Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2013

Coverbild: © Marlene Biberacher

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-583-8
ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-940-9

Danksagung

Schreiben ist ein einsames Geschäft. In den immer wieder langen Phasen des Eintauchens in andere Welten braucht es Lebewesen, die „einfach da“ sind: liebevoll, im Kontakt, gute Laune bereitend und für jedes Gespräch zu haben. Glücklich, wer so jemand in der Nähe hat.

Daher mein besonderer Dank an vier weibliche Wesen, ohne die ich das alles nicht geschafft hätte:

Irma – the one and only
Renate Vorwald – Geschäftsführerin, Vertraute, Freundin
Heike Carstensen – freundliche und akribisch-kritische Lieblings-Lektorin
Murphy – sanfte Geduld auf vier Pfoten

In herzlicher Dankbarkeit.

Einleitung: Brief aus Rom – und aus anderen Ecken der Welt

Warum sich ausgerechnet in Rom, in diesem Traum einer Stadt, mit dem Bösen beschäftigen? Hier, über den Dingen, von der Dachterrasse aus auf die Ziegel und Bögen blickend, auf Kuppeln und Putten, Engel und Quadrigen, Säulen und grüne Oasen, die sich zu einer weltweit bestaunten Perfektion ergänzen; im Westen der Petersdom, im Tal dort unten die lange Schlange des Tiber, überall historische Zeugnisse und atemberaubende Kunstwerke in einer Stadt, die immer wieder eine Schicht auf die andere gebaut hat, von der Antike bis heute, in scheinbar friedlich koexistierender Folge ... Über den sieben – nicht von Bausünden wie Hochhäusern zerschnittenen – Hügeln der unendliche Himmel, durchquert nur von Möwen und einigen dreisten Dohlen, zu Füßen der wuselnde Verkehr. Was kann hier oben schon mit den Anwandlungen des Bösen zu tun haben? Das ewige Rom ist heute eine beschauliche Pracht, jedenfalls von hier aus.

Und doch erliege ich der Versuchung (professionelle Deformation einer Traumatherapeutin?), mir vorzustellen, von welchem der gegenüberliegenden Hügel Nero wohl angeblich die Stadt, die er so geliebt und deren Senatoren er so gehasst hat, in rasendem Furor entzündete, wie die Legende sagt. Tatsächlich befand er sich wohl viele Kilometer entfernt, als das Feuer in der Nacht vom 18. zum 19. Juli des Jahres 64 – vielleicht ausgehend von einem Markt, vielleicht auch durch Brandstiftung, vielleicht sogar von Nero beauftragt – sich seinen Weg die Hügel hinabfraß, durch Häuser und Gassen hindurch, rennende und schreiende Menschen vor sich hertreibend, ein loderndes Inferno aus Tod und Verwüstung hinterlassend. Danach musste Rom in vielen Stadtteilen noch einmal aufgebaut werden. Übrigens kam es daraufhin zu einem Progrom, in dem viele römische Christen büßen mussten, was andere verschuldet hatten; Christen wurden verfolgt, gefoltert, ermordet als angebliche Verursacher des Brandes.

Und dann steige ich hinunter, speise an der Stelle, an der Cäsar 80 Jahre vor dem großen Brand in Rom ermordet wurde. „Et tu, Brute!“ soll er ausgerufen haben, vermutlich sogar griechisch: „Kai sy tecnon“ – „Auch du, mein Sohn“, als er erkannte, dass die Menschen, die auf ihn einstachen, ihm nur allzu gut bekannt waren, darunter Brutus, dem er väterlich verbunden war. Die Täter rechtfertigten die Tat als Tyrannenmord. Überhaupt die römische Antike: Ein einziges Gemetzel, nicht nur bei den Löwenspielen im Colosseum, in dem ausgewählte Sklaven sich gegenseitig erschlugen oder mit wilden Tieren um ihr Leben kämpften und eine johlende Menge angeblich dadurch das Schicksal der Kämpfer entschied, indem sie den Daumen senkte oder hochreckte ...

Und dann die berühmten Adels- und Patrizierfamilien: alles Barbaren! Heute scheint erwiesen, dass sie allesamt aus germanischen Stämmen hervorgegangen sind (die italienischen Faschisten waren sich des Erbes blond! blauäugig! scheint’s überaus bewusst). Ah, die Medici – nichts als altdeutsche Medickes! Die sich mit anderen Ex-Germanen hier das Herrschen teilten, sich gegenseitig die Köpfe einschlugen, gelegentlich einen Papst stellten, sich bis aufs Blut bekriegten.

Da drüben die Vatikanstadt: Wer ahnt heute noch inmitten all der gigantischen Pracht die Heuchelei und Durchstecherei, die auch hier, von christlichen und sehr profanen Machtbedürfnissen gespeist, Karrieren bahnte, verhinderte oder auslöschte?

Man kann hinschauen, wo man will: Die offiziell zur Schau gestellte Vornehmheit der Palazzi und Villen wie die kleinen Handwerksbetriebe bemühen sich um das Bild reiner Aufrichtigkeit; hier vielleicht die Pracht etwas hochgereckt-majestätischer, die Handwerksbetriebe etwas den Niederungen des Alltagslebens angepasster als anderswo. Im Verkehr, dem allgegenwärtigen, gleitet alles aneinander vorbei, haarscharf, aber meist erfolgreich, und erstaunlich selten wird geschimpft und gedroht – viel seltener, scheint mir, als bei uns im wohlgeordneten nördlicheren Europa.

A propos nördlich: Die Lega Nord möchte den reichen Norden Italiens (mit seinen hochgewachsenen, blond-blauäugigen und geschäftlich so erfolgreichen Einwohnern, heißt es gelegentlich nicht nur hinter vorgehaltener Hand) ja gern von den mafiadurchseuchten südlichen Regionen abspalten. Nur musste nur leider ein Lega-Nord-Funktionsträger nach dem anderen wegen Korruption gerade das Handtuch werfen ... Überhaupt, das italienische Regierungs-Fiasko: dass ein Land entweder eine ununterbrochene Abfolge von Kleinkriegen zahlreicher miteinander verfeindeter Parteien erlebt, oder andererseits einen derart hemmungslos alle offizielle Moral über Bord werfenden Regierungschef wie Silvio Berlusconi nicht nur so lange ertrug, sondern ihn immer wieder wählte, wirft auch ein bezeichnendes Licht auf eine italienische Mentalität, nach der man (Mann) augenzwinkernd den radikalen Machterhalt bewundert und den „Gockel“ für seine Dreistigkeit: „Der traut sich was – ein ganzer Kerl!“ Dass derweil die eigene intelligente Elite das Weite suchen muss, weil Vetternwirtschaft, Korruption und einfach Unfähigkeit von Politikern und anderen Entscheidern sie dazu nötigt, falls sie nicht für einen Hungerlohn in einem Callcenter schuften will, steht auf einem anderen Blatt. „Wir suhlen uns in unserer glorreichen Vergangenheit. Aber wem nutzen die alten Römer, wenn der Bus nicht fährt?“, stöhnt eine vorübergehend aus ihrem amerikanischen Exil heimgekommene Physikerin. Was fehle, seien Respekt und Bürgersinn, Mitmenschen, die sich nicht nur für sich selbst verantwortlich fühlen, sondern für das Gemeinwohl, die „res publica“, vertraut sie der sie begleitenden Spiegel-Redakteurin an (Nr. 32 / 2012, S. 50).

Und so kann man hier in Rom bestaunen, wie seit Jahrtausenden eine politische Schlacht nach der anderen Ruinen und Ausbeutung, aber auch wunderbare Kunst schuf und bestätigte – und eine Schicht von Steinen und Menschen nach der anderen, eine Generation von Armen und Reichen nach der anderen aufeinander aufbaute. Man schlägt sich so durch, und selbst die kleinen Leute versuchen noch auf bewundernswerte Weise, „bella figura“ zu machen. Die Grandezza der Herrschenden im Alltäglichen widerspiegelnd. Zivilisation und Barbarei – selten lassen sie sich so schön studieren wie hier.

Gut oder böse?

Wer ohne Sünde sei, werfe den ersten Stein. Haben wir doch alle, überall auf der Welt, den Wunsch nach Schönheit und Würde in uns – zusammen mit den primitivsten Machtbedürfnissen und Gewaltfantasien Auch diejenigen unter uns, die keine Menschen erschlagen, vergewaltigt oder gefoltert haben, kennen sie. Ob sie angeboren und damit genetisch verankert sind oder ob die verschiedenen Impulse in uns deshalb koexistieren, weil und wie sie uns vorgelebt wurden, wer weiß. Macht scheint bei all dem ein wichtiges Stichwort zu sein. Macht und die erzwungene Nähe von Menschen, die miteinander leben müssen, die ringen und kämpfen ums Überleben, um das Oben oder Unten, um Sein oder Nichtsein, um Gewinnen oder Unterliegen.

Dieses Thema beschäftigt mich seit Jahrzehnten: Was können wir wissen über die Tendenzen in Menschen, sich gut oder böse zu verhalten? Noch genauer, denn ich bin ja Psychotherapeutin und beschäftige mich mit den Heilungsprozessen von früh und langjährig gequälten Menschen: Wie können sich Erfahrungen von Gewalt im Innern von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen verwandeln in „böse“ Gedanken, Impulse und Handlungen – oder auch transformiert werden in gute? Falls Böses Böses gebiert: Wer wird sie dann auch ausführen, die bösen Taten? Schwache Menschen, Männer eher als Frauen, schwerer gestörte eher als „Neurotiker wie du und ich“? Diese Fragen können wir stellen, weil wir heute in einer anderen als in einer Sklavengesellschaft leben (jedenfalls die meisten von uns; über die Ausnahmen werde ich auch sprechen – Kinder, die eingesperrt, gequält und mit dem Tode bedroht werden). Wir wurden nicht entführt und zum Bösen unter Folter gezwungen wie die Kindersoldaten im Kongo (jedenfalls die meisten von uns; es gibt Ausnahmen auch in westlichen Industrieländern, über die wir sprechen sollten: Kinder zum Beispiel, die zu sogenannter „Kinderpornografie“ und „Kinderprostitution“ gezwungen werden). Wir werden nicht unter Todesdrohungen zum Schweigen verpflichtet wie in einer Diktatur (Ausnahmen auch hier: AussteigerInnen aus organisierten Formen von Ausbeutung – das sollten wir uns ansehen!).

Wir dürfen, ja, wir müssen uns in einer (ansonsten) freiheitlichen Gesellschaft Gedanken machen um böse und gute Handlungen. Unsere Kinder wachsen auf und werden Tausende von Entscheidungen treffen müssen, jeden Tag. Sie werden sich gut, böse und neutral verhalten. Wer von ihnen wird zum Täter, wer nicht? Wieso können manche Menschen fast alles an Furchtbarem erleben: Einsamkeit, Verlassenheit, abrupte Verluste, Gewalt, und doch nicht selbst grausam werden? Wie kann es sein, dass ein Kind, dass viele Jahre einem Sadisten ausgesetzt war, nicht selbst sadistisch wird – ein anderes aber doch? Können wir etwas darüber wissen, was Erbe und was Umwelterfahrungen sind, wenn es um zerstörerische Handlungen geht?

„Was du ererbt von deinen Vätern hast – erwirb es, um es zu besitzen.“ Und dieser Besitz kann froh und glücklich – aber auch unzufrieden und verzweifelt machen. Goethe, der seine vielleicht schönste Zeit in Rom verbrachte und seinen „Faust“, aus dem das Zitat stammt, hier schon durchdachte, hat mit diesem Menschheitsdrama eine Parabel auf den zum Letzten, auch zum Bösen bereiten Sucher der Neuzeit verfasst, der mit den Mythen des Mittelalters versucht, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen – koste es, was es wolle. Im ersten langen Monolog des Faust klingt an: Erweise dich würdig dessen, was dir freundlich vererbt wurde – oder deine Suche wird zu einer Qual. Faust wird sich mit Mephisto einlassen, wird einen Pakt mit seinem persönlichen – gemeint ist: inneren – Gegenspieler wagen, der ihn, die Alltagsperson, von seiner Unzufriedenheit mit dem unzureichend banalen Wissen, von seiner Ruhelosigkeit, seiner ewigen Suche nach dem Besonderen befreien und ihm Erfüllung vermitteln soll. Verfolgt man dieses meistgespielte Stück der Theatergeschichte weiter, so erfährt man: Mephisto verwandelt Faust in einen jungen Mann und bewirkt, dass er sich in das junge Mädchen Gretchen verliebt, sie schwängert, sie verlässt, ihre Mutter vergiftet, ihren Bruder ermordet und sie in den Wahnsinn treibt, bis sie ihr Neugeborenes tötet und hingerichtet wird. So endet der Tragödie erster Teil zunächst. Faust (und mit ihm Goethe) wird erst später seine spirituelle Suche in Faust II fortsetzen, in dem Teil, den bis heute nur wenige Theater spielen. Den ersten Teil hingegen scheinen alle zu mögen und zu verstehen: Hier lässt sich ein Intellektueller mit dem Teufel ein und bringt Unglück über ein einfaches Mädchen. Oder: Ein Mann sucht, wie man heute sagen würde, den „absoluten Kick“, wirft alle Moral über Bord und überlässt sich seinen bösen und geilen Wünschen, ruiniert dabei das Leben eines jungen Mädchens und deren Familie und kommt am Ende ungeschoren davon; Fortsetzung folgt – vielleicht.

Die Kraft, die stets das Böse will ...

Interessanter- und für viele rätselhafterweise wird Mephisto – des „Pudels Kern“ – von Goethe beschrieben als „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Wieso das? Es ist ja wahrlich nicht so, dass Faust Gutes schafft durch seinen Pakt mit dem Teufel. Was vielleicht gemeint ist: Wenn es dem Menschen gelingt, seine bösen Seiten kennenzulernen, sie gedanklich durchzuspielen, und sei es zu ihrem schlimmen Ende, dann wird er zu Erkenntnissen gelangen, was von seinen Wünschen sinnvoll und lebbar ist und was nicht. Das ist zugegebenermaßen eine sehr freundliche Deutung dieses Satzes. Gängigere Interpretationen gehen davon aus: Da Gott im Prolog Mephisto erlaubt hat, den Menschen Faust in Versuchung zu führen, sei Mephisto auch nur „ein Geschöpf Gottes“. In beiden Fällen könnte das Faust‘sche Drama auch eine einfache Aussage enthalten: Gut und Böse sind in jedem Menschen vorhanden; den Versuchungen kann man erliegen – mit dramatischen Folgen –, man muss es aber nicht. Selbst Gretchen ist nicht nur Opfer; sie hätte sich gegen Faust entscheiden können. Anfangs wehrt sie sich ja auch: „Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehen.“ Auch sie erliegt der Versuchung in Form der – durch Geschenke eingeleiteten – Verführung durch den wiederum von Mephisto angeleiteten Faust.

Im Goethe-Haus hier in Rom las ich den fahrig hingehauchten Brief eines Mädchens, das sich ein Zeichen der (weiteren) Zuneigung des in eine Reihe von amourösen Abenteuern verstrickten Johann Wolfgang erhoffte und doch fast schon verzweifelt war. Goethe seinerseits war unterdessen unglücklich in eine andere Frau verliebt, versprach wieder einer anderen die Hochzeit – und reiste dann ab nach Weimar, wo er sich in Christiane Vulpius verliebte. Das alles, während er weiter den „Faust“ erdachte. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Faust als Weltendrama zeigt, was Menschheitsdrama zu sein scheint: Wenn wir nicht das Gute schaffen, sondern das Böse ausleben, zerstören wir alles. Das ist der Kern jeder Moral. Jeder Mensch und jeder Staat muss sich dem Guten, Wahren, Reinen, Schönen verschreiben, wohl wissend, dass Menschen auch andere Seiten haben. Wir brauchen für unser Gemeinwohl, also für das gemeinsame Wohl, Regeln des Zusammenlebens, die Altruistisches belohnen und Destruktives bestrafen. Wir müssen uns diesen Regeln unterwerfen, auch wenn es lustvoll sein kann, sie zu überschreiten.

Mitgefühl

Vermutlich kann die Kunst bewirken, dass wir beide Tendenzen miteinander versöhnen. Oder gute Wissenschaft. Oder Philosophie. Vielleicht müssen wir unsere eigenen Erfahrungen machen – und sie dann transzendieren, um so viel wie möglich aus ihnen zu lernen und unseren Kindern weiterzugeben. Vor allem aber sollten wir eines üben, das uns selbst, uns untereinander und uns in globalisierten Zusammenhängen helfen könnte, mehr Freundlichkeit und Fürsorge, Achtsamkeit und Respekt, Würde und Wertschätzung – mit anderen Worten: Gutes, in die Welt zu bringen, das man unter dem Sammelbegriff Mitgefühl zusammenfasst. Gleichzeitig wären wir naiv (was ja nichts Schlimmes sein muss) und vermutlich wirkungslos (was schlimmer ist), wenn wir nicht gleichzeitig dafür sorgen, dass Politik und Sozialsysteme unserer Länder gründlichst reformiert werden. Das Ziel muss sein: Die Schere von Arm und Reich nicht weiter auseinanderdriften zu lassen, nicht global und nicht in jedem einzelnen Land (Italien hat es in Nord-Süd-Richtung, Deutschland in West-Ost-Richtung; Europa wiederum hat wie überhaupt der Globus – noch – ein Nord-Süd-Gefälle). Das Ziel muss sein, mehr Solidarität zu wagen und „res publica“ überall zu erhalten oder überhaupt erst einzuführen. Und das scheint momentan so schwer wie lange nicht.

Denn während in Europa weitgehend Frieden herrscht, toben die (Stellvertreter-)Kriege anderswo. Während Europa prosperiert (noch), lässt es seine ehemaligen Kolonien verkommen, schottet es sich ab gegen deren Elend, gegen die Bedürfnisse dortiger Menschen nach Wasser, Nahrung, Arbeit, Bildung, Würde. Das Böse hat heute die Form von Gleichgültigkeit, mangelndem Engagement vieler und von fortgesetzter Ausbeutung, fehlendem Verantwortungsgefühl und dem Sich-Abwenden der Unternehmen und Regierungen, wie der sogenannten „kleinen Leute“. Alle handeln nach dem Motto: „Wenn ich nicht hinschaue und nicht darüber rede, dann existiert es auch nicht.“

Ein kleiner Blick vom schönen Rom hinüber nach Kinshasa. Im Kongo herrscht Gewalt, viel Gewalt, grausamste Gewalt. „In ihrer womöglich erschreckendsten Form, nicht ersonnen von ausgewählten Sadisten, die in Staatsgefängnissen foltern, nicht als Werk eines Psychopathen, der wild um sich schießt. Sondern als flächendeckendes Gemetzel wehrloser Menschen, ausgeführt von riesigen Gruppen von Männern und sogar Kindern, geduldet von einer internationalen Gemeinschaft, die ihre Ressourcen schont. Ihre Soldaten, aber auch ihre Ideen und schließlich ihr Mitgefühl“, schreibt Elke Schmitter in ihrer Besprechung von „Kongo. Eine Geschichte“ des Historikers David van Reybrouck (Spiegel Nr. 17, S. 148), einem Autor, der sich auf Überraschungen einlässt. Überraschungen, die geschehen können, „wenn das Erkenntnisinteresse des Forschenden sich zunächst vom Augenschein, von seinen Sinnen, vom Staunen und von Gesprächen leiten lässt“, und entdeckt, „dass Menschen überall Menschen sind. Wehrlos, brutal, der Hoffnung bedürftig. Und darauf angewiesen, dass man ihre Geschichte erzählt. Auch, damit sie sich nicht wiederholt“ (ebd., S. 150; siehe auch Kapitel 16 „Gewissenlos – sind Gewalttäter grundsätzlich krank?“ in diesem Buch).

Gegensätzliches zusammenbringen

Und so saß ich in Rom, in Stockholm und Göttingen, saß in Zürich und Wien, in Hamburg und München, in Berlin, in Luxemburg und in vielen anderen Städten, an Seen und Flüssen und am Meer. Saß und schrieb Erlebtes auf. Geschichten über Menschen, die – ähnlich wie die Kindersoldaten im Kongo und doch wieder ganz anders – genötigt wurden, Zeugen und vielleicht MittäterInnen zu werden von furchtbar bösen Handlungen; Geschichten von Menschen, die angeblich freiwillig und nach langen vorherigen Überlegungen getötet haben. Geschichten über Leid. Ich erzähle sie aus der Sicht derjenigen, die Opfer von Grausamkeiten geworden sind und mit sich ringen mussten; vielleicht lebenslang ringen müssen, nicht selbst (wieder) zum Täter oder zur Täterin zu werden. Manche schaffen es, andere nicht. Sie werden eine Geschichte lesen von einer verhinderten Amokläuferin und einige von selbst als Kind gequälten Amokläufern und Terroristen, die nichts anderes wollten als Vernichtung – und die ihr Vorhaben auch umsetzten. Und eine Geschichte erzählt auch ein verurteilter Mörder, der erst, nachdem er eine Frau schwer verletzt und eine getötet hatte, mit seiner Gefängnistherapeutin, die ebenfalls in diesem Buch zu Wort kommt, seine mörderischen Zwangsfantasien auflösen konnte. Er bleibt vielleicht für lange, vielleicht für immer inhaftiert und versucht doch, seine Menschenwürde zu finden und einen Weg, mit seiner Schuld umzugehen. Ich bin auch für viele andere Menschen – Opfer wie Täter – dankbar, dass er, so aufrichtig, wie er es vermochte, mir ein Interview gab. Nichts kann seine Taten weniger schrecklich machen, doch wie er sich ihnen gestellt hat davon können wir lernen.

Bei allen Begegnungen versuche ich den Blick zu werfen auf das, was uns Hoffnung machen kann: Dass Menschen lernfähig sind. Dass sie das Gute, das Richtige tun wollen. Dass sie sich an Dingen erfreuen, Gefühlsaufwallungen beherrschen oder sublimieren, daraus Musik oder Kunst formen können. Dass sie in Beziehungen und durch Beziehungen Mitgefühl spüren und selbst entwickeln können. Dass sie sich unendliche Mühe geben, ihren eigenen Kindern liebevoll und unterstützend zu begegnen oder zumindest eine Kompensation suchen für das Leid, das sie anderen angetan haben und / oder das ihnen selbst angetan wurde.

Dieses Buch versucht etwas Niedagewesenes: Es bringt Opfer und Täter, Opfer-TherapeutInnen und Täter-TherapeutInnen in einen Raum – unter einen Buchdeckel. Manche werden sich dagegen innerlich wehren: „Wie konntest du nur ...“ Doch ich bitte um Geduld: Lesen Sie dieses Buch und verstehen Sie: Die meisten Täter sind ehemalige Opfer von Bindungstraumatisierungen und Gewalt, von Rohheit und Verlassen-Sein, denen nicht rechtzeitig geholfen wurde, ihren Weg anders einschlagen zu können. Viele, sehr viele hätten das Angebot gern und rechtzeitig angenommen. Unbehandelbar sind nur wenige. Und: 99 % der Täter sind irgendwann wieder in Freiheit. Wenn wir uns nicht bemühen zu verhindern, dass sie wieder straffällig werden – dann produzieren sie wieder neue Opfer. Noch etwas wird in diesem Buch überdeutlich: In Opfern gibt es auch eine andere Seite. Eine, die meist gegen sie selbst losschlägt, manchmal aber auch gegen andere losschlagen kann. Eine Seite, die wir „Täterintrojekte“ oder täterimitierende Anteile nennen. Hören wir auf, Opfer und Täter, Opfer-Therapien und Täter-Therapien gegeneinander auszuspielen. Wir brauchen für beide ein Verstehen und für beide Seiten qualifizierte HelferInnen (siehe Interview 11 mit Frank Urbaniok in diesem Buch). Das entschuldigt Grausamkeiten in keiner Weise, aber es fordert zu etwas auf: zu einem grenzüberschreitenden Denken und Handeln, innerlich wie äußerlich. Das ist gar nicht so einfach. Denn gleichzeitig gilt ja: Bei Gewalt gibt es kein Einvernehmen. Man muss sich positionieren. Das gilt in Familien – hält man zum Täter oder zum Opfer? – wie in Gesellschaften. Ich behaupte: Man kann das eine tun – sich positionieren –, ohne das andere zu lassen: den Keim möglicher Täterstrukturen in Opfern und die Opferstrukturen in Tätern bemerken und entsprechend (be-)handeln.

Dabei werde ich nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Mensch eben nichts Einheitliches ist. Das Konstrukt der einen ganzheitlichen Persönlichkeit mit einem durchgängigen Bewusstseinsstrom muss aufgegeben werden. Es lässt sich nicht halten. Wir alle bestehen aus sehr verschiedenen Strebungen und Impulsen; aus vielen Seinsformen und Zuständen, in unserer „Alles-ist-machbar-und-globalisiert“-Welt erst recht. Manche – besonders die als kleine Kinder bereits Gequälten – bestehen oft sogar aus sehr verschiedenen Selbst-Zuständen, die sie nicht überschauen und nicht koordinieren können. Sie zu verstehen und zu kanalisieren, ohne sie nur in dunkle Ecken zu verbannen, von wo aus sie sich ihren Weg bei einer passenden Gelegenheit nach außen bahnen können – langsam und schleichend wie Gift, oder abrupt ausbrechend wie ein Geysir –, das ist die Aufgabe aller, die Menschen privat oder professionell begleiten.

Denn die Kleinfamilienerziehung (Mütter mit innerlich und / oder äußerlich nur allzu oft abwesenden Partnern) versagt heute sehr oft, leider: Unwissenheit, Laissez-faire-Impulse, Unberechenbarkeiten und (Wohlstands-)Vernachlässigung, aber auch die Sexualisierung, ja Pornografisierung vieler Lebensbereiche, zusammen mit der enormen Zunahme und Verdichtung von Arbeitsstress und Zukunftsangst sorgen bei vielen Müttern und bei noch mehr Vätern für eine Entfremdung von ihren Kindern. Immer mehr Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene aller Gesellschaftsschichten verwahrlosen und brauchen professionelle Unterstützung (Pädagogik, Beratung, Betreuung, Psychotherapie, Psychiatrie und andere Heilkunst). KrankenkassenvertreterInnen stöhnen, GesundheitspolitikerInnen sind ratlos: Wie kommt es, dass unser Sozial- und Gesundheitswesen uns die Haare vom Kopf frisst, die Kosten für ambulante und stationäre Behandlungen von psychischen Problemen explodieren, ohne dass messbare Erfolge zu verzeichnen wären?

Eine der möglichen Antworten lautet: Weil wir seit der sogenannten Aufklärung (die notabene mit der Hexenverfolgung ihren Anfang nahm) immer noch so tun, als seien Menschen vernünftige Lebewesen, die rational denken und handeln – oder alternativ: Verrückte, Kranke, Auszusondernde, die repariert oder – falls das nicht geht – in Krankenhäusern, als (Früh-)RentnerIn, als TäterIn in Gefängnissen etc. entsorgt werden müssten. Doch was ist, wenn das ganze Konzept falsch ist? Was ist, wenn wir weder immerzu einen freien Willen haben noch im Zweifelsfall gestört, verrückt oder krank sind, jedenfalls die wenigsten von uns? Was ist, wenn unsere Gesellschaft in vielen ihrer Strukturen verrückt und krank ist und Menschen auf krank machende Lebensumstände mit der von der Natur vorgesehenen natürlichsten Form reagieren: mit Kampf-, Flucht-, Erstarrungs- oder Unterwerfungszuständen, die man Dissoziation nennt und die einen später immer wieder heimsuchen? Was ist, wenn die Zunahme von Stress, von Gewalt, von einem Mangel an Mitgefühl nicht nur die uns umgebende Natur und Tierwelt, sondern auch uns selbst zu zerstören droht? Wenn die Menschen fragmentieren unter Stress, nicht mehr, sondern weniger berechenbar werden, eher auseinanderfallen, als eine koordinierte zivilisierte Persönlichkeit auszubilden: Was müssen wir dann tun?

Was ist in diesem Buch zu finden?

Das sind die Themen, denen ich in meiner Arbeit weiter und weiter nachgehe. Dabei begegne ich Menschen, die meine „PatientInnen“ oder „KlientInnen“ sind, mit der gleichen Neugier wie den KollegInnen und den ZuhörerInnen, die mir nach meinen Vorträgen oder über meine Webseite ihre Geschichten erzählen. Ich fahre herum – jedes Jahr zusammen genommen mindestens zweimal um die Erde – und höre zu. Ich sammle Geschichten, manchmal auch die meiner eigenen Familie und meines eigenen Gewordenseins. Dabei orientiere ich mich vor allem am Erfolg, denn ich möchte wissen, was hilft. Was hilft, wenn die eigene Kindheit überschattet wurde von Grausamkeiten? Was hilft, wenn man zum Verbrauch in einem destruktiven Kult gezeugt wurde? Und was, wenn man namenlosem Grauen in einer ständig alkoholisierten und übergriffigen Familie entkommen ist? Was hilft, wenn man sexualisiert benutzt wurde, schon als Kind? Und was, wenn man dem sadistischen Psychoterror einer psychotischen Mutter entronnen ist? Wie überlebt man Krieg, Folter und Vertreibung? Und wie versucht man, nicht selbst böse zu werden ob all der bösen Taten, die an einem oder einer begangen wurden oder deren Zeuge man wurde? Davon handelt mein Buch, das ich in zehn Jahren geschrieben und immer wieder aktualisiert habe – an vielen Ecken immer neu beginnend und es schließlich zu einem Ganzen zusammenwebend, in der Hoffnung, es möge sich in der Textur aus vielem ein Bild ergeben. Ein Bild, das Menschen anregt, sich mit schlechten Verhältnissen nicht zu begnügen. Niemals.

Lesen Sie dieses Buch also von vorne nach hinten oder von hinten nach vorn. Oder fangen Sie mittendrin an und schauen nach links und rechts. Lesen Sie die Interviews mit Fachleuten und Betroffenen, blättern sie in den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien, von denen ich einige Hundert zusammengefasst habe. Lesen Sie sich fest in kleinen Essays, die einzelne Punkte vertiefen, und vergleichen Sie zwischendurch immer das Gelesene mit Ihren persönlichen Lebens- und Berufserfahrungen.

Beim Lesen und Nach-Denken werden Sie einem Thema immer wieder begegnen: Ohne gute Beziehungserfahrung wird es nicht gehen. Nur wer von anderen lernt, wie sich Sicherheit, Unterstützung, Mitgefühl und Akzeptanz in möglichst allen, auch den dunkelsten Bereichen der eigenen Persönlichkeit anfühlen, wird lernen, sich selbst entsprechend zu behandeln – und eigene Schutzbefohlene ebenfalls. Und doch gibt es in manchen Menschen etwas, das mich stets aufs Neue wundert: Sie haben Liebe nicht kennengelernt – aber sie sind liebesfähig. Sie sind bereit, sich auf einen anderen Menschen fürsorglich und achtsam und neugierig einzulassen – obwohl sie grausam und verroht behandelt worden sind. Allerdings: Das Sich-Einlassen ist das eine – das Verinnerlichen das andere. Viele sind freundlich zu anderen, aber nach innen zerquält von Süchten, Selbsthass und Todesgedanken. Um das innere „Heilewachsen“, wie es einmal eine meiner Klientinnen ausgedrückt hat, zu befördern, braucht es ein liebevolles und das Lernen förderndes Gegenüber. Ein Gegenüber, das zudem eine gewisse Kompetenz haben sollte, sich mit einem Menschen unterstützend zu beschäftigen, der vielleicht nicht „eins“ ist mit sich und in sich. Sondern vieles. Oder Viele. Vielleicht lässt sich diese Kompetenz nicht nur in Studien und Selbsterfahrung erwerben, sondern nur dann, wenn wir offen sind für das Anderssein in anderen Menschen. Wenn wir uns überraschen lassen können. Wenn wir Abschied nehmen von der Vorstellung eines hermetisch geschlossenen Welt- und Persönlichkeitsbildes.

Mit der buchstäblichen Vielfalt in Menschen in der Extremform einer multiplen Persönlichkeit – heute als dissoziative Identität bezeichnet – habe ich mich seit Jahrzehnten intensiv beschäftigt. Ganz besonders sie, die von frühester Kindheit an in der Regel Vernachlässigung und Gewalt in vielfältigster Form erlebt haben, zeigen uns, was ein Gehirn, was ein Körper schaffen kann, um auch unter unwürdigsten und krankhaftesten Bedingungen zu überleben. Und sie zeigen uns, was alles möglich ist, wenn man versucht, mehr zu tun als zu überleben und fragmentiert zu bleiben. Wenn man „heilewachsen“ will. Wenn man sich aussetzt, ein letztes Mal vielleicht sich aussetzt einer Erfahrung, die „Nachreifen“ und Persönlichkeitswachstum bedeuten können. Von ihnen will ich natürlich besonders erzählen; aber auch von vielen anderen, die nicht ganz so fragmentiert, aber doch auch aufgeteilt sind in ihrem Innern, in „Hell“ und „Dunkel“, in „Gut“ und „Böse“, in Opferanteile und dem, was sie aufnehmen mussten vom Täter oder der Täterin, einfach weil sie ihm oder ihr ausgesetzt waren.

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„Der Feind im Innern“ – diesen Buchtitel trage ich seit vielen Jahren mit mir herum, und er passt vielleicht heute so gut wie nie zuvor, denn wir alle haben nicht nur unseren inneren Feind in unserer Seele, sondern auch in unseren Gesellschaften Feinde, die uns verbrecherisch behandeln (könnten) – und nicht alle diese Feinde werden vor Gericht landen. Das Buch erzählt davon, wie man vielleicht den eigenen inneren destruktiven Impulsen und Anteilen die Hand hinstrecken sollte, um eine Chance zu bekommen, ihnen nicht länger hilflos ausgesetzt zu sein. Nur schafft man das so schlecht bzw. fast gar nicht allein. Sondern man braucht die Hilfe und Unterstützung mindestens eines außen stehenden Menschen, der dieses „Den-‚bösen‘-Anteilen-die-Hand-Hinstrecken“ anfangs übernimmt, als Vorbild, als Beispiel, wie es gehen könnte. Wenn das nicht ein Elternteil sein kann – wer kann es dann übernehmen? Mit Mitgefühl der „bösen“ Erfahrung und allen ihren inneren Repräsentanten zu begegnen ist der Schlüssel zur Veränderung. Davon vor allem wird das Buch erzählen, denn es präsentiert nicht nur Studienergebnisse, sondern Menschen, die sich engagieren – für sich selbst und für andere. Sie finden hier Gespräche mit Opfern und Tätern, mit Kindertherapeuten und forensischen Psychiatern, mit Frauen und Männern, die eins verbindet: Sie lassen sich auf ihre Arbeit an sich selbst und die Arbeit mit ihren Schutzbefohlenen ein. Auch wenn diese Arbeit nicht selten schmerzhaft sein kann – sie ist auch sehr befriedigend und vermittelt allen Beteiligten das Gefühl, etwas zu tun, das zutiefst sinnvoll ist und über die eigene Biografie hinausreicht.

In Rom, Tessin, Stockholm, Karlshamn und Göttingen ist die Endfassung dieses Buches entstanden. Überall bin ich freundlichen GastgeberInnen begegnet, denen ich herzlich für die Überlassung ihrer Wohnungen und Häuser danke. Viele Menschen haben Teile des Manuskriptes gelesen, kommentiert und korrigiert, darunter Irma Knipper, Jocelyne Buchmeier, Karl Heinz Brisch, Renate Stachetzki, Harald Schickedanz, Ute Bluhm-Dietsche, Annelie Wagner, Frank Urbaniok, Marianne Wick, Daniel Oesch, Jacqueline Schmid, Gabriele Schmitz, Katja Paternoga, Onno van der Hart, Frauke Rodewald, Renate und Josef Vorwald sowie etliche Menschen, die mir ihre Geschichten erzählt und viele Anregungen gegeben haben und gern anonym bleiben möchten; ihnen allen sehr herzlichen Dank. Der Blick „über die Grenzen“ war sehr anregend und ich hoffe, dass etwas von der Freude, die ich beim Teilen und Mit-Teilen hatte, bei Ihnen ankommt.

Wie immer freue ich mich über Rückmeldungen unter huber@michaela-huber.com

(Website: http://www.michaela-huber.com)

Von Rom bis Göttingen, im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter 2012

Michaela Huber

1. Lieber nichts fühlen?

I’ve been through the desert on a horse with no name
It was good to be out of the rain
In the desert you can’t remember your name
For there ain’t no one for to give you no pain
Lala-la-lalalala-lalala-la-la ...

Dewey Bunnell (America)

Als der Song „A Horse with No Name“ 1972 herauskam (nein, es war nicht Neil Young, der ihn als Erster sang, auch wenn sich Songwriter Dewey Bunnell der Band „America“ von Youngs typisch lakonischem Stil inspiriert fühlte), dauerte es noch einige Monate, bis er auch in Deutschland bekannt wurde. Mich als Anfang Zwanzigjährige hat er sofort angesprochen. Ein Ohrwurm, den man beim Laufen wieder und wieder innerlich singen konnte: „For there ain’t no one for to give you no pain, lala-la-lalalala ...“ Das Lied ist einerseits völlig durchgeknallt, andererseits erschien es der jungen Frau mit ihrer milden Form von Verzweiflung, die ich damals war, wie ein inneres Echo: Mit einem namenlosen Tier in der Wüste sein, einfach nur raus aus dem Regen, und in der Wüste kann man sich nicht an den eigenen Namen erinnern, denn da ist niemand, der einem Schmerzen bereitet, lala-la ...

Doch, ich kann mich noch in die Stimmung von damals hineinfühlen. In das beobachtende Nichteinlassen, das einsame Laufen und Flüchten, immer wieder durch die Großstadt gehen, den Bürgersteig entlang, keinen ansprechen, nicht gesehen werden, nur beobachten, und niemand kann dir etwas tun, und den Rhythmus von „Horse with No Name“ in den Füßen, die Melodie in den Stimmbändern, im Kopf.

Neulich kam eine Klientin zur Tür herein und summte die Melodie vor sich hin – der Song war gerade wieder populär. Ob sie die gleiche beziehungslose, trotzig-einsame Beziehungs-Sehnsucht mitbringt, dachte ich. Wie ich sie damals hatte, als das Lied so gut passte und ich mir nie eingestanden hätte, dass hinter dem „Ihr könnt mich alle mal“ diese Sehnsucht steckte nach Begegnung? Ob die Klientin das Gefühl von „splendid isolation“, von beinahe schön schmerzvoller Einsamkeit bemerken würde, das in dem Lied zum Ausdruck kommt?

Manche, die meine Räume betreten – meist sind es junge Frauen mit langjährigen und frühen, wirklich äußerst schmerzhaften Beziehungs-Traumatisierungen –, haben schon einen Teil des Weges heraus aus der Wüste hinter sich. Bei anderen bin ich eine Weile sozusagen das namenlose „Pferd“, mit dem sie durch ihre Wüste traben, dem sie erzählen, dass ihnen dann wenigstens niemand wehtun kann. – So lange, bis sie wahrnehmen, dass ich auch eine Beziehungspartnerin bin; wie das Pferd in dem Song natürlich ein wichtiges, nicht nur rhythmisch tragendes lebendiges Element ist, so sind die Termine bei mir für sie nicht nur Möglichkeiten zur Selbstreflexion, sondern auch Einladungen, in Beziehung zu gehen und sich dabei auszuprobieren, aber auch den Schmerz zu benennen, der aus früheren Beziehungserfahrungen stammt.

„A horse with no name“ enthält ein Traumbild: Wenn du dich zurückziehst und keine Beziehungen eingehst, kann dir keiner etwas tun. Dann kannst du unterwegs sein, irgendwohin, kannst immer in Bewegung sein, und du musst trotzdem niemand Bestimmtes sein, wirst nicht angesprochen, nicht dingfest gemacht, nicht beschuldigt, nicht verletzt. Was ein junger Mensch vielleicht nur phasenweise erlebt – es gehört zum Heranwachsen dazu, sich gelegentlich so zu fühlen –, kann bei anderen auch chronisch sein. Wenn man sich sehr lange so sehr bemüht, sich vor (weiteren) Verletzungen zu schützen, kann das in eine namenlose innere Wüste führen. Eine innere Wüste, die wir Depression nennen, Angst, Einsamkeit, Aufgeben, wütende Verweigerung ...

Andererseits: Sich dem Schmerz der Begegnung mit der Gefahr erneuter Verletzung auszusetzen, kann eine/n weiterbringen. Kann weicher machen, offener, lebendiger, kann persönliche Entwicklung bedeuten. Das habe ich natürlich selbst erfahren, sonst würde ich meinen Beruf nicht mit solcher Freude ausüben, auch noch Jahrzehnte, nachdem ich ihn begonnen habe. Ja, ich kann gut nachvollziehen, wie schwer es ist, nicht nur freundlich-zugewandt zu sein, das können viele, es kann reine Äußerlichkeit sein. Sondern sich wirklich zu öffnen, mit dem unkalkulierbaren Risiko, sich zwischenmenschlichen Situationen auszusetzen, die man nicht hundertprozentig, manchmal nicht einmal zur Hälfte kontrollieren kann. Es wird für mich und die meisten Menschen nie einfach sein – wir alle möchten am liebsten jederzeit Kontrolle über Situationen haben und behalten –, und doch ist es das, was das Abenteuer der Begegnung und das Abenteuer Psychotherapie ausmacht: Um selbst weiterzukommen, gilt es, Risiken einzugehen; das Bisherige ein Stück loszulassen, um Neues zuzulassen.

1.1 Warum Alleinsein wichtig sein kann

Als Gegenstück zur Begegnung sind der Rückzug, das Alleinsein und die bewusst gefühlte Einsamkeit wichtig. Auch wenn man in Beziehung ist und dort lernt, dass es Begegnung geben kann, Trost, Hilfe, freundliches Angenommensein. Den bitteren Krug voller Erkenntnisse und schmerzvoller Wahrheiten bis zur Neige zu trinken, das kann man erst einmal nur allein. Sich versteckter, tabuisierter, vermiedener, geleugneter, verschämter, schuldbewusster Emotionen klar zu werden, sie sich einzugestehen – das geht zuallererst nur für sich allein. Durch das Tal der Tränen zu wandern, einzubrechen und unten zu liegen und das Gefühl zu haben: „Ich bin zu schwach, um je wieder aufzustehen“, und es dann doch zu tun – das muss man selbst tief im eigenen Innern erleben. Bei all dem kann man begleitet werden, doch erleben und durch alles das Hindurchgehen muss man selbst. Der Mythos von der „Reise des Helden“, vieltausendfach erzählt, von Jesu „40 Tagen in der Wüste“ bis zu heutzutage bewusst gesuchten Outdoor-Abenteuern, in Tausenden von Geschichten der Weltliteratur, in zahllosen Liedern wird diese Reise besungen. Wenn man am anderen Ende der Reise wieder herauskommt, aus dem Tal der Tränen, der Wüste, der Einsamkeit, der Kargheit, der Dunkelheit, fühlt man sich wie gehäutet. Es wurde etwas abgestreift, es kommt etwas hervor. Noch fühlt man sich wie rohes Fleisch und jeder Windzug schmerzt, doch da ist etwas neu und anders. Etwas, das immer da war und jetzt hervorkommt, das zu einem gehört hat, immer, und jetzt mehr gelebt werden kann – an der frischen Luft.

Die Rolle der anderen Menschen ist bei diesem Prozess: zu lassen und geduldig zu sein, zu ermutigen und herauszufordern, ohne je zu drängen oder zu zwingen. Auszuhalten, dass der oder die Suchende durch diesen Prozess geht, ohne ihm oder ihr etwas abnehmen zu können. Freundlich zu bleiben, ohne zunächst zu wissen, wer oder was einen da gegenüber gerade wütend anfunkelt. Das Fremd- und Anderssein zu ertragen. Und doch da zu sein und da zu bleiben. Sehr gute FreundInnen können das, sehr gute PartnerInnen können es und gute PsychotherapeutInnen sollten es können. Sie bestätigen: „Ja, das tut weh. Doch das schaffst du.“ Sie haben Mitgefühl: „Gerade ist es sehr schlimm, nicht wahr? Das tut mir leid für dich, dass du das jetzt erleben musst.“ Und sie hören nie auf zu ermutigen: „Da geschieht jetzt offenbar etwas Wichtiges. Vertrau auf deine Intuition, wohin auch immer sie dich führt.“ Meine Erfahrung ist: Wann immer ich die Geduld und die Sorgfalt hatte, mit jemand genau hinzuschauen, ohne etwas von mir aus drängend, abkürzend, wegmachend aktiv verändern zu wollen – dann konnte etwas im Innern dem kleinen oder großen Menschen, mit der oder dem ich beruflich oder privat zusammen war, „wie von selbst“ wachsen, sich sortieren, sich ausrichten, groß und stark werden. Es gibt dabei nur wenige Regeln einzuhalten. Die wichtigste: Keine Gewalt, weder nach innen noch nach außen, im Zusammenhang mit dem, was wir hier tun. Und schon das kann unendlich schwer einzuhalten sein.

1.2 Allein gelassen

Immer habe ich gut verstanden – auch aus meinem eigenen inneren Erleben –, dass es die Tendenz in einem Menschen geben kann, nichts mehr von der Welt zu wollen. Wer nichts fühlt, dem tut auch nichts weh. Wer einfach nur vorwärtstrabt, schmerzfrei und wie namenlos, kann nichts benennen. Wer nichts benennen kann, kann nichts begreifen, denn wir begreifen über Begriffe. Und so kann die „splendid isolation“, kann der Ritt durch die Wüste ein stolzes und abgegrenztes Gefühl machen – vielleicht sogar eines, das einem das Gefühl gibt, alles unter Kontrolle zu haben. „Alles easy“, „No problem“, „Alles klar“, „Alles o.k.“ – und wie’s da drinnen aussieht, geht niemanden etwas an. So leben durchaus viele Menschen. Und in vielen Menschen leben Zustände, Wesenheiten ..., die so denken.

Die wenigsten meiner schwersttraumatisierten KlientInnen – sie sind fast alle als Kind vielfach misshandelt und sexuell ausgebeutet worden, viele waren Opfer sogenannter „Kinderpornografie“ und „Kinderprostitution“, etliche sind immer noch mit Menschen verwickelt, die ihnen geschadet haben und es nach wie vor tun – die wenigsten also dieser KlientInnen würden im Alltag irgendwo auffallen. Sie gleiten durch die Schule, die Ausbildung, die Uni – bis sie irgendwann ganztags irgendwo berufstätig funktionieren müssen. Und dann geht auf einmal gar nichts mehr. Dann starren sie stundenlang auf ihren Bildschirm, ohne sich zu bewegen. Dann ertragen sie keine anderen Menschen mehr. Dann laufen sie türenknallend davon. Dann verkriechen sie sich im Bett und ziehen die Decke über den Kopf. Dann vermüllt ihre Wohnung. Dann brauchen sie eine Kur oder Hals über Kopf einen Psychiatrieaufenthalt, weil sie sonst nicht mehr leben könnten und sich immer wieder an den Bahngleisen wiederfinden. Dann schlucken sie, kaum wieder daheim, eine Überdosis gehorteter Tabletten und werden gerade noch gefunden. Dann fällt plötzlich auf, dass sie an den Innenseiten der Arme, der Oberschenkel oder anderswo Schnittnarben haben. Dann nehmen sie immer mehr Schmerzmittel oder trinken noch mehr Alkohol. Dann folgen Aufenthalte in psychosomatischen oder Suchtkliniken. Dann werden sie frühberentet, mit Anfang 30 zum Beispiel. Irgendwann im Laufe dieser „Karriere“ versuchen sie, eine ambulante Psychotherapie zu bekommen, möglichst von der Krankenkasse bezahlt. Dann beginnt ein Spießrutenlaufen: Alle guten TraumatherapeutInnen oder überhaupt gute PsychotherapeutInnen sind ausgebucht, ebenso alle guten stationären Traumatherapieprogramme. Die Kasse will nicht zahlen. Widerspruch. Es gibt ein paar Probestunden. Dann eine quälend lange Wartezeit. Wieder lehnt die Kasse den Antrag auf ambulante oder stationäre Psychotherapie ab. Suizidversuch. Albträume, Verlust der Alltagsstruktur. Verzweiflung. Es droht die dauerhafte Berentung und damit die lebenslange Armut ...

Dass es in ihrem Innern Zustände oder „Wesenheiten“ gibt, die mehr oder wenige milde oder wütend den Kopf schütteln und der Alltagspersönlichkeit sozusagen den Vogel zeigen: „Was strengst du dich eigentlich so an? Meinst du, es bringt etwas, wenn du deinen Jammer zu irgendwem trägst? Es kann dir doch sowieso niemand helfen – schau dir das Desaster doch an!“ – das verstehe ich gut (siehe auch Interview 7, das Gespräch mit Sandra in diesem Buch).

Übertrieben? Keineswegs. Die Traumaabteilungen und psychosomatischen Kliniken sind voll mit jungen Frauen (und ein paar jungen Männern), die klug, begabt und kreativ sind und nicht – derzeit nicht, vielleicht nie mehr – arbeitsfähig. Viele andere Traumatisierte, vor allem männlichen Geschlechts, werden nicht in Kliniken landen – sondern im Gefängnis. Ein lebender Albtraum: So viele junge Menschen zu verlieren kann sich eigentlich keine Gesellschaft leisten. Aber warum ist das so?

Meine Vermutung ist: Unser Sozial- und Gesundheitswesen sowie unser System der Strafvereitelung oder juristischer Sanktionierung sind extrem ineffizient für diese jungen, früh traumatisierten Menschen. Statt ihnen so früh wie möglich so dezent und freundlich und niedrigschwellig wie möglich Unterstützung anzubieten – damit sie nicht sehr lange allein durch ihre „innere Wüste reiten“ und so tun müssen, als wäre alles in Ordnung –, wird das Thema familiärer Gewalt, sexueller Ausbeutung und komplexer Traumata weitgehend ausgeblendet. Man schaut nicht genau hin, geht nicht an die Seite dieser Mädchen und Jungen, fragt nicht: „Sag mal, du bist so blass, kann es sein, dass es dir gerade gar nicht so gut geht?“ Oder: „Du schlägst derart um dich – komm, ich setze mich neben dich und du sagst mir mal, was dich wirklich so zornig macht.“ Aufmerksame und mitfühlende PädagogInnen, NachbarInnen, Familienmitglieder scheuen sich nachzufragen, weil sie Angst vor den Eltern haben, Angst, sich etwas „ans Bein zu binden“, mit dem sie nicht fertig werden. Und die jungen Menschen tun sehr lange so, als sei nichts. Auch vor sich selbst.

Nur den Dingen keine Namen geben, sich durchschlängeln, irgendwie durchkommen, sehr lange. Und wenn sie zusammenbrechen oder immer mehr ausrasten, verweigern ihnen die Institutionen die Hilfe: Es gibt viel zu wenige, vor allem längerfristige, pädagogische sowie Beratungs- und Psychotherapiemöglichkeiten. Wenn KlientInnen nicht selbst zahlen können – und viele fallen einfach über kurz oder lang aus dem bezahlten Berufsleben heraus –, dann verweigern die Krankenkassen sehr oft und sehr lange die Behandlung. Ambulant gibt es – wenn man das Glück hat, in Deutschland eine Kassen-PsychotherapeutIn zu finden – maximal 80 bis 100 Stunden Psychotherapie. Das sind zusammen genommen zwei- bis zweieinhalb Arbeitswochen; für eine Kindheit und Jugend, oft auch noch eine gegenwärtige Situation voller Schrecken und Gewalt ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Zumal es bei schwer bindungs-traumatisierten Menschen lange dauern kann, bis überhaupt ein ausreichend sicheres Vertrauensverhältnis aufgebaut ist, um eine tiefere psychotherapeutische Arbeit beginnen zu können.

Wenn man dann eine Therapie begonnen hat, müsste man dranbleiben können, denn zunächst geht es den Menschen oft gar nicht so gut: Alles „kommt raus“. Wenn erst einmal jemand zuhört und dem Leid einen Raum gibt, dann quillt es geradezu aus dem verzweifelten Menschen heraus. Und wenn der Geist erst einmal aus der Flasche ist – wer will ihn wieder hineinstopfen? Und doch müssen die Rat- und Hilfesuchenden genau das immer wieder tun: Ihr Leid wieder hinunterstopfen, ihre Tasche packen und gehen. Weil die Stunde (oder die pädagogische / therapeutische Maßnahme) zu Ende ist. Weil die Kasse nicht mehr zahlt. Weil die wenigen Wochen (heute manchmal weniger als sechs Wochen!) bewilligter stationärer Therapie zu Ende sind. Weil die TherapeutIn in Urlaub oder krank ist. Weil man kein Geld für die Fahrkarte hat. Weil man manchmal nicht mal aus dem Bett kommt vor Verzweiflung oder sich – wenn man sehr dissoziativ ist – im inneren Grabenkrieg so verheddert, dass man den Therapietermin „vergisst“ oder sich so aufführt, dass man weggeschickt wird (etwa wenn man dann kommt, wenn die TherapeutIn da schon jemand anderen sitzen hat, oder indem man völlig betrunken oder voll mit Drogen oder in einem akut suizidalen Zustand ankommt).

1.3 Defizite im Gesundheitswesen

Weiter: Es gibt die unselige evidenzbasierte Medizin auch im Bereich der Psychotherapie. Was nicht doppelblindgetestet sich für alle Menschen in allen ähnlichen Situationen als effizient herausgestellt hat, wird nicht bezahlt. Was für ein Blödsinn! Als ob sich ein Mensch – ein Universum von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Handlungsimpulsen, Erfahrungen, sozialen Situationen –, was seine / ihre seelische Entwicklung angeht, in das Prokrustesbett solcher Gleichmacherei pressen ließe. Dabei hat jede Psychotherapie-Wirkungsstudie, seitdem es solche überhaupt gibt, immer wieder ergeben, dass der wichtigste Wirkfaktor überhaupt in einer Psychotherapie – ebenso wie in jeder pädagogischen Maßnahme die Beziehung ist (siehe Grawe et al. 2003; Eirund et al. 2009). Internationale Psychotherapieforscher haben das so formuliert: „Etwa 85 % der Wirkung von Psychotherapie sind auf Beziehungsvariablen zurückzuführen und nur 15 % der Technik geschuldet“ (Lambert et al. 1983).