Epub cover

CHRISTIAN Y. SCHMIDT

IM JAHR DES
TIGEROCHSEN

Zwei chinesische Jahre

Well I’m gonna China to see for myself

Gonna China gonna China

Just got to give me some Rock ’n’ Roll

John Lennon: Meat City (1973)

LASST HUNDERT WACKELBLUMEN BLÜHEN! (8)

Eine der Fragen, die man sich in China stellt, lautet: In welcher Zeit leben wir hier eigentlich? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. In einigen Teilen des Riesenreichs, speziell auf dem Land, lebt man sicher noch im Mittelalter. Die meisten Menschen in den Städten leben in der Gegenwart. Und betrachtet man einige öffentliche Gebäude wie den von Rem Kohlhaas entworfenen CCTV-Tower oder das neue Nationaltheater in Peking, das einem gelandeten Ufo gleicht, glaubt man, weit in die Zukunft katapultiert worden zu sein.

Geht es nach den Aufklebern auf den Autos, müssten wir allerdings gerade die Jahre 1968 ff. schreiben. Damals begann man in Europa damit, seine PKWs mit Stickern zu bepflastern. In China startete die Aufkleberitis im Herbst des vorletzten Jahres mit einer großen Verkehrserziehungskampagne. Der Öl-Konzern Sinopec und der Pekinger Stadtfernsehsender BTV verteilten im Vorfeld der olympischen Spiele 500.000 Aufkleber, auf der eine stilisierte Ampel abgebildet war und auf dem »Glatt Fahren 2008« stand. Die Aufkleber wurden begeistert angenommen. Wer sich nämlich einen an die Heckscheibe oder den Kofferraum pappte und von Kamerateams des Fernsehens bei vorbildlichem Fahren gefilmt wurde, konnte Benzingutscheine gewinnen. Diese Kampagne erinnert an Aktionen wie »Hallo Partner! Dankeschön!« aus den deutschen siebziger Jahren.

Seit Anfang diesen Jahres tauchen nun auf in meiner Nachbarschaft geparkten Wagen die ersten ironischen Aufkleber auf. Einige sind auf Englisch und teilen dem Passanten mit, Bruce Lee oder Mickey Mouse sitze mit im Wagen. Ein gewagteres Motiv zeigt ein stilisiertes Paar beim Sex; die Aufschrift lässt uns sehr eindeutig wissen: »We need sex.« Einige Autobesitzer haben sogar damit begonnen, ihre Fahrzeuge mit Blumen zu bekleben. Sie erinnern ein bisschen an die berühmten Prilblumen, die ebenfalls kurz nach Achtundsechzig en vogue waren. Etwas aus dem Love and Peace-Rahmen fällt nur ein Bumpersticker auf Chinesisch: »Es gibt Bären hier. Pass auf!«

Wie um dieses bunte Retro-Bild abzurunden, hat sich in den letzten Monaten im ganzen Land geradezu explosionsartig ein Äquivalent zum Wackeldackel ausgebreitet, der ja ebenfalls in den siebziger Jahren in Deutschland zur Standardausrüstung vieler Autos zählte. Nur handelt es sich in China hauptsächlich um Wackelblumen, die man auf der Konsole hinter der Windschutzscheibe platziert. Die Wackelblume wackelt mit ihren zwei Plastikblättern, die durch eine Fotozelle angetrieben werden. Das ist schon ziemlich öko.

Ich aber frage mich: Was passiert hier als nächstes? Lassen sich alle lange Haare wachsen, führen wilde Reden und brechen Straßenkämpfe vom Zaun? Wahrscheinlich ist das nicht, schließlich gab es das schon alles in der einen oder anderen Form. Eher werden auch hierzulande in ein paar Jahren alle nur dick und langweilig werden. Gleichzeitig erinnert man sich aber sehr gerne an eine irre, wilde Zeit, als die Autos verrückte Aufkleber und – hihi – Wackelblumen zierten.

EINGEHOLT VON MACKIE MESSER (9)

Ich hatte immer Angst vor Bertolt Brechts »Dreigroschenoper«. Das muss an meinem Vater liegen. Als ich ein kleines Kind war, sang er mir gerne aus der »Moritat von Mackie Messer« vor und versuchte dabei, seiner Stimme ein diabolisches Timbre zu geben. Er konnte allerdings nur die ersten vier Zeilen auswendig, und selbst bei denen machte er einen kleinen Fehler. »Und der Haifisch, der hat Zähne / Und die trägt er im Gesicht / Und Mackie, der hat ein Messer / Doch das Messer sieht man nicht.« Es hätte natürlich »Macheath« statt »Mackie« heißen müssen. Trotzdem: Diese Zeilen reichten aus, um mir für den Rest meines Lebens Angst vor diesem Mackie einzujagen.

Später, als braver deutscher Maoist, hatte ich mit Brecht dauernd Umgang. Das »Einheitsfrontlied«, der Film »Kuhle Wampe«, die »Maßnahme«, solche Sachen. Nur seinem berühmtesten Werk, der »Dreigroschenoper«, ging ich aus dem Weg. Und jetzt wurde ich von diesem Stück ausgerechnet hier in Peking eingeholt. In Unkenntnis meiner Phobie hatte nämlich meine Frau beschlossen, bei der »Dreigroschenoper« im hiesigen deutschen Chor mitzusingen. Vor drei Wochen war Premiere in der Deutschen Botschaftsschule. Das hieß: Ich konnte mich vor einem Besuch unmöglich drücken. Also fing ich an, mich zum ersten Mal in meinem Leben mit dem vermaledeiten Stück zu beschäftigen. Dabei machte ich eine erstaunliche Entdeckung.

Denn betrachtet man die Entstehungsgeschichte des Stücks genauer, stellt man bald fest, dass es nichts anderes ist als eine Raubkopie. Den Handlungsrahmen hat Brecht von John Gays »Beggar’s Opera« übernommen, einem Stück aus dem Jahr 1728, das in den zwanziger Jahren wieder entdeckt wurde und in England große Erfolge feierte. Ganze Verse der einzelnen Lieder hat der Autor bei dem Franzosen François Villon abgeschrieben, und Zeilen des »Kanonensongs« wurden von Rudyard Kipling geklaut. Außerdem hat Brecht Teile des Stücks von seiner damaligen Freundin Elisabeth Hauptmann schreiben lassen. Die tauchte zwar anfangs noch als Miturheberin auf den Plakaten auf, später aber nicht mehr. Als der Kritiker Alfred Kerr speziell Brechts Villon-Plagiat aufdeckte, redete sich der große Autor damit heraus, er habe halt in Sachen geistigen Eigentums eine laxe Einstellung, da »›Anführungszeichen‹« [⁠…⁠] riesig schwer zu dramatisieren« seien.

Eines der erfolgreichsten deutschsprachigen Theaterstücke der Geschichte ist also mit abgekupferten Versatzstücken gespickt. Und kein ernsthafter Kritiker findet heute mehr etwas dabei. Worüber, fragte ich mich, regt man sich also auf, wenn die Chinesen ein paar Autos oder Handtaschen kopieren? Wäre ich einer von ihnen, würde ich erklären: »Das ist kein Fake, sondern Kunst.« Das waren so meine Gedanken während der recht schmissigen »Dreigroschenoper«-Premiere. Kaum hatte ich sie zu Ende gedacht, war das Stück auch schon vorbei, ohne dass etwas Schlimmes passiert war. Und so wurde ich in China auch noch von meiner Mackie-Messer-Phobie geheilt.

DAS SANATORIUM DER KOHLENMINENARBEITER (10)

Ein richtiger Pekinger fährt im Sommer wenigstens einmal nach Beidaihe, dem Seebad 300 Kilometer von hier an der Bohai-Küste. Aus besonderem Anlass erledigten wir in ­diesem Jahr den Pflichtbesuch bereits Anfang Juni. Die Theatergruppe meines Schwiegervaters sollte bei einem Gesundheitskongress auftreten. Der fand im »Sanatorium der Kohlenminenarbeiter« statt, einer großzügigen Anlage direkt am Meer, wo ansonsten die Staublungenkumpels aus den Bergwerken der Provinz Shanxi wieder aufgepäppelt werden. Bei unserer Ankunft war der Kongress bereits voll im Schwange: Ältere Damen schwebten in rosa Seidenanzügen durch die Hallen. Männer mit Rauschebärten massierten auf dem Parkplatz desolate Kniescheiben. Und Funktionäre standen in den Foyers und rauchten sich im Namen der Gesundheit die Lungen schwarz.

Wir machten zunächst einen Bogen um den Rummel und aßen außerhalb der Anlage zu Abend. Aus dem Restaurantaquarium wählten wir ein Ding zum Essen, das aussah wie ein großer, in einem Horn lebender Penis. Als ihn der Kellner aus dem Wasser nahm, spritzte tatsächlich eine milchige Flüssigkeit aus seiner Spitze. Der Wasserpenis schmeckte dann wie durchschnittlicher Tintenfisch, kostete aber umgerechnet stolze acht Euro. Dafür gab’s am nächsten Tag für 3,50 Euro Vollpension im Sanatorium. Zum Frühstück empfing uns Onkel Li, der Chef der Theatergruppe. Wir aßen mit ihm und einem Mann mit gefärbten Haaren und gezupften Augenbrauen, der behauptete, wie dreißig auszusehen, ungefähr wie fünfundvierzig wirkte, tatsächlich aber dreiundsechzig war. Dazu gesellte sich ein anderer mit rotem Gesicht, der mit verbundenen Augen und auf dem Kopf stehend kalligraphieren konnte, wozu er Mundharmonika spielte. So stand es jedenfalls auf seiner Visitenkarte.

Abends wurde dann die große Gesundheitskongressgala gegeben und die Theatergruppe trat auf. Wie immer brachte mein Schwiegervater seinen Dialog zwischen einem fleißigen Ochsen und einem faulen Affen. Der Affe kam nicht gut weg. Neu im Programm war eine Nummer, in der es um Umweltschutz ging, und die zwei neu zur Gruppe gestoßene Damen aufführten. Das Publikum interessierte sich nicht die Bohne für die erbaulichen Sketche. Stattdessen begeisterte man sich für die Tänze verschiedener ethnischer Minderheiten Chinas, die von einer Gruppe älterer, aber drahtiger Scharteken in wechselnd bunten Kostümen dargeboten wurden. Obwohl keine Tänzerin tatsächlich einer ethnischen Minderheit angehörte, filmte ich die ganze Show.

Im Zug zurück in die Hauptstadt erklärte mein Gegenüber auf der Bank seiner etwa achtzigjährigen Tante drei Stunden lang schreiend, wie er mit dem Verkauf von zwei Parkplätzen 300.000 Yuan verdient hatte, und weshalb alle sonstigen Menschen blöde Fotzen seien, die allesamt keine Ahnung hätten und mal besser die Fotze ihrer Mutter ficken täten. Die alte Dame lachte alle fünf Minuten begeistert auf. Im selben Rhythmus stand der Fotzenprediger auf und rotzte in den Papierkorb. Und plötzlich dachte ich wieder daran, was für ein Glück ich habe, in China zu leben. Woanders halte ich es ja gar nicht mehr aus.

DORO RETTET GOETHE (11)

Ich gebe zu: Diese Kolumne war schon vor dem eigentlichen Ereignis fertig, jedenfalls in meinem vorurteilszerfressenen Kopf. Das Musikprogramm, mit dem das hiesige Goethe-Institut unter der Überschrift »Total Berlin! Total Deutschland!« – es fehlte »Total Krieg!« – uns Pekinger in diesem Juni bespaßen wollte, war nämlich wieder mal höchst bizarr. Eingeladen waren Bands, von denen man wohl nur bei Goethens überzeugt war, sie seien in Deutschland »berühmt«, u. a. die Heavy-Metal-Band Suidakra, die angebliche Punkband Vorzeigekinder, ein »Rockstar« namens Kira (»die mit dem Herzen singt«), die Gruppe Fotos und die Torpedo Boyz, dazu die Gothic-Rentner Deine Lakaien und zum zweiten Mal in Folge die Alt-Metallerin Doro Pesch. »Was Popmusik angeht«, hieß es, »sind sie es, die Berlin und Deutschland ganz und gar repräsentieren können.«

Vor allem diese gewagte Goethe-These wollte ich hier bezweifeln. Total Berlin? Laut Wikipedia kamen die meisten Musiker aus Monheim (Kreis Mettmann), Osterholz-Scharmbeck, Wuppertal und Landsberg. Nur die Werbe­jingle-Band Torpedo Boyz (Nestlé) hatte einen gebürtigen Berliner im Aufgebot. Bis auf Doro Pesch (New York) war also die totale Provinz nach Peking eingeflogen worden. Aber den Chinesen, so meint man wohl, kann man viel erzählen. Wenn es wenigstens interessante Bands gewesen wären. Doch das meiste, was ich mir von ihnen vorher aus dem Netz gezogen hatte, klang langweilig bis tausendmal gehört. Genau das wollte ich an dieser Stelle geißeln, wobei der Text in einem Aufruf zur Abschaffung der Goethe-Institute gipfeln sollte. Wer den Einfluss dieser Kolumne kennt, weiß, dass das der Todesstoß für diese Einrichtung gewesen wäre. Immerhin habe ich schon mal einen Außenminister gestürzt. Naja, fast.

Die Goethe-Institute gäbe es also nicht mehr, wäre ich zum Eröffnungsabend der Veranstaltungsreihe mit »original berlinerischster und deutschteste Popmusik« (Goethe) einfach nicht hingegangen. Doch ich ging. Zunächst lief auch alles wie gedacht. Beim »VIP-Empfang« vor dem Konzert wurde von ein paar Hundert gelangweilten Chinesen erst das opulente Buffet, dann ein Brandenburger Tor aus Sahne verspachtelt. Anschließend spielte Fotos (vorletzter Platz beim diesjährigen Bundesvision Song Contest in Potsdam) auf der Bühne irgendwas, das wie der millionste Aufguss von Tomte klang, nur verdaddelter. Genau das hatte ich erwartet und ich rieb mir ob des zu schreibenden Verrisses schon meine rauhen Hände. Aber dann kam ausgerechnet Doro Pesch und zerschmetterte mir mit ein paar simplen Akkorden den ganzen schön zurechtgelegten Text. Natürlich war das Musik, die sich zu Hause kein Mensch mit zwei intakten Ohren wirklich zumutet. Doch live klang sie plötzlich so frisch und kräftig, dass mich – genauso wie die plötzlich völlig enthusiasmierten Chinesen – eine Begeisterungswelle nach der anderen überkam. Woran das lag? Vielleicht nur daran, dass das hier nicht »deutschest« war, denn schließlich waren bis auf die Exildeutsche Pesch die anderen mitgereisten Bandmitglieder Amerikaner. Dass sie am Ende Goethes deutschen Abend retteten: Eventuell denkt mal einer – zwei gehen auch – drüber nach.

STREIKEN MIT AI WEIWEI (12)

Eigentlich ist Ai Weiwei kein schlechter Mann. Seine Idee, auf die letzte Documenta 1.001 Chinesen zu bringen, war zwar keine Kunst, aber wahrscheinlich gerade deshalb die beste Documenta-Aktion seit … ach, das können Sie sich jetzt mal selbst ergoogeln. Noch besser ist, dass sich Herr Ai inzwischen kaum mehr für Kunst zu interessieren scheint. Stattdessen versucht er, per Blog und Twitterei die chinesische Regierung zu nerven. Das kann er sich leisten, denn er ist nicht nur eine internationale Berühmtheit, sondern auch ein Mann mit einem Sack voll Geld, der einen Stab von Angestellten hat und in den Suburbs von Peking in einem großen Villenkomplex residiert, der so groß ist wie anderswo moderne Kunstmuseen.

Natürlich ist das Nerven von Regierungen ebenfalls eine gute Sache. Wenn es auch die Regierungen nicht beseitigt, so macht es sie doch schlauer. Allerdings ließ Ais jüngste Nervidee doch einiges zu wünschen übrig: Für den ersten Juli rief er zu einem chinaweiten Internet-Streik auf. Ab diesem Stichtag, so hatte die Regierung angeordnet, sollten nämlich in ganz China nur noch Computer mit so genannter Green-Dam-Porno- und Polit-Filtersoftware verkauft werden dürfen. »Aber«, so fragte ich den Meister, als ich ihn kurz vor dem avisierten Streik zusammen mit einem Pulk Journalisten besuchte, »ist denn diese ganze Filtersoftware nicht nur ein Witz?« Schließlich wusste zu diesem Zeitpunkt bereits jeder zweite Chinese, dass das Programm nicht funktionierte, und auch ohne Weiteres von der Festplatte zu löschen war. Obendrein hatte sogar die staatliche Presse die Einführung des Filters massiv attackiert. »Wir dürfen«, schrieb z. B. China Daily, »der Green-Dam-Software nicht erlauben, unseren Weg in die Zukunft zu blockieren.«

Damit war der ominöse grüne Damm eigentlich schon vom Tisch, bevor ihn die Regierung dann am 30. Juni offiziell beerdigte. Doch obwohl das abzusehen war, wollte Herr Ai von seinem Internet-Streik nicht lassen. Kein Mensch in China sollte am 1. Juli online gehen. »Aber wie wollen Sie«, bohrte ich weiter, »die Beteiligung am Streik überprüfen?« Ai verstand nicht ganz. Ich wiederholte: »Wie messen Sie denn den Streik-Erfolg?« »Der Erfolg ist doch schon eingetreten«, gab Ai Weiwei zurück. »Sofort nachdem ich die Streikidee gebloggt hatte, meldete sich die internationale Presse bei mir. Ich habe dann etliche Interviews gegeben.«

Das ist anscheinend eine ganz neue Form von Streik, die ich noch nicht kannte. Je länger ich aber über sie nachdenke, desto besser gefällt sie mir. Vielleicht sollten wir einen solchen Ai Weiwei-Streik auch in Deutschland mal probieren. Also: Hiermit fordere ich alle Leser auf, zwei Wochen lang in einen Zeitungslesestreit zu treten, bis das Merkel-Regime nachgibt, und äh … den Palast der Republik abreißt … im September Wahlen anberaumt … und es den 23. Juli werden lässt. Dann sollte der Streik allerdings beendet werden, weil die nächste Folge dieser Kolumne erscheint. Und damit ist für heute Schluss. Ich will mich noch ein bisschen vorbereiten, weil gleich das Telefon klingelt und ich der Weltpresse einen Haufen Interviews geben muss.

DRUCKT DIE FOTOS DER ERSCHLAGENEN HAN-CHINESEN! (13)

Eigentlich wollte ich heute etwas Lustiges über die chinesische Ächzsprache bringen. Doch dann ereignete sich Anfang dieses Monats etwas im Westen Chinas, das die deutsche Presse als »Demonstrationen«, »Unruhen« oder als »Krawall« beschrieb. Deshalb fällt das Lustige heute aus. Tatsächlich waren nämlich diese »Unruhen« in Urumqi, der Hauptstadt der autonomen Region Xinjiang, nicht anderes als ein Massaker oder treffender: ein Pogrom. Und das wurde nicht von der chinesischen Polizei veranstaltet, sondern von Teilen der uigurischen »Demonstranten«.

Um das herauszufinden, brauchte allerdings auch ich zunächst ein wenig Zeit. Als ich die ersten Nachrichten von Toten in Urumqi hörte, hatte ich zunächst die chinesische Polizei als Täter in Verdacht. Doch dann bemerkte ich aufgrund von Fotos und Videos, die offenbar uigurische Aktivisten kurz nach dem Ausbruch erster Krawalle ins Internet gestellt hatten, dass an dieser Version etwas nicht stimmen konnte. Die Polizisten, die hier den uigurischen Demonstranten gegenüberstanden, machten eher einen hilflosen als aggressiven Eindruck. Auch gab es trotz der Bilderflut nur sehr wenige Fotos von uigurischen Opfern. Stattdessen waren im Netz bald eine große Zahl von Fotos zu finden, die erkennbar überwiegend Han-Chinesen zeigten, die mit zerschmetterten Schädeln und verrenkten Gliedern in ihrem Blut mitten auf der Straße lagen. Die meisten Opfer waren mittelalte bis ältere Männer und Frauen, manche waren mit dem Fahrrad unterwegs. Und ziemlich offensichtlich wurden sie nicht bei Straßenkämpfen getötet. Man hatte sie zu Tode geprügelt, erstochen oder mit Steinplatten erschlagen, offenbar nur, weil sie Han-Chinesen waren.

Natürlich wollte ich von diesem furchtbaren Fund Mitteilung machen. Deshalb verlinkte ich einige Opferfotos auf meiner Facebook-Seite. Ein Freund aus Deutschland kommentierte: »Nein, davon erfährt man aus der hiesigen Presse nichts.« Dafür wurde hier der Propaganda des uigurischen Oppositionsbündnis »World Uyghur Congress« um Rebiya Kadeer viel Platz eingeräumt. Der WUC behauptete unter anderem, die chinesische Polizei habe unter den Uiguren »ein Massaker ohne Beispiel« angerichtet, mit Tausenden von Toten. Dass das eine ausgemachte Lüge war, stand in den deutschen Zeitungen nicht. Das aber schrieb wenigstens zu Teilen die angelsächsischen Presse, deren Reporter in Urumqi recherchierten. Der britische Telegraph erklärte: »Es gibt kaum Beweise, die Frau Kadeers Behauptungen stützen. Eine Serie von drastischen Fotos zeigt dagegen eine überwältigende Anzahl von han-chinesischen Leichen …⁠« Ähnliches las man auch im Guardian, im Economist und in einer AP-Meldung. Ich aber frage mich, wann der Tag kommt, an dem auch die deutsche Presse über Ereignisse in China ähnlich unvoreingenommen berichtet? Ein Anfang könnte sein, wenn jede deutsche Zeitung wenigstens ein Foto der in Urumqi hingemetzelten Han-Chinesen abdruckte. Nur eins!

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Bis auf die Zeitschrift Konkret ist meines Wissens keine deutsche Zeitung diesem Aufruf gefolgt. In Konkret illustrieren mehrere Fotos einen Text, in dem ich noch einmal detaillierter ausbreite, weshalb ich der Meinung bin, dass die Täter in Urumqi uigurische Separatisten waren. Der Artikel findet sich im Anhang.

ANTIPOSING IN PEKINGS PRINZENBAD (14)

Im Sommer ist es in Peking durchgehend heiß und schwül: Eigentlich perfektes Freibadwetter. Doch leider gibt es für uns siebzehn Millionen Pekinger nur sehr wenige Freibäder. Das liegt wohl daran, dass, wie an jedem Badestrand zu sehen, die meisten Chinesen eine panische Angst vor Wasser haben und deswegen das Schwimmen gar nicht erst erlernen. Wie bei den letzten olympischen Spielen die vielen chinesischen Goldmedaillen im Schwimmen zustande kamen, bleibt deshalb eins der großen Menschheitsrätsel.

Weil also die meisten Chinesen Nichtschwimmer sind, ist in den wenigen Freibädern kein Becken tiefer als ein Meter fünfzig. Das letzte Becken, das eins achtzig tief war, gab’s im Arbeiterstadion-Schwimmbad. Doch weil das eine so mörderische Tiefe ist, musste jeder, der auch nur das Areal um das Becken herum betreten wollte, sich vorher einer Gesundheitsprüfung durch zwei pensionierte Krankenschwestern unterziehen. Die horchten mit einem Stethoskop Herz und Lunge ab und maßen mit zittrigen Fingern den Blutdruck. Anschließend hatte man zwanzig Minuten unter Aufsicht eines rauen Bademeisters in dem Becken zu schwimmen. Wer diesen Test überlebte, erhielt einen Pass, der es ihm erlaubte, den schwer bewachten Checkpoint zum »Tiefen« zu passieren. Ich habe den Pass vor drei Jahren bekommen, aber als ich ihn ein zweites Mal benutzen wollte, war das Schwimmbad geschlossen. Es hat dann auch nicht wieder aufgemacht und rottet auch heute noch mitten in der City lustig vor sich hin. Wahrscheinlich um keine Menschenleben zu gefährden.

Das Arbeiterstadion Schwimmbad war auch das letzte Freibad in Peking, das noch ein rechteckiges Schwimmbecken hatte. Die heutigen Bäder sind dagegen alle Spaßbäder mit Becken, die amorphe Formen haben, fünferlei Rutschen, hineingemauerte Piratenschiffe und Elefanteninseln. Der meiste Schnickschnack ist jedoch kaputt oder abgestellt. So bleibt dem Badegast eigentlich nur, im Wasser herumzustehen, die anderen Gäste mit dicken Wasserbazookas nasszuspritzen und so laut, wie es die eigenen Stimmbänder erlauben, zu schnattern. Ein paar Taugenichtse nutzen auch die Gelegenheit, ihren Tattoos (Drachen, Goldfische, nackte Weiber) den Pekinger Himmel zu zeigen.

Nur in der Waterworld im Qingnianhu Park ist alles ein bisschen anders. Hier gibt es nämlich eine langgezogene Betontreppe mit fünf großen Stufen, auf der man liegen, sitzen, lesen und herumposen kann, ganz so wie auf der berühmtesten Freibadposertreppe der Welt im Berliner Prinzenbad. Die Pekinger Treppe wird aber nur am Wochenende benutzt, wenn die Beckenränder hoffnungslos überfüllt sind, und dann auch meistens nur von Ausländern. Das muss wohl daran liegen, dass es die Chinesen nicht so mit dem Posen haben.

Mir kommt das sehr entgegen. Denn so ist ausgerechnet in der überbevölkerten Riesenstadt Peking ein alter Lebenstraum von mir in Erfüllung gegangen: Eine Freibadposertreppe nur für mich. Hier kann man mich jetzt fast jeden Tag herumlümmeln sehen, immer wieder belinst von Pulks neugieriger Chinesen. Sollten Sie aber nach diesem Text auch Lust auf das Qingnianhu-Bad bekommen haben: Von mir aus kommen Sie! Aber Hände und Körper weg von der Treppe! Die gehört mir!

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Dass die Poser-Treppe im Qingnianhu-Bad inzwischen auch von einigen Chinesen zum Posen benutzt wird, hatte ich bereits im Vorwort erwähnt. Dass sie sich dafür extra mit extrem glänzenden und tiefbräunendem Kokosnussöl einschmieren, noch nicht. Mehr zum Umgang der Chinesen mit tiefem Wasser findet sich im Kapitel »Chinesen am Strand«.

MILLIONÄR WERDEN UND BLEIBEN! EIN RATGEBER (15)