Miriam Pielhau

Fremdkörper




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1. Auflage 2016

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Umschlaggestaltung: Die Werkstatt Weiss, München

Umschlagabbildung: © Stephan Pick, Köln

Satz: Jürgen Echter, Landsberg am Lech


ISBN Print 978-3-86882-722-9

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-341-9

ISBN E-Book (EPUB & Mobi)  978-3-86415-151-4


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1. 
Hochzeitstag

Auf der Spüle steht ein Teller mit Essensresten. Eingetrocknete, plastikharte Nudeln, rötlich-braune Soße und fleischige Krümel. Kombiniere, kombiniere: Diese Indizien weisen auf die Spaghetti bolo vom Dienstagabend hin. Nicht gestern. Sondern Dienstag vor einer Woche Dienstag. Also: eine hübsche, 8 Tage alte, farblich absolut nicht mehr ansprechende, organische Kruste. Ein Seufzen wogt sich durch meinen Brustkorb. Mein Liebster ist absoluter Experte solcher – ich nenne sie mit dem Humor der Resignation – Projekte. Die Fragestellung und zur wissenschaftlichen Überprüfung freigegebene These ist dabei immer die gleiche: Was passiert wohl mit Biomüll in Raumtemperatur bei ausreichender Sauerstoffzufuhr und der konsequenten Verweigerung von Spülmittel und Schwamm? Auch wenn sich die Antwort (»Vergammeln!«) nicht verändert hat, seit wir uns Träume, Bett und Miete teilen, nimmt diese Versuchsreihe irgendwie kein Ende. Mich macht das kirre. So was. Und so kommt es, wie es in einem anständigen Haushalt halb zehn abends in Deutschland kommen muss: Das Weib meckert. Laut. Und lang. Und vor allem langweilig. Weil er die Sätze schon so gut kennt, dass er sie mitsprechen kann. Taktisch total unklug finden sich im Schimpfschauer überproportional oft die Worte »immer« und »nie« und »du«. Die ganzen BRIGITTE-Dossiers über harmonische Partnerschaften, sie haben nichts genützt. Natürlich nicht. Die Dame des Hauses echauffiert sich also aufs Feinste. Dabei weiß sie genau, dass das gar nichts bringt. Außer Ärger. Und zwar ihr. Und das auch noch doppelt. Wut, über seine Unordentlichkeit und ihre Kleinkariertheit. Danach geht es weiter wie immer. Sie grunzt. Er schmunzelt. Beide jeweils ein wenig vor sich hin. Dann nimmt er sie voller Liebe in den Arm und gelobt hoch und heilig Besserung. Das Versprechen hält. Zumindest bis zur nächsten biochemischen Studie. Zwei wie ganz schön viele auf der Welt. Ein Mittwochabend im frühen Frühling. Eigentlich alles ziemlich normal. Wenn da nicht diese Un-Normalität in ihrer Brust wäre.

Während der Groll sich trollt, macht er Platz für Gedanken an morgen. Morgen ist der 27. März. Und der ist besonders. Besonders schön. Aber auch besonders aufregend. Schön, weil wir an diesem Tag vor einigen Jahren geheiratet haben. Herrlich heimlich. In Las Vegas. Ohne Elvis. Mit Herzklopfen. Zwei, die nicht aus dem Spiele-Paradies abgeholt werden wollten. Und aufregend wird der morgige Tag, weil die Ärztin dann sagt, was das für ein dummes Ding ist, das mir seit geraumer Zeit Kummer macht.

Der Tag beginnt – natürlich – da, wo der vorangegangene aufgehört hat: extrem gemütlich im Bett. Wir haben uns beide heute freigenommen. Beim Versuch, zu planen, wie die nächsten Stunden schön und möglichst schön romantisch gestaltet werden können, muss ich mir ziemlich schnell eingestehen: Meine Gedanken sind so klar wie die WG-Fenster meines Bruders. Gar nicht. Ich bin ziemlich zerzaust – auf wie im Kopf. Heute um 14 Uhr kann ich das Ergebnis meiner Biopsie, also der Gewebeprobe, erfragen. Um 14 Uhr. Erst. Es ist jetzt 8 Uhr. Das bedeutet noch grauenvolle sechs Stunden der auf die Probe gestellten Geduld vor mir. Bäh. Heute fühlt sich Warten so endlos und quälend lang an, wie als 5-jähriges Kind das Warten aufs Christkind. Wenigstens liefen damals super Sachen im Fernsehen. Mein TV-Überbrückungsprogramm dagegen ist jämmerlich. Ich muss mir Menschen ansehen, die sich unhöfliche Sachen mit grammatikalisch fragwürdiger Syntax an den Kopf werfen. Oder Seifenopern, die das auslösen, was Seife so tut, wenn man sie schluckt: Brechreiz.

Daher nehmen sich meine Gedanken die ihnen zustehende Freiheit und schweifen ab. Die vergangenen Tage gehen mir durch den Kopf. Und, sagen wir mal so, es gab wirklich angenehmere in meinem Leben. Gestern musste eine Gewebeprobe aus der Brust entnommen werden, weil auf dem zuvor angefertigten Mammografie-Bild zwar kein Knoten, aber verdächtige Verästelungen zu sehen waren. DCIS – ein duktuales Carcinoma in situ, wie wir schnell lernen müssen. Eine Karzinom-Vorstufe. Nichts Gutes, aber kein Grund, den Glauben daran zu verlieren. Eine Vorstufe. Noch kein »echter« K ... Das sage ich seit dem Befund meinem Herzenskerl immer wieder mal laut – und mir selbst innerlich, leise tausendmal hintereinander. Auch heute. Erst recht jetzt. Dann ist es endlich halb zwei. Ich befinde, dass ich getrost eine halbe Stunde zu früh dran sein darf und wähle die Nummer meiner Radiologin. Nach außen mache ich mein bestes Es-wird-schon-nichts-sein-Gesicht. Ich weiß nicht, wie überzeugend meine Vorstellung ist, vertraue aber auf mein darstellerisches Talent, während sich in mir Angst und Hoffnung ein packendes Kopf-an-Kopf-Rennen liefern. Es kommen durchaus Ellenbogen zum Einsatz.

Während es tutet, muss ich an den Knubbel denken, den ich vor zwei Wochen in meiner Brust gefühlt, dem ich aber keine weitere Bedeutung beigemessen habe. Es lebe die Devise: »Was ich nicht wichtig nehme, ist es auch nicht.« Das Gesicht meiner Internistin taucht vor mir auf. Nicht besonders glücklich. Sie hatte bei mir vor einigen Tagen, kurz nach der Entdeckung des Knubbels, aufgrund meiner stark geschwollenen Lymphknoten am Hals eine Art Pfeiffer’sches Drüsenfieber diagnostiziert. (Das war zu meiner Studentenzeit sehr verbreitet. Jaja. Weil man als Student die Lebensabschnittsgefährten pro Semester zwei bis sieben Mal wechselt. Schon klar. Was hatte das bitte schön jetzt in meiner schon vor Langem eingeläuteten postakademischen Ära zu suchen?) Als ich ihr von meinem Tastbefund in der Brust berichte, bleibt das fest einkalkulierte: »Ach, das ist nichts«, aus. Stattdessen schickt sie mich zu meiner Gynäkologin. »Am besten heute noch.« Die sucht per Ultraschall nach der Ursache meines Übels. Findet nichts – und genau deswegen, dass ich dringend zur Mammografie gehen soll. Noch am selben Tag. Die plötzliche Eile allerorts hätte mich stutzig werden lassen müssen. Doch das schier endlose Vertrauen in mein persönliches Happy End wirkt wie ein Tranquilizer für die Seele. Spitzensystem mit prima Sicherheitsprogramm, unser Körper. Kaum etwas, das mich aus der Ruhe bringen kann. Noch nicht einmal dieser doch recht würdelose und durchaus schmerzvolle Vorgang des Brustscreenings, dem ich mich plötzlich ausgesetzt sehe. Meine schönen Stücke Fraulichkeit werden also abwechselnd zwischen diese Plexiglas-Platten gequetscht, bis sie trotz ihrer Fülle den flachestmöglichen Zustand erreicht haben. Das sieht nicht nur scheußlich aus, sondern tut mindestens genauso scheußlich weh. Allein: das Wissen um den Sinn dieser Übung macht die Sache aushaltbar. Die Bilder meines Busens machen auf den ersten Blick einen fantastischen Eindruck. Allerdings leider nur auf mich. In den Zügen der Ärztin lese ich Besorgnis. Das gute, gesunde Gewebe sieht gleichmäßig scheckig-fleckig aus. Eine Mammografie-Sinfonie in dunkel- und hellgrau. Was ihr nicht gefällt, das sind die weißen, zackigen, Ypsilon-ähnlichen Linien. Mikroverkalkungen. Aha. Zur Sicherheit soll das Gewebe probiert werden. Wieder geht alles ganz schnell. Termin schon am übernächsten Tag. Die Stunden jener Ungewissheit hätten quälend sein können. Waren sie aber nicht. Unerschütterlich meine Überzeugung, dass das alles gut ausgeht. Was soll denn schon sein? Sind wir nicht alle ein bisschen Wonderwoman? Bis jetzt immer unverwundbar. Selten beim Arzt. Nie wirklich krank. Ich treibe Sport, esse gesund und gut und habe auch keine familiäre Vorbelastung bei diesem Thema. Im Gespräch sage ich zu Thom: »Außerdem bin doch noch viel zu jung für ... für ... für diese Sache.« Versuch der Beruhigung, bei dem es mir schwerfällt, das Wort auszusprechen. Das fiese K-Wort. Das für eine Krankheit steht, mit der ich allzu oft kahle Köpfe, fahle Gesichter und den Tod in Verbindung gebracht habe. Das passt nicht in das Bild, das ich mir von meiner kleinen Welt gemalt habe. Denn im Pielhau’schen Paradies fließen Milch und Honig in Strömen, Bambis dopsen wie Doktor Schnaggels über Felder und Wiesen und alle sind glücklich und gesund. Diese K-Krankheit aber, die ist furchtbar. Und furchtbar weit weg. Menschen bekommen leider K ... . Andere. Aber doch nicht ich.

Am Tag der Biopsie laufe ich mit dem Selbstvertrauen wie nach einem Bad in Drachenblut in der Klinik auf. Erst im Wartezimmer kriechen langsam Zweifel an meiner Wird-schon-Theorie in mir nach oben. Warum ist die Lächelquote der mich betreuenden Ärzte in den vergangenen Tagen so niedrig? Warum muss alles so schnell gehen? Warum hat mich bis jetzt keiner entwarnt oder ermutigt? Und: Warum hat noch keiner gesagt, was auch im Internet steht, dass nämlich 80 Prozent aller Biopsien einen gutartigen Befund liefern? (Und damit bestimmt natürlich unbedingt auch bei mir.) Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, später aber durch vermutlich nervtötendes Nachfragen erfahren sollte: Schon damals befürchten alle das Schlimmste. Die Prinzessin würde unglücklicherweise nicht glücklich bis an das Ende ihrer Tage leben.

Zunächst muss die Prinzessin sich allerdings einmal mehr ganz und gar unmajestätisch bäuchlings in die Horizontale begeben. Die betroffene Brust entblößt und durch eine Öffnung im Tisch dem Arzt zur Gewebeentnahme freigegeben. Immer wieder knallt die spießähnliche Gerätschaft in mein weibliches Weichteil, wovon ich (Halleluja, Betäubung) weder etwas spüre noch sehe. Aber die Geräusche reichen, um den Vorhang in meinem Kopfkino zu heben. Der Film, der sich da abspielt, kreist um eine naive, gänzlich unmedizinische Frage: »Kann der mit dieser Kanüle nicht die ganzen vermaledeiten X- und Ypsilon-Äste raussaugen, wenn er schon so rumstochern muss? Dann wäre dieses Aktenzeichen wenigstens gelöst.« Der Wunsch ist Vater der Idee. Doch der Herr im weißen Kittel ist nicht der Weihnachtsmann und die Liege hier kein Gabentisch. Und so bleibt es beim enttäuschten Gedanken an eine unerfüllte Bitte. Das Pieks-Prozedere dauert glücklicherweise nicht wirklich lang. Die Assistentin bemüht sich um Aufmunterung, als sie abschließend sagt: »Na ja, wenn es denn etwas Bösartiges sein sollte, dann sind Sie ja wenigstens noch früh dran, nicht?« Dankeschön. Das ging daneben. Wirkung fürchterlich verfehlt. Bösartig? Ich will nix Bösartiges. So steht es nicht in meinem Drehbuch. Das hier war bis jetzt mein Märchen. Und ich möchte Bestimmer sein, was das Ende angeht. Und mein »Ende aller Tage«, an das ich gefälligst glücklich und zufrieden heranleben will, ist jetzt schon mal gar nicht gekommen. Punkt.

Punkt. Punkt. Komma. Strich. Strich allerdings mit Mundwinkeln nach unten. Wieder warten. Meine Geduld wird strapaziert. Erstaunlicherweise und mit einer den Umständen entsprechend verwundernden Gelassenheit halte ich die zähen 24 Stunden ganz gut aus. Bis jetzt. Herzklopfen bis zur Gurgel.

Am anderen Ende der Leitung geht jemand ans Telefon. Mein Optimismus ist in dieser Sekunde einen Hauch größer als die Furcht vor einer Horror-Diagnose. Dementsprechend energetisch frage ich: »Na, Frau Dr. Gonzalez – was haben Sie denn Schönes gefunden in meiner Brust?« Sie zögert. Und raunt: »Wollen wir das nicht um 14 Uhr hier bei mir besprechen?« Das körpereigene Martinshorn nimmt seinen Betrieb auf. Und mein Herz beginnt zu rennen. Warum hat sie nicht einfach gesagt: »Nichts. Wir haben nichts gefunden. Es ist alles gut. Der Verdacht war unbegründet. Schönes Leben noch, Prinzessin. Glücklich und zufrieden, möglichst.« Das heißt noch nichts. Das heißt alles noch nichts, hämmert es in mir. Dennoch spüre ich eine ausgewachsene Hysterie aufkommen. Meine Stimmbänder hat sie schon erreicht, als ich ziemlich luftlos krächze: «Sagen Sie mir wenigstens eine Tendenz ...« (Bescheuert. Es gibt ja nur schwarz oder weiß. Aber es ist längst kein Einzelfall in der Menschheitsgeschichte, was ich gerade erlebe, dass die Angst den Verstand frisst. Restlos. Auch die Krümel.) Die Pause fühlt sich lang an. Sehr lang. Herzlich willkommen zu einem jener Momente im Leben, die man sonst nur aus Filmen kennt. Die Zeit scheint stehen zu bleiben. Alles verlangsamt sich. In mir und um mich. Und gleichzeitig wird alles schwer. Die Beine, der Hörer in der Hand, der eigene Atem. Marie Gonzalez scheint selbst etwas um Fassung zu ringen. Sie räuspert sich: »Es ist nicht gutartig.«

Rrrrummmms. Der Unfall ist eingetreten. Hat es außer mir noch jemand gesehen? Ich habe mich eben in die Fahrbahnmitte der A2 zwischen Berlin und Hannover gestellt, Höhe Magdeburg, zur Hauptverkehrszeit. Ein polnischer Laster hat mich frontal an seinen Kühlergrill geklatscht. Und da klebt sie nun, die Masse Mensch, die mal Miriam war. Denn mehr ist von meinem Ich gerade nicht mehr übrig. Der Fall, der nicht eintreten durfte. Mein persönlicher, privater, ureigener Un-Fall. » ... Nicht gutartig ... nicht gutartig ... nicht gutartig ...« Das verdammte Echo im Kopf hört nicht auf. Ich gebe den Hörer aus der Hand, starre vor mich hin und fühle mich plötzlich unglaublich leer. Das Einzige, was ich in diesem Hohlraum spüre, ist ein immer stärker werdender Schmerz. Wunde, entzündete, blutende Innenwände meiner Körperhülle. Es puckert. In der Brust. Im Kopf. In den Ohren. Ich höre und fühle nichts mehr. Außer Sturmwellen aus Blut, die mich fluten. Auf diesen Aufprall war ich nicht vorbereitet. Leider gibt es für so etwas keinen Airbag. Fuck it. Was mache ich jetzt? Ich ... erst einmal gar nichts. Thom nimmt mich in den Arm. Und bringt so meine Seele nach dem Crash in die stabile Seitenlage.

Er hat das Telefonat übernommen. Im Hintergrund murmelt er Fragen, seufzt hin und wieder ein »Hm ...« und vereinbart Termine. In mir steigen Bilder auf, die ich weder mag noch in irgendeiner Form verhindern kann.

Ich sehe mich in einem offenen Sarg. Stopp. Ich will das nicht. Bleich, grau und ohne Haare. Weg mit dem Bild. Weg. Ich sehe meine zierliche, geliebte Mutter, die weinend zusammenbricht. Meinen bärigen Vater, der hilflos schreit. Nicht weinen. Es wird alles gut. Meine Geschwister mit roten, verquollenen Augen. Ich sehe Thom, wie er weint und mich schüttelt, als würde mich das wieder lebendig machen ... Nicht, Liebster. Ich bin doch hier. Von mir gibt es aber nicht nur dieses leblose Ich, sondern auch einen Schatten. Unbemerkt von meiner Familie steht mein Schatten-Ich in einer Ecke und führt ein Zwiegespräch mit Gott: »Warum? Was hab ich so sehr falsch gemacht? Ich habe mich doch immer bemüht, so zu leben, wie du es gut findest. Warum darf ich nicht auch alt werden und Kinder und Enkelkinder haben? Warum?« Meine Kehle verengt sich unangenehm. Eine unsichtbare, aber monströse, kräftige Macht würgt mich. Und auch wenn ich sie nicht sehen kann, so kenne ich diese Gewalt schon. Ich hatte bereits einmal das zweifelhafte Vergnügen, ihr zu begegnen. Damals sind wir vor der Tsunami-Welle in Thailand geflohen. Meine Widersacherin hat einen einfachen, sehr hässlichen Namen: Todesangst.

Minuten des schweigenden Schocks. Schrecklich laute Stille. Kaum hörbares Atmen. Langsam kriechen meine Muskeln aus ihrer Starre hervor und versuchen sich in Zeitlupenbewegungen. Endlich, endlich, endlich lösen sich Tränen aus den Augen und es plumpsen fiepsige Töne aus mir heraus. Erbärmlich klingt das. Die Rinnsale aus Salz werden schnell viele und strömen über die Wangen. Zunächst ein leises Schluchzen, erfährt das Weinen langsam die Wucht der Verzweiflung. Es fließt aus mir heraus. Als hätte sich alles im Körper verfügbare Wasser hinter den Augen versammelt und nur darauf gewartet, dass der Schleusenwärter das Tor aufmacht. »Ich will nicht sterben, Thom! Noch nicht. Wir hatten doch noch so viel vor. Ich will nicht schon bald tot sein.« Zum ersten Mal, seit wir uns kennen, ist auch er sprach- und trostlos. Das Einzige, was ich spüre, sind warme Tropfen an meinem Hals. Und das unkontrollierte Zittern, das diesen sonst so stabilen Kerl durchfährt. Und so sitzen wir auf unserem Bett. Zwei wässrige Wesen, ein Doppelhäufchen Elend. An unserem Hochzeitstag.

2. 
Der K-Klub

»Ich habe ... K... – ich habe das also.« Nach einer kleinen Weile bringe ich diesen Satz über die vom Heulen trockenen und aufgeplatzten Lippen. Mann-o-meter. Was ist da gerade passiert? Das war ein Erdbeben. Meine heile Welt wurde erschüttert. Mein ausgefeilter Lebensplan auch. So wie mein Glauben daran, dass alles einen Sinn hat. Denn diese Diagnose halte ich für reichlich sinnlos. Nicht nur bei mir. Bei allen. Die ganze Scheiß-K-Krankheit ist es. Mein Kopf wusste genau das selbstverständlich schon immer. Mein Herz fühlt es gerade jetzt zum ersten Mal. So sehr, dass es wehtut. Überhaupt tut nichts nicht weh in diesem Augenblick. Alles ist schmerzhaft. Jeder Gedanke, jede Faser, jede Bewegung. So fühlt sich wohl porentiefe Hilflosigkeit an. In aller Schwäche bleibt noch ein kleines Plätzchen für bittere Ironie und ich heiße mich selbst willkommen. Na, dann. Tusch. Fanfare. Wir begrüßen unser neues Mitglied im K-Klub.

»War es das jetzt?«, frage ich mich abends. Habe ich wirklich schon kapiert und akzeptiert, dass nun mal ist, was ist – nämlich augenblicklich nichts wirklich gut? Mein Kopf bockt noch ordentlich und sieht nicht ein, dass offenkundig wenige Stunden reichen, um so einen Schock zu verkraften. Also bewege ich mich in Hab-acht-Stellung in meinen eigenen Gefühlen vorwärts, auf der Hut vor dem nächsten Tiefschlag.

Hinter uns liegt ein Nachmittag in der Radiologie. Wir sind natürlich noch hingefahren nach der telefonischen Desaster-Diagnose. So, als würde das das Ergebnis verbessern. Im Institut wurde ich quasi klinisch geprüft. Wie jede anständige Hautcreme. Befund- und Lagebesprechung. Dr. Gonzalez wiederholt das Unaussprechliche und bereitet mich auf die nächsten Schritte vor. Eine Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT) soll nach dem unguten Ergebnis der Gewebeprobe Aufschluss darüber geben, ob und wenn ja, was für ein garstiger Gesell es sich da in mir bequem gemacht hat. Und was mit meinen Lymphknoten wirklich los ist. »Wieso? Was könnte denn da sonst noch sein, außer der Drüsenerkrankung, die schon festgestellt wurde? Ist doch alles klar so weit.« Ich bin miserabel im Versuch darin, mir Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Dr. Gonzalez macht wieder das Gesicht. Hochgezogene Augenbrauen, kurzes Zögern, Luft holen: »Nun ja, wir müssen ausschließen, dass sich in den Lymphknoten schon Krebszellen befinden.« Und nach einer kleinen Pause: »Oder sonst wo im Körper.« Furcht sackt als flaues, schweres Gefühl in den Bauch. Ich sehne mich nach guten Nachrichten. Jetzt allerdings gilt es erst einmal herauszufinden, wie gravierend die schlechten sind.

Die MRT wird sofort durchgeführt und der Tumor ist alsbald ausgemacht. Er ist nicht riesig, aber auch nicht mehr winzig. Also schnell raus damit. Sagt Dr. Gonzalez. Mir geht das alles ein bisschen zu fix. Zu meiner natürlichen Abneigung gegenüber Ärzten und Krankenhäusern beziehungsweise allem, was an nicht gesund sein erinnert, kommt eine ausgeprägte Angst, um nicht zu sagen Panik, vor Operationen. Das hat nichts mit den Herren und Damen Doktoren oder ihren schicken Wirkungsstätten zu tun. Ich mag mich nicht, wenn ich nicht funktioniere. Und sowohl Arzt als auch Ambulanz sind eindeutige Zeichen fürs Funktionsuntüchtigsein. Deshalb. Seufzen. »OP? O.k. …« Von der Notwendigkeit der bevorstehenden muss mich selbstredend niemand mehr überzeugen. Nur: Muss das wirklich schon so bald sein? Es muss. Natürlich. Zeit zum Zögern bleibt nicht sonderlich viel. Denn bis zum Tag X muss ich einiges an Untersuchungen über mich ergehen lassen.

Zehn Tage hat meine Seele, um den Wissensvorsprung des Kopfes aufzuholen und gleichzuziehen. Zehn Tage, um mich von einem kleinen Teil meiner einst gesunden Brust und einem weitgehend unbeschwerten Leben zu verabschieden. Zehn Tage, um mich darauf vorzubereiten, dass ich nach der OP zwar hoffentlich frei von bösartigem Gewebe bin, dafür aber mit neuen Narben leben muss. Und zwar nicht nur den körperlichen.

In zehn Tagen wird operiert. Und dann wird das, was mich kaputt machen würde, aus mir rausgeholt. Das ist der medizinische Plan. Und Pläne sind gut. An Plänen kann ich mich orientieren. Sie geben mir und meinem Leben Struktur und damit Halt. Soweit der positive, der pragmatische Teil. Den anderen lerne ich auf unliebsame Weise kennen, als wir beide später am Abend endlich ein wenig zur Ruhe kommen. Wir lassen diesen unwirklichen Tag noch einmal Revue passieren. Leider und logischerweise bleibt das ersehnte Aufwachen aus dem Albtraum aus. Was die immer noch befremdliche Wahrheit nicht besser macht. Wir liegen auf unserem sonst sehr gemütlichen Sofa und erzählen uns unsere ungemütlichen Gedanken. »Thom?« – »Hm?« – »Ich hab Angst.« – »Hm.« – »Allerdings weiß ich noch nicht einmal genau, wovor genau.« – »Na, dass das ab jetzt unser Leben bestimmt. Auf unbestimmte Zeit.« Spricht es, und dann stockt er. Ich spinne den Gedanken auf meine Art und Weise weiter. Wohl wissend, dass er das nicht würde hören wollen: er, ein gut aussehender Mann in den knackigsten, allerbesten Jahren seines Lebens. Ich: K-Patientin. Bin wahrlich keine gute Partie. »In guten wie in schlechten Zeiten«, flüstert er da plötzlich leise. »Das haben wir uns doch versprochen.« Und weiter: »Versprechen muss man halten. Denn die besseren Tage, die kommen auch wieder.« Ich muss schlucken.

Jetzt heißt es aber, nicht nur die nächsten Tage, sondern Wochen und Monate zu überstehen. Und mit dieser verfluchten Angst leben zu lernen. Angst, dass diese Krankheit mein Dasein schneller beendet, als wir uns das beide gewünscht haben. Die Angst, einfach ziemlich bald auf ziemlich blöde Art zu sterben. Das ist es doch, was den Schrecken dieser Krankheit ausmacht – die Tortur (der Therapie) und der Tod. Der so unweigerlich, so ungnädig, so unwiderruflich daherkommt.

Es braucht ein paar Tage, bis ich lerne, dass das ganz und gar nicht der Fall sein muss. Dass – im Gegenteil – so eine Geschichte in der Mehrzahl der Fälle doch einen versöhnlichen Ausgang haben darf. Aber an diesem Abend scheint der Gevatter mit der dunklen Kutte unsichtbarer Dritter im Raum zu sein. Und das hält die Laune auf Gefrierpunkt-Temperatur. Und dennoch: Angst ist nicht alles. Wir machen uns auch Mut. Gegenseitig. Und jeder sich selbst. Reden uns Zuversicht und Hoffnung so lange ein, bis wir daran glauben. Was tatsächlich funktioniert. Genauso wie gemeinsam beten. Gott bekommt eine sehr, sehr lange Liste an Wünschen und Bitten. Dieses Mal nicht nur von uns, sondern auch für uns. Da hat er einiges abzuarbeiten, der Gute. Als wir spät in der Nacht beschließen, schlafen zu gehen, habe ich das angenehme Gefühl, dass das »Wir schaffen das!« überwiegt.

Mitten in der Nacht, im Bett liegend, im Dunkeln, von unheimlicher Stille umhüllt, überwältigen mich noch einmal die Gedanken und Eindrücke der vergangenen Stunden. Wen wundert es. Ich versuche, nicht zu sehr zu zucken und zu vibrieren, als ich zum letzten Mal an diesem Tag ziemlich heftig weinen muss. Wenigstens einer von uns soll etwas Schlaf bekommen. Ein rührseliger, wenngleich idiotischer Gedanke. Dass Thom zu seiner Bettseite gerollt gerade dasselbe Täuschungsmanöver versucht, wird er mir erst später erzählen. Während die Tränen ins Kopfkissen tropfen, führe ich, wie ziemlich oft in der Einsamkeit der Dunkelheit, ein lautloses Gespräch mit meinem alten Herrn. Und das dreht sich ausschließlich um die eine, immer wiederkehrende Frage: »Warum? Warum jetzt? Warum ich?« In andere Worte oder fantasiereichere Phrasen lässt sich die ratlose Leere dieser Stunden nicht packen. Ich weiß nicht, ob es eine Halbschlaf-Illusion oder doch schon ein handfester Traum ist, in dem mein Gott sich zu mir auf die Bettkante setzt und mir lächelnd die Gegenfrage stellt: »Warum ich – fragst du. Wer denn dann, wenn nicht du?« Die Antwort bleibe ich ihm selbstredend schuldig. Selbst den Menschen, die ich am allerwenigsten mag, würde ich dieses K-Ding nicht wünschen. Natürlich nicht. Niemand würde das. Also wird mir allmählich etwas sehr Simples und gleichermaßen leider ziemlich Schweres klar: keine Frage mehr nach dem Warum. Warum? Darum.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden bin ich dann mit vermutlich dicken Augen, ziemlich schwerem Herzen und großer emotionaler Erschöpfung eingeschlafen. Traurig sein. Hoffnung haben. Angst kriegen. Mut verlieren. Mut fassen. Das war alles ganz schön anstrengend. Trotzdem bin ich schon wenige Stunden später wieder wach und schlurfe, wie eigentlich immer, etwas träge ins Bad. Es ist erwartungsgemäß ein Spiegelbild des Grauens, das sich mir da bietet. Ziemlich blass, ziemlich verquollen und ziemlich dünnhäutig blicke ich einer mir in diesem Moment fremden Frau entgegen. Ich versuche eine Veränderung in meinem Gesicht festzustellen. So als müsste die Diagnose neben der akuten optischen Derangiertheit noch andere sichtbare Spuren hinterlassen haben. Irgendein Zeichen, ein Makel, ein Stempel. Ein kleines Wiedererkennungsmerkmal aller K-Klub-Mitglieder. Finden kann ich dergleichen natürlich nicht. Eine ganze Weile gestatte ich mir diese stumme »Zweisamkeit« und erforsche mein Gegenüber. Ich hüstle ein bisschen vor mich hin. Räuspere mich und rüttle damit die Stimmbänder wach. Der Mund öffnet sich einen kleinen Spalt. Und er sagt etwas, wenn auch sehr leise: »Ich habe Krebs.« Kein Erdspalt, der sich öffnet. Und auch sonst keine der Angelegenheit angemessene, spektakuläre Reaktion. Noch nicht mal ein kleiner Donnerschlag. Der Satz wird wiederholt. Mit lauterer und festerer Stimme: »Ich habe Krebs.« Pause. Und wieder: »Ich – habe – Krebs. Krebs. Krebs. Kreeebs!« Zwar bemerke ich das Wasser, das sofort in meine Augen schießt, meine Spannung rund um die Mundwinkel und den allzu bekannten unsichtbaren Würgegriff, doch ich reiße mich am Riemen. Nur weil der Krebs zurzeit in mir ein Zuhause hat, heißt das noch lange nicht, dass er die Hausordnung verändern kann. Und gemäß der Pielhau-Paragrafen bin ich in der Regel ganz schön stark, ziemlich zäh und sehr ausdauernd. Denn, Herr Krebs, ich lasse Sie nicht zu. Damit das klar ist. Ich habe nämlich noch sehr viel vor. Es gibt einige Länder, in die ich noch keinen Fuß gesetzt habe, die auf mich warten. Ein Haus hätte ich gerne. Und Kinder. Es gibt Menschen, die mich brauchen. Kurzum: ein Leben, das von mir gelebt werden will. Und das werden Sie ganz bestimmt nicht ändern. Sie sind allenfalls eine Hürde, eine Herausforderung. Aber doch nicht meine letzte. Kapiert? Ja. Sie mögen mich gestern vielleicht kurz in Ihrer Gewalt gehabt haben. Ja. Ich habe bemerkt, wie Sie versuchten, meine Moral zu demontieren. Meine Seele zu besetzen. Das lasse ich nicht zu. Heute muss ich Ihnen ins Gesicht sehen und feststellen: Verachtung. Mehr habe ich nicht übrig für Sie. Ihre Tage sind gezählt.

Ergo: ein Stück Stärke ist zurück. Wie auch sonst in meinem bisherigen Leben, bin ich überhaupt nicht willens, eine Fremdbestimmung zu akzeptieren. Erst recht nicht, wenn es eine gute Chance gibt, dass ich das direkte Duell gewinne. Die Schultern spannen sich nach hinten. Kinn hoch. Brust raus. Beide. »Wollen wir doch mal sehen, wer hier zuletzt lacht.« Ich leg schon mal vor. Hahaha. Sicherlich keine Krankheit, die so einen bescheuerten Namen hat. Haha. Zur Seite mit dem seitwärts laufenden Krebs. Das werde ich ihm schon beibringen, das flüchten und sich verflüchtigen.

Ein durch und durch dusseliger Dialog im Angesicht der K-Katastrophe. Ich weiß. Aber: Ein bisschen Fassungslosigkeit ist schon drin, wenn die eigene Welt um selbige ringt.

Ich will heute eine neue Zeitrechnung für mich beginnen. Tag 1 nach dem bisher schlimmsten Schlag in einem Leben. Und eben dieser Tag startet mit meiner Kampfansage. Ich habe das Visier bereits runtergeklappt und mein Schwert gezogen. Also, ich wäre dann so weit.

3. 
Die Gefährten

Die Rüstung sitzt. Was ich noch brauche, sind Mitstreiter und Weggefährten. Daran mangelt es noch ein wenig. Zu groß die Verantwortung, als dass sie neben mir von einem allein, Thom, getragen werden könnte. Oder? Aber: Wem sage ich überhaupt Bescheid? Und wie? Ich verbringe den Tag grübelnd und unsichtbare Gräben ziehend. Unruhig durchwandere ich in Kreisen unsere Gemächer, das Telefon in der Hand. Immer wieder wähle ich Nummern, um kurz vor dem Freizeichen aufzulegen. So sehr reden mein Beruf ist, so wenig Worte fallen mir gerade ein. Tja, es passiert einem eben nicht jeden Tag, dass man Krebs hat. Und auch noch anderen davon erzählen muss. Es ist nicht nur die eigene Angst, die mich hemmt. Sondern die Angst vor der Angst der anderen. Die Angst vor der Reaktion und meiner Reaktion darauf. Die Angst vor dem Schmerz, den der Schmerz der anderen auslösen wird. Ist das kompliziert. Aber ganz für mich behalten kann, will und darf ich es nicht länger. Nach etwa zwei Stunden, die ich damit zugebracht habe zu überlegen, wie ich wem sage, dass ich dooferweise recht ernsthaft erkrankt bin, wage ich den ersten Anruf. Bei Mama. Die Scheu davor ist unglaublich groß. Ich weiß nicht, wie sie die Nachricht verkraftet. Wir sind uns sehr nah. Schon immer gewesen. Durch Höhen und Tiefen in unseren Leben. Habe Sorge, dass ihre Sorge um mich sie zu sehr grämt. Dass sie es nicht aushält. Dass sie verzweifelt. Und leidet. Und weint.

Es kommt so anders. »Hallo Mama. Ich bin’s. Na, wie geht’s dir?« Die Stimme hält sich stabil. Unverfänglicher Einstieg. Es läuft. »Gut. Aber, sag mal, was ist denn los?« Ich bin kurz etwas beleidigt ob der misslungenen Täuschung. Aber so ist das halt. Versuche niemals den siebten Sinn deiner Mutter zu hintergehen. Geht sowieso daneben. Wie jetzt. Ich hole tief Luft, spare mir also die vorher sorgsam zurechtgelegten Small-Talk-Bausteine, und berichte. Meinen Worten aufmerksam folgend, entfährt ihr, als ich das Unheilvolle verkünde, nicht mehr und nicht weniger, als ein ziemlich zartes »Ach ...«. Kein Aufschrei, kein Klagen, kein hörbares Entsetzen. Nicht vor meinen Ohren. Gleichwohl ahne ich, dass sie all das nachholen wird, sobald wir aufgelegt haben. Der Gedanke an ihr Wehklagen macht mir Ziehen im Bauch. Doch augenblicklich gibt mir ihre demonstrative Stärke unendlich viel Kraft. Aus diesem kleinen Telefon kommt gerade so viel Energie. Ein phänomenales Medikament, diese Mutterliebe. Das heißt: Eine weitere wichtige Verbündete in meinem Feldzug gegen den verhassten Feind ist ausgemacht. Und ich stelle fest: Die positive Energie eines anderen geliebten Menschen wird zu meiner eigenen. Toll. Spitzensystem. Das will ich mir merken. Für dunkle Stunden.

Als wir unser Gespräch beenden, bin ich etwas gelöster. Nicht nur, weil sie es den Umständen entsprechend gut aufgenommen hat, sondern weil es sich erleichternd anfühlt, die Last mit den Liebsten zu teilen. Dennoch entscheide ich mich dafür, nur noch einer Handvoll weiterer Menschen das Gewicht dieser Nachricht zuzumuten. Die Reaktionen sind so unterschiedlich wie die Charaktermerkmale und Wesenszüge der Freunde, mit denen ich spreche. Gloria ist meine ältere Schwester, die ich nie hatte. Meine Sex-and-the-City-Freundin. Ihr fällt es hörbar schwer, mit dem Schicksal ihrer »Kleinen« klarzukommen. Sie hat zwar auch Angst. Aber die nach außen getragene Zuversicht überwiegt. Von jetzt an wird sie fast täglich anrufen, sms-Nachrichten schreiben oder e-mails. Kurz: liebevolle Omnipräsenz, die mich in den Arm nimmt. Aus Sorge, Fürsorge und um mir mit Geschichten ihres Sohnes, meinem Patenkind, ein Stück »normales« Leben zu schenken. Kira wird von blankem Entsetzen geschüttelt. Krankheit und Tod sind nicht ihre Lieblingsthemen. Deswegen hat sie darum bisher sehr erfolgreich einen ziemlich großen Bogen gemacht. Was sicherlich nichts außergewöhnliches ist, sondern sie mit vielen eint. Problematisch, dass sie sich plötzlich unweigerlich damit konfrontiert sehen muss. Denn ich bin ihre Konfrontation. Kira wird aus Freundinnenliebe diese, ihre persönliche Büchse der Pandora öffnen und das Thema Vergänglichkeit in ihr Leben lassen. Bedeutet: Sie stellt ihr Für-mich-Dasein über ihre Angst des Irgendwann-nicht-mehr-Daseins. Fiona – seit eh und je mein All-American-Girl. Eine Frau, die chronische Wangen-Verspannungen haben müsste, wenn es so etwas gibt – weil sie so viel lacht. Immer. Und überall. Ihre ersten Worte sind die der Hoffnung und des Mutes: »Die Freundin meiner Mutter hatte das auch. Ziemlich genau vor einem Jahr. Sie war schon wieder zweimal beim Friseur. Dann schaffst du das ja wohl auch.« Spricht es mit einer Leichtigkeit, die mir für einen Moment die ganze Schwere des Augenblicks nimmt. An dieses Telefonat werde ich mich oft erinnern, wenn es mal wieder nicht so gut geht. Und zu guter Letzt entfährt es Eva: »Ach, Miri ... es klingt so doof. Aber es trifft irgendwie immer die Falschen.« Ich weiß, wie sie es meint. Daher muss ich lächeln. Und an meinen schlauen Gott denken. Jaja, ich weiß: Wenn ich die Falsche bin, wer ist dann die Richtige?

Ich halte den Kreis derer, denen ich von meinem »neuen Lebensumstand« erzähle, klein. Sehr klein. Ich will nicht, dass so viele Bescheid wissen. Denn erstens hat meine persönliche Behörde dem Krebs die Aufenthaltsgenehmigung verweigert. Insofern ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis er ausreisen muss. Und zweitens: Je mehr es sind, die eingeweiht sind, umso realer wird es. Umso mehr tut es weh. Umso mehr Macht und Einfluss würde dieser Krebs bekommen. Diesen Gefallen tu ich ihm nicht. Ich nicht. Aber andere.

4. 
Jeder weiß es

»Sie wissen es.« Pause. Und dann leise und selbst ziemlich ge- und betroffen: »Es tut mir leid, Miri.« Mit »sie« meint meine Managerin die Reporter einer großen deutschen Zeitung. Ihre Worte treffen mich gänzlich unvorbereitet. Für einen Moment die Deckung vernachlässigt, schon rauscht die Information wie eine harte Linke in mein Gesicht. Diese Zeitung, kein Kumpel der Privatsphäre. Wenn die es heute wissen, wissen es morgen alle. Mir wird kotzübel. Und hysterisch zumute: »Das müssen wir leugnen. Abstreiten. Alles Quatsch.« – »Haben wir versucht. Sie haben offenkundig einen Informanten, der ziemlich genau über deinen Zustand Bescheid weiß. Vermutlich aus dem Krankenhaus. Und jetzt wollen sie von dir ein paar Aussagen dazu.« Schweigen. Wieder dieses Herzklopfen, diese Stiche in der Brust, wie vor wenigen Tagen, als ich erfuhr, was mit mir und meinem Gewebe los ist: »Auf gar keinen Fall. Ich rede nicht mit denen. Mit niemandem. Das geht doch keinen was an.« Und dann mit der Lautstärke der Empörung: »Die dürfen nicht einfach gegen meinen Willen allen erzählen, was gerade in meinem Leben passiert.« So sehe ich das. Dumm nur, dass die das allerdings deutlich anders sehen. Einen Nachmittag lang versuchen wir die geplante Veröffentlichung zu verhindern. Von Reden bis Rechtsanwalt. Vergeblich. Zur gleichen Zeit informiert meine Managerin die Leute, mit denen ich momentan zusammenarbeite. Wäre nicht so schön, wenn sie das Ganze aus der Zeitung erfahren. Denn, und damit kann ich mich nicht anfreunden, die Story wird erscheinen. Ich kann nichts dagegen tun. Schon wieder so eine Situation, wo fremdbestimmt über mich und mein Leben verfügt wird. Wie sehr ich das hasse. Und wie sehr mich das verletzt. Ich könnte heulen. Dieses Mal vor ungebändigter Wut. Wie verträgt sich das mit einem Mindestmaß an Menschlichkeit? Unter dem Deckmantel der Chronisten- und Informationspflicht, dem feist formulierten Ansinnen, »sie von Anfang an durch die Krankheit zu begleiten«, werden allerhand schmutzige Finger in meine offene Wunde gelegt. Hätte man nicht warten können, bis wenigstens ein bisschen Schorf darüber gewachsen ist? Meine Diagnose ist doch erst so wenige Tage alt. Ich weiß doch noch nicht einmal, ob ich diese Sache, dieses Jahr überlebe. Aber gut, dass vorsorglich schon mal die Republik über mein Elend in Kenntnis gesetzt wird. Herzlichen Dank auch. »Hoffentlich bauschen sie die Sache nicht so groß auf«, denke ich noch vor dem Einschlafen. Und mache mein Handy vorsichtshalber aus. Falls die Geschichte jemand lesen sollte, will ich morgen am Telefon nicht dauernd dasselbe erzählen oder auf Kurzmitteilungen antworten müssen.