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Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.

Homer

An den Wurzeln der europäischen Kultur

Von Prof. Dr. Michael Stahl

„Wir sind Kinder des Orients“ – so war ein Leitartikel auf der Titelseite der FAZ am 29. Dezember 2007 überschrieben. Sein Autor war Dieter Bartetzko, ein Journalist, der sich um die Belange der Archäologie in der Öffentlichkeit immer wieder sehr verdient macht und sich auch engagiert über die öffentliche Architektur in unserem Land äußert.

Der prominent platzierte Artikel mit dem Titel „Wir sind Kinder des Orients“ gehörte in einen bestimmten Kontext: Nur eine Woche zuvor hatte die FAZ die Thesen von Raoul Schrott über Homer veröffentlicht. In ihnen lokalisierte der österreichische Literat und Literaturwissenschaftler das homerische Troja in das östliche Mittelmeer, nach Kilikien, und seinen Dichter an den Hof eines assyrischen Kleinkönigs.

Bartetzko suchte nun die allgemeinen politischen Konsequenzen aus dieser Aufsehen erregenden These zu ziehen. Ich erspare es mir, Schrotts Argumentation zu rekapitulieren, mit der er das Geheimnis um „Homers Heimat“ gelüftet haben will. Schrott hatte damit und mit seiner danach erschienenen Übersetzung von Homers Ilias jedenfalls eine lebhafte Debatte ausgelöst. Inzwischen haben sich aber alle Kenner der Materie zumeist kritisch geäußert. Von Schrotts These ist kaum etwas übrig geblieben.

Keiner der Diskussionsbeiträge ging allerdings näher ein auf den brisanten Kontext, in den Bartetzko in seinem Artikel Schrotts vermeintliche Erkenntnisse gestellt hat. Lediglich der Althistoriker Christian Meier hat ebenfalls in einer großen Zeitung den Schlußfolgerungen Bartetzkos eine dezidierte Gegenthese gegenübergestellt: „Wir sind Kinder des Okzidents“.

Bartetzko rückt Schrotts Konstruktionen neben die einst umstürzenden Befunde Heinrich Schliemanns. Nun sei es endlich bewiesen, so Bartetzko:

„Das Epos, das wir als fernen Spiegel der eigenen Befindlichkeit und Besonderheit verehrt haben, ist durchwirkt von jener Kultur, die wir als das Andere, das Fremde zu sehen gewohnt sind.“ Schrott habe Homer „humanisiert“, indem er ihn als einen „multikulturellen Dichter (und Propagandisten)“ erkannt habe.

Mit Schrotts Ilias in der Hand, so Bartetzkos Schluß, drängten sich nun „Fakten gemeinsamer Wurzeln“ auf. Angesichts derer könne man an den bisher gesehenen Unterschieden und Gegensätzen zwischen Abend- und Morgenland nicht mehr festhalten. Das eigentlich Wichtige und Provozierende von Schrotts Annahmen liegt in dieser aus ihnen ableitbaren Botschaft.

Sie lautet: Wir müßten, um den uns bedrückenden Konflikten der Gegenwart besser begegnen zu können, vergessen, wovon wir seit mehr als 2500 Jahren überzeugt waren: nämlich daß wir in Homer einen der zentralen Bezugspunkte unserer okzidentalen Identität besitzen.

Ich möchte in dieser Vorlesung zeigen, daß wir das nicht dürfen und auch nicht können, solange wir uns nur mit Homers Dichtung selbst befassen sowie mit dem, was eine gründliche Forschungstradition über sie ermittelt hat, und nicht mit aus dem Zusammenhang gerissenen Einzelfakten. Die Unhaltbarkeit von Schrotts Überlegungen zum Entstehungskontext der Epen erweist sich gewissermaßen auf indirektem Wege über die Frage, was der Text Homers in seiner Wirkungsgeschichte für die Griechen und für uns bedeutet.

Wer ein Bild der griechischen Kultur zeichnen will, muß nämlich immer noch mit Homer beginnen. Seine Dichtungen sind die ersten Werke der griechischen Literatur und damit der antiken, ja der europäischen Literatur überhaupt. Das muß als solches in seiner Bedeutung und in seinen Wirkungen gewürdigt werden. Homer ist und bleibt – selbst wenn man die Thesen von Raoul Schrott einmal hypothetisch akzeptieren würde – praktisch ausschließlich ein Phänomen der griechischen (und später natürlich auch der römischen) Kultur.

Nur in diesem Zusammenhang, als erster Autor Europas in einem emphatischen Sinn, hatte Homer auch über die Antike hinaus Bedeutung. Mag es auch ‚orientalische Wurzeln’ geben: Wer in der Antike und später diesen prachtvollen Baum betrachtete und von seinen Früchten aß, wußte nichts von diesen Wurzeln; er konnte und er kann sie vernachlässigen.

Wir müssen uns also fragen, welche Bedeutung Homer für die Griechen und später für das Altertum überhaupt besaß. Das möchte ich im zweiten Kapitel der Vorlesung tun.

Davor werde ich zusammenfassen, was die Forschung bisher mit dem Namen „Homer“ verbindet und dann kurz erläutern, worin meiner Auffassung nach der geschichtliche Bezug seiner Dichtung besteht.

Schließlich werde ich im dritten Teil anhand einiger Beispiele erläutern, warum die dichterischen Bilder Homers den Menschen in Europa auch später, bis auf den heutigen Tag, etwas zu sagen hatten.

1. Die Elemente der sog. „homerischen Frage“

Was meinen wir, wenn wir von „Homer“ sprechen? Mit diesem Namen werden in der antiken Überlieferung zwei sehr lange, in Hexameterversen gehaltene Dichtungen verbunden, sog. Epen.