, der noch eine ganze Weile seine Rolle als untergehender Kapitän weiterspielen würde. Wer ihm denn diesen Heldenblödsinn überhaupt erzählt hätte. Vermutlich habe Golo seine Weltkriegskenntnisse weitergeben wollen. Beide ließen sich die Geschichte mit der Milchkanne noch einmal von der Traudl erzählen, die plötzlich anfing zu kichern. «Er hat einfach zu komisch ausgesehen. Diese schwer herunterhängende Hand mit den zur Faust geballten Fingern! Das ist doch zu niedlich gewesen.» Auf die Frage Eris, weshalb sie ausgerechnet ihn damit beauftragt hätte, verteidigte Traudl sich damit, dass doch außer der Köchin und ihr keiner im Hause gewesen sei. Außerdem hätte sie strikte Anweisung der gnädigen Frau gehabt, das Haus bis zu deren Rückkehr nicht zu verlassen. Und die Köchin wäre ja mit der Herrichtung des Mittagessens beschäftigt gewesen.

«Wirklich, ein schlichtes Gemüt», meinte Eri, nachdem sie sich lachend entfernt hatten. «Es ist ihr gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie wegen Bibi das Haus hat hüten sollen.»

 

Nie hätte es Bibi über sich gebracht, seinem Vater so einschneidende Erfahrungen zu gestehen wie die Versenkung der Emden mit ihm als strammstehendem Kapitän, der bis zum letzten Augenblick – das Wasser fing schon an, ihm in die Augen zu laufen – die Hand am Mützenschirm hatte. Auch Aissi, dem Bewunderten, hätte er sie nicht gestanden, wäre er nicht als verspäteter Zeuge bei der Auseinandersetzung mit der von Boeck erschienen. Schon gar nicht der stets etwas skeptisch dreinblickenden großen Schwester mit den sanften, braunen Mieleinaugen und der metallisch scheppernden Stimme hätte er sich offenbart. Höchstens seiner über alles geliebten Medi, die sich nicht satthören konnte an seinen verwegenen Erfindungen. Doch selbst ihr teilte er nichts, aber auch gar nichts von dieser Schiffskatastrophe mit, die ihn immer wieder aufs Neue beschäftigte.

Golo war es, den er einweihte, vor dem er seine abenteuerlichen Phantasien ausbreitete. Selbst solche, die, wie er meinte, bis tief unter die Erde führten. Golo unterbrach ihn nicht. Stumm und mit verschlossener Miene hörte er ihm zu und riet ihm am Ende stets, alles für sich zu behalten. Weder Eri noch Aissi oder Moni, die Mittlere, würden Verständnis für solche Geschichten zeigen. Schon gar nicht Mielein oder etwa Pielein. Wenn Bibi einwandte, dass jener doch auch ein Geschichtenerzähler sei, machte Golo ihm klar, dass der Vater für eine ganz andere Klientel schriebe. Er benutzte allen Ernstes das Wort «Klientel»; einem noch nicht mal Siebenjährigen gegenüber, der gerade erst begonnen hatte, eigenständig zu denken und zu formulieren. «Ich bemerke», sagte Golo, «dass du anfängst, Interessen zu entwickeln, die in eine spezielle Richtung zielen, möchte aber nicht annehmen, dass dich daran nur die kriegerischen Auseinandersetzungen faszinieren. Ich glaube vielmehr, dass deine erwachende Neugier auf das gesamte Geschichtsbild hindeutet, dem solche massenhafte Gewalt erst entspringt.» Golo hob den Zeigefinger zum Zeichen, dass er nun um konzentriertes Zuhören bat. Eine Geste, die er sich von seinem Vater abgeschaut hatte und bei der er sich bemühte, ein ebenso gleichmütiges Gesicht zu machen wie dieser, wenn er zu einem Vortrag ansetzte. Zur Verblüffung Bibis wirkte er unversehens um Jahre gealtert. «Ich möchte dich nur darauf hinweisen», fuhr Golo fort, «dass auch dein Kapitän, der mit den Händen an der Hosennaht, ertrank …»

«Eine Hand hatte er an der Schirmmütze», protestierte Bibi laut.

«Na schön, dann eben an der Schirmmütze», beschwichtigte Golo. «Letzten Endes ist das unerheblich, denn eingepökelt wurden beide.» Ein leichtes Grinsen sollte seine zynische Bemerkung untermalen, doch er unterlag erneut einem stümperhaften Nachahmungsversuch seines Vaters. Der Herr Papale, so wurde Bibi nun informiert, schreibe für Leser, die nichts anderes als Literatur im Kopf hätten und es sich leisten könnten, ein ganzes Leben damit zuzubringen: mit der kritischen Betrachtung dieser Schriften, was allzu oft in sinnlose Zerstörungswut ausarte, oder mit einer blinden Anbetung, die dem kritisierten Autor wahrscheinlich noch mehr schaden könne. Er, Golo, habe sich noch nicht endgültig entschieden, wer der wichtigere Schriftsteller sei. Der, dem erfundene Charaktere und Begebenheiten nur so aus der Feder flossen, oder jener, der sich am wahrhaft Geschehenen festhielte und das Vergangene bis hinunter zum Ursprung alles Menschlichen zurückverfolge.

«Nebenbei», Golos Vortrag hatte sich in ein temperamentvolles Selbstgespräch verwandelt, «nebenbei habe ich herausgefunden, dass sogar in den scheinbar unwichtigsten Figuren der väterlichen Einbildungskraft noch er selbst steckt. In jedem Absatz erscheint sein spöttisch verzogenes Gesicht und macht sich über uns lustig: ‹Seht nur, wie ich mich verwandeln kann. Heute bin ich der und morgen ein anderer. Ja, in einem späteren Buch sehe ich mir vielleicht überhaupt nicht mehr ähnlich. Und doch bin ich es, der euch etwas vormacht. Ich, der Faxenmacher, der Märchenerzähler, der Lügenbold!›» Golo hatte sich in einen verbissenen Zorn hineingeredet und bekam am Ende gar nicht mit, dass Bibi sich längst von ihm abgewandt hatte und im Begriff stand, sein Zeichenheft aufzuschlagen. «Was machst du da?», unterbrach er sich irritiert.

«Ich versuche, deine Wut zu malen», erwiderte Bibi ernst.

«Ich rede von unserem Vater, der ein großer und berühmter Menschenzauberer ist.»

Bibi antwortete nicht, sondern kritzelte mit heraushängender Zungenspitze in seinem Heft herum. Golo stieg vom Tisch, auf dem er bis dahin gesessen hatte, und sah seinem kleinen Bruder über die Schulter. Das Erste, was er erblickte, war eine Riesennase. «Das soll ich sein?», schrie er empört.

Bibi nickte bedächtig. «Das bist du, als der Herr Papale», bestätigte er, riss das Blatt heraus, übergab es Golo mit einer feierlichen Geste und riet ihm, es über sein Bett zu hängen. Dann warf er seine Beine in der für ihn charakteristischen Weise nach vorn und lief mit übergroßen Schritten zum Zimmer hinaus.

War sein Vater wirklich ein Lügenbold, ein clownesker Märchenerzähler? Einer, der sich nur durch die Feder vom vielgeschmähten Komödianten unterschied, dessen gelenkige Zunge er heimlich bewunderte? Und was hatte Golo so in Wut geraten lassen? War es vielleicht die väterliche Vorliebe für die Töchter, unter der er selbst ebenfalls litt? Ständig suchte er nach einem Aufblitzen von Sympathie in der Miene des Vaters, wenn er ihm überhaupt einmal begegnete.

Am ehesten fand er diese, wenn er Hand in Hand mit seiner Schwester Medi vor Pieleins Zimmertür auftauchte. Sofort verwandelte sich die gleichmütige Reglosigkeit des väterlichen Gesichts in freundlich warme Munterkeit, die zwar nicht ihm galt, an der er jedoch teilhaben durfte. Er ließ Medi nicht aus den Augen, wenn Pielein in der Nähe war oder aus seinem Arbeitszimmer trat. Sobald dieser sehnsüchtig nach Medi rief, war auch Bibi zur Stelle. Während sie sich aber mit selbstsicherer Lässigkeit ihrem Vater näherte, stand er im halbdunklen Hintergrund und sah scheinbar unbewegt dem Austausch von Zärtlichkeiten zwischen Vater und Tochter zu. Hörte das schmatzende Geräusch der küssenden väterlichen Lippen, das Aufjauchzen Medis, wenn Pielein ihr die Finger leicht in die Rippen drückte, und hielt sich lachend die eigenen Seiten, weil er die väterlichen Finger auch auf seinen Rippen zu spüren glaubte. Manchmal lachte er so selbstvergessen und laut, dass Pielein sich irritiert nach ihm umwandte. Bibi brach sofort ab und zog sich in eine noch dunklere Ecke zurück. «Du gibst dem Herrn Papale jetzt endlich einen Kuss», rief Medi dann und lief zu ihm hin. «Er wartet doch darauf.» Damit schob sie ihn dem Vater zu, der ihm ergeben lächelnd die Wange hinhielt. Dann nahmen die Kinder ihn in die Mitte und gingen mit ihm an der Hand in den Garten hinaus.

Mit der Rechten, die Bibi gehalten und die Pielein wie unabsichtlich zurückgezogen hatte, griff er nach seinem Zigarrenetui in der Brusttasche und zeigte Medi, wie er mit nur einer Hand die Zigarre aus dem Etui nehmen, aus der rechten Seitentasche seines Jacketts die Zündhölzer hervorsuchen und ein Zündholz anstreichen konnte, nachdem er die Schachtel vorher auf dem Tisch platziert hatte. Ein echter Zauberer eben.

 

Sein erster Lehrer hatte es schwer mit ihm. Pielein ahnte bereits, dass Bibi sich nicht so schnell in einen normalen Schulbetrieb einfügen würde. Also schlug er vor, ihn bis zum Eintritt ins Gymnasium einem Privatlehrer anzuvertrauen. Er hätte allzu «fettes Blut», zitierte er die Köchin, die sich schon einige Male über Bibi beschwert hatte. In einer normalen Schule müsse man doch Rücksicht auf die Mitschüler nehmen.

Obwohl Mielein nicht ganz seiner Ansicht war und es lieber gesehen hätte, Bibi von Anfang an einer Horde Klassenkameraden auszusetzen, fand sie in dem pensionierten Oberlehrer Georg Goetz einen ruhigen, geduldigen Erzieher, der nicht davor zurückschreckte, Bibis Attacken mit beschwichtigenden und, wenn es sein musste, nachdrücklichen Gesten zur Vernunft zu bringen. Zur Überraschung Mieleins vermochte es Goetz sogar, Bibi nicht nur ruhigzustellen, sondern auch seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Bibi, der sich durch das Geigenspiel seines Vaters schon früh zur Musik hingezogen gefühlt hatte, sei es auf Grund eines kindlichen Nachahmungstriebes oder durch ein sich früh ankündigendes musikalisches Talent, bestand darauf, dieses Instrument ebenfalls zu erlernen.

Mit der handlichen Viertelgeige, seinen kurzen Fingern gemäß, trat er bei der ebenfalls schon pensionierten Violinistin Grete Studeny an, die mit der beängstigenden Länge ihres Kinns selbst dann die Geige im Anschlag hielt, wenn sie Bibi gestenreich, fast fuchtelnd einzelne Kadenzen und Tempi erklärte, ihm die Wichtigkeit ihrer Einhaltung «in die Seele schrieb», wie sie sich ausdrückte. Bei all diesem Einsatz ihrer ekstatischen Zunge und ihrer beweglichen Hände tat sich nichts an der Violine unter ihrem Kinn.

Nach einigem Zögern auf Grund seiner sieben Jahre, die er erst alt war, nahm sie ihn nach vier Probewochen endgültig an, und Bibi griff mit all seiner kindlichen Energie in die Saiten. Rasch begriff er die Notenschrift, verleibte sie sich förmlich ein, ahmte putzig die Kopfhaltung der Studeny nach, lernte mit seinen dicklichen Fingern in erstaunlich kurzer Zeit die schwierigsten Doppelgriffe, wobei er eine fast artistische Gewandtheit entwickelte und die Studeny zu erstaunten Ausrufen veranlasste, wie: «Was bist du doch für ein talentierter kleiner Rotzjunge!»

Oberlehrer Goetz erkannte sogleich das zusätzliche Druckmittel, mit dem er den «kleinen Rotzjungen» zähmen konnte. «Wenn du dich mir gegenüber schon so unzivilisiert benimmst, wie denn erst bei dem armen, sensiblen Fräulein Studeny. Ich nehme an, dass sich bei ihr deine Rüpelhaftigkeit sogar noch steigert. Aus diesem Grunde werden wir heute einmal das arme Fräulein vor dir zu schützen suchen.» Die scheinheilige Sorge um Fräulein Studeny entwickelte sich bald zu einer wahren Wunderwaffe gegen den kleinen Bibi. Der Junge wurde manierlicher und gab sich, auch bei Herrn Goetz, lernfähiger, zudem entwickelte sich sein Violinspiel enorm. Er legte die kleine Geige auch zu Hause nicht aus der Hand, übte mit zäher Verbissenheit und so großer Ausdauer, dass die entnervten Geschwister oft zu ihm ins Zimmer stürmten und ihm das Instrument aus der Hand rissen.

Zur Verwunderung der ganzen Familie verteidigte Pielein ihn jedoch. Ausgerechnet er, dessen Stöhnen man durch die geschlossene Tür seines Arbeitsraumes vernehmen konnte. «Niemandem darf die Ausübung und Förderung seiner künstlerischen Fähigkeiten verwehrt werden», rief er erregt, drückte Bibi die Geige wieder in die Hand und verschwand nahezu geräuschlos in sein Arbeitszimmer.

Medi aber, seine Lieblingsschwester, schlich sich manchmal, ohne dass er sie recht wahrnahm, zu ihm hinein, blieb schon im Türrahmen stehen und lauschte andächtig seinem flinken Saitenspiel, der Melodie, die sich aus schier endlos wiederholter Übung herausschälte, während ihre eigenen Finger auf imaginären Klaviertasten das Spiel des Bruders begleiteten. Als sie jedoch die Melodie leise und beinahe korrigierend mitzusummen begann, hielt Bibi inne und sah sich nach ihr um. Beide fingen zu lachen an, und Medi zog ihn schlendernd in ihr Zimmer, an dessen Stirnwand ein blauangestrichenes, altes Piano stand. Sie schlug den Deckel zurück, und schon bewegten sich ihre Finger wie leichtfüßige kleine Spinnenbeine über die weißen Tasten. Verwirrt, aber auch fasziniert schaute Bibi abwechselnd auf das Klavier und in Medis Gesicht. Während er das Gefühl hatte, dass bei ihm jeder Gesichtsmuskel vibrierte, wenn er auf seiner Geige übte, tat sich in ihrem Gesicht rein gar nichts. Nur ihre langgliedrigen Finger fegten über die Tastatur, der Körper klebte stocksteif auf dem Hocker und schien an der kleinen Veranstaltung kaum teilzunehmen.

«Wo hast du das gelernt?», fragte er mit einem leisen Anflug von Wut.

«Von Frau Doktor Pfeifer», antwortete Medi und intonierte zum dritten Mal seine musikalische Übung.

Ein übles Gefühl kroch in ihm hoch. War es Neid auf ihre technische Perfektion? Oder war es Zorn auf den Widerspruch zwischen dem zur Schau gestellten Desinteresse an dem, was sie da zum Besten gab, und ihrem außerordentlichen Können? «Du lässt die Seele aus!», schrie Bibi plötzlich. «Scheiß auf deine Pfeifer! Du lässt die Seele aus, würde Fräulein Studeny sagen. Und dann bist du nichts anderes als ein maschinelles Monster.»

Medi brach sofort ab, und ehe Bibi sich’s versah, liefen ihr Tränen über die Wangen, tropften vom Kinn auf die Tasten, und sie drehte den Kopf weg. Betroffen kniete Bibi an ihrer Seite nieder und versuchte sie zu streicheln. «Ich wünschte, ich könnte auf meiner Geige so spielen wie du auf deinem blauen Klavier.» Er versuchte sie zum Lachen zu bringen, aber jetzt kehrte sie ihm vollends den Rücken zu. «Wenn du bloß deine Seele nicht dauernd vergessen würdest», murmelte er.

Medi drehte sich abrupt nach ihm um, und ihr Blick blieb an seinen Händen haften. «Besser die Seele irgendwo liegenzulassen, als mit solchen Würstlfingern Violine spielen zu wollen.» Ihre Augen standen immer noch voller Wasser und blickten ihn mit boshafter Trauer an.

Bibi sah auf seine Hände, hielt sie prüfend gegen das Licht, machte eine Bewegung, als wollte er nach den ihren greifen, doch sie sprang auf und hielt ihre Hände ebenfalls hoch, um ihm den Unterschied so recht bewusst zu machen. Dann lief sie auf ihn zu und versuchte ihn zu umklammern. Doch er stieß brutal seine Stirn gegen die ihre, und während sie zurücktaumelte, lief er aus dem Zimmer, sprang die Treppe hinunter, wobei er ab und zu einen Blick auf seine zu kurz geratenen Finger warf, sodass er die letzten Stufen übersah und mit lautem Krach auf dem Dielenboden landete. Benommen schaute er auf zwei Füße vor sich, die in hochhackigen Schuhen steckten.

«Hast du dir wehgetan?», fragte Eri besorgt und beugte sich zu ihm hinunter. Er starrte in ihr Gesicht, das kreideweiß geschminkt war. Sie hob ihn hoch und drückte ihn kurz an sich. «Na, vielleicht bequemst du dich mal zu einer Antwort.»

«Es ist alles noch ganz», sagte er und fuhr ihr mit dem Finger über die Wange.

«Bist du verrückt geworden, du kleiner Strolch?», rief Eri. «Jetzt kann ich von vorn anfangen.» Sie stieß ihn von sich und sah Medi auf dem oberen Treppenabsatz stehen.

«Spielst du heute Abend wieder dein Theater?», fragte die.

«Wir probieren nur», antwortete Eri und stieg die paar Stufen zu ihr hoch. «Woher, zum Teufel nochmal, hast du die Beule an der Stirn?»

«Ich hab den Klavierdeckel mit dem Kopf zuschlagen wollen», feixte Medi.

Eri sah von einem zum anderen. «Los, komm mit in die Küche. Da muss eine kühle Messerklinge drauf, sonst hast du morgen ein Horn, das bis zur Tivolibrücke reicht!» Sie nahm beide an der Hand und zog sie hinter sich her. «Und du lässt jetzt sofort die Hose runter und zeigst mir deine Knie», forderte sie Bibi auf, als sie in der Küche angelangt waren. Sie grinste ihren kleinen Bruder schadenfroh an.

 

Einige Zeit später machte man Frau Doktor Pfeifer, deren Privatschule Medi besuchte, das Angebot, eine Auswahl ihrer Schützlinge für ein Schülerkonzert zur Verfügung zu stellen, das der Bayerische Rundfunk schon geraume Zeit als Sonntagsmatinee vor geladenem Publikum eingerichtet hatte. Man habe gehört, dass es unter ihren Schülern einige bemerkenswerte musikalische Talente gäbe. Frau Pfeifer beantwortete die Anfrage ablehnend. Es gäbe in ihrem Institut nur eine ernstzunehmende Begabung, ein Mädchen aus gutem Hause, dem aber noch das entsprechende Nervenkostüm für derlei öffentliche Auftritte fehle.

Die Rundfunkanstalt ließ nicht nach. Auf Grund der Bemerkung im Antwortschreiben der Pfeifer, das Mädchen sei aus gutem Hause, forschte man nach und stieß schließlich auf Medi, Tochter eines bekannten Schriftstellers, dessen Haus sich schon zu einem bedeutenden Anziehungspunkt im Geistesleben der Stadt entwickelt hatte. Der Programmdirektor, der für die Sendung «Sonntagsmatinee für Kulturbeflissene und jugendliche Talente» verantwortlich war, meldete sich persönlich im Hause Poschinger Straße an und wurde ohne nähere Begründung abgewiesen. Nun erst recht, dachte er sich wohl und sandte einen jungen Reporter aus, dem der Ruf vorausging, sich selbst in höchste Regierungskreise einschmeicheln zu können.