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Doris Dörrie

Was machen

wir jetzt?

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe
erschien 1999 im Diogenes Verlag
Umschlagillustration:
Jack Vettriano, ›The Singing Butler‹,
1998 (Ausschnitt)
Copyright © Jack Vettriano/www.jackvettriano.com

 

 

Die Meinung der Hauptfigur, Fred Kaufmann,
über buddhistische Retreats und den Buddhismus
gibt nicht die Meinung der Autorin wieder.

Ich fühle mich im besonderen Rigpa, Sogyal Rinpoche,
Plum Village und Thich Nhat Hanh
zu großem Dank verpflichtet.

D. D.

 

 

Für MMO

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23270 7 (12. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60089 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

Row, row, row your boat

Gently down the stream

Merrily, merrily, merrily

Life is but a dream.

Amerikanisches Kinderlied

[7] 1

Ich bin im Begriff, meine Familie zu verlieren. Meine Ehe ist auf dem Hund, und meine Tochter Franka hat sich in einen Kerl verknallt, der sie nach Indien entführen will.

Ruf mal an, sagt meine Frau leise. Sie steht mit untergeschlagenen Armen mitten auf der Straße. Ich sehe die Gänsehaut auf ihren nackten Oberarmen.

Ein kalter, regnerischer Juliabend. Wenigstens wird das Wetter in Frankreich besser sein. Wenigstens das.

Ruft beide mal an, wiederholt Claudia, eine Spur lauter. Sie lächelt erst mir zu, dann Franka. Franka legt ihren Kopf auf das Autodach und sieht ihre Mutter stumm und ausdruckslos an. Zweimal bewegt sie ihre Kieferknochen, um ihren Kaugummi von einer Ecke in die andere zu schieben. Ihr tiefschwarz gefärbtes Haar fällt ihr ins Gesicht und verdeckt die gepiercte Augenbraue. Ihre Haut ist weiß und glatt wie Papier. Franka geht nie in die Sonne.

Sie klappt ihre blauen Augen ein paarmal auf und zu. Die Augen hat sie von mir. Als sie klein war, habe ich ihr vorgesungen: Deine blauen Augen machen mich so sentimental; wenn ich dich anschau, wird mir alles andre egal! Da hat sie immer gekichert wie ein kleiner Lachsack.

Jetzt ist ein Lächeln von ihr so selten wie ein heißer Sommer in Deutschland. Ausdruckslos betrachtet sie uns wie [8] ein Eisbär, der einem mit seiner Mimik auch nichts über seine Gefühle verrät. Schlägt er gleich zu und zerfetzt einen, oder stupst er einen vertrauensselig mit der Nase in die Seite? Zum Abschied haut sie mit der Hand aufs Autodach und läßt sich auf die Rückbank fallen. Ich hatte angenommen, sie würde vorne neben mir sitzen, aber das ist ihr schon zu nah. Ich seufze.

Klar rufe ich an, sage ich zu Claudia.

Hast du das Ladekabel fürs Handy? Claudias Stimme wackelt, und ich nehme sie prompt in den Arm, weil sie jetzt wahrscheinlich anfangen wird zu heulen.

Sie fühlt sich klein an. Kleiner als sonst. Ich versuche irgend etwas zu spüren, einen leichten Abschiedsschmerz oder ein liebevolles Gefühl, irgend etwas, aber da ist nichts, gar nichts. Statt meiner Frau könnte ich genausogut einen Kleidersack im Arm halten. Ich habe meine Liebe zu ihr verlegt wie einen Schlüssel und kann mich partout nicht dran erinnern, wo ich ihn zuletzt gesehen habe. Allerdings suche ich auch nicht wirklich. Das ist das eigentliche Problem. Ich weiß nicht mehr, was ich will.

Ungeschickt klopfe ich Claudia auf die Schulter, sie löst sich von mir. Ihr Lippenstift ist verschmiert. Den habe ich jetzt am Hemdkragen. Ich habe nur drei Hemden dabei, und noch vor der Abfahrt ist eins bereits ruiniert. Warum schminkt sie sich die Lippen, wenn sie doch nur eben kurz runtergekommen ist, um uns zu verabschieden? Darüber könnte ich lange nachdenken, wenn ich nicht inzwischen wüßte, daß es auf Fragen wie diese keine vernünftigen Antworten gibt. Claudia lächelt gekünstelt und entfernt sich rückwärts in Richtung Haustür. Sie ist barfuß. Keine [9] Schuhe, aber Lippenstift. Wir haben es fast geschafft. Keine Tränen. Ich bin erleichtert.

Ich hebe die Hand und steige nun selbst ein, lasse den Motor an, parke aus und sehe im Rückspiegel, wie Claudia sich entfernt und immer kleiner wird, eine winzige regungslose Puppe in einem rotgemusterten Kleid allein auf der leeren Straße. Sie winkt. Ich weiß nicht, ob ich jemals zurückkommen will.

Ich fahre auf der Schweren-Reiter-Straße stadtauswärts. Franka hat bereits ihren Discman angeworfen, wie das Surren eines Insektenschwarms dringen die Töne von der Rückbank an mein Ohr, ich mache meinerseits das Radio an, sie spielen ein Dylan-Lied: Don’t Think Twice, It’s Alright. Nichts ist alright, Mr. Dylan, auch wenn ich schon lange nicht mehr drüber nachdenken mag.

Meine Tochter hat sich in einen Lama verliebt. Nicht in ein Lama, sondern in einen Lama. So ähnlich wie den Dalai-Lama stelle ich ihn mir vor, den Lama meiner Tochter: kahlköpfig, in einem roten Umhang. Vierundzwanzig soll er sein. Acht Jahre älter als Franka. Ich werde meine Tochter zu ihm in ein buddhistisches Kloster nach Südfrankreich bringen und dort auf sie aufpassen, um zu verhindern, daß sie uns mit ihm davonläuft und wir irgendwann eine Postkarte aus dem Himalaja bekommen.

Dadfred, kannst du mal diesen Scheißsender wegdrehen, sagt Franka. Sie nimmt die Kopfhörer nicht ab. Ich mache das Radio ein bißchen leiser und suche ihre Augen im Rückspiegel. Sie hält den Kopf gesenkt. Fast nie mehr sehen wir uns in die Augen.

Ich sehe dieses große seltsame Wesen mit den [10] pechschwarzen Haaren auf dem Rücksitz und versuche es mit dem Baby, das es einmal war, in Deckung zu bringen, aber es gelingt mir nicht. Das eine hat mit dem anderen nicht das geringste zu tun. Vielleicht nur die Tatsache, daß mir der Säugling damals manchmal ebenso fremd war wie die Sechzehnjährige jetzt.

Wie oft sind wir mit ihr als Baby nachts um den Mittleren Ring gefahren, wenn sie durch nichts zu beruhigen war, außer durchs Autofahren. All diese Geisterfahrten durch eine leere Stadt, wo es mir manchmal schien, als seien die einzigen Autofahrer, die außer uns noch unterwegs waren, ebenfalls verzweifelte Eltern mit ihren Säuglingen. Aber wenn sie dann endlich einschlief, oh, wenn sie dann endlich schlief, was für ein Glück! Was für ein schier unermeßliches Glück. Ich hatte alles, eine Frau, ein Kind, ein Auto und freie Fahrt in eine wunderbare Zukunft.

Wir hörten die Talking Heads und Tom Waits und Van Morrison, und manchmal drehte Claudia einen Joint, legte ihren Kopf in meinen Schoß, und ich fuhr und fuhr, anhalten durfte ich ja nicht, auf gar keinen Fall, da war der Friede innerhalb von Sekunden vorbei. An jeder roten Ampel die Angst, Franka könne aufwachen, sie bewegt sich, sie macht die Augen auf, Hilfe, o Gott, lieber Gott, laß sie bitte, bitte noch ein bißchen schlafen. Und weiter fuhren wir, immer im Kreis um die Stadt herum. Gesprochen haben wir, glaube ich, kaum. Damals brauchten wir nicht zu sprechen.

Im blauen Morgengrauen standen wir dann auf dem Parkplatz des Euroindustrieparks, während Claudia stillte und an uns vorbei die ersten müden, mißgelaunten Frauen [11] ihre Einkaufswagen in die Supermärkte schoben. Ich holte Frühstück bei McDonald’s, wir hielten ein sattes, ausgeschlafenes, gutgelauntes Baby auf dem Schoß, tranken becherweise Kaffee und aßen McMuffins, warme Brötchen mit einem Ei und einer Scheibe Schinken darin, die sich wie weiche kleine Kissen in den Magen legten.

Der ganze weitere Tag bei der Arbeit im »Siebten Himmel«, unserem vegetarischen Imbiß, erhielt auf geheimnisvolle Weise etwas Besonderes durch unsere nächtliche Unternehmung. Obwohl hundemüde und zittrig vor Erschöpfung, hatte ich das Gefühl von Weite in unserer kleinen Küche, und während ich die Frühlingsrollen und Spinataufläufe in die Mikrowelle schob, sah ich die leere, nächtliche Straße vor mir und war mir sicher, niemals in die Gefangenschaft des Alltags zu geraten wie alle anderen.

Ich biege ab auf die Autobahn Lindau. Die graue, endlose Autobahn erstreckt sich vor uns. Ich trete aufs Gas, wie alle andern dahinjagenden Autofahrer in der Illusion, daß Geschwindigkeit mich von der Schwerkraft befreien kann, die mich jeden Tag ein wenig mehr zu Boden zieht.

Dadfred, kannst du nicht diese Schrottmusik ausmachen, stöhnt Franka vom Rücksitz. Ich mache die Musik aus, Franka hat offensichtlich auch ihren Discman ausgemacht, denn es ist still im Auto. Ich sehe ihre geschlossenen Augen im Rückspiegel, die glatte Babyhaut ihrer Stirn, hinter der ich ein düsteres Labyrinth von wütenden Gedanken, Schmerz und Haß vermute, aber wer weiß? Vielleicht ist es ein kleiner, gepflegter Garten mit Tulpen, [12] Narzissen und geharkten Wegen, der Claudia und mich beschämen würde, weil wir ihn uns im Kopf unserer Tochter niemals vorstellen könnten.

Was zum Teufel denkt Franka? Wenn sie überhaupt denkt. Manchmal schaue ich sie an und habe das Gefühl, daß hinter ihrer Stirn nichts als bunte Fruitloops hin und her schwappen. Ist ihr überhaupt klar, daß wir jetzt nur deshalb zusammen ins Kloster unterwegs sind, weil sie sich vor rund sechs Monaten beharrlich geweigert hat, auch nur einen Funken nachzudenken?

[13] 2

Ich saß im dunklen Wohnzimmer vor dem flackernden Fernseher, als Franka eines Abends im März hereinkam und sich wortlos auf die Couch fallen ließ. Ich nahm sie nur aus dem Augenwinkel wahr, sie grüßte mich nicht, worüber ich mich ärgerte. Konnte dieses Kind nicht ganz normal guten Abend sagen? Mußte selbst der einfachste menschliche Kontakt mit einem Teenager unmöglich sein?

Guten Abend, sagte ich laut, heftete den Blick auf die Mattscheibe und nahm mir verbissen vor, mir von meiner Tochter nicht die Laune verderben zu lassen. Es lief Akte X, das weiß ich noch, eine grausige Geschichte von einem Serienmörder, der seinen Opfern das Fettgewebe heraussaugt, weil er es für seinen eigenen Monsterkörper braucht. Sergeant Scully war kühl und beherrscht wie immer, und ich dachte gerade darüber nach, wie sehr sie mich im wirklichen Leben interessieren würde und ob sie zu den Frauen gehört, die laut »o Gott, o Gott« schreien, oder eher zu denen, die »ja, ja, ja« flüstern, als Franka ganz leise sagte: Ich bin schwanger.

Abrupt schaltete ich den Ton ab. Gemeinsam starrten wir im Dunkeln auf die kleinen bewegten Menschen in dem viereckigen, erleuchteten Kasten. Dann sagte ich: O Gott.

[14] Und mehr fiel mir dazu nicht ein. Stumm saßen wir da und bewegten uns nicht, und wahrscheinlich säßen wir heute noch so da, wenn Claudia nicht von ihrer Meditationsstunde zurückgekommen wäre. Wir beugten uns beide leicht nach vorn und lauschten dem Schlüssel im Schloß, wir hörten beide die kleine Glocke an Claudias Schlüsselbund, die sie braucht, um festzustellen, ob ihr Schlüssel wirklich auf dem Grund ihrer riesigen Tasche liegt, die sie ständig mit sich herumschleppt.

Sie kam ins Zimmer. Ihre blonden Haare leuchteten wie ein Heiligenschein. Sie würde uns beide retten, so wie sie uns immer rettete.

Was macht ihr denn hier im Dunkeln? sagte Claudia und lachte. Im Fernseher verweste eine Leiche vor unseren und Sergeant Scullys Augen.

Franka, sagte Claudia streng, als hätte Franka ihren Kakao nicht ausgetrunken, die Schultasche nicht gepackt, ihr Zimmer nicht aufgeräumt, wann genau?

Im Dezember, murmelte Franka.

Vor drei Monaten? fragte Claudia entsetzt. Wann genau? Franka, erinner dich! Wann genau?

Ich sah der stummen Agentin Scully zu, wie sie einen Verdächtigen gerade in die Mangel nahm und ihn wahrscheinlich ganz genau dasselbe fragte: Wann? Wann genau? Erinnern Sie sich!

Franka erinnerte sich. Auf der Klassenfahrt nach Prag, drei Tage vor ihrer Rückkehr, mußte es wohl passiert sein. Claudia und ich waren während dieser Zeit in London und versuchten unsere Ehe zu retten. Ich hatte mir für ein [15] Heidengeld neue Schuhe gekauft, auf die ich jetzt angestrengt starrte und in deren Lochmuster ich nach einer Antwort suchte.

Wer? fragte Claudia streng, und ich war überzeugt, Franka würde keine Namen nennen, aber leise sagte sie: Til.

O Gott, sagte jetzt Claudia. Das Riesenbaby. Dabei habe ich dir noch selbst Kondome gekauft.

Ich starrte eisern weiter auf meine neuen Schuhe. Drei Tage vor Frankas Rückkehr aus Prag hatte ich mir zum ersten Mal in meinem Leben Schuhe für achthundert Mark bei Church’s auf der Bondstreet in London gekauft und mich mit meinen fünfundvierzig Jahren endgültig erwachsen gefühlt. Wahrscheinlich war just in diesem Moment meine Tochter geschwängert worden. Genau in dem Moment natürlich. Deine Kinder erwischen dich immer, wenn du gerade mal ein Nickerchen machst. Immer.

[16] 3

Unsere Reise nach London fing unglücklich an. Manchmal weiß man schon in der ersten Minute, daß eigentlich nichts mehr zu retten ist. Aber das kann man nicht auf sich sitzen lassen, man wird das Ruder schon noch herumwerfen. Es ging schon so los, daß Claudia im Taxi zum Flughafen feststellte, daß sie ihre Stöckelschuhe vergessen hatte – die zum blauen Kleid – und ich an der Art, wie sie es sagte, ablesen konnte, daß es in ihrem Kopf bereits das Bild von Claudia im blauen Kleid mit den blauen Schuhen in London gab, das perfekte Bild – und jetzt fehlten die Schuhe.

Wir gehen einfach Schuhe kaufen, schlug ich vor, und aus ihrem dünnlippigen Lächeln schloß ich, daß mein Vorschlag naiv war. Außerdem wollen Frauen keine Lösungen ihrer Probleme vorgeschlagen bekommen, sie wollen über das Problem reden.

Sie wandte sich ab und sah übel gelaunt aus dem Fenster. Versuchsweise nahm ich ihre Hand in meine, aber da sie nicht reagierte, ließ ich sie wieder los. Es war mir auch ehrlich gesagt lieber so, ich bin kein großer Freund des Händchenhaltens. Entweder ist meine Hand schwitzig, und ich bin mir dessen unangenehm bewußt, oder die des anderen ist feucht, oder ich warte nervös drauf, daß eine von beiden feucht wird, und meistens ist es dann meine.

[17] Aber Claudia liebt es, sich an meine Hand zu klammern. Stundenlang, wenn es nach ihr ginge, tagelang. Es macht mich ungeduldig, nervös, manchmal möchte ich ihr meine Hand entreißen und davonlaufen. Wenn ich sie dann endlich wiederhabe, meine Hand, ist die Haut der Innenfläche wellig und aufgeweicht, als hätte ich Stunden in der Badewanne zugebracht.

Wenn sie es ablehnt, meine Hand zu ergreifen, weiß ich, daß wir ein Problem haben. Nur welches, das weiß ich nicht. Das soll ich erraten, und nach fast siebzehn Jahren mag ich nicht mehr raten.

Sie lächelte angestrengt gut gelaunt in meine Richtung, und ich lächelte zurück. Eigentlich hätten wir in diesem Moment umdrehen sollen, den Mut haben sollen, uns einzugestehen, daß unsere Wochenendreise nach London uns auch nicht retten würde, daß wir nur panisch in Bewegung geraten waren, weil uns unser Stillstand schmerzlich bewußt war.

Statt dessen bereute ich, nicht die Businessclass gebucht zu haben, denn damit hätte ich Claudia überraschen können, und wir hätten es uns, seit wir unsere politisch korrekte kleine vegetarische Imbißkette gegen das Label »coffee & bagel« einer amerikanischen Großfirma eingetauscht hatten, wirklich leisten können. Aber ob Claudia sich wirklich über einen etwas größeren Sitz und geringfügig besseres Essen gefreut hätte? Sie konnte schrecklich bockbeinig sein, und ihre politische Überzeugung hätte uns fast in den Ruin getrieben.

Nach einem kurzfristigen Boom, als plötzlich jeder Geschäftsmann Yogakurse belegte und Sojamilch trank, [18] konnte bald niemand mehr Tofuburger und Mangoldgemüse sehen, und alle Versuche, die Kunden mit esoterischen Kochkünsten quer durch die ganze Welt zurückzugewinnen, angefangen bei Rezepten nach den fünf Tibetern bis zu chinesischem Elementekochen, funktionierten nicht mehr. Am Ende blieben wir auf den blassen, magersüchtigen, aber gesundheitsbewußten Sekretärinnen sitzen, die mit uns älter wurden und niemals ihren Tofuburger würden missen wollen – aber von ihnen allein konnten wir nicht leben. Nach und nach mußten wir unsere Filialen zumachen, und am Ende sah selbst Claudia ein, daß wir uns nach einem neuen Beruf hätten umsehen müssen, wäre nicht der Bagel auf uns zugekommen wie ein großes Ufo mit einem Loch in der Mitte. Ein ursprünglich jüdisches Gebäck kam zu uns nach München, um uns zu retten.

Wir waren das erste Bagel-Restaurant in ganz Deutschland. Den Teig bekamen wir anfangs noch aus den USA geliefert, fertig geformte Bagel, die wir nur in den Ofen zu schieben brauchten, auch der Kaffee kam in riesigen Säcken mit genauen Vorschriften, wieviel pro Tasse und Größe zu verwenden sei. Die Speisekarten druckten wir mit Absicht nur auf englisch, und prompt meldeten sich scharenweise amerikanische Studentinnen, die ganz erpicht darauf waren, die Bagel unters deutsche Volk zu bringen.

Die Bagel gingen weg wie warme Semmeln, und innerhalb kürzester Zeit konnten wir wieder Filialen aufmachen, nach einem halben Jahr zwei, nach einem vier, nach eineinhalb Jahren sechs.

Businessclass wäre also drin gewesen, aber ich war [19] immer noch nicht gewöhnt, so zu denken, und im Gegensatz zu früher schämte ich mich dessen und kam mir spießig und hoffnungslos altmodisch vor. Früher war doch mal Geld spießig gewesen, dachte ich. Von dem Augenblick an ist man alt, in dem man das Wörtchen »früher« benutzt. Hier also, in einer Lufthansa-Maschine nach London, war ich alt geworden.

Wir quetschten uns in die engen Sitze, mir war heiß, ungeduldig wartete ich auf das Anrollen der Maschine. Ich schlug die Süddeutsche Zeitung auf und versuchte mich auf die Kriege in dieser Welt zu konzentrieren, als der Kapitän sich meldete und sich räuspernd dafür entschuldigte, daß wir leider alle wieder aussteigen müßten, denn die Bordtreppe, über die wir eingestiegen waren, habe sich verklemmt und lasse sich nicht mehr einziehen. Claudia sog die Luft ein. Mir sank das Herz. Diese Reise war meine Idee gewesen.

Langsam schoben wir uns wieder aus dem Flugzeug die eingeklemmte Treppe hinunter in den Bus. Claudia lächelte mir unverbindlich zu, ein Lächeln, wie sie es sonst für die Gäste bereithielt, wenn sie ihre Bestellungen aufgaben. Ein weiterer Vorteil unseres Bagelparadieses: Keiner von uns beiden mußte mehr hinter der Theke stehen. Claudia schien das allerdings zu vermissen, denn sie machte Tag für Tag Kontrollrundgänge durch alle sechs Filialen und blieb oft in einem der Läden hängen. Sie bediente eine Weile selbst, bevor es ihr peinlich wurde und sie wieder an eines dieser gesund aussehenden und immer freundlichen amerikanischen Mädchen abgab und nach Hause kam.

[20] Ohne ihre Arbeit war sie jedoch unglücklich und ruhelos wie ein Hund, dem das Herrchen gestorben ist. Sie wußte nicht, wohin mit sich, obwohl sie endlich all die Zeit hatte, die sie sich immer gewünscht hatte. Sie nahm Spanischunterricht, schleppte mich sogar mit dorthin – was sie besser nicht getan hätte, denn ich verliebte mich in unsere fünfundzwanzigjährige Lehrerin Marisol –, sie ging in die Stadt, sie traf sich mit Freundinnen, aber nichts schien sie wirklich auszufüllen, bis sie eines Tages mit einem dünnen roten Büchlein mit dem Titel Wie man Glück und Leiden in den Pfad zur Erleuchtung umwandelt – wie du glücklich sein kannst, wenn du es nicht bist unter dem Arm nach Hause kam, das sie von nun an mit verbissenem Eifer studierte. Sie las nur noch dieses eine Buch, und wenn sie am Ende angelangt war, fing sie wieder von vorne an.

Ein gewisser Lama Tubten Rinpoche hatte es geschrieben, und auf der Rückseite des Buches war er abgebildet, wie er in roter Mönchskutte und mit glattrasiertem Schädel auf einem Felsen saß, in der Hand eine gelbe Dose, die eine Bierdose sein konnte, aber das ließ sich selbst mit Lupe nicht genau feststellen. Ich habe mir diesen Typen tatsächlich mit der Lupe angesehen, weil er mir meine Frau wegzunehmen drohte. Ihr gesamtes Leben drehte sich nur noch um ihn und seine Lehren vom Glück. Während sie schlief und leise vor sich hin schnarchte, saß ich auf der Bettkante und hielt die Lupe über einen tibetischen Lama, um festzustellen, welche Biermarke er mochte. Eine Bierdose hätte ihn mir gleich sehr viel sympathischer gemacht.

Alle Lebewesen wünschen sich Glück und möchten Leiden vermeiden, hieß es in dem Buch. Dagegen war nichts [21] einzuwenden. Aber weil die Menschen ständig ihrer Begierde nachgeben, finden sie kein Glück. Das fand ich schon bedenklicher, und in der Tat gab Claudia kaum noch ihrer Begierde nach, und deshalb hatte ich keine Begierde mehr. Ich brauchte ein Zeichen von ihr, nur ein winziges Zeichen, sonst war ich zu schüchtern, so blöd das klingt. In der Regel reichte es schon, wenn sie nicht sofort ein Buch aufschlug, wenn sie ins Bett kam. Oder mich nur ein klein wenig anlächelte. Oder mich nicht mit einem kleinen Vogelkuß verabschiedete, sondern ihre Wange kurz an meine drückte. Das reichte. Ohne diese Zeichen fand ich keinen Weg zu ihr. Die Zeichen wurden jedoch immer weniger, und irgendwann gab sie mir überhaupt keine mehr. Das war das Ende unseres Liebeslebens. Und das alles wegen eines Gebäcks mit Loch in der Mitte, denn letzten Endes hatte unser Erfolg mit den Bagels aus Claudia eine tibetisch vor sich hin singende Frau mit einem roten Bändchen um den Hals gemacht, die fast jeden Abend in ein Meditationszentrum rannte und sich, bevor sie ins Bett ging, hundertachtmal zu Boden warf.

Ich versuchte, darüber ebenso hinwegzusehen wie über die gepiercte Augenbraue meiner Tochter, und in der Zwischenzeit holte ich mir im Bad ab und zu einen runter. Ich kann nicht sagen, daß ich wirklich litt, aber ich verspürte eine leichte, anhaltende Trauer, so als sei ein mir liebes Haustier gestorben.

Wie eine Herde Schafe schoben wir uns langsam aus dem Bus auf das Flughafengebäude zu. Vor mir löste sich ein kleiner, korpulenter Mann mit Glatze aus der Herde und [22] strebte entschlossen auf eine zweite Tür zu. Ich packte Claudia an der Hand, und wir folgten diesem kleinen Mann, der einen schütteren Heiligenschein aus hellblonden Haaren rund um die Glatze trug.

Wer so ausscherte und auf eigene Faust verbotene Türen öffnete, konnte kein Deutscher sein, dachte ich. Auch ich hätte kaum den Versuch unternommen, eine andere Tür zu öffnen. Das war sicherlich verboten, auch wenn es nicht dranstand, und bestimmt war sie abgeschlossen. Aber der kleine Mann öffnete ganz selbstverständlich diese Tür, und wenige Minuten später befanden wir uns wieder in der Abflughalle, wo wir von der Fluggesellschaft einen Verzehrbon bekamen. Der kleine Mann lächelte uns zu und sagte mit leicht holländischem Akzent: Dann gehen wir mal in die zweite Runde, was?

Wir standen gemeinsam für unser Getränk und unser Sandwich an, der kleine Holländer hielt eine eisgekühlte Piccoloflasche an seine Backe und erzählte in perfektem Deutsch, man habe ihm erst am Nachmittag einen Weisheitszahn gezogen. Und während wir noch müde Scherze über Zahnärzte machten, fiel mein Blick auf den fleischigen Hals des kleinen Mannes, um den der gleiche rote Wollfaden geknüpft war wie um den Hals meiner Frau.

Ich hatte nie genau nach der Bedeutung dieses Fadens gefragt. Ein Glücksbringer, verliehen von einem tibetischen Lama, das war alles, was ich wußte. Claudia bemerkte ihn im selben Moment wie ich. Lächelnd nahm sie ihren Schal ab, der Holländer sah ihren Wollfaden, und Sekunden später tauschten die beiden bereits Namen von tibetischen Lamas aus wie andere Urlaubsorte.

[23] Ich mußte an mich halten, um nicht laut zu schreien. Scheinbar gelangweilt wandte ich mich ab, konnte aber der Unterhaltung der beiden sehr genau folgen.

Es gibt ein Kloster von Tubten Rinpoche in Südfrankreich, sagte der kleine Holländer, der sich Claudia als Theo vorstellte, da wollte ich immer schon mal hin. Ein Retreat, das wäre mein Traum…

Ein Wort nur, aber ich spürte, wie Claudia es aufsog wie eine Biene den Honigtropfen. Retreat. Damals hatte ich keine Ahnung, was das heißen sollte. Rückzug. Camp. Klassenreise. Kurse für unglückliche Menschen in schöner Landschaft. »Wie man glücklich sein kann, wenn man es nicht ist…«

Oh ja, das würde ich zu gern auch mal machen, erwiderte Claudia sehnsüchtig, ein Retreat…

Ich kann Ihnen die Adresse geben, sagte Theo. Ich schreibe sie Ihnen gleich, wenn ich zu Hause bin.

Er zückte seinen Terminkalender, und Claudia ließ ihre blonden Haare fast auf seine Hände fallen, während sie ihm unsere Faxnummer diktierte.

Meine Frau wollte ins Kloster. Ich hatte versagt. Ich konnte sie nicht mehr glücklich machen. Am liebsten hätte ich einen cholerischen Anfall bekommen und mich wie ein Kind auf den Marmorfußboden des Flughafens geworfen. Vielleicht hätte ich sie damals einfach packen und ihr eine Szene machen sollen, und vielleicht, vielleicht hätte ihr das sogar gefallen.

Aber ich bin ein gut dressierter moderner Mann, ich tue so etwas nicht. Statt dessen fing ich etwas mit einer fünfundzwanzigjährigen Spanierin an.

[24] Aus der Ferne beobachtete ich Claudia, wie sie auf Theo einredete, dessen Glatze jetzt zart errötet war. Seine dünnen blonden Haare standen aufgeregt in die Höhe. Claudias Hände flogen durch die Luft, ihre Haare schwangen hin und her, sie lächelte, daß man ihre Zähne blitzen sehen konnte, ihr ganzer Körper war in Bewegung. Sie wirkte jung und lebendig. So war sie mit mir nie mehr.

Als wir endlich, Stunden später, in London gelandet waren, wehte warm die Nachtluft ins Taxi. Claudia legte ihren Kopf an meine Schulter, und alles schien einen Moment lang gut.

Das quittengelbe Licht der Autobahn zeigte uns den Weg, es roch nach feuchten Bettlaken und Meer, und mein Herz war gleich ein paar Pfund leichter. Wir machten das zu selten. Wir fuhren viel zu selten einfach weg. Franka war jetzt alt genug, wir brauchten nicht mehr auf einen Schülerausflug zu warten, um uns eine kleine Reise zu gönnen. Ich drückte Claudia an mich. Sie wurde weich in meinem Arm, und ich konnte ihre Haare riechen. Sie lachte fröhlich, vielleicht lag’s an dem kleinen Holländer. Eifersucht knabberte an mir wie eine Maus am Käse.

Auf den Straßen Londons war der Teufel los. Massen von jungen Menschen standen vor den bereits geschlossenen Pubs, betrunkene Männer in Anzügen und mit gelösten Schlipsen stolperten lachend über die Straße, junge Mädchen in Bergstiefeln und kurzen Röcken lehnten kichernd an den Hauswänden. Polizeiwagen rasten kreischend an uns vorbei. Die Luft war jetzt am Abend noch so warm wie sonst nur in Spanien oder Italien.

[25] An einem eiskalten Juliabend vor mehr als fünfundzwanzig Jahren hatte ich mit einer kleinen Französin am Piccadilly zusammen mit Hunderten von Jugendlichen auf den Treppen gesessen und geschlottert vor Kälte. Ganz genau konnte ich mich noch an das Grün ihres Pullovers und ihre kleinen, tennisballharten Brüste erinnern und an das klebrige Katergefühl nach zu viel Guinness.

Ich wäre gern mit Claudia aus dem Taxi gestiegen und hätte mich unter die schwitzenden, vor Lust und Sehnsucht pulsierenden Menschen gemischt, um ganz genau wie sie herumzustehen und nichts zu tun und vielleicht ein ganz kleines bißchen so zu sein wie früher. Statt dessen sagte ich: Wir gehen am besten schlafen, was?, weil ich fürchtete, mit meinen seltsamen Wünschen an Claudia abzuprallen wie ein Squashball an der Wand. Und eigentlich hoffte ich, Claudia würde nun ihrerseits vorschlagen auszusteigen, aber sie nickte nur stumm.

In der Minibar lagen neben Erdnüssen und Schokolade eine Wegwerfkamera und eine Floppydisk. Claudia setzte sich auf das hohe Bett und zog die Beine unter den Po. Ich fühle mich wie die Prinzessin auf der Erbse, sagte sie und grinste.

Da war es. Ein Zeichen. Endlich ein Zeichen! Und obwohl ich eigentlich gar keine Lust hatte, zog ich mir sofort die verschwitzten Jeans aus und ließ mich neben sie aufs Bett fallen. Die Matratze wackelte wie Pudding. Ihr Lächeln erstarb.

Ein Trampolinbett, seufzte sie.

Tut mir leid.

[26] Du weißt doch, daß ich nicht schlafen kann, wenn das ganze Bett wackelt, wenn du dich umdrehst.

Ja.

Du hättest zwei Betten bestellen sollen.

Wir können an der Rezeption fragen, ob sie nicht…

Ich will jetzt nicht noch mal umziehen, widersprach sie.

Ich verspreche auch, mich nicht zu bewegen.

Ich streckte die Hand nach ihr aus und strich ihr über den Rücken. Sie rührte sich nicht, und damit war schon alles gelaufen. Eine falsche Bewegung, ein falscher Satz, ein falsches Bett, und alles war vorbei. Ich versuchte es trotzdem und kraulte ihr leicht den Nacken. Sie ließ es kurz zu, dann stand sie auf und ging ins Badezimmer.

Ich griff nach der Fernbedienung und sah MTV. Schwarze junge Männer und Frauen erzählten mir Geschichten, die ich nicht verstand, sie bewegten sich aufreizend, und ich war nicht gemeint.

Als Claudia aus dem Badezimmer kam, hatte sie sich abgeschminkt. Ohne Schminke sah sie deutlich jünger aus. Es verblüfft mich jedesmal. Wissen Frauen das nicht? Über der Schulter trug sie ein Handtuch. Sie holte ein Paar alte abgeschnittene Tennissocken aus ihrer Reisetasche und zog sie sich über die Handgelenke, legte das Handtuch vor das Bett auf die Erde, stellte sich davor und hob die aneinandergelegten Hände erst zum Scheitel, dann zur Kehle und vor die Brust, warf sich auf die Knie, rutschte auf den Handgelenken auf dem Handtuch der Länge nach auf den Bauch, hob die Hände hinter den Kopf, richtete sich wieder auf und begann von vorn. Die einhundertacht Niederwerfungen. Ich war nicht sicher, ob sie die für ihre [27] Oberschenkelmuskulatur oder ihren spirituellen Fortschritt machte. Ich nehme Zuflucht, hatte sie mir erklärt. Zuflucht? Zuflucht zu was? Das verriet sie mir nicht.

Franka nannte es buddhistische Gymnastik, aber während sie sich früher naserümpfend von ihrer sich niederwerfenden Mutter abgewandt hatte, machte sie, seit sie sich in ihren Lama verliebt hatte, brav mit. Seite an Seite warfen sich meine Frau und meine Tochter Abend für Abend auf meinen alten Kelim, den ich zu Studentenzeiten aus der Türkei mitgebracht hatte, als ich noch Mercedesse in den Iran fuhr.

Im Rhythmus zu Claudias Niederwerfungen sang im Fernsehen ein junges Mädchen, das aussah wie zwölf, in schlottrigen Hosen und einem lila T-Shirt von ihrer Liebe, die schal geworden sei, während ein blonder Typ gelangweilt an ihrem Ohrläppchen knabberte.

Die kleine Französin damals war gar nicht so klein gewesen, sondern zwei Jahre älter als ich, einundzwanzig. Dominique hieß sie, jetzt fiel es mir wieder ein. Sie war anstrengend, weil sie nie wußte, ob sie Hunger hatte oder nicht, aber ständig übers Essen redete. Wenn ich mit ihr ins Bett wollte, bekam sie Hunger. Also zogen wir uns wieder an. Standen wir dann aber vor einer Fish-and-chips-Bude, konnte sie sich nicht entscheiden und aß am Ende gar nichts. Sie habe kein Gefühl für ihren Bauch, erklärte sie mir, sie habe eine sehr dominante Mutter. Die Mutter traf ich nie, aber sie interessierte mich bald mehr als ihre eßgestörte Tochter. Abwesende Frauen haben mich immer mehr interessiert als die anwesenden.

Dominiques grüner Pullover fühlte sich meist ein [28] bißchen klamm an, weil es, wie es sich für London gehört, nur regnete. Wir klammerten uns in unserem eiskalten Bett einer dunklen Londoner Pension schlotternd aneinander, und erst als wir abfuhren, entdeckten wir, daß es elektrische Heizdecken unter den Laken gab. Dominique war launisch und kompliziert, und eigentlich dachte ich die ganze Zeit nur darüber nach, wie ich, ohne sie zu verprellen, meinen Schwanz in sie stecken konnte, denn dann war mir warm, dann fühlte ich mich lebendig und brauchte nicht über mein Leben nachzudenken.

Ich war Student an der Filmhochschule in München, von Angst geschüttelt, niemals ein großer Regisseur zu werden, niemals einen guten Film zu machen. Und weil ich so große Angst hatte und noch dazu schüchtern und mit Komplexen behaftet war, benahm ich mich arrogant und kalt, was zu meiner Verwirrung bei den Frauen gut ankam. Mit Frauen konnte man keine Kunst schaffen, dazu mußte man allein sein, großartig einsam, das war mir völlig klar, aber große Lust hatte ich dazu nicht, denn allein wußte ich nicht mehr, was tun.

Pflichtbewußt ließ ich jedoch den grünen Pullover und seinen französischen Inhalt manchmal in der kalten Londoner Pension zurück, fuhr mit dem Zug aufs Land und drehte mit einer Super8-Kamera verwackelte Kühe im Nebel und einsame Verkehrsschilder, menschenleere, regennasse Straßen und Regentropfen auf Schaufensterscheiben. Während ich durch den Sucher sah, ahnte ich, daß mein Blick durch die Kamera auf die Welt kein besonderer war, daß ich nichts besaß, was mich von anderen unterschied. Ich hatte keine Vision, wie sie das damals an der [29] Filmhochschule nannten, und so ganz habe ich mich von dieser Erkenntnis nie erholt.

Als ich vor fast achtzehn Jahren die Tür zu dem kleinen vegetarischen Imbiß »Der Siebte Himmel« aufstieß, weil ich unerklärlicherweise Hunger auf eine vegetarische Frühlingsrolle hatte, war ich sechsundzwanzig Jahre alt und filmte schon lange keine Kühe im Nebel mehr. Ich versuchte erfolglos meine Drehbücher an den Mann zu bringen und machte, um Geld zu verdienen, Studioregie bei Talk-Shows. Dafür verachtete ich mich und deshalb gleich die ganze Welt. Orson Welles, Louis Malle, Steven Spielberg, Truffaut, Godard, sie alle hatten in meinem Alter bereits Meisterwerke gedreht. Haßerfüllt sah ich zu, wie meine ehemaligen Kommilitonen ihren ersten, zweiten, dritten Kinofilm in die Kinos brachten und ihre Weltanschauung in Interviews zum besten geben durften. Ich sah mir ihre Filme an, und je besser ich sie fand, um so mehr deprimierten sie mich. Ich blutete innerlich aus allen Knopflöchern, weil ich kein Kollege mehr war, nie mehr sein würde. Als Berufsbezeichnung schrieb ich immer noch ›Fred Kaufmann – Regisseur‹ auf Formulare, aber ich wußte, es war gelogen. Ich war Verlierer in einem Spiel, bei dem ich nicht mal hatte mitspielen dürfen. Das fand ich so ungerecht, daß ich ständig schlecht gelaunt war.

Claudia dagegen war jung, frisch und kompetent, sie roch nach gutem Essen, auch wenn es immer nur vegetarisches war, und ich sah sie das erste Mal an einem 26. Mai, ganz genauso wie Travis Bickle seine weiße Fee in Taxi Driver. Auch ich wollte – wie Travis – gerettet werden. [30] Claudia trug eine lange, weiße Schürze, lächelte mich aus meerjungfraugrünen Augen frei und optimistisch an und fragte, ob sie mir helfen könne. Ja, wollte ich rufen. Hilfe, ich ertrinke! Sie reichte mir die Hand, ich ergriff sie und ließ mich an Land ziehen, und als sie dann meine Hand nicht mehr loslassen wollte, war es mir auch wieder nicht recht.

Aber anfangs war ich begeistert. Claudia wollte niemand anders sein, als sie war. Das imponierte mir.

Was machst du? fragte sie mich ganz spät erst, und ich erzählte ihr von meinen großen, teuren Filmprojekten, die alle sehr bald zustande kommen würden, sehr, sehr bald, in allernächster Zukunft. Sie lächelte sanft, und dann fragte sie nie wieder. Ein paar Monate später gab ich die Studioregie erleichtert auf und fing an, in ihrem Imbiß zu arbeiten.

Ein Jahr später übernahm ich das Management, und fünf Jahre später hatte »Der Siebte Himmel« fünf Filialen in München und eine in Augsburg. Ich war geworden, was mein Nachname Kaufmann versprach, und ich verabscheute mich dafür, denn meine Träume waren doch so anders gewesen.

Hundert, sagte Claudia stöhnend und zog sich die Tennissocken von den Handgelenken. Ihr T-Shirt war schweißgetränkt, ihre Haare hingen ihr naß in die Stirn. Sie sah sexy aus. Ich hätte die Wegwerfkamera aus der Minibar holen und sie fotografieren sollen, aber ich tat es natürlich nicht. Über die spontane Exaltiertheit von Jungverliebten waren wir längst hinaus.

[31] Und, bist du der Erleuchtung nähergekommen? fragte ich sie, die Fernbedienung immer noch in der Hand. Während ihrer Niederwerfungen hatte ich mich durch jede Menge Nachrichten, Werbung, Krimis und Musikvideos gezappt, die mir jetzt flau im Magen lagen.

Nein, sagte sie, aber ich habe etwas für den Weltfrieden getan. Sie ließ sich schwer atmend neben mich aufs Bett fallen, die Matratze federte so stark, daß ich förmlich in die Luft katapultiert wurde. Als ich wieder landete, streckte sie die Hand nach meiner aus. Ich wechselte die Fernbedienung in die andere. Du glaubst, ich bin nicht mehr ganz dicht, stimmt’s?

Ich schwieg.

Ich weiß, daß du das glaubst.

Wir könnten, wenn das Wetter morgen gut ist, in den Hydepark gehen und uns für fünfzig Pence in einen Liegestuhl legen, bot ich an.

Ich merke nur, daß die Niederwerfungen mir guttun, und ich kann dir nicht genau erklären, warum. Ich tue es nicht nur für mich allein, sondern…

…für den Weltfrieden, unterbrach ich sie.

Die Theorie, daß du erst einmal Frieden mit dir selbst schließen mußt, um allgemeinen Frieden zu erreichen, ist doch ganz logisch, sagte sie.

Mit mir auch?

Was?

Frieden.

Sie zog sich ihr Hemd über den Kopf und sah mich mit nacktem Oberkörper prüfend an. Ich wagte nicht, meinen Blick auf ihre Brüste zu senken, denn jetzt hatten wir ja [32] eine ernsthafte Diskussion, da war Busengucken verboten. Ich bin zum Weinen gut erzogen.

Dir könnte es nicht schaden, ein bißchen friedlicher mit uns allen zu werden, sagte sie nüchtern.

Und blaue Stöckelschuhe müssen wir morgen kaufen, sagte ich.

Sie küßte mich auf die Nasenspitze. Ihre Lippen waren kühl.

Unsere Ehe ist ziemlich auf dem Hund, flüsterte sie.

Ich habe dir blaue Stöckelschuhe versprochen.

Wenn ich mich nicht jeden Tag hundertmal auf die Erde werfen würde, müßte ich dich verlassen.

Ich hatte nicht den Mut zu fragen, warum.

Sie fuhr fort, mich zu küssen, und da sie unerwartet anfing zu züngeln, war mir klar, daß sie Sex wollte. Statt mich zu freuen, bekam ich einen Schreck, und nichts rührte sich. Zwanzig Minuten zuvor hätte alles funktioniert, aber das hatte sie sabotiert. Wir litten unter konstantem schlechtem Timing, was wir aber beide mit schlafwandlerischer Sicherheit beherrschten. Durch ihr selten genug geäußertes Verlangen fühlte ich mich erpreßt, weil es so selten war. Wie ein Kind, das man ermahnt, die richtige Hand zu geben, und das dann bockig die Hand hinterm Rücken versteckt. Da war nichts zu machen. Ich hatte versucht, es ihr zu erklären, sie angefleht, es nicht persönlich zu nehmen, aber war es nicht persönlich gemeint? Ich phantasierte von Sex mit fremden Weibern, die keine Gesichter hatten und mich nicht persönlich nahmen.

Sie nahm mir die Fernbedienung weg und führte meine Hand zwischen ihre Schenkel. Dort war es heiß und feucht, [33] was zu erwarten gewesen war, aber sie hätte meine Hand genausogut auf eine Pizza legen können, der Effekt wäre derselbe gewesen. Ich überlegte tatsächlich, ob ich eine Pizza und meine Frau nur über den Tastsinn würde auseinanderhalten können, und versank darüber in klaftertiefe Traurigkeit.

Ihr Körper bog sich mir entgegen, und ich spürte ihr Verlangen wie eine Welle auf mich zukommen, gleich würde sie sich an meinem Unvermögen brechen, in Enttäuschung aufbranden und sich dann zurückziehen. Ich schloß die Augen und stellte mir, so schnell ich konnte, weißhäutige Japanerinnen vor, die sich Gewürzgurken in ihre rasierten Mösen schoben, große schwarze Frauen, die von Schäferhunden vergewaltigt wurden, ich war angewidert von meiner schwach entwickelten pornographischen Phantasie, und sie half auch nicht die Bohne. Mit geschlossenen Augen spürte ich, wie Claudia innehielt. Sie drehte sich auf die Seite, so daß meine Hand zwischen ihren Schenkeln herausrutschte, und seufzte.

Wir wußten beide nicht weiter.

Am nächsten Morgen taten wir gut gelaunt, was uns noch trauriger machte, aber von außen betrachtet waren wir ein zärtliches, munteres und relativ gut aussehendes Paar. Claudia hatte eine natürliche Eleganz, und ich sah nur deshalb ganz passabel aus, weil sie meine modische Erziehung vor siebzehn Jahren kurz entschlossen in die Hand genommen hatte. Sie wußte, wie viele Knöpfe man bei einem Oberhemd offenlassen mußte, um cool, aber nicht wie ein verhinderter Zuhälter auszusehen. Sie befahl mir, teure [34] schwarze Unterhosen von Calvin Klein zu kaufen und meine Erdmann-Lederjacke nur noch im Notfall anzuziehen. Durch Claudia ging ich mit der Zeit und war ihr immer dann dankbar dafür, wenn ich auf der Straße einen Mann in meinem Alter sah, der immer noch Lederjacke, Al-Fatah-Tuch und Röhrenjeans trug.

Es war natürlich auch Claudia, die an diesem Morgen entschlossen die Tür zu dem kleinen, feinen Schuhladen Church’s auf der Bondstreet aufstieß und mich abwartend ansah, bis ich genau die handgefertigten Schuhe anprobierte und dann auch kaufte, an denen ich bisher geglaubt hatte Reaktionäre erkennen zu können.

Dünne indische Schuhverkäufer, in weißen Oberhemden und schwarzen Hosen, hockten auf winzigen Schemeln. In ihrem weichen Englisch erläuterten sie mit Engelsgeduld die Vor- und Nachteile der verschiedenen Modelle. Mit fast zärtlichen Bewegungen zogen sie den Kunden wie Freiern die Schuhe aus. Ich hatte Angst, meine Socken könnten stinken, und beruhigte mich damit, daß wir noch nicht weit gegangen waren, da Claudia auf halbem Weg zu Harvey Nichols beschlossen hatte, gar keine neuen blauen Schuhe zu wollen. Aber du, sagte sie, du brauchst wirklich neue Schuhe.

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