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Aus dem Feuer gerissen

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Aus dem Feuer gerissen

Die Geschichte des
Pjotr Ruwinowitsch Rabzewitsch aus Pińsk

Herausgegeben und bearbeitet
von Werner Müller

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2. leicht veränderte Auflage, Januar 2002

CIP-Einheitsaufnahme: Müller, Werner
Aus dem Feuer gerissen / Werner Müller
Köln: Dittrich, 2001

ISBN 3-920862-30-9

© DittrichVerlag, 2001

Lektorat: Alexander Kunz
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

www.dittrich-verlag.de

Nicht mitzuhassen
mitzulieben bin ich da
Antigone

Für Elisabeth Erb
in Dankbarkeit

VORWORT

GIDEON GREIF

Yad Vashem, Israel

Kein Dokument ist fähiger eine alte Zeit zum Leben zu erwecken, Gefühle wieder aufleben zu lassen, Zustände und innere Konflikte darzustellen, wie die persönliche Aussage. Zu solchen Aussagen, die von erster Quelle gegeben werden, gibt es keinen Ersatz. Diese allgemeine Behauptung ist immer richtig, besonders, wenn es sich um die Zeit der Schoa handelt. Auch wenn wir durch die vorübergegangene Zeit manche Fakten nur noch unscharf erkennen können, so kann sie die Vergangenheit nicht ausradieren, insbesondere nicht, wenn es um die Epoche der Schoa geht. Dank der persönlichen Geschichten sind wir im Stande, wenn auch nie vollständig, das, was den Juden während dieser schrecklichen Zeit geschehen ist, zu verstehen, warum sie auf welche Art und Weise reagierten und was genau hinter ihren Entscheidungen und Schritten stand.

Nach vielen Jahren der Vernachlässigung spielt das Gebiet der »Interviews mit Holocaust-Überlebenden« eine wichtige Rolle in der Forschung. Tausende von Holocaust-Überlebenden wurden im Auftrag von verschiedenen Institutionen wie Yad Vashem in Israel, Holocaust Memorial in Washington, die Schoa-Foundation von Steven Spielberg und anderen befragt.

Und trotzdem gibt es noch viele Überlebende, die von den oben genannten Institutionen leider nicht entdeckt wurden, sei es, weil sie geographisch weit entfernt leben oder einfach weil sie unbekannt sind und sich nicht in die Öffentlichkeit bringen wollen. Jeder dieser Überlebenden, dessen Geschichte nicht veröffentlicht wurde, trägt einen historischen Schatz mit sich, den aufzuspüren und zu bergen unsere Verpflichtung ist. Wir müssen die Menschen zum Sprechen bringen, bevor es zu spät ist, denn die Epoche der Holocaust-Überlebenden geht unweigerlich zu Ende. Viele wichtige Informationen kommen aus den Mündern dieser Menschen – dieses Material wird der Rohstoff für die zukünftige Holocaust-Forschung sein, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und um diese den nächsten Generationen zu lehren. Die persönliche Aussage aus der Zeit des Holocaust ist für unseren Versuch, die Schoa zu verstehen, lebensnotwendig – ein Versuch, der uns als zivilisierten und gebildeten Menschen wichtig ist. Die Überlebenden liefern uns neue Gesichtspunkte, Feinheiten und Farben, die uns sonst kein Dokument und keine andere offizielle schriftliche Quelle bieten kann. So bestehen große Zweifel daran, ob wir von der Existenz mancher Orte oder Geschehnisse aus der Zeit der Schoa wüssten, wenn wir nicht bestimmte persönliche Aussagen darüber zur Verfügung gehabt hätten. Es ist deshalb eindeutig und verständlich, dass in diesen Jahren alle Anstrengungen unternommen werden müssen, um Holocaust-Überlebende zu interviewen, jene letzten, die überlebt haben und auch bereit sind, zu erzählen. Die nächste Generation wird uns nicht verzeihen, wenn wir in der Durchführung dieser Aufgabe nachlässig sind.

Ich bin der Ansicht, dass man besonders Deutsche hervorheben soll, die ihre ganze Energie aufwenden, um Überlebende der Schoa zu interviewen. Dies ist in meinen Augen ein Symbol der Hoffnung für die beiden Völker, für das jüdische und das deutsche.

Wie in so vielen anderen Fällen, war auch hier die Initiative eines Menschen von Nöten, der ein lebendiges und empfindsames Interesse am Thema »Dokumentation von Holocaust-Überlebenden« mitbringt. Ein solcher Mensch wurde in der Person des Kölners Werner Müller gefunden, der uns in diesem Band ein wichtiges Fundament einer Geschichte präsentiert, die durch so viel Trauer, Leiden und Qualen des jüdischen Volkes gekennzeichnet ist. Werner Müller, Intellektueller, Autor und Kenner der Geschichte der Schoa hat durch Neugierde sowie menschliches und historisches Interesse den Überlebenden Pjotr Ruwinowitsch Rabzewitsch kennengelernt und freundschaftliche Kontakte geknüpft. Es ist ihm gelungen, von seinem Gesprächspartner die detaillierteste und umfassendste Geschichte dieses interessanten Mannes während der Zeit der Schoa zu erhalten. Der Autor ist ein geduldiger und sehr einfühlsamer Zuhörer und so gelang es ihm, seinen Gesprächspartner auf die richtigen Wege zu leiten – nicht wenige Interviews nehmen gerade wegen des mangelnden Könnens des Interviewers Schaden, dies ist hier nicht der Fall!

Auf dem Hintergrund der Erinnerungen von Pjotr Ruwinowitsch Rabzewitsch nähern wir uns der Geschichte der jüdischen Gemeinde der weißrussischen Stadt Pińsk. Dies war eine, was man in der jüdischen Geschichte als Ir Wa‘em Be Israel (Stadt und Mutter in Israel) bezeichnet, wichtige, lebendige und reiche Gemeinde – nicht wirtschaftlich, sondern reich an Kultur und Tradition. Von den über 30 000 Juden in Pińsk, die jahrelang ein herrliches und vielseitiges Leben führten, sind nur wenige am Leben geblieben. Die jüdische Bevölkerung musste während der Nazi-Zeit grausame Folterungen ertragen. Die Aussagen über die erlittenen Misshandlungen und Qualen sind schockierend. Es scheint, dass keine Folter ausgelassen wurde. Hier ein Beispiel, das im Gedenkbuch für die Gemeinde Pińsk erscheint: Der Rabbiner Galitzki wurde von den Deutschen aus seinem Haus getrieben. Dann wurden seine Schläfenlocken abgeschnitten, anschließend warf man ihn weit über die Eisenbahnschienen und schrie: »Bringt uns Wasser! Wir haben einen stinkenden Juden angefasst«.

Die Beschreibungen all dieser unterschiedlichen Aktionen, bei denen Tausende von Juden brutal erschossen wurden, sind herzzerreißend. Kein Mitleid und kein Erbarmen wurde den Juden aus Pińsk zu teil. Mütter, Kinder, Großeltern, Brüder und Schwestern wurden geschlagen, erniedrigt, ausgeraubt und erschossen. Unzählige starben einen qualvollen Tod. Dieses Buch schenkt uns mehr als nur die reine Aussage, denn sie wird begleitet und umrahmt von klugen und relevanten Anmerkungen, einem guten Glossar und passenden Fotos. Das Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Holocaust-Literatur und ein Denkmal für die jüdische Gemeinde von Pińsk, von der nur wenige überlebt haben, die uns über das schreckliche und furchtbare Leid, das die Deutschen unter den Juden angerichtet haben, berichten könnten.

Auch wenn es für Außenstehende manchmal nicht den Eindruck erweckt, so gibt es auch in der Forschung zur Schoa noch immer Gebiete, über die wir bis heute sehr wenig oder fast gar nichts wissen. Viele Ghettos in Osteuropa, in denen die Mehrheit der Juden ermordet wurde, besitzen keine würdigende Dokumentation, und auch aus diesem Grund muss der Arbeit des Autors die höchste Wertschätzung entgegengebracht werden.

Mit dem Wissen um Menschen wie Werner Müller und seiner Frau Margret bin ich überzeugt davon, dass Dank solcher Leute ein neues Deutschland existieren wird, denn was Werner Müller vollbracht hat, ist eine Mitzwa (gute Tat), und wie wir im Judentum wissen, vergrößert das Vollbringen einer Mitzwa die Chance ins Paradies zu gelangen. Im vorliegenden Fall beinhaltet die Mitzwa die Rettung einer historischen Geschichte, die sonst verloren gegangen wäre. Denn was ist denn die Geschichte der Schoa? Sie ist doch schließlich ein Mosaik von individuellen und sehr persönlichen Geschichten. Viele dieser Geschichten klingen sehr ähnlich, aber wenn man sie näher betrachtet, erkennt man die Unterschiede: Jedes Individuum war gefordert, mit dem Leiden, mit dem Untergang, mit dem Sterben und mit der Vernichtung auf seine Art und Weise fertig zu werden. Deshalb ist die persönliche Aussage aus der Schoa-Zeit so wichtig und von daher ist es so bedeutsam, sie zu retten, bevor es zu spät ist und sie mit ihrem Träger zu Grunde geht.

Dieses Buch wird das Vergessen einer jüdischen Gemeinde, die nun nicht mehr existiert, verhindern und das ist sehr wichtig, denn wir dürfen nicht vergessen. Das vorliegende Buch von Werner Müller wird den letzen Willen der Pińsker Juden erfüllen: dass man sie nicht vergessen soll und dass ihr Tod nicht umsonst war.

EINFÜHRUNG VON WERNER MÜLLER

Pjotr Ruwinowitsch aus Kiew war geradezu besessen von dem Wunsch, seinen Retter zu finden. Kurz nach seiner Ankunft in Warschau, wo wir uns im Juni 1996 das erste Mal begegneten, sagte er zu meiner Frau, wir müssten ihm helfen, seinen Retter zu suchen. Es vergingen noch zwei Tage, bis wir endlich Zeit hatten, uns seine Geschichte anzuhören.

Da meine Frau und ich nicht russisch sprechen und unsere Dolmetscherin uns nicht zur Verfügung stand, war es nicht leicht, sich mit ihm zu verständigen. Seine Sprache war eine Mischung aus Deutsch und Jiddisch, in die ich mich erst einhören musste.

Pjotr Ruwinowitsch zeigte uns Ablichtungen seiner Dokumente, die er in einer Plastiktüte bei sich trug, und erzählte: Während des Krieges habe er im Ghetto Pińsk gelebt. Er sei der einzige Überlebende des Ghettos. Ein deutscher Soldat1 habe ihn gerettet, als 28 000 Juden in Pińsk ermordet wurden. Er suche seinen Retter, um ihm zu danken oder seiner Familie zu sagen, was für ein wunderbarer Mensch er war, und wir sollten ihm dabei helfen.

Die Ermordung der geliebten Familie und Freunde und das Leid der Menschen im Ghetto hat er nicht vergessen. Es erfüllt ihn noch heute mit unendlichem Schmerz. Jedes Jahr, wenn er im Oktober nach Pińsk fährt, um der Ermordeten zu gedenken, ist er anschließend eine Woche lang krank. Trotzdem räumt er heute dem Guten, das er in jener Zeit erlebt hat, einen größeren Platz in seiner Erinnerung ein. Er lebt aus diesem Gedächtnis des Guten und schöpft daraus seine Kraft.2

Er hat vom jüdischen Leben im Schtetl erzählt, wie er es in seiner Kindheit und Jugend erlebt hat und wie es in seiner Erinnerung noch lebendig ist. Die jüdischen Schtetl, ihre Menschen und ihre Kultur sind im Zweiten Weltkrieg vernichtet und ausgelöscht worden. Seine Erinnerung rettet Spuren dieses jüdischen Lebens, wenn auch nur in Bruchstücken, aus der Vergangenheit herüber in die Gegenwart.

Die ermordeten Juden haben keine Gräber. Viele Namen sind vergessen. Deshalb sollen die Namen seiner Familienangehörigen und die von Pjotr Ruwinowitsch noch erinnerten Namen der ermordeten Juden zur Erinnerung und zum Gedenken dem Vergessen entrissen werden.

Mit der Suche nach dem Retter hatten wir schneller Erfolg, als wir zu hoffen gewagt hatten. Bereits im November 1996 bekamen wir von der »Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht« Nachricht, die Familie des Retters sei gefunden. Der Retter war 1979 gestorben. Die Witwe des Retters lebt in der Nähe von Köln. Als wir Pjotr Ruwinowitsch am Telefon diese Nachricht übermittelten, sagte er spontan und überglücklich: »Gott, es gibt ihn noch. Ich bin neu geboren.«

Wie er uns später erzählte, hatte er seit unserer Begegnung in Warschau bis zu diesem Tag in der festen Überzeugung gelebt, dass wir bei der Suche nach seinem Retter Erfolg haben würden.

Ich habe mehrere Tonbänder und Videoaufzeichnungen mit Interviews und Pjotr Ruwinowitschs Bericht, die alle während seines Aufenthalts in Köln 1997 und im September 1999 entstanden sind. Ganz bewusst habe ich mich entschieden, seine Geschichte nicht literarisch zu bearbeiten.

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Pjotr Ruwinowitsch erzählt zum ersten Mal in Köln seine Geschichte vor einem größeren Kreis. Von links nach rechts: Margret Müller, Ewgenia Abramowna, Pjotr Ruwinowitsch und Werner Müller.

Nur Pjotr Ruwinowitsch soll zu Wort kommen. Die aufgezeichneten Interviews und alles, was er erzählt hat, habe ich chronologisch geordnet und in eine fortlaufende Erzählung umgewandelt. Dabei habe ich Wiederholungen weggelassen, sprachliche Unklarheiten behutsam korrigiert und fremdsprachliche Teile ins Deutsche übersetzt. Pjotr Ruwinowitschs Art zu erzählen sollte so authentisch wie möglich erhalten bleiben!

Es gibt unterschiedliche Schreibweisen für die Ortsnamen. Als Pjotr Ruwinowitsch geboren wurde, waren es polnische Orte, die durch den Hitler-Stalin-Pakt und die Folgen des Zweiten Weltkriegs zur ehemaligen Sowjetunion kamen. Ich habe die von Pjotr Ruwinowitsch gebrauchte polnische Schreibweise beibehalten. Abweichende mir bekannte Schreibweisen habe ich jeweils bei der ersten Nennung des Ortsnamens in Klammern hinzugefügt.

Wenn Pjotr Ruwinowitsch über das Judentum oder jüdisches Leben berichtet, gebraucht er viele jiddische Ausdrücke. Diese Ausdrücke habe ich übernommen und nicht die hebräischen Ausdrücke verwandt. Im Glossar sind sie erläutert. Die jiddischen Ausdrücke sind kursiv wiedergegeben. Es gibt jedoch nicht das Jiddische, sondern es wird in den einzelnen Regionen unterschiedlich gesprochen, oft sogar innerhalb einer Region von Dorf zu Dorf, ja sogar von Familie zu Familie. Die hier gebrauchte transkribierte Schreibweise lehnt sich möglichst eng an Pjotr Ruwinowitschs Aussprache an.

Pjotr Ruwinowitsch erzählt seine Erlebnisse aus der Erinnerung eines Neunzehnjährigen, der nach seinen eigenen Worten das Geschehen jeden Abend wie einen schrecklichen Film vor seinen Augen ablaufen sieht. Dieses Phänomen ist weithin bekannt. Walther Petri spricht in seinem Essay »Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz« vom Wunder, dass überhaupt einige Menschen überlebten, ohne jedoch die Orte des Schreckens in ihrem Bewusstsein jemals ganz verlassen zu können.

Ich bin kein Historiker, beschäftige mich aber intensiv mit den Verbrechen der Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus und ganz besonders mit den Opfern. Durch gezielte Suche bin ich auf Dokumente und Berichte über die Ereignisse in Pińsk gestoßen, die Pjotr Ruwinowitschs Schilderungen bestätigen und ergänzen. Diese Berichte und Dokumente sind im zweiten Teil des Buches im Anhang versammelt. Ich wollte den Fluss der Erzählung nicht zu sehr unterbrechen. Andererseits aber sollte die subjektive Schilderung dieses Zeitzeugen, der Überlebender des Völkermordes an den Juden ist, eingebettet werden in Dokumente und Beschreibungen anderer Zeitzeugen, die auch verfolgt wurden oder auf der Täterseite standen und den Tathergang aus einem anderen Blickwinkel schildern.

Pjotr Ruwinowitschs Hauptanliegen ist es, die Tat seines Retters herauszustellen. Die Menschen sollen wissen: ein junger deutscher Soldat hat sein Leben für die Rettung eines Juden riskiert. Dieser Soldat überwand die Angst um sein eigenes Leben, getrieben von dem Wunsch, ein Menschenleben zu retten. »Mich aus dem Feuer zu reißen«, wie Pjotr Ruwinowitsch es formulierte.

MEINE FAMILIE

Mein Name ist Pjotr Ruwinowitsch Rabzewitsch. Ich wohne in Kiew. Am 25. Mai 1923 wurde ich in der Stadt Drohiczyn (Drogitschin) geboren. Bis zum September 1939 gehörte diese Stadt zu Polen.3 Mein jüdischer Geburtsname ist Eruchim-Fischl Ruwinowitsch Rabinow. Der jüdische Name Eruchim bedeutet »Gott hat Erbarmen« oder »Gott erbarmt sich«. Seit dem 22. November 1942 heiße ich Pjotr Rabzewitsch. Diesen Namen hat mir mein Retter, ein deutscher Soldat, gegeben. Von 1942 bis 1956 war mein Vatersname Romanowitsch. 1956 habe ich offiziell wieder meinen jüdischen Vatersnamen Ruwinowitsch annehmen können.

Meine Eltern sind Pessel (Polina) Fischlewna Rabinowa, geboren 1892 und Ruwin Schlemowitsch Rabinow, geboren 1890. Der Familienname meiner Mutter war Korsh. Meine Eltern stammten aus Lubeschow (Ljubeschow), Gebiet Wołyń. Im Jahr 1916 wurden sie von den Deutschen nach Drohiczyn umgesiedelt.

Während des Ersten Weltkrieges hatte die deutsche Armee sehr schnell das Gebiet von Wołyń und die Stadt Lubieszów okkupiert. Als 1916 die deutsche Armee aus diesem Gebiet vertrieben wurde und sich zurückziehen musste, hat man alle Bewohner von Lubieszów nach Drohiczyn und in andere Städte in Weißrussland umgesiedelt. Dieses Gebiet war weiterhin von der deutschen Armee besetzt. Die deutsche Armee hat das gemacht, weil sie wollte, dass die Menschen besser leben sollen als es im zaristischen Russland möglich war. Die Umsiedlung wurde von der Bevölkerung dankbar angenommen, denn die Deutschen hatten in den Dörfern viel für die Bevölkerung getan. Sie hatten Häuser gebaut, elektrischen Strom gelegt und das Land entwässert, damit die Bauern mehr landwirtschaftlich nutzbaren Boden bekamen. Aus diesen Gründen waren die Deutschen bei der Bevölkerung sehr beliebt und gut angesehen. Die Menschen sahen, dass etwas für ihr Wohl getan worden war.

Wir waren sechs Kinder. Meine drei älteren Geschwister sind Ester Ruwinowna Rabinowa, geboren 1914, Lew (Lowa) Ruwinowitsch Rabinow, geboren 1916 und Riwa Ruwinowna Rabinowa, geboren 1921. Ester und Lew wurden in Lubieszów geboren. Riwa und ich in Drohiczyn. Meine beiden jüngeren Brüder heißen David Ruwinowitsch Rabinow, geboren 1925 und Aron Ruwinowitsch Rabinow, geboren 1927. Sie wurden beide in dem Dorf Mokraja Dubrowa geboren.

Meine Schwester Ester hat 1938 Awraam Warschawski, geboren 1910, geheiratet. Sie hatten eine Tochter Gitla, die zu Beginn des Jahres 1940 geboren wurde.

Mein Bruder Lew hat Ende 1938 geheiratet. Seine Frau hieß Chaja-Dwejra, geboren 1911. Ihre Tochter Dina wurde Ende des Jahres 1940 geboren.

Von meiner engeren Familie haben nur Lew, Riwa und ich die Schoa überlebt. Lew und Riwa als Angehörige der Roten Armee und ich, weil mich ein deutscher Soldat rettete. Lew lebt heute in der Nähe von Moskau, und Riwa wohnt in Priluki in der Ukraine.

Von den Familien meines Vaters und meiner Mutter sind viele ermordet worden. Nur die haben überlebt, die schon vor dem Krieg auswanderten oder vor der deutschen Okkupation evakuiert worden waren. Die Familie meines Vaters hatte sich geteilt und war weit verstreut. Einige lebten in Polen, andere in den USA und in Palästina.

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Meine Familie, 1938 (von links nach rechts). Obere Reihe: Lew, Chaja-Dwejra, Riwa, Ester, Awraam. Untere Reihe: Eruchim-Fischl, Mutter Pessel, Vater Ruwin, David. Vor den Eltern: Aron.

Drei Geschwister Rabinow haben in Polen gelebt, mein Vater und zwei Brüder. Der älteste Bruder meines Vaters, Akiwa Rabinow, geboren 1886, war Besitzer einer Mühle in dem Schtetl Pohost Zagorodzki (Pogost Sagorodskij), nicht weit von Pińsk (Pinsk). In der Mühle hatte er auch eine Maschine, mit der man Graupen machen konnte. Er war verheiratet mit Chawa Rabinowa, geboren 1887. Sie hatte zwei Söhne und drei Töchter, Jankel Rabinow, geboren 1915, Riwa Rabinowa, geboren 1917, Zerl Rabinowa, geboren 1919, Meir Rabinow, geboren 1921, und Chana Rabinowa, geboren 1924. Alle waren noch nicht verheiratet. Die ganze Familie wurde im September oder Oktober 1941 von den deutschen Kommandos in Pohost Zagorodzki ermordet.4

Der andere Bruder meines Vaters, Israel Rabinow, geboren 1893, wurde vor dem Einmarsch der deutschen Truppen nach Kasachstan evakuiert und hat mit seiner Familie dort überlebt. Er war verheiratet mit Frieda Rabinowa, geboren 1894. Sie hatten drei Töchter, Riwa Rabinowa, geboren 1920, Schena Rabinowa, geboren 1922 und Gogl Rabinowa, geboren 1924. Während der Zeit, als sie noch in Pińsk wohnten, war ich oft mit ihnen zusammen. Nach dem Krieg, 1945, ist dieser Bruder meines Vaters nach Amerika ausgewandert. Er und seine beiden ältesten Töchter sind in Amerika gestorben. Wann und wo seine Frau gestorben ist, weiß ich nicht. Die jüngste Tochter lebt noch in New York, ist aber sehr krank. Mein Bruder Lew in Moskau hatte nach dem Krieg Kontakt zu dieser Cousine in Amerika. Aber dieser Kontakt ist wieder abgerissen.

In New York waren drei Brüder, eine Schwester und die Eltern meines Vaters. Schon 1910 war ein Bruder meines Vaters nach Amerika ausgewandert. Nach dem Ersten Weltkrieg, zu Beginn der Zwanziger Jahre, hat er dann seine Eltern – meine Großeltern Rabinow – mit den unverheirateten Kindern, eine Schwester und zwei Brüder meines Vaters, von Polen nach Amerika kommen lassen. 1939 ist die Großmutter in Amerika gestorben. In diesem Jahr haben wir auch den letzten Brief vom Großvater bekommen. Er war 70 Jahre alt. Wann er gestorben ist, weiß ich nicht, denn mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs brach die Verbindung zu ihm ab. 1945, nach dem Ende des Krieges, habe ich versucht, die Verbindung zu der Schwester und den Brüdern meines Vaters wieder aufzunehmen, was mir aber nicht gelang. Offiziell war das in der Sowjetunion nicht möglich.

In Palästina waren eine Schwester meines Vaters und der Bruder meines Großvaters Rabinow mit seinen Söhnen und einer Tochter.

Anfang 1933 ist eine Schwester meines Vaters mit ihrer Familie von der Stadt Lubieszów nach Palästina ausgewandert. Dort lebte ein Bruder ihres Mannes, der ihnen Einreisevisa beschaffen konnte. Etwas später ist auch ein Bruder meines Großvaters Rabinow mit zwei Söhnen und einer Tochter nach Palästina gegangen. Einer seiner Söhne lebte bereits in Palästina und besorgte ihnen die Einreisepapiere. Bis 1939 standen wir in Briefkontakt mit ihnen. Dann brach die Verbindung ab. Nach dem Krieg hatte mein Bruder Lew aus Moskau Kontakt zu einem der noch lebenden Söhne in Israel, aber auch dieser Kontakt ist abgebrochen. Als ich 1998 in Israel war, habe ich versucht, ihn anzurufen, aber er war nicht zu Hause. Ich habe ihm meine Adresse hinterlassen, doch er hat sich nicht gemeldet.

Die Familie meiner Mutter lebte in Drohiczyn. Es waren meine Großmutter Beila Korsh, geboren 1868 mit drei Söhnen und einer Tochter, den jüngeren Geschwistern meiner Mutter. Der Großvater Fischl Korsh war 1914 noch in Lubieszów gestorben. Die Großmutter war schon sehr alt, sie wollte aber nicht bei ihren Kindern leben, sondern in einem eigenen Haus. Sie pflegte immer zu sagen, so lange ich mich noch alleine versorgen kann, will ich keinem zur Last fallen. Seit Juni 1941, dem Überfall der deutschen Truppen auf die Sowjetunion, haben wir die Familie meiner Mutter nicht mehr gesehen. Es gab keine Möglichkeit mehr, nach Drohiczyn zu fahren, das war verboten.

Die jüngeren Geschwister meiner Mutter waren: der Bruder Meir, geboren 1894, die Schwester Sara, geboren 1896, der Bruder Schmuel, geboren 1899, und der Bruder Michel, geboren 1901.

Meir Korsh war verheiratet mit Rachel Korsh, geboren 1895. Sie hatten vier Kinder. Ich kann mich nur noch an die Namen meines Vetters Neach Korsh, geboren 1912, und meiner Cousine Dwoira Korsh, geboren 1914, erinnern. Die anderen Namen habe ich leider vergessen.

Sara, die Schwester meiner Mutter, war verheiratet mit Motl Popinski, geboren 1895. Ihr Mann lebte zusammen mit ihr im Ghetto. Sie hatten vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnern kann.

Schmuel Korsh war verheiratet mit Gitl Korsh, geboren 1891. Ich weiß nicht, ob sie Kinder hatten.

Michel Korsh war verheiratet mit Reisel Korsh, geboren 1900. Sie hatten zwei Töchter. Leider kenne ich ihre Namen nicht.

Ein Bruder meiner Mutter hatte eine Tochter, die bereits verheiratet war. Aber auch hier kenne ich keine Namen.

Alle Verwandten meiner Mutter wurden 1942 im Ghetto Drohiczyn ermordet.5

IM DORF MOKRAJA DUBROWA VOR DEM ZWEITEN WELTKRIEG

1924 ist unsere Familie von Drohiczyn in das Dorf Mokraja Dubrowa gezogen. Dieses Dorf liegt etwa 30 Kilometer nördlich von Pińsk. Es gehört zur gmina Logischin, Kreis Pińsk, Woiwodschaft Brest.6 Mein Vater bekam dort Arbeit als Käsemacher auf dem Landgut des polnischen Gutsherrn Orda. Orda war ein sehr fortschrittlicher Gutsbesitzer. Schon sein Vater gewährte, im Gegensatz zu den andern Großgrundbesitzern, allen auf seinem Gut Beschäftigten Religionsfreiheit. Seit dem 18. Jahrhundert verlangten die Großgrundbesitzer, dass die Arbeiter, die im allgemeinen Leibeigene waren und keinerlei Rechte besaßen, die gleiche Religion hatten wie sie selbst. So erklärt es sich, dass in diesem Gebiet in einigen Orten überwiegend Katholiken lebten und in anderen Orthodoxe. Im Jahre 1862 wurde in Russland die Leibeigenschaft abgeschafft.

In Logischin wohnten etwa 200 jüdische Familien. Es gab dort drei Synagogen und zwei jüdische Metzger. Auf dem Landgut in Mokraja Dubrowa waren wir die einzigen Juden. Wir waren eine fromme jüdische Familie. Bis September 1939 waren wir religiös wie alle Juden. In unserer Familie wurden alle jüdischen Sitten und Gebräuche beibehalten, und wir haben alle jüdischen Feste gefeiert. In unserem Haus wurde nur koscher gegessen. Für Pessach gab es besonderes Geschirr. Der Schabbes begann am Freitagabend, wenn die Mutter das Schabbeslicht anzündete. An jedem Schabbes haben wir nicht gearbeitet und nicht gekocht. Wir sind auch nicht in die Schule gegangen.

Bei den Juden gibt es verschiedene Richtungen der Frömmigkeit. Man kann sich das ungefähr so vorstellen: Alle haben die gleichen Bücher, die Tora. Die meisten religiösen Bücher der Juden beschreiben die Geschichte des jüdischen Volkes. Diese Geschichte mischt sich mit der Hinwendung zu Gott. Man liest diese Bücher nur verschieden. Das Ergebnis ist gleich, es ist egal, wie man die Bücher liest.

Alle Juden in unserer Region waren Chassidim. Auch unsere Familie war chassidisch. Mein Vater trug jedoch keinen Bart. Auch meinen Großvater kenne ich von Fotos nur ohne Bart. Mein Vater und auch wir Kinder hatten keine Pejes. Mein Vater und wir Jungen trugen aber wie alle männlichen Juden immer eine Kopfbedeckung. Der Vater einen Hut und wir Jungen eine Mütze. Wenn von Gott die Rede ist, muss man den Kopf bedecken. Im Cheder mussten die Jungen deshalb immer eine Mütze tragen. Auch in der polnischen Schule, wenn der jüdische Lehrer unterrichtet hat. Zu Hause beim Essen trug man eine Mütze, weil ein Gebet gesprochen wurde. Auch wenn man ein Haus betrat und die Mesusa küsste, musste man eine Kopfbedeckung tragen. Deshalb trugen Juden eigentlich immer eine Kopfbedeckung. In unserer Familie haben wir nur Jiddisch untereinander gesprochen. Jiddisch konnte man nicht in der Schule lernen, sondern nur in der Familie. Im Cheder lernte man Hebräisch und in anderen Schulen Hebräisch oder Polnisch. In den Cheder ging man mit sechs Jahren. Jungen und Mädchen wurden hier zusammen unterrichtet. Man konnte dort bleiben, bis man 14 Jahre alt war. Die Mehrheit blieb dort aber nur vier Jahre. Wenn die Eltern Geld hatten, konnte man dann in die erste Klasse des Gymnasiums gehen.

Die ganze Prägung der Familie ging vom Vater und der Mutter aus. Sie erzählten die Geschichte ihrer Jugend, von ihren Familien und wie sie gelebt haben. Im Haus bestimmte die Mutter was geschah, insgesamt hatte jedoch der Vater zu bestimmen. Nur der Vater hat durch seine Arbeit beim Gutsbesitzer Orda Geld verdient. Von diesem Geld musste die ganze Familie leben. Die Mutter hat alles im Haus gemacht. Die Kinder sollten gut angezogen sein, das Haus musste sauber sein. Die Eltern haben sich jedoch immer abgesprochen und gut verstanden. Ich habe nie gehört, dass der Vater mit hoher Stimme zur Mutter gesprochen hat. Es konnte sein, dass kein Brot im Haus war, aber der Friede und die Ruhe zwischen Vater und Mutter waren immer da. Die Kinder halfen sich gegenseitig. Die Größeren halfen den Kleineren. So war unsere Familie.

Als Kinder haben wir zusammen mit Russen und Polen gespielt. Wir haben den Unterschied nicht verstanden. Im Winter kamen diese Kinder auch in unser Haus, um mit uns zu spielen. Im Sommer haben sich alle Kinder zusammengetan und draußen gespielt, weil wir dort mehr Platz hatten. Im Wald wuchsen viele Beeren, die wir uns pflücken konnten. Man musste nur früh aufstehen und mit einem Gefäß in den Wald gehen. Rings um den Ort gab es viel Wald. Felder gab es weniger. Wollte man einen Fisch haben, konnte man ihn im Fluss fangen. Wir wussten aber, dass wir uns in den Gärten keine Früchte nehmen oder etwas ausreißen durften. Dabei machte es keinen Unterschied, ob es ein Garten eines Juden oder eines Christen war. Wir haben das auch nicht gemacht. Wenn wir einen Apfel haben wollten, haben wir den Besitzer gefragt und haben auch etwas bekommen.

Wir sind als Kinder den ganzen Sommer barfuß gegangen. Zum Winter bekamen wir Schuhe. Alle wussten, dass es für den Vater schwer war, das Geld zu verdienen. Mein Vater hatte eine körperlich schwere Arbeit. Jeden Tag musste er sehr viel Milch zu Käse verarbeiten. Wir Kinder haben ihm geholfen, soweit das für uns als Kinder möglich war.

Auch der Mutter haben wir bei allen Arbeiten im Haus und im Garten geholfen. Holz hacken, Wasser tragen, das Haus aufräumen, in den Wald gehen und czernicy (Blaubeeren) holen. Die Mutter hat sie für den Winter getrocknet. Im Winter hat sie dann Kompott daraus gekocht oder die getrockneten Beeren in die Sauerkrautsuppe getan. Das gab ein gutes Aroma. Das Sauerkraut haben wir selbst gemacht. Der Weißkohl wuchs in unserem Garten. Wir hatten einen großen Garten, etwa 100 mal 50 Meter groß. Dort wuchsen vor allen Dingen Kohl, Kartoffeln, Zwiebeln und Tomaten. Aus den Kohlköpfen machte die Mutter aber auch ein anderes wohlschmeckendes Gericht. Ein Kohlkopf wurde in vier Teile geschnitten und im Ofen gebacken. Der gebackene Weißkohl wurde dann mehrere Tage in Molke eingelegt. Dadurch bekam er einen sehr guten Geschmack.

Fleisch haben wir nicht viel gegessen. Nur am Schabbes. Am Freitag ging der Vater nach Logischin, um koscheres Fleisch zu kaufen oder ein Huhn vom Schojchet, dem jüdischen Metzger, schlachten zu lassen. Man durfte das Huhn nicht selbst schlachten, dann wäre es nicht koscher gewesen. Wir hatten viele Hühner. Im Frühling ließen wir drei oder vier Hühner brüten. Unter jedes Huhn legten wir ungefähr 25 Eier. Es mussten so viele Eier sein, weil nicht alle Eier befruchtet waren. In jedem Jahr hatten wir bis zu 50 kleine Küken. Im Frühling, wenn die Hühner viele Eier legten, wurden Eier für den Winter in einem Fass eingelegt oder in der Stadt verkauft. Von dem Geld kaufte der Vater Maze für Pessach, Mehl, Zucker, Fisch oder Schuhe für die Kinder. Bis 1939 hat der Vater in jedem Jahr 30 Kilogramm Maze für Pessach gekauft. Wir mussten so viel haben für die Freunde im Dorf, und weil wir an den ersten beiden Tagen nur Maze gegessen haben. Acht Tage lang gab es nur Maze und Kartoffeln, auch viele Nüsse, denn Nüsse machen satt. An den letzten Tagen von Pessach hat man sich schon gefreut, dass es bald wieder Brot gibt.

Gänse wurden erst geschlachtet, wenn es schon sehr kalt war und fror, weil man das Fleisch und vor allen Dingen das Fett für den ganzen Winter aufbewahren musste. Das Fett wurde in koschere Töpfe gefüllt, die zugebunden im Keller aufbewahrt wurden. Das Fett reichte bis Pessach.

Unsere Hauptnahrungsmittel waren Kartoffeln, Kohl, harter und weicher Käse und Milch. Wir hatten zwei eigene Kühe. Aus Mehl und Käse machte die Mutter einen Teig, der im Ofen gebacken wurde. Das Brot hat die Mutter auch selbst in unserem Ofen gebacken. Jeder im Dorf hat sein Brot selbst gebacken. Montags hat die Mutter für die ganze Woche Brot gebacken. Da unser Haushalt aus acht Personen bestand, benötigte sie dazu etwa sechzehn Kilogramm Roggenmehl. Dieses Mehl mussten wir kaufen. Am Freitag hat sie Chales, das Weißbrot für den Schabbes, gebacken.

Wenn die Zeit der Pilze kam, bin ich mit meiner Schwester Riwa früh am Morgen, ehe die Sonne kam, und ehe wir zur Schule gingen, in den Wald gegangen. Wir haben Pilze gesucht. Wir pflückten hundert bis hundertfünfzig Pilze, die die Mutter für den Winter getrocknet hat. Man pflegte zu sagen: »Im Sommer mit den Füßen, im Winter mit den Lippen.« Wir sammelten einen ganzen Sack voll für den Winter.

Die Eltern wollten, dass wir Kinder etwas lernen. Auch wir Kinder wollten lernen. Wir wussten, dass ein Mensch, der etwas gelernt hat, in Zukunft besser leben kann. Er kann leichter eine Arbeit finden. Das war besonders für Juden wichtig.

Die ältere Schwester Ester und der Bruder Lew haben in Pińsk das jüdische Tarbut-Gymnasium in der Sowalnastraße besucht und dort Abitur gemacht. Dort hat man nur auf Hebräisch unterrichtet.7

Als meine Schwester Riwa und ich heranwuchsen, mussten meine Eltern entscheiden, welche Schule wir besuchen sollten. Die wirtschaftliche Lage der Eltern ließ es nicht zu, dass alle Kinder eine Privatschule besuchen konnten. Man musste sehr viel Geld dafür bezahlen. Der Vater hatte auch nicht genügend Geld, dass alle seine Kinder in der Stadt Pińsk zur Schule gehen konnten. Wegen der großen Entfernung zwischen dem Dorf Mokraja Dubrowa und der Stadt Pińsk hätte man eine Wohnung für die Kinder mieten müssen, und wenn die Kinder ohne Eltern in der Stadt leben, ist das nicht einfach. Deshalb sind Riwa und ich zur polnischen Schule gegangen. Hier konnte man ohne Bezahlung lernen. In Mokraja Dubrowa hatte die Schule nur zwei Klassen, erst später hatte sie vier Klassen. Das erste Jahr, 1928, sind wir in die Schule im Dorf Mokraja Dubrowa gegangen und im zweiten Jahr dann in Logischin. Dort war eine polnische Schule, die in jener Zeit szkoła powszechna (allgemeine Schule) hieß. Sie hatte sieben Klassen. Diese Schule haben vier Kinder unserer Familie besucht. Die Schwester Riwa, ich und später auch meine beiden Brüder David und Aron.

In Logischin kam der Rabbiner der Stadt in die polnische Schule und unterrichtete die jüdischen Kinder in jüdischer Religion. Für die Orthodoxen, die prawosławny, kam der Baciuschka, und die Katholiken unterrichtete der Ksi?dz, der katholische Priester. Jeder erzählte den Kindern über die Geschichte und die Religion des Volkes, zu dem sie gehörten.

In der Hauptsache habe ich Puschkin und Tolstoi gelesen, Erzählungen und Kindererzählungen. Die jüdische Literatur haben wir von Schriftstellern gelernt, die in Iwrit geschrieben haben, weil man Jiddisch als einen »Jargon« bezeichnete. Auf Hebräisch habe ich vor allem Erzählungen von Chaim Nachman Bialik gelesen. Ich habe aber auch sehr viele Bücher auf Jiddisch gelesen, Sholem Alejchem8, Peretz9 und andere.

Jüdische Kinder müssen die jüdische Religion und die jüdische Sprache lernen. Deshalb haben meine Eltern und die Eltern von anderen jüdischen Kindern einen Lehrer angestellt. Nach Schulschluss in der polnischen Schule in Logischin sind wir zusammen zu diesem Lehrer gegangen. Dort haben wir Hebräisch gelernt, die Geschichte des jüdischen Volkes, jüdische Literatur, die Geographie von Israel, das damals noch Palästina war, und alles, was ein Jude über sein Judesein wissen muss: die jüdischen Feste und die jüdischen Sitten und Gebräuche.

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Jüdischer Privatlehrer (19.3.1936); zweite Reihe von oben, von links: Eruchim-Fischl, David, der Lehrer und Aron.

Zum Beispiel, warum die Juden kleine Steine auf die Grabsteine legen, wenn sie einen Friedhof besuchen. Das geht zurück auf die Zeit, als die Juden nach dem Auszug aus Ägypten 40 Jahre durch die Wüste wanderten. Um die Gräber im Sand vor wilden Tieren zu schützen, musste man sie mit Steinen bedecken. Daraus ist dieser Brauch entstanden.

Vom Beginn des Frühlings an sind wir zu Fuß von Mokraja Dubrowa aus in die Schule gegangen. Das sind fünf Kilometer. Im Winter ist es für Kinder schwer, fünf Kilometer zu gehen wenn es regnet, schneit und der Weg sehr schlecht ist. Deshalb haben die Eltern im Winter für uns in Logischin ein Zimmer gemietet. Unsere ältere Schwester Ester hat mit uns in Logischin gewohnt. Sie hat für uns gesorgt, gekocht und gewaschen. Sie ist für uns wie eine Mutter gewesen. Unsere Eltern sind an allen Feiertagen zu uns nach Logischin gekommen. Wir haben die jüdischen Feste in Logischin gemeinsam gefeiert, weil man hier in die Synagoge gehen konnte. Die ganze Familie war zusammen. Vor den Feiertagen hat die Mutter in Mokraja Dubrowa Kuchen, Strudel und Chales gebacken und alles nach Logischin mitgebracht. In Logischin hat sie dann nur gekocht. Wenn der Feiertag auf einen Schabbes fiel, konnte sie nicht kochen. Dann hat sie alles schon am Freitag zubereitet.

An Roscheschone, dem jüdischen Neujahrsfest, brachte der Vater einen Sack Äpfel mit, denn an diesem Feiertag muss man für die Gäste oder wenn man als Gast in eine Familie geht, etwas Süßes haben, damit das neue Jahr süß und gut wird. Der Feiertag beginnt damit, dass man sich gegenseitig ein Stück Strudel mit Äpfeln und Honig, in Öl gebacken, schenkt. Das ist ein schönes Symbol. Jede Hausfrau hat diesen Strudel selbst gebacken, sie hat ihn nicht im Geschäft gekauft, denn jede wollte ihn besser machen als die anderen. Das waren immer sehr schöne Feiertage. An Roscheschone kamen Gäste zu einem großen Essen.

An Jom Kipper, dem Versöhnungstag, fastet man den ganzen Tag. Man isst nichts und trinkt nichts, und die Männer dürfen sich nicht rasieren. Nur Kranke, Frauen mit einem Säugling und Kinder vor ihrer Bar-mizwe brauchen nicht zu fasten. Man geht in die Synagoge, betet und stellt große Kerzen auf, mehr als einen halben Meter hoch. In der Synagoge gab es einen bestimmten Platz, wo jede Familie eine große Kerze aufstellte. Diese Kerzen wurden von den Männern angezündet, denn die Frauen hatten einen abgesonderten Platz in der Synagoge. Diese Kerzen brannten den ganzen Abend, die ganze Nacht und den nächsten Tag. Diese Lichter sind Symbol für das Leben des Menschen, es soll leuchten. Wenn ein Licht von allein ausging, sah man darin ein schlechtes Zeichen. Da man Angst hatte, eine der großen Kerzen könne umfallen und es könne ein Brand entstehen, hat man einen Christen angestellt, der in der Nacht in der Synagoge Wache halten musste. Erst am Abend, wenn der erste Stern am Himmel zu sehen ist, darf man wieder etwas essen. Weil man den ganzen Tag nichts gegessen hat, darf das Essen am Abend nicht fett sein, aber alles muss süß sein. Einer geht zum andern mit einem Stück Strudel und Wassermelone.

Der nächste große Feiertag war Sukkes, das Laubhüttenfest, zur Erinnerung an die Hütten beim Auszug aus Ägypten, als das Volk in Laubhütten lebte. Dann kam Simchat Tora, die Freude über die Tora, wenn nach einem Jahr die Verlesung der Tora im Gottesdienst beendet ist und man von neuem beginnt, die Tora vorzulesen. Da wird getanzt und gesungen.

Danach kommt Chanukka, das Lichterfest. Man stellt den Chanukkaleuchter auf und zündet jeden Tag ein neues Licht an. Man geht von Haus zu Haus, man spielt auf Flöten und Geigen, man singt und tanzt. Den Kindern gibt man Chanukkageld. Es kommen nicht nur Freunde, sondern auch Fremde, denen man dann etwas geben muss. Das nächste Fest ist Purim. An diesem Tag verkleidet man sich und macht Purimspiele. Dann kommen Pessach, die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten und Schawuot. An diesem Fest erinnert man sich, dass Gott Moses am Sinai die zehn Gebote gegeben hat.

RoscheschoneJom Kipper