1998

Als ich Alain anrufe, habe ich keinen guten Eindruck. Dabei hatte doch er mir eine Nachricht hinterlassen. Vor einigen Stunden, jetzt aber ist seine Stimme verändert. Er kann kaum artikulieren. Er schweigt entweder oder brabbelt kraftlos. Er muss völlig besoffen sein bei sich zu Hause. Ich warte, bis er auflegt. Wenn er sich in diesem Zustand befindet, kann das einige Minuten dauern. Eine beträchtliche Zeit lang höre ich den Hörer auf dem Sockel schleifen.

Vom letzten Mal habe ich noch Geld. Auf dem Weg besorge ich ihm Renutryl, Marlboros und Badoit. Er wird es brauchen, sollte der Anfall vorüber sein. Wenn nicht, wird er mich wieder losschicken, Alkohol zu kaufen.

Rue Saint-Martin, ich klingle und öffne. Ich besitze die Schlüssel ohnehin. Ich gehe durchs Zimmer. Ums Bett herum liegen noch Blechschüsseln. Der Fernseher läuft im Salon. Alain sitzt auf der Couch, bewegungslos, den Arm auf eine ausgebrochene Lehne gelegt. Er schweigt und blickt vor sich hin. Er hat die Pose eines mondänen Portraits eingenommen, allerdings mit durchwühltem Haar, mit Bartstoppeln und halb geöffnetem Bademantel. Sein Fleisch ist weiß und aufgedunsen, wie das eines Ersoffenen. Der kleine Baptiste ist noch immer da, ans andere Ende der Couch gedrückt, soweit wie möglich von Alain entfernt. Er hat seine Jacke anbehalten. In seinen Händen hält er einen Drachen.

Ich stelle die Einkäufe beim Couchtisch ab. Ich frage, was sie seit Baptistes Ankunft gemacht haben. Alain zeigt auf eine Fototasche, als hätte er nicht die Kraft, nach ihr zu greifen. Ich schaue nach. Sie sind zum Eiffelturm gegangen. Alain hat ihm den Drachen geschenkt. Sie haben ihn im Park von Champ de Mars ausprobiert. Sie sind ins Kino gegangen und haben einen unverständlichen Film gesehen: «Irgendwann habe ich geglaubt, wir hätten den Saal gewechselt», sagt Alain. Sie sind durch Les Halles gelaufen, haben Filme und Videospiele gekauft. Baptiste ist seit einigen Tagen hier. Seine Mutter hat ihn die Ferien über nach Paris geschickt. Sein Stiefvater hat ihn nicht gerne an der Backe. Es ist ein Kind, so sagt man, das bei ihm nicht sehr glücklich ist. Er hatte sich darauf gefreut, zu kommen.

Alain streift eine Jeans und ein Hemd über. Er lässt den Gürtel offen. Wir gehen runter Mittag essen, ins Chant des Voyelles. Wenigstens liegt es gleich unten, im Gebäude gegenüber. Alain mag in Paris keine Sonne, wir setzen uns nach hinten, weit weg von der Terrasse. Ich frage Baptiste, worauf er Lust hätte. Alain hält den Kopf Richtung Wand, mit verdrehtem Blick, als würde man ihm den Nacken verrenken. Es wird serviert, er isst gerade mal eine Fritte. Er kann nicht mehr, er muss wieder hoch. Er zieht Scheine aus seiner Tasche und lässt mir die Hälfte da. Ich sage zu ihm, dass ich mit Baptiste spazieren gehen werde. Wir sehen ihn schwankend rüber zu seinem Haus gehen.

Baptiste isst langsam seinen Nachtisch. Wenn er nach Hause kommt, wird seine Mutter ihn fragen, ob es schön gewesen sei. Sie wird ihn vielleicht sogar dazu auffordern anzurufen und sich zu bedanken. Sie zieht ihn billig an, er hat schlecht geschnittenes Haar. Er wird alles ändern müssen als Teenager. Es gibt diese traurigen Kinder, die komisch werden oder zumindest gemein, denen es gelingt, ein wenig auf Abstand zu gehen.

Ich führe ihn ins Beaubourg. Er wirkt nicht, als würde er sich viel aus Moderner Kunst machen, schaut sie aber höflich an. Dann betrachtet er plötzlich aufmerksam einen Rollladen. Ich hätte ihm besser das Carnavalet gezeigt, aber als wir in der Rue de Sévigné ankommen, schließt man gerade. Wir gehen in die Buchhandlung des Hôtel de Sully. Ich schaue mir Bücher für das Büro an. Wenn Alains Zustand sich nicht bessert, werde ich diese Woche nicht wieder anfangen zu arbeiten. Ich bin zwar nicht unersetzbar, aber ein bisschen sind sie doch auch auf mich angewiesen. Und außerdem habe ich so etwas zu sagen, wenn man mich fragt, was ich tue. Alain antwortet ganz natürlich «Nichts» und die Leute schauen ihn verdutzt an. Ich glaube, obwohl ich Alain immer schon für die außergewöhnlichste Person auf Erden gehalten habe, hätte ich ihm nie ähneln wollen. Es ist eine Art Ruhm ohne Werk, er hat es stets als idiotisch empfunden, etwas aus seinem Leben zu machen, er glaubte, dass die Leute ins Verderben laufen, wenn sie Äußerlichkeiten ins Spiel bringen. Seine amüsierte Zurückhaltung hatte andere angezogen und sie manchmal für eine kurze Zeit, manchmal über Jahre an ihn gebunden. Er hat junge Menschen beeinflusst, er hat bezaubert, er hat manche von ihrer Bahn abgebracht. Mit den Jahren jedoch, mit dem Verschwinden der Lüste, die ihm als Ersatz für Weisheit gedient hatten, muss er mit Überraschung feststellen, selbst von der Hoffnungslosigkeit eingeholt zu werden.

Baptiste spielt an der Place de Vosges noch mit dem Drachen. Er meidet die Bäume. Mit dem hereinbrechenden Abend klettert das rosenfarbene Licht über die Fassaden, flackert noch ein wenig an den Dächern, dann verdunkelt sich der Platz. Als wir nach Hause kommen, liegt auf dem Zimmerboden ein Teetablett. Alain ruft nach uns aus dem Salon. Er hat Tee für sein Daunenbett gemacht. Er glaubte, seine Tante Polastron hätte auf dem Bett geweint. Er hatte sie eine Zeit lang getröstet, lag ausgestreckt neben ihr. Dann ist er aufgestanden, um ihr Tee zu kochen. Bis er mit dem Tablett wiederkam, war sie verschwunden. Es handelte sich um sein Daunenbett.

Ich schalte für Baptiste den Fernseher an. Er wendet uns vor dem Couchtisch den Rücken zu. Ich gieße uns Whisky ein. Alain trinkt seinen in einem Zug. Er mag den Direkteffekt. Es gibt noch etwas Pulver. Ich habe keine große Lust darauf. Ich weiß nicht, was es ist, und mir ging’s die Woche zuvor wegen schlechten Heroins beschissen genug. Wir gehen ins Badezimmer und nehmen es dort. Der Raum ist mit einen Flipper in der Ecke aufgepeppt. Die Wände sind orange. Alain hatte den Maler um «Lachs» gebeten. Das Waschbecken ist von einem Garderobenspiegel beleuchtet, eingefasst von Glühbirnen, fast alle sind kaputt, die Glühdrähte zerrissen. Ich beginne, mir ein Bad einzulassen. Wir schniefen das Pulver auf der Glasfläche des Flippers. Tatsache, Koks. Das schlägt mir nicht so in die Nase wie Heroin. Ich atme tief durch. Meine Finger werden schwach. Das Handtuch um die Hüften gehe ich in den Salon, Zigaretten holen. Vor dem Baden gehe ich auf Toilette, Leben und Ansichten von Tristram Shandy liegt dort, ich lese ein bisschen darin. Ich gehe weiter bis zum Ende des Flurs. Ich mache in der Küche Licht, um zu sehen, ob ich etwas finde. Ich schaue mir den Kronleuchter und den Tisch mit seinen Löwenbeinen an. Ich weiß nicht mehr, was ich gesucht habe. Ich gehe zurück ins Bad, rauchen. Alain sitzt am Fuß des Flippers. Er ist ranzig. Alains Geruch stört mich nicht. Ich glaube, dass dies etwas mit meiner Eitelkeit zu tun hat. Für mich ist alles, was Alain umgibt, Luxus.

Ich atme den Rauch unter Wasser aus. Der Filter ist klitschnass. Ich steige aus der Wanne und bade Alain. Er schwebt beinahe. Seine runden Zehen ragen aus dem Wasser. Wir trocknen uns ab. Ich ziehe wieder meine Jeans an und ein altes, leicht glänzendes Hemd von ihm. Es ist recht schmal, aber die Schöße fallen mir wie eine Tunika über die Schenkel. Ich lege einen Pelzmantel aus Polyacryl über. Ich gehe zurück und nehme auf dem Sofa wie auf einem Thron Platz, die nackten Füße auf Samt gebettet, mit dem Gefühl fürstlicher Macht.

Wir bestellen für Baptiste telefonisch Essen. Dann legen wir ihn schlafen, im ersten Zimmer, das Alain unter dem Decknamen Arbeitszimmer in ein Restelager verwandelt hat. Baptiste schläft auf einem Klappbett, zwischen Unmengen an Gegenständen, in einem rotkarierten Schlafsack.

Ich will raus, um etwas trinken zu gehen. Ich streife durchs Viertel. Die Rue de la Verrerie ist bis zur Rue du Renard Fußgängerzone. Es ist eine Mondnacht. Es ist eine Florentinische Nacht. Meine Sinne sind erweitert und ich fühle mich unverletzbar. Als ich das Quetzal betrete, höre ich: «Was haben wir denn da?» Das muss an dem Pelz liegen. Jemand streichelt mich. Am Fuß der Treppe sehe ich ein Schild mit einem Pfeil in Richtung Obergeschoss, «Anprobe». Oben, im Dunkeln, sind mehrere Männer mit offener Hose, das Geschlecht sichtbar. Schon habe ich die Wahl zwischen unterschiedlichen Modellen. Auf einem Sims zur Verfügung gestellt sind auch künstliche, darunter eines, das mich reizt, dessen gezackte Eichel mir aber Angst vor Verletzung einflößt. Ich bin unentschieden, einer der Männer aber, der wirkt, als wäre er der Boss, weist die anderen an, sich zu beeilen, sie beugen mich nach vorn und ich bekomme die komplette Vorführung.

Als ich zurückkehre, begegne ich Alain auf der Straße in Unterhosen. Er hat geträumt, er wäre die Treppen eines Turms hinuntergestiegen. Der Lärm einer mehrfach zuschlagenden Tür einige Etagen höher hat ihn aufgeweckt, nacktbeinig, unten vor seinem Haus. Er ist losgelaufen, um mich zu suchen. Ich gehe wieder mit ihm hoch. Es gibt kein Pulver mehr. Er findet für mich eine alte Packung Appetithemmer, Amphetamine. Ich öffne eine Kapsel und schniefe. Die erste Sekunde ist unklar. Dann, schlagartig, frisst sich eine Verbrennung ins Innere meines Auges. Ich schlage mir auf Ohrenhöhe gegen den Kopf, Tränen laufen. Alain hat einen sehnsüchtigen und nicht enden wollenden Lachanfall. Ich gehe mir im Badezimmer die Nase spülen. Als ich zurückkomme, wiegt sich Alain noch immer lachend auf seiner Seite des Bettes. Das schmeichelt mir, ich lache durch den Schmerz hindurch mit ihm mit. Ich wähle aus seinem Medikamenteneckchen ein Schlafmittel und eine Beruhigungspille. Ich gehe zurück in den Salon, um sie mit Whisky runterzuschlucken. Ich lege mich zu Alain ins Bett. Die Wandseite ist meine. Ich sammle ein paar Klamotten zusammen, die ihm als Bettzeug dienen. Alain dunkelt das Licht seiner kleinen chinesischen Lampe ab. Wir lachen noch etwas. Die Pillen wirken. Die Welt schließt sich über mir in schwindelerregender Geschwindigkeit.

Von einem lauten Knall wache ich auf. Alain sitzt neben dem umgestoßenen Bücherregal auf dem Boden. Er hält einen Fotoapparat in den Händen. Er sagt: «Du hast dich bewegt!» Er hat ein merkwürdig breites Grinsen, ich erlebe ihn niemals zornig. Er wollte ein Foto von mir, wie ich schlafe. «Du hast ein großartiges Foto verpfuscht.» Er hat sich beim Fallen das Knie aufgeschürft. Anstelle eines Fotos von mir macht er jetzt eines seiner Wunde, umfasst von einer Glasperlenkette, wie zur Präsentation einer Goldschmiedekunst.

Am Morgen gibt es keinen Whisky mehr. Er leert einen Rest Porto und dann eine Flasche Badoit. Er sagt: «Das ist der Durst.» Ich nehme Baptistes Tasche. Alain geht schnell und schwankend, als versuche er nicht zu stürzen. Rue de Rivoli, an der Bushaltestelle kotzt er einer Frau im Kleid eine große Schaumfontäne über die Beine. Die Dame dreht sich um und hebt den Kopf, als hätte man ihr aus der fünften Etage einen Eimer Spülwasser übergekippt. Alain geht weiter, als wäre nichts geschehen. Wir erreichen das Parkhaus des Hôtel de Ville. Beim Tod eines unehelichen Schwiegervaters hat Alain einen großen Audi erhalten, den er auf dem Périph platt gefahren hat. Auf Anraten seiner Mutter hat er sich einen kleinen Nissan gekauft, dessen Hupe er lächerlich findet. Er sagt, dass er mit dieser Hupe nicht einmal vierzig kleine Mädchen, die aus der Schule strömen und über die Straße laufen, zur Eile antreiben könne. Der Kofferraum ist noch voller Einkäufe, die wir vor einigen Tagen gemacht und nicht hochgetragen haben. Ich werfe die Zeitschriften, den Papierkram, zur Seite und lasse Baptiste hinten mit seiner Tasche einsteigen. Alain legt im Parkhaus mit voller Geschwindigkeit los. Eine zerknautschte Packung Kleenex rutscht vor der Windschutzscheibe von einer auf die andere Seite. Draußen tut er so, als würde er die Fußgänger umnieten, die daraufhin loslaufen oder aber kurz vor der Kühlerhaube erstarren. Er erzählt, dass er eines Tages auf einen Araber losgestürzt sei, der derart einsam gewesen sei, dass er ihn angelächelt habe. Ich betrachte Baptiste im Rückspiegel. Er schaut nach vorn. Er dürfte nicht verstehen, was Alain sagt.

In Orly bleibt Alain im Wagen. Ich begleite Baptiste zum Schalter. Ich hänge ihm seine Papiere um den Hals. Der Flug nach Nizza geht in einer Stunde. Ich vertraue ihn der Stewardess an, sie bringt ihn Richtung Abflughalle. Ich frage mich, was er von seinem Aufenthalt behalten wird. Vielleicht wird er vergessen, oder aber glauben, er habe geträumt. Vielleicht wird man nie mehr darüber reden hören. Vielleicht kommt er aber auch, obwohl keiner der beiden mehr daran gedacht haben wird, in fünfzehn Jahren zurück und poliert Alain die Fresse, weil er unvermutet den Drachen zwischen seinen Klamotten gefunden haben wird.

Wir essen in Orly-Sud zu Mittag. Der Oberkellner weist uns einen Platz zu. Man hat keine Ahnung, was mit Alain los ist, warum er sich im Restaurant so nachlässig zeigt, in Unterhose und Hemd, das aus der runtergerutschten Jeans hängt, im Zweifel aber empfängt man uns immer zuvorkommend und weist uns die besten Tische zu. Plötzlich schauen die Gäste im Saal Alain an, als wäre er ein wenig berühmt. Er erzählt: «Mit zwanzig war ich so schön, dass sich die Leute auf der Straße umgedreht haben.» Sie drehen sich noch immer um, würde ich meinen, aber aus anderen Gründen. Er sagt: «Weißt du, wie alt ich bin? Ich habe das über Jahre verdrängt, mir immer um die vierzig gegeben. Letztens habe ich nachgerechnet. Ich bin sechzig.» Ich korrigiere: «Neunundfünfzig.» «Neunundfünfzig? Das weißt du? Und du, wie alt bist du?» «Ich bin dreißig.» Er kennt mich von Kindesbeinen an, aber da er nicht einmal mehr weiß, wie alt er selbst ist, bin ich ihm nicht böse, dass er mein Alter nicht kennt. Er sagt: «Du hast Glück. Ich wäre gern dreißig. Oder sogar jünger.»

Wir sitzen in der Ecke bei den großen Glasfenstern. Ich kenne diesen Tisch. Als Kind habe ich hier mit meiner Sippe zu Mittag gegessen, weil ein Flug nach São Paulo Verspätung hatte, damals im Sommer, als meine Großmutter uns zu den Souza Veiges nach Brasilien mitgenommen hat. Das brachte Abwechslung in unsere Ferien in Fontenay, es war abenteuerlich. Meine Schwestern und ich sangen bei jedem Start Mon ami le pélican. Es war drückend heiß, das große gelbe Sonnensegel war heruntergelassen. Ich bin immer wieder von der Beharrlichkeit von Orten überrascht. Ich blicke auf die Betonterrasse. Heute streift das niedrige Herbstlicht die Landebahnen. Die Flugzeuge rollen hinter der Stille der Fenster entlang. Alain erzählt mir von seiner Tante Polastron, die ihre Tage auf Flughäfen verbringt, ohne jemals zu reisen. Sie geht essen und shoppen. Sie bevorzugt dabei Roissy, weil es da mehr Auswahl gibt. Der Gedanke an eine Flugreise kommt bei ihr gar nicht erst auf.

Wir bestellen Hummer und Bier. Mein Vater meint, dass nur Proleten in einem Restaurant Hummer bestellen, ich aber finde, dass das sehr gut zu diesem Ort mit seinem modernen Besteck und dem viereckigem Geschirr passt. Alain verteilt das Fleisch und die Trümmer des Panzers auf seinem Teller. Seine Augenlider sind eingefallen, die Schleimhaut unter seinen Augen klafft einen Spalt breit auf. Für gewöhnlich spricht er mit einem ihm eigenen Stammeln, in einem eigenartigen Rhythmus, der alles, was er sagt, komisch erscheinen lässt. Einmal ist er sogar von Dreharbeiten geflogen, für die man ihn bei einer Szene um Hilfe gebeten hatte, da die Schauspielerin, der gegenüber er eben verkündet hatte «Mein Auto steht in Flammen» nicht umhin konnte, zu lachen. Hier höre ich zum ersten Mal einen Anflug von Ernsthaftigkeit bei ihm. Er sagt, es wäre ein Missverständnis gewesen. Er sagt: «Ich dachte, es handle sich um einen aufgeweckten Jungen, wie bei dir, im gleichen Alter. Ich dachte, ich kann das. Du, du warst neugierig, du wolltest immer alles ausprobieren. In Fontenay hast du etwas sehr Merkwürdiges angestellt, du hast versucht, mein Auto zu knacken, alle staunten wir nicht schlecht. Ich dachte mir: gut, verstanden.» Damals war er den Sommer über in Fontenay bei meiner Großmutter eingeladen. Er schlief im Vogelzimmer neben meinem. Morgens habe ich ihn immer in seinem Bett geweckt. Ich habe seine Zeitschriften gelesen. Wir redeten. Diese Momente hatten wir für uns. Ich weiß nicht mehr, was da vor sich ging, aber ich war sehr stolz darauf. Er erzählt, dass ich eines Tages in Tränen aufgelöst war, weil die Köchin mir mein Geld gestohlen hatte. Ich wollte, dass er mir welches gibt. Schließlich hat meine Großmutter es mir zurückerstattet. Er sagt: «Du kamst morgens in mein Bett und hast ganz natürlich die Pyjamahose runtergelassen, du wolltest, dass ich das gleiche tue. Eines Tages habe ich dich gefragt, wo du dich am liebsten streicheln lässt, du hast die Beine mit einer außergewöhnlichen Schmiegsamkeit angehoben und mir die kleine Plattform zwischen Arsch und Eiern gezeigt. Ich habe angefangen, dich zu streicheln, aber du musst Angst gehabt haben, du hast gesagt, dass ich zu stark drücke und ich habe aufgehört. Du weißt, dass ich niemals ein Kind nötigen würde.» Es gelingt mir nicht, mich zu erinnern, die Erzählung überrascht mich, als beträfe sie einen dritten. Alain fährt fort: «Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Albtraum gewesen ist, diese Woche allein mit dem kleinen Jungen in der Wohnung zu verbringen. Tag für Tag habe ich mich beherrscht, habe immer mehr getrunken. Eines Morgens bin ich aufgestanden mit einer Art Wahnsinnsstimme im Kopf, die mich zu ihm drängte. Ich habe den Schlafsack aufgeschlagen, ich habe die Pyjamahose heruntergezogen und habe ihn in seinem Schlaf gelutscht. Er wurde langsam wach. Er ist plötzlich unruhig geworden. Ich habe versucht, ihn anzulächeln und habe in seinem Blick einen Ausdruck absoluten Entsetzens wahrgenommen. Ich bin ohne ein Wort aufgestanden, ich habe meinen Gürtel wieder zugemacht. Ich bin in die Küche gegangen und habe mir ein Glas eingeschenkt. Er hat auch nichts gesagt, er ist lange Zeit über wie versteinert in seinem Zimmer geblieben. Also habe ich dich angerufen. Wärst du nicht gekommen, ich wüsste nicht, was ich gemacht hätte.»

Baptistes Eltern sind Freunde, die Alain und seine Mutter letzten Sommer nach Villefranche-sur-Mer eingeladen haben. Alain hat sich mit Baptiste gut verstanden. Da er nie zuvor in Paris gewesen ist, haben die Eltern vorgeschlagen, dass er zu Allerheiligen Alain besuchen fahren könnte. Anfangs waren alle begeistert, aber als sie Portia, Alains Mutter, davon erzählten, hat sie sie angefleht, Baptiste nicht hinzuschicken. Alain lacht, als er davon erzählt. Die Eltern haben gefragt: «Aber warum, weiß er nicht, wie er sich um ihn kümmern muss?», und Portia, unter Tränen: «Doch! Er wird sich nur zu gut um ihn kümmern!» Ich fange ebenfalls an zu lachen. Ich frage: «Und sie haben es nicht geglaubt?» Alain trocknet sich die Augen: «Ich lache, nun gut, das sollte ich nicht. Nein. Sie haben geglaubt, dass sie nicht mehr ganz bei Trost wäre. Sie haben versucht, mir indirekt zu verstehen zu geben, dass sie langsam verkalke.»

Auf dem Rückweg zur Rue Saint-Martin mache ich im Palmier halt, um Acid zu besorgen. Sie wollen mir unterschiedliche Sorten verkaufen, aber ich kaufe vier Trips vom selben Karton, die wie eine kolorierte Vignette aussieht. Sie sagen zu mir: «Das sind Goofy Darlings.» Ich gehe mit Alain wieder hoch. Wir nehmen ein kleines Viertel, um wieder wach zu werden. Hinter den Vorhängen ist noch etwas Tageslicht. Ich gehe im Arbeitszimmer und im hinteren Zimmer auf und ab. Ich trete zwischen den Fotoschachteln umher, zwischen den Bücherkisten. Ich schaue mir die aufgerollten Teppiche an, die Kommoden und die Skulpturen im Halbschatten. An den Wänden sind beinahe überall Einkerbungen wie von zerbrochenem Glas. Als ich fast nichts mehr sehe, kehre ich in den hellerleuchteten Salon zurück.

Ich setze mich neben Alain. Ich drehe mir was, als Beigabe zum Acid. Alain hat immer Shit von Gästen da, er selbst aber kann nicht drehen. Er hat haufenweise kleine ausgeklügelte Maschinen von seinen Reisen mitgebracht, es ist ihm jedoch nie gelungen, sich ihrer zu bedienen, er verstreut immer alles auf dem Teppichboden. Ich gebe mir Feuer und stemme meine Füße auf der Couch gegen ihn. Er nimmt sie mit beiden Händen. Plötzlich herrscht absolutes Wohlempfinden. Ich habe den Eindruck, dass er mich ganz und gar trägt. Wir reden Stunden miteinander. Alain und mich verbindet eine nie versiegende Lust auf Gespräche. Ab und an gehen wir auf den Balkon. Das ist der schönste Blick auf Saint-Merri, auf ihre von Steinarbeiten eingefassten Schieferdächer. Sie sind schwarz und orange von den nächtlichen Lichtern. Plötzlich sieht Alain unten auf der Straße Feuer, aber es ist nur die Spiegelung eines Rollladens in einer Pfütze.

Wir brauchen lange, bis wir die Kälte spüren. Wir gehen wieder rein. Wir fragen uns, was wir machen können, vollkommen wach mitten in der Nacht. Wir könnten ausgehen, haben beide aber eher Lust für uns allein zu bleiben. Alain sagt, dass es schade sei, früher hat es einmal nahe Beaubourg einen Versuch kleiner Supermärkte gegeben, nachts durchgängig zu öffnen, was wieder fallengelassen wurde, obwohl es sich gut angelassen hatte. Wir hätten einkaufen gehen können. Schließlich entschließen wir uns, das von Alains Mutter ausgeliehene Klappbett zurückzubringen. Wir halten und kaufen bei Templiers Zigaretten, das Acid kitzelt uns im Bauch. Wir versuchen, nicht zu lachen, aber die Verkäuferin ist wie eine Andalusierin verkleidet, sie macht es uns schwer. Wir brechen wieder mit dem Bett auf, die Leute glotzen uns zu, wie wir es die Rue de Rivoli hinunterschieben. Wir kommen wieder zum Parkhaus, der Kofferraum ist noch immer voll, wir legen das Bett auf die Rückbank. Der Ausgangstunnel erscheint uns unendlich. Wir fahren auf die Quais und rasen beinahe auf Höhe des schwarzen Wassers dahin. Alles glitzert. Ganz nahe am Wasser drückt Alain auf die Tube. Ich hoffe, er weiß, was er tut. Der geringste Schlenker könnte uns ins Schleudern bringen. Ich denke: «Egal, was soll’s.» Als wir bei Alma wieder hochfahren, sage ich zu ihm: «Ich hatte kurz gedacht, wir würden sterben.» Er schaut mich entzückt an: «Ich auch.» Lächelnd startet er runter in Richtung Avenue Marceau. Wo auch immer er hinfährt, Alain nimmt die Avenue Marceau, das ist sein Weg. Place de l’Étoile, ich schaue auf die ehemalige Wohnung meiner Großmutter. Die Lichter sind aus. Sie besaß zwei Etagen in einem der Hôtels des Maréchaux auf der Seite der Rue de Presbourg, die sie in den achtziger Jahren an einen Investor verkauft hat, als keines ihrer Kinder mehr dort lebte und die Köchin in Rente gegangen war. Sie wollte nicht alleine dort bleiben. Obwohl ihr der Ort vertraut war, schien er nicht mehr der ihre zu sein, die letzte Zeit hat sie sich dort nur noch gefürchtet. Nachts musste sie vierzig Meter im Dunklen zurücklegen, um sich im Bedienstetenzimmer ein Glas Wasser einzuschenken. Also hat sie sich entschlossen zu verkaufen. «Das ist schade», sagt Alain, «ebenso einfach wäre es gewesen, sich eine Flasche mit aufs Zimmer zu nehmen.»

Bei Portia legen wir das Bett ohne Lärm zu machen in den Eingang. Sollte sie uns hören, wäre sie im Stande, mit dem kleinen Revolver aus ihrem Nachtisch vom anderen Ende des Ganges her auf uns zu schießen. Alain schaltet eine Lampe bei der Eingangstür an, eine Art Feldlampe. Irgendwo dahinter leuchten Antilopenaugen in der Finsternis auf. Trophäen früherer Safaris. Der Blick ihrer Murmeln hält der Nacht in der Wohnung stand. In wenigen Stunden werden wir ohnehin wieder zurück sein; wir essen mit Portia zu Mittag. Seit sie ihr Haus an der Oise nicht mehr besitzt, muss man sie sonntags beschäftigen. Wir holen sie in der Rue de la Pompe ab, wir bringen sie wohin sie will. Manchmal begleite ich Alain. Ich weiß, dass es ihn erleichtert.

Wieder im Parkhaus entscheiden wir uns, den Kofferraum von den Einkäufen zu befreien. Wir tragen eine große Tasche zu zweit den Ausgang zum Hôtel de Ville hoch. Die Straße ist menschenleer, wir überqueren schräg die Rue de Rivoli, als schleppten wir Einbruchsbeute mitten durch die Nacht. Während wir in der Küche aufräumen, werfen wir alles weg, was verdorben ist. Wir müssen massenhaft Zeug wegwerfen. Was im Großen und Ganzen bleibt, sind Filme, Sopalin und Bisongras-Wodka, den wir ins Eisfach stecken. Wir legen uns für eine gute Stunde hin, können aber nicht einschlafen. Hinter den Vorhängen wird es Tag. Wir gehen zurück in die Küche. Ich zerstoße mit dem Rücken eines Löffels eine Tablette Temesta. Die Menge Pulver, die entsteht, ist erstaunlich. Ich bilde zwei Linien, die wir ziehen. Wir steigern den Effekt mit geeistem Wodka. Im Flur spüre ich bereits die Einlullung. Ich lege mich im Kunstpelzmantel zwischen die Laken, unter die Decken und Zeitungen. Bei Dostojewski gibt es eine Figur, für die das Morgengrauen einen Moment unerträglicher Angst bedeutet. In diesem Augenblick hat er das Gefühl, die Welt verlasse ihn. Mit geschlossenen Augen habe ich die Vision eines wiederkehrenden Tages. Für mich ist es anders. Die Welt steigt auf. Das ist der köstliche Barbituratschlaf des Morgens.

Wir kehren vor dem Mittagessen zurück zu Portia. Noch immer ist es fast ebenso dunkel. Die Fenster sind wegen der Fassadenreinigung am Haus mit Planen verhängt. Die Antilopenköpfe wachen weiterhin mit offenen Augen in einer ewigen Nacht. Portia sitzt unter einem viergeteilten an die Holzvertäfelung gespannten Pantherfell. Anfangs beeindruckt es mich, diese alte Dame meiner Kindheit wie eine Geistererscheinung intakt in ihrem Lederlehnsessel zu sehen, hinten in ihrem großen Salon der toten Tiere. Dann sind wir auf einmal nicht mehr dort, wir haben die Gegenwart eingeholt, ich aber befinde mich in einer gewissen zeitlichen Tiefe noch immer vor ihr, in einem Zustand kontemplativer Versenkung, und ich glaube, dass sie dafür empfänglich ist. Ich bewege mich durch den Halbschatten vorwärts, ich kenne den Parcours. Ich weiß, wo sich der Löwe befindet, dem es auszuweichen gilt, um ihn nicht abzunutzen. Alain öffnet einen Fensterladen ein wenig. Um uns spiegelt sich etwas Licht. Ich beuge mich vor, um Portia zu küssen. Ihre Haut ist glatt und weich wie Wachs. Sie trägt einen Hosenanzug aus glänzender Seide und eine goldene Scheibe als Anhänger. Ihr Lippenstift ist in die Falten des Mundes gelaufen. Sie bittet Alain, ihr etwas zu trinken zu geben. Sie nimmt Portwein und wir Whisky in Gläsern aus geschliffenem Kristall. Sie veranlasst ihn, ihre Medikamente für die Woche zu mörsern. Sie schafft es selbst nicht mehr. Ich schaue ihre Finger mit den langen eingedellten Lacknägeln an. Vor Kurzem hat sie Alain im Aufzug geohrfeigt. «Na ja, geohrfeigt», setzt er wieder an. «Sie hat ganz lasch ihre alte von Ringen beschwerte Hand gegen meine Wange geschlagen.»

Sie wendet sich an Alain: «Du kannst mir diese Woche bitte Dosen bringen. Diesmal brauche ich drei.» Sie bittet ihn keineswegs, wie eine alte abhängige Dame einen Gefallen erbitten würde. Sie nennt ihn «mein schöner Prinz», aber im Ton einer Kaiserin, der der Sohn zu allererst ein Untertan ist.

«Drei Dosen, Mama, das ist ne Menge. Hast du die letzte schon aufgebraucht? Ich habe dir eine vor einem Monat gebracht.»

«Daran erinnere ich mich nicht.»

Sie schickt ihn fort, Eis zu holen. Sie fragt mich: «Glauben Sie, dass es stimmt, dass er kein Geld mehr hat?» «Er hat vielleicht nicht unbedingt drei Dosen griffbereit. An der Grenze kann er nicht mehr als jeweils eine rüberbringen, zwei, wenn ein Bankangestellter ihn von Genf zur Gare de Bellgarde begleitet.» Eine Dose, das sind fünfzigtausend Francs. Sie scheint nicht einmal überrascht, dass ich ihren Code kenne. Sie hat es durchgesetzt, dass er Dadar beerbt, ihren alten Geliebten, den sie nie geheiratet hat, aus Angst, er würde zu vertraulich werden. Im Gegenzug muss Alain sich um sie kümmern. Er bringt ihr das Geld und führt sie sonntags zum Mittagessen aus. Anfangs schenkte er ihr Kreuzfahrten und Schmuck. Inzwischen kommt sie ihm mit exorbitanten Anfragen, im Aufzug beschimpft er sie halblaut und sie ohrfeigt ihn mit dem ganzen Gewicht ihrer Ringe.