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Ingrid Noll

Über Bord

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die deutsche Erstausgabe erschien
2012 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Helmut Wiechmann, HAPAG-Plakat 1955 (Ausschnitt)

Copyright © Helmut Wiechmann

Foto: © The Bridgeman Art Library

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24259 1 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60179 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

 

 

 

[5] Der Herbstwind fegte die ersten bunten Blätter auf die Straße. Auf den Besen gestützt stand die alte Frau vor ihrem Anwesen, pausierte ein wenig, schnüffelte nach dem Rauch eines fernen Laubfeuerchens, starrte auf ein Loch in ihrem Gummistiefel und bot in diesem Augenblick das perfekte Bild einer Hexe. Mit einem Seufzer richtete sie sich schließlich wieder auf, um weiterzukehren.

Direkt vor ihr blieb plötzlich ein junger Mann stehen, der sich bei steilem Hochblicken als der Freund ihrer Enkelin Amalia entpuppte. »Guten Tag, Frau Tunkel!«, sagte Uwe höflich. »Schauen Sie mal, wen ich hier habe!« Und er öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und zeigte ihr einen niedlichen Welpen, der die Äuglein ein wenig öffnete und herzhaft gähnte.

Ob sie wollte oder nicht, Hildegard verzog das Gesicht zu einem Lächeln, sah auch über das verhasste Piercing hinweg und musste das Wollknäuel einfach mal streicheln.

»Wo haben Sie den denn her?«, fragte sie, beinahe milde.

[6] Uwe hatte ihn gefunden, und zwar war der Kleine vor einer Kirche ausgesetzt worden wie in früheren Zeiten die Findelkinder. Wohl oder übel werde er das verwaiste Hündchen jetzt ins Tierasyl bringen, meinte er, denn er habe keine Zeit, sich darum zu kümmern, außerdem mochte sein Vater keine Hunde. Womöglich müsse man den Welpen einschläfern, wenn man im Heim keinen Platz für ihn habe.

»Warten Sie«, sagte Hildegard kurzentschlossen. »Das ist ja noch ein richtiges Baby! Ein Flaschenkind! Wissen Sie was, ich werde es übergangsweise behalten, und Sie suchen inzwischen eine Familie mit Kindern, wo es aufwachsen kann. Es ist doch hoffentlich ein Mädchen?«

Uwe grinste, er wusste genau, dass ein Rüde im Nonnenkloster keine Chance hätte. Er hatte die Sache fein eingefädelt, als er den vier Wochen alten Welpen vom Bauernhof eines Freundes versuchsweise mitgenommen hatte. Wenn so ein unschuldiges, verspieltes Hundekind sich einmal ins Herz der Alten eingeschlichen hätte, würde sie ihn nie wieder hergeben. Und er stellte sich vor, wie Amalia und er Abend für Abend und Hand in Hand mit dem Hund spazieren gehen könnten. Allzu viele gemeinsame Interessen hatten sie ja leider nicht, aber beide waren naturverbunden und hielten sich gern [7] im Freien auf. Deswegen zweifelte er keine Sekunde, dass seine Freundin vom neuen Hausgenossen entzückt sein würde.

Schon nach einer guten Woche blühte Hildegard regelrecht auf, weil sie nun das Alphatier für einen Wollknäuel war, der ihr ständig hinterherwuselte. Da sie sich immer noch stundenlang im Garten aufhielt, gab es auch nur wenige Pfützen im Haus, wahrscheinlich würde Penny in einigen Wochen stubenrein. Eigentlich gab es nur noch ein Problem: Ihre Tochter Ellen, die bei ihr wohnte und demnächst von ihrer dubiosen Kreuzfahrt zurückkam, hasste Hunde. Sollte sie Ellen beim nächsten Telefonat schonend auf Penny vorbereiten? Oder Amalia einweihen und ihr den diplomatischen Drahtseilakt aufbürden? Da kam der Anruf ihrer Enkelin aus Monte Carlo wie gerufen: Amalia wollte zuerst einmal wissen, ob es der Oma gutgehe und ob Uwe sie ein weiteres Mal zum Einkaufen gefahren habe.

»Er ist eigentlich doch ein braver Junge«, sagte die Alte. »Ich habe ihn bisher auf Grund von Äußerlichkeiten vielleicht falsch eingeschätzt, das tut mir leid. Wir waren nicht nur einkaufen, sondern gestern sogar beim Tierarzt.«

Nun war es heraus, und Amalia staunte. Sie [8] bekam die Geschichte von der kleinen Penny zu hören und ob es vielleicht besser wäre, wenn Ellen vorgewarnt würde.

Amalia lachte und versprach, das zu übernehmen. Dann erzählte sie der Großmutter vom bisherigen Verlauf der Reise und natürlich die aufregende Sache von Ortruds Verschwinden auf Nimmerwiedersehen.

Wie bitte, Gerds Frau war abgetaucht? Hildegard hatte allerdings geahnt, dass diese Frau nur Scherereien machen würde. Vor dieser Kreuzfahrt mit den neuen Verwandten hatte sie Ellen und Amalia von Anfang an gewarnt. Schließlich kannten sie Gerd und Ortrud kaum. Und es wäre sowieso besser, wenn nicht nur Ortrud, sondern auch dieser Gerd wieder aus ihrem Leben verschwänden.

»Oma, ich weiß nicht genau, wie ich Mamas Gefühle einschätzen soll. Teils leidet sie mit ihrem Gerd, teils ist sie wohl froh, dass wir die Schnapsdrossel los sind.«

»Sie soll sich bloß nicht gleich als Nachfolgerin fühlen«, sagte Hildegard. »Dieser Mann ist skrupellos, mit Sicherheit hat er seine Frau umgebracht! Ein Blaubart, so sind sie doch alle!«

[9] 1

Amalia war die Jüngste einer stattlichen Enkelschar. Sie staunte immer wieder über ihre Großmutter, die meistens schilfgrüne Kleider trug und kleinen Kindern wie eine weise Frau oder wie eine Hexe vorkommen musste. Wenn man mit noch feuchten Haaren ins Freie ging – da war sich die alte Frau sicher – bekam man eine schlimme Erkältung, ja Lungenentzündung. Sie selbst hingegen bosselte unaufhörlich im Garten herum, ignorierte den einsetzenden Regen und wurde patschnass, holte sich aber weder den Tod noch die gefürchtete Pneumonie.

Als Amalia vier Jahre alt war, sagte sie zu ihrer Großmutter: »Wenn du dich totgelebt hast, will ich deinen grünen Ring haben!«

Zwanzig Jahre später hatte es ihr der Ring aus Jade immer noch angetan. Leicht verlegen fragte sie die Oma, ob sie den Ring einmal anprobieren dürfe.

»Kind, dieser Ring ist ein Andenken. Den kriege ich nicht mehr runter, der ist längst eingewachsen.«

Und wenn sie tot ist, dachte Amalia schaudernd, [10] muss man ihr den Finger abhacken, um an den Ring zu kommen.

Es war verwunderlich, dass diese tüchtige Frau, die immerhin Abitur gemacht hatte, in manchen Dingen so rückständig, prüde und abergläubisch war. War sie senil, an Alzheimer erkrankt?

Unter vier Augen hatte die Großmutter auch ausdrücklich davor gewarnt, an gewissen Tagen zu baden oder unter die Dusche zu gehen.

»Und mich deucht, du hast es gestern wieder getan!«, sagte sie zornig. Wer der Oma solchen Quatsch beigebracht hatte und woher sie wusste, wann die Enkelin ihre Periode hatte, war unklar. Doch Amalia ahnte, dass sie scharf beobachtet wurde, seit sie einen Freund hatte.

›Nonnenhaus‹ hatten die Nachbarn die Villa Tunkel in Mörlenbach – ein großes, aber ziemlich heruntergekommenes Gebäude – getauft, weil die Bewohnerinnen ihre Seelen gegen weltliche Verlockungen verbarrikadiert zu haben schienen. Die Großmutter war verwitwet, ihre Tochter geschieden, und auch Amalia lebte mit 24 immer noch zu Hause.

Im Sommer zierten den schmiedeeisernen Gitterzaun des Nonnenhauses üppig wuchernde, samtig [11] blaue Winden, schwere dunkle Weintrauben, dazwischen hohe Sonnenblumen. Auf den ersten Blick wirkte das Arrangement rein zufällig, auf den zweiten erkannte man, dass hier eine Frau mit Geschmack waltete. Und wer gar länger stehen blieb und das Stillleben in Ruhe auf sich wirken ließ, wurde vom Zauber der grünen, blauen und dunkelgelben Schattierungen ein wenig verhext.

Im Frühjahr waren es die weißen Pfingstrosen, die schon seit Jahrzehnten hier besonders gut gediehen. In vielen Nachbargärten der Villa im Odenwald wuchs die Gemeine oder Bauernpfingstrose, die nicht minder üppig blühte, doch mit ihrem glutvollen Rot nicht ganz so edel wie ihre weiße Schwester wirkte. Prinzessin hier und Bauerntrampel dort – und nicht viel anders verhielt es sich bei den Enkelinnen: Clärchen mit ihrem porzellanzarten Teint hob sich gegen die rotbackige oder – je nach Saison – braungebrannte Amalia deutlich ab.

Die Villa war von Amalias Ururgroßeltern gebaut worden; auf einem Mauerstein über der Haustür waren noch die Jahreszahl 1902 und die Gründernamen eingemeißelt – Anna Elisabeth und Justus Willibald Tunkel. Das Ecktürmchen des Seitenflügels überragte die anderen Häuser der Straße, denn Anfang des letzten Jahrhunderts gab es noch keine [12] strenge Bauordnung. Die Fenster hatten ein Oberlicht und endeten in einem gefälligen Rundbogen. Früher war die Villa bewachsen gewesen, aber der wilde Wein war schon vor Jahrzehnten abgestorben. Leider hatte man jedoch nicht die Mittel, das dürre Skelett dicker und dünner Äste abreißen und die Mauern neu verputzen und streichen zu lassen.

Jahrelang hatten nur der Gasableser und der Schornsteinfeger das Haus betreten, Briefträger und Paketzusteller wurden bereits an der Tür abgefertigt. Doch nun drohte ein Eindringling: Amalia, das Nesthäkchen, wurde neuerdings immer mit demselben Mann gesehen, der durch seine beträchtliche Körpergröße auffiel.

»Hohes, hartes Friesengewächs«, kommentierte ihre Mutter, die viele Gedichte auswendig kannte.

Mit 24 Jahren wurde es auch langsam Zeit, dass Amalia ihr Singledasein aufgab.

Amalias Mutter Ellen hatte ihre jüngere Tochter nach einer Heldin aus Schillers Räubern benannt und deren ältere Schwester, die zum Studieren nach Köln gezogen war, nach dem Clärchen aus Goethes Egmont. Eigentlich hatte Ellen Schauspielerin werden wollen, aber Hildegard hatte das boykottiert oder Ellens Talent hatte nicht gereicht – da gingen die Ansichten auseinander. Nun war sie [13] Sachbearbeiterin beim Einwohnermeldeamt und langweilte sich dort zu Tode. Seit ihrer Scheidung hatte Ellen mit keinem Mann mehr geschlafen, obwohl sie hinter dem Rücken der Familie regelmäßig Kontaktanzeigen las, neuerdings auch im Internet.

Ellen war ihrem Exmann durch die Lottozahlen auf die Schliche gekommen. Als sie sich kennenlernten, waren beide arm und versuchten, durch das wöchentliche Glücksspiel ihre Finanzen aufzubessern. Die Zahlen waren immer die gleichen: ihre eigenen Geburtstage und die ihrer Mütter. Später wurden sie ausgetauscht gegen die der beiden Töchter. Die fünfte und sechste Zahl überließen sie dem Zufall.

Eines Tages bemerkte Ellen, dass ihr Mann seit einiger Zeit regelmäßig die Vierzehn eintrug. Sie verkniff sich eine Bemerkung, wartete ab und fragte erst nach mehreren Monaten nach der Bedeutung dieser Zahl. Er stotterte herum, es sei der Geburtstag seiner verstorbenen Großmutter, die er sehr geliebt habe. Vielleicht sehe sie von oben auf ihn herab, fühle sich geschmeichelt und helfe Fortuna auf die Sprünge.

Aberglaube passte nicht zu ihm. Ellen erkundigte sich irgendwann, als sie zufällig mit ihrer Schwiegermutter telefonierte, nach den Lebensdaten der ominösen Großmutter. Sie war bereits gestorben, [14] als Ellens Mann erst zwei war und hatte am 31. Dezember Geburtstag. Von da an begann sie ihren Mann zu bespitzeln und wurde bald fündig. Ihre eigene Nichte Nina hatte an einem Vierzehnten Geburtstag.

Ellen ließ sich scheiden, zog zu ihrer Mutter und traute eine Zeitlang keinem Mann mehr über den Weg. Die Typen im Angebot, über die sie sich vorsichtshalber nur anonym informierte, schienen entweder an Sex oder an Geld interessiert zu sein. Oft waren es auch 70-Jährige, verwitwet und vom Haushalt überfordert. Eine weitere Kategorie suchte eine Dame aus gutem Stall oder gar eine mit Kinderwunsch. Leider sah es so aus, dass eine Frau im Klimakterium – selbst wenn sie eine schlanke Nichtraucherin war – sich einen Mann erst backen musste.

Es war nicht so, dass sie sich in all den Jahren nie verliebt hätte. Bereits während ihrer Ehe hatte sie ein Auge auf einen Kollegen geworfen, später hatte sie sich in den Kinderarzt, einen Friedhofsgärtner und einen jungen Steuerberater verguckt, war aber im Nachhinein froh, dass es nicht zu Intimitäten gekommen war. Ellen wusste zumindest theoretisch, dass man die Männer schnell idealisierte, sowie sie einem ein zweites Mal intensiver in die Augen schauten. Wer sich für mich interessiert, kann eigentlich nur ein wunderbarer Mensch sein, hatte [15] sie geglaubt. Doch der attraktive Kollege hatte mit fast allen jüngeren Mitarbeiterinnen angebändelt und mit seinen Erfolgen geprahlt, der Kinderarzt entpuppte sich als pädophil, der Friedhofsgärtner als verheiratet, der Steuerberater als langweilig und konsumsüchtig. Irgendwann wunderte sich Ellen über sich selbst. Sie mochte den eigenen Instinkten nicht mehr trauen und betrieb das Studieren der Inserate nur zur Unterhaltung, so wie andere Frauen Sudokus und Kreuzworträtsel lösen, Puzzle zusammensetzen oder Patience legen.

In ihrer Jugend hatte sich Ellen für die deutschen Dichter und Denker der Romantik begeistert. Sie hatten Ellen mit ihrer blauen Blume einen Floh ins Ohr gesetzt. Mörike besang die Insel Orplid, Eichendorff ließ seinen Taugenichts gen Süden aufbrechen, wohin es auch Goethes Mignon zog. Meine Seele spannte weit ihre Flügel aus… So flog Ellen in Gedanken immer wieder nach Italien. Als sich aber in ihren Tagträumen ein charmanter Römer über sie hermachte, hatte sie das so mitgenommen, dass sie sich Buße auferlegte und tagelang die Küchenschränke, Truhen und Kommoden ausräumte, neu ordnete und putzte.

Bei ihrer Heirat hatte Ellens damaliger Mann Adam ihren Namen angenommen und den eigenen abgelegt, weil Szczepaniak schwierig zu [16] buchstabieren war. Daher hießen alle Frauen im Nonnenkloster Tunkel – Großmutter Hildegard, ihre Tochter Ellen sowie die beiden Enkelinnen Clärchen und Amalia.

Sowohl Ellen als auch ihre Tochter Amalia arbeiteten in einem acht Kilometer entfernten Städtchen und verließen das Nonnenkloster bereits am frühen Morgen. Ellen fuhr zum Amt und setzte Amalia unterwegs bei der gynäkologischen Praxis ab, wo ihre Tochter als Arzthelferin angestellt war.

»Heute holt mich Uwe ab«, sagte Amalia zum Abschied. Es war Mittwoch, und die Praxis blieb am Nachmittag geschlossen. »Wir wollen nach Mannheim zum Shoppen.«

Ellen seufzte bloß. Ihre Tochter steckte das gesamte Gehalt in ihre Garderobe, kein Gedanke daran, dass sie sich wenigstens am Benzin beteiligte oder einen kleinen Beitrag für Telefon, Heizung und Verpflegung beisteuerte.

»Wenn man den lieben langen Tag weiße Laborschuhe tragen muss«, versuchte Amalia ihre Mutter zu beschwichtigen, »dann braucht man privat etwas Schickes. Ich habe neulich Stiefeletten im Antik-Look gesehen…«

Hätte ich auch gern, dachte Ellen, aber die Rechnung für den Rohrbruch ist noch fällig. Die Villa war zwar von den wohlhabenden Vorfahren als [17] repräsentative Familienresidenz gebaut worden, aber seit vielen Jahren renovierungsbedürftig. Wenn man das eine Loch notdürftig geflickt hatte, ging es an anderer Stelle los. Ihre Mutter hatte früher die größere Wohnung vermietet, und auch damals schon waren die Einnahmen meistens für Reparaturen draufgegangen. Aber als die letzten Mieter kündigten, zog sie, frisch geschieden, mit ihren Töchtern im Parterre ein. Seitdem schwebte ein Damoklesschwert über ihnen, weil längst ein neuer Brenner fällig war, das Dach undicht war und eigentlich zwei morsche Bäume gefällt werden mussten.

Ellens Exmann hatte zwar für die Ausbildung der Töchter gesorgt, aber inzwischen war nichts mehr von ihm zu erwarten, denn er war arbeitslos und hatte auch keine Aussicht auf einen neuen Job. Wenigstens Clärchen konnte von einem Stipendium leben, arbeitete nebenher in der Werbeagentur ihres Freundes als Grafikerin und gab am Wochenende bei der VHS einen Kurs für Manga-Zeichnen – kam also finanziell über die Runden. Amalia verdiente relativ wenig und überzog stets ihr Konto. Eigentlich war Ellen regelrecht dazu verpflichtet, einen reichen Gönner zu finden, der sich für die ehemalige Schönheit einer Jugendstilvilla begeisterte und Freude an einer behutsamen Instandsetzung fand.

[18] Um das wenige Geld zusammenzuhalten, briet die alte Frau jeden dritten Abend eine sächsische Süßspeise, die von den Kindern früher heißgeliebten Quarkkeulchen. Inzwischen war es oft genug der Ersatz für Fleisch geworden, ein simpler Sattmacher, über den Amalia die Nase rümpfte. Das Rezept war einfach: Geriebene Pellkartoffeln wurden mit Quark, einem Ei und Mehl vermischt, mit Zucker, Zimt, Rosinen und Zitronenschale gewürzt und in Butterschmalz goldbraun gebraten. Dazu gab es Apfelmus – alles in allem ein preiswertes und leckeres Gericht, das Ellen, Amalia und vielleicht sogar die kochende Hildegard allmählich hassten. Die Alternative waren Bratkartoffeln mit Speck und zwei verquirlten Eiern oder Linsensuppe. Sparen war eben mit Verzicht verbunden, Steaks kamen nie auf den Tisch.

Während Ellen in ihrem Polo dem Ziel entgegenbrauste, hatte sie den seltsamen Wachtraum, dass sie mit wehenden Haaren auf einem Schimmel galoppierte, schwerelos und flink, die Hufe berührten kaum den Boden. In einem anderen Leben war ich eine Prinzessin, dachte sie, irgendwann wird sich auch ein Prinz einstellen. Und mit dieser Hoffnung betrat sie schließlich das Großraumbüro des Einwohnermeldeamts.

[19] 2

Als Amalia noch zur Schule ging, glänzte sie im Gegensatz zu ihrer Schwester nie durch gute Leistungen. Ihre Hefte fielen durch herausgerissene Seiten auf, mit acht Jahren schrieb sie zum Leidwesen anderer beharrlich mit Kreide auf Schultafeln, Toiletten- und Garagentüren: Wer das liest, ist doof. Am liebsten vertrödelte sie sonnige Tage im Garten, kletterte auf Bäumen herum, fing zuweilen sogar einen Jungvogel und versuchte, ihn mit Würmern zu füttern. Hildegard Tunkel konnte sich bei dieser Enkelin zwar nicht über gute Zeugnisse freuen, doch über ihr kindliches Interesse an der Natur, das die eigenen fünf Kinder nie gezeigt hatten.

»Eiben sind ziemlich giftig«, belehrte sie das kleine Mädchen, »aber sieh mal, was ich kann!«, und sie steckte eine der roten Beeren in den Mund. »Wenn man ganz vorsichtig die kleinen Kerne mit der Zunge herauslöst und ausspuckt, darf man das Fruchtfleisch durchaus essen« – die alte Frau machte es vor – »und es schmeckt gut, aber ich bitte dich! Es muss unser Geheimnis bleiben.«

»Die Vögel essen die Beeren ja auch«, sagte [20] Amalia, denn sie beobachtete alle Lebewesen im Garten sehr genau.

Heute versuchte Amalia bei jeder Gelegenheit, das Neonlicht der Arztpraxis durch möglichst viel Sonne in der Freizeit auszugleichen. Auch an jenem denkwürdigen Wochenende im Juli lag Amalia wie so oft im Garten und bräunte sich, wobei sie allerdings immer wieder einmal aufsprang, um den Liegestuhl aus dem Schatten zu zerren oder mit ihrer emsigen Oma zu plaudern.

»Wie findest du Uwe eigentlich?«, fragte sie.

Die Großmutter richtete sich auf und lehnte die Harke an einen Kirschbaum. »Wieso? Willst du ihn etwa heiraten?«

Dieses Etwa gefiel Amalia nicht.

»Darum geht es nicht«, sagte sie. »Ich habe bloß gefragt, wie er dir gefällt.«

»Ich kenne ihn ja kaum, diesen Herrn der Schöpfung!«

Amalia legte sich wieder in die Sonne. Meine Oma mag ihn nicht, dachte sie, sonst hätte sie anders reagiert. Vielleicht hatte sie generell etwas gegen große Menschen, weil sie selbst vertikal etwas benachteiligt war. Dabei hatte Uwe neulich ihre Quarkkeulchen über den grünen Klee gelobt, doch dabei vielleicht übertrieben.

[21] Nach einigen Minuten fiel plötzlich ein Schatten auf Amalias Gesicht, die Großmutter hatte ebenfalls nachgedacht und beugte sich über sie. »Halten zu Gnaden«, sagte sie scherzhaft. »Ich habe leider den Verdacht, dass er ein armer Schlucker ist, mach’ bitte nicht den gleichen Fehler wie deine Mutter!«

Alles dreht sich hier ums Geld, dachte Amalia ärgerlich, anscheinend erwartet man von mir, dass ich einen Millionär abschleppe. Ja, ja, ich weiß, die Heizung tut es nicht mehr lange, das Schieferdach muss neu gedeckt werden und so weiter. Am besten würde man diesen maroden Schuppen verkaufen oder abfackeln, dann wäre endlich Ruhe.

Ans Heiraten hatte Amalia noch kaum gedacht, eher an ein Kind. Täglich wurde sie von Berufs wegen mit Problemen der weiblichen Fruchtbarkeit konfrontiert. Außer den ständigen Blutabnahmen, Ultraschalluntersuchungen und Hormonberatungen gab es viel Freud und Leid, Umarmungen oder Tränen in einer gynäkologischen Praxis: werdende Mütter, die nichts als Glück ausstrahlten, und jene, denen es versagt blieb. Oder auch Frauen, für die der positive Schwangerschaftstest der reinste Schock gewesen war und die nur eines im Sinn hatten, nämlich den Embryo schleunigst wieder loszuwerden. Zur falschen Zeit vom falschen Mann, das war eine Katastrophe.

[22] War Uwe überhaupt der Richtige? Konnte sich Amalia nicht ganz entspannt noch zehn Jahre gedulden? Wenn da nur nicht diese unglücklichen Frauen wären, die zu lange gewartet hatten. Mit ihrem Freund hatte sie bisher nie über Familienplanung gesprochen, außerdem hatte ihre Großmutter in einem Punkt durchaus recht: Uwe war ein armer Schlucker. Er war erst 22, zwei Jahre jünger als sie, und wohnte aus Kostengründen immer noch bei seinem despotischen Vater. Eine gemeinsame Wohnung konnte sich das junge Paar nicht leisten und manchmal zitierte Uwe scherzhaft im breiten Dialekt seines Vaters: »Dahaam is dahaam!«

Letzten Sonntag war Amalia zum Grillen eingeladen worden; es war warm genug, um im Garten zu essen. Uwes Vater hatte riesige Koteletts aufgetischt (die Amalia nicht anrührte) und bemühte sich, einer hübschen jungen Frau gegenüber als Kavalier aufzutreten. Als allerdings sein Sohn aufstand, um zum Abschluss noch ein Eis aus dem Kühlfach zu holen, wurde er vom Papa angebrüllt. »Net leer laufe!«

Amalia machte sich sofort einen Reim darauf: Ein braves Mädchen geht nie mit leeren Händen in die Küche! hatte ihre Großmutter immer gesagt. Gemeinsam mit Uwe trug sie die fettigen Teller hinaus.

[23] Gegen das Nachmittagslicht blinzelte sie zu ihrer Großmutter hinüber, die Moos zwischen den Fugen der Steinplatten herauskratzte und sich unentwegt bückte, um irgendein unschuldiges Grashälmchen auszureißen. Wahrscheinlich war die alte Frau ebenso männerfeindlich wie ihre Mutter. Ihre Oma war schon lange Witwe, hatte fünf Kinder großgezogen und sich nie über zu viele Pflichten beklagt. War ihre Ehe glücklich gewesen? Immerhin war Amalias Großvater kein armer Mann gewesen und hatte seiner Frau unter anderem dieses Haus vererbt. Den Löwenanteil des hinterlassenen Vermögens hatte Hildegard Tunkel schon vor Jahren an vier ihrer Kinder ausgezahlt, was sicherlich ein Fehler war. Man hatte ihr erklärt, dass bei einer rechtzeitigen Schenkung später keine Erbschaftssteuer mehr fällig werde. Doch nun besaß sie außer der Villa keine Rücklagen und musste mit ihrer bescheidenen Rente auskommen. Da Ellen bis dahin leer ausgegangen war, sollte das sanierungsbedürftige Haus demnächst in ihren Besitz übergehen, es musste nur noch ein Termin mit dem Notar vereinbart werden.

Dann hat Mama den Klotz am Bein, dachte Amalia, aber immerhin wohnen wir hier umsonst. Man hätte sogar zwei Zimmer vermieten können, aber weder Hildegard noch Ellen wollten fremde Menschen – am Ende gar noch Männer – hier ein und [24] aus gehen sehen, die das Bad mitbenutzten. Und für eine Studentin war die nächste Universitätsstadt einfach zu weit entfernt. Außerdem gab Ellen zu bedenken, dass junge Frauen im Allgemeinen einen Freund hätten, der sich über kurz oder lang einnisten würde. Amalia wagte nicht zu fragen, ob man mit Uwe eine Ausnahme machen könnte.

Amalias träumerisches Sonnenbad wurde jäh unterbrochen. Ellen kam in den Garten gelaufen und rief: »Zieh dir was über, wir bekommen gleich Besuch!«

Ihre Tochter schaute träge hoch und hatte wenig Lust, ihr Top gegen ein T-Shirt einzutauschen.

»Wer denn?«, fragte sie.

»Ein Mann hat gerade angerufen, ich kenne ihn nicht. Er heißt Dornenvogel oder Dornkaat oder so ähnlich und will etwas Privates besprechen, er tat sehr geheimnisvoll.«

Jetzt horchte die misstrauische Großmutter ebenfalls auf. »Muss ich mich etwa auch umziehen?«, fragte sie. Ellen musterte ihre alte Mutter, die in ihrem Grünzeug zwar keine besonders gute Figur machte, aber zwischen Moos und Gras nicht weiter auffiel.

Auch Amalia wollte lieber liegen bleiben, doch ihre Neugier war erwacht. Ein Bote von der Lottogesellschaft?

[25] »Ist der Dornenvogel aus der Nachbarschaft?«, fragte sie, aber Ellen schüttelte bloß den Kopf und rannte wieder ins Haus, um auf die Schnelle ein wenig aufzuräumen.

Es klingelte erst eine halbe Stunde später, ein gutaussehender Mann mit Oberlippenbärtchen stand vor der Tür. Er trug Jeans, ein kariertes Hemd, eine sehr schicke Sonnenbrille sowie eine hellbraune Lederjacke und hielt eine schwarze Mappe unterm Arm. Amalia öffnete und erfuhr, dass er Dornfeld heiße und sich bereits angekündigt habe. Wahrscheinlich ist es ein Vertreter, der sich durch einen faulen Trick an meine gutmütige Mutter heranmacht, dachte sie, gleich wird er eine Versicherungspolice herausziehen, am Ende gar einen Staubsauger oder einen Rotwein aus dem Auto holen. Ob er sich das traut, an einem Sonntag?

Nachdem sich Herr Dornfeld sowie die beiden Frauen auf den Sesseln niedergelassen hatten, fragte Ellen höflich: »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«

Amalia musste das gewünschte Mineralwasser holen und ärgerte sich. Auch noch Wünsche, der Herr.

Als auch sie wieder saß und der Fremde einen Schluck getrunken hatte, wurde es wohl langsam Zeit, dass er sein Anliegen vorbrachte.

[26] »Mein Vater ist schon lange tot, und vor wenigen Wochen ist auch meine Mutter gestorben«, begann er etwas nervös. »Unter ihren nachgelassenen Papieren habe ich ein Tagebuch gefunden, aus dem etwas Unerhörtes hervorgeht. Ich bin anscheinend nicht das Kind meines Vaters, obgleich es in meiner Geburtsurkunde so stand.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause.

Amalia starrte Herrn Dornfeld gespannt an.

»Und was hat das mit uns zu tun?«, fragte Ellen ungeduldig.

»Wir sind wahrscheinlich Geschwister, genau genommen Halbgeschwister«, sagte der Mann, sah Ellen sekundenlang voll ins Gesicht und wurde etwas verlegen.

Das verschlug Mutter und Tochter erst einmal die Sprache.

»Verstehe ich richtig? Meinen Sie im Ernst, dass mein Vater auch der Ihre ist?«, hakte Ellen endlich nach. »Gibt es dafür Beweise oder wenigstens Anhaltspunkte?«

»Zum einen haben meine Eltern erst kurz vor meiner Geburt geheiratet, aber das tut ja nichts zur Sache, und zweitens…«, Herr Dornfeld zog das angebliche Tagebuch aus der Mappe und blätterte darin, »…und zweitens schreibt meine Mutter am Tag meiner Taufe…«:

[27] Ich bin Walter unendlich dankbar, er liebt den Kleinen wie ein eigenes Kind. Nun habe ich die Hoffnung, dass doch noch alles gut wird. Von Rudi T. ist leider nichts mehr zu erwarten, da er bereits eine eigene Familie hat und im Übrigen jetzt so tut, als hätte ich es bloß auf sein Geld abgesehen.

Ellen dachte nach. Ihr Vater hieß tatsächlich Rudolf und T. konnte für Tunkel stehen. Sie betrachtete den fremden Mann äußerst misstrauisch und forschte in seinen Zügen nach irgendeiner Familienähnlichkeit.

»Herr Dornkaat! Wie kommen Sie darauf, dass der erwähnte Rudi T. mein Vater Rudolf Tunkel sein könnte?«, fragte sie in aggressivem Ton. »Sind diese wenigen Sätze der einzige Hinweis?«

»Ich heiße übrigens Gerd«, sagte der Mann. »Ich habe außerdem das Foto eines Unbekannten gefunden, der mir ähnlich sieht. Schauen Sie selbst!«

Amalia und Ellen beugten sich über ein durchaus wiedererkennbares Bild von Vater und Großvater und wussten nichts mehr zu sagen. Auf der Rückseite stand mit grüner Tinte geschrieben: Dein Rudi.

Nach einer Weile fragte Amalia: »Soll ich Oma holen?«

Sowohl ihre Mutter als auch Gerd Dornfeld wehrten ab. Womöglich ahne sie nichts vom Fehltritt [28] ihres Mannes, und dabei solle es vorläufig auch bleiben.

Ellen wollte vor allem wissen, ob ihr vermeintlicher Bruder den vollen Namen ihres Vaters in einer Urkunde, in Briefen oder weiteren Tagebuchnotizen gelesen habe, was jedoch nicht der Fall war. Er hatte vielmehr einen Detektiv mit der Recherche beauftragt.

»Ich wusste schließlich, dass meine Mutter vor ihrer Heirat in Mörlenbach gelebt und dort in einer Apotheke gearbeitet hatte, es war also anzunehmen, dass auch der bewusste Rudi ein Mann aus eurem Ort war.«

Amalia kam eine Idee: »Das sind doch nur sehr vage Hypothesen. Gewissheit kann eigentlich nur ein Gentest bringen, und das ist kein großes Problem, wenn ihr beide damit einverstanden seid.«

Gerd sah sie dankbar an und nickte zustimmend. Ellen aber schüttelte den Kopf. War ihr dieser Mensch nicht völlig fremd? Sie entdeckte weder eine verwandte Seele in Gerd Dornfeld noch bemerkte sie eine äußerliche Ähnlichkeit. Von Seitensprüngen ihres Vaters wollte sie nichts wissen. Sie hatte ihren Papa geliebt und verehrt und konnte sich nicht vorstellen, dass er fremdgegangen war.

»Ich muss nachdenken und Ihren Verdacht erst einmal verdauen«, sagte sie in strengem Ton und [29] stand auf. »Lassen Sie mir bitte Ihre Karte hier, Sie werden von mir hören.«

Amalia war enttäuscht. Sie hätte den neuen Halbonkel ganz gern nach Strich und Faden ausgehorcht. Wie hieß seine Mutter vor ihrer Eheschließung? War er verheiratet? Hatte er Kinder, gab es unbekannte Cousins und Cousinen? Welchen Beruf hatte er, wo wohnte er? War er jünger als ihre Mutter? Warum ihr Opa seinen unehelichen Sohn nicht anerkannt hatte, hätte Gerd Dornfeld wohl auch nicht beantworten können.

Kaum waren sie allein, verlangte Ellen einen Schnaps, was noch nie vorgekommen war. Sie klopfte unentwegt auf die Sessellehne und regte sich schrecklich auf.

»Mit Sicherheit ist er ein Betrüger! Was will er bloß von uns? Was hältst du von diesem Typen?«

Amalia fand ihn nicht unsympathisch. Sie konnte gut verstehen, dass er den Wunsch hatte, das Geheimnis seiner Herkunft zu klären. Das Tagebuch seiner Mutter war bestimmt ein großer Schock für ihn gewesen, wer konnte wissen, was sonst noch alles darin stand. Sie schnappte sich die Visitenkarte und las laut vor: Gerd Dornfeld, Apfelstraße 24, 60322 Frankfurt. Telefon und E-Mail waren zwar angegeben, aber kein Titel, keine Firma oder Berufsbezeichnung. Amalia eilte an den Computer, um [30] seine Daten einzugeben. Die Adresse stimmte, doch leider fand sie in ihrer Ungeduld keine weiteren Informationen. Nachdenklich schaute sie ihre Mutter an.

»Wahrscheinlich ist er einsam und sucht Familienanschluss, und eigentlich sieht er Onkel Matthias ja ziemlich ähnlich«, meinte sie, »aber dir überhaupt nicht.«

»Ich habe schließlich vier Geschwister«, sagte Ellen. »Warum kommt er ausgerechnet zu mir? Jetzt rufe ich sie der Reihe nach an, mal sehen, ob die irgendetwas von einer Affäre unseres Vaters wissen…«

Amalia meinte, die Mutter solle sich beruhigen, schließlich habe der Skandal in prähistorischer Zeit stattgefunden. Aber sie fand die Geschichte trotzdem höchst interessant und hätte am liebsten alles gleich mit ihrem Uwe besprochen, wurde aber von der Mutter zu absolutem Stillschweigen verdonnert.

Zwei Stunden später kam auch Großmutter Hildegard aus dem Garten und hatte durchaus nicht vergessen, dass zwischendurch Besuch gekommen war.

»Wer war es denn? Ein neuer Verehrer?«, fragte sie spitz, doch sie erhielt keine Antwort.

»Wenigstens zum Kochen bin ich noch gut [31] genug«, brummte sie beleidigt und verzog sich in die Küche.

Amalia lief ihr hinterher. »Oma, es war doch bloß ein Vorwerk-Vertreter«, log sie, »wir sind ihn ganz schnell wieder losgeworden.«

[32] 3

Ellen war die jüngste Tochter ihrer Eltern. Nach Gerd Dornfelds Besuch griff sie zum Hörer.

Er sei zwar kein Jurist, sagte ihr ältester Bruder Matthias, aber als Wirtschaftsprüfer kenne er sich in heiklen Finanzfragen aus. Selbst wenn es stimme, dass der Fremde ein unehelicher Sohn ihres Vaters sei, könne er keine Ansprüche geltend machen.

»Unsere Eltern hatten doch ein sogenanntes Berliner Testament aufgesetzt«, meinte er. »Da Papa zuerst gestorben ist, hat Mutter Haus und Vermögen geerbt. Und sie ist wiederum – sollte deine amüsante Geschichte stimmen – nicht mit diesem Gerd Dornfeld verwandt. Hattest du den Eindruck, der will uns irgendwie erpressen und fordert Geld?«

»Davon war zum Glück nicht die Rede«, sagte Ellen. »Amalia meint, dass er bloß nach seinen Wurzeln sucht, aber ich habe überhaupt keinen Bedarf an noch einem Bruder!«

»Danke für die Blumen. – Aber wahrscheinlich will sich da bloß jemand interessant machen! Gib mir doch seine Adresse, ich werde mir den Burschen [33] mal vorknöpfen«, versprach er. »Ich lasse mich nicht so schnell ins Bockshorn jagen.«

Matthias staunte sehr, dass Gerd Dornfeld genau wie er selbst im Frankfurter Westend wohnte; bisher hatte er immer geglaubt, dort würden nur anständige Menschen leben.

Der Dritte in der Geschwisterfolge, Ellens Bruder Holger, lag frisch operiert in einem Glasgower Krankenhaus. Man wollte ihm keine Aufregung zumuten. Die Zweitälteste, Ellens Schwester Christa, meinte sich zu erinnern, dass es irgendwann eine verheimlichte Ehekrise der Eltern gegeben habe, aber das sei unendlich lange her und sie kenne nicht den Grund. Jedenfalls habe sie als kleines Mädchen mehrmals lautes Streiten und das Wort Trennung gehört.

»Wann war das?«, fragte Ellen und erfuhr, dass es wohl noch vor ihrer Geburt gewesen sein musste.

»Das würde zumindest zeitlich passen«, sagte Ellen. »Dieser Gerd ist so etwa in meinem Alter. Vielleicht bin ich ja ein Versöhnungskind. Aber eigentlich kommt mir das alles reichlich fragwürdig vor; ob ich mal ganz vorsichtig bei Mutter anklopfe?«

»Falls es da schlecht verheilte Wunden gibt, sollte man sie nicht wieder aufkratzen«, sagte Christa und [34] schluckte gut hörbar ihren Kaffee hinunter. »Unser Mütterchen hatte kein leichtes Leben. Wo sie doch jetzt in ihrem Garten einigermaßen glücklich ist.«

Nein, Ellen wollte ihre Mutter auf keinen Fall quälen. Hildegard Tunkel hatte nie ein kritisches Wort über ihren Mann verloren, sondern ihn als feinen Menschen und liebevollen Vater hingestellt. Als er plötzlich starb, war Ellen erst vier.

Jetzt fehlte ihr nur noch jene Schwester, die kaum ein Jahr älter war als sie selbst. In der Kindheit bestand eine gewisse Rivalität und Eifersucht zwischen ihnen, denn Ellen glaubte, dass der Vater die hübschere Lydia bevorzugte, während sie wiederum als Mamas Herzblatt galt.

Lydia lachte schallend, als sie von einem unehelichen Sohn ihres Vaters hörte.

 »Papas Lenden waren fruchtbar, das beweisen schon seine fünf Kinder. Wer weiß, wie viele Brüderchen und Schwesterchen sich in Südhessen tummeln, ich traue dem alten Schwerenöter alles zu!«

»Hast du konkrete Anhaltspunkte dafür?«

»Nur so ein Gefühl, schließlich sah er gut aus und hatte sicher Chancen bei den Frauen. Und Mama ist ja eher ein bisschen spröde.«

»Spröde – und doch bekam sie ein Kind nach dem anderen! Als Mutter einmal leicht beschwipst war, hat sie behauptet, sie sei schon schwanger [35] geworden, wenn Papa sie bloß schräg von der Seite anschaute. Damals gab es schließlich noch keine Pille, vielleicht wollte sie kein sechstes Kind und hat sich nach meiner Geburt im Bett verweigert?«

Ihre Schwester sagte bloß: »Hm, hm! Was weiß man schon von den Verhütungsmethoden der eigenen Eltern«, verabschiedete sich eilig und lief an die Haustür, um einen Besucher einzulassen.

Amalia rief ihrerseits ihre Schwester Clärchen an, die von der möglichen Existenz eines neuen Onkels geradezu begeistert war.

»Was hat er für ein Auto?«, fragte sie als Erstes.

»BMW mit Frankfurter Nummer, glaube ich, eher luxuriös, jedenfalls seriös, viertürig und dunkelblau. Als ich zur Klärung einen Gentest vorgeschlagen habe, war Gerd Dornfeld sofort einverstanden – aber Mama sperrte sich.«

»Wo ist das Problem? Dann gibst du eben selbst eine Speichelprobe ab, als Nichte und Onkel müsst ihr auf jeden Fall ein paar gemeinsame Gene haben.«

Danach sprachen die Schwestern noch ausführlich über ihre Freunde und die Männer im Allgemeinen.

»Wenn wir schon dabei sind, wie sieht unser neuer Onkel überhaupt aus?«, fragte Clärchen neugierig.

[36] »Eigentlich recht gut, er gleicht aber weder Mama noch mir oder dir, hat ein englisches Pferdegesicht, nicht so dreieckig wie wir. Papa sagte ja manchmal ihr Katzenköppe zu uns! Am ehesten ist er ein Typ wie Onkel Matthias, der hat auch rötliche Haare und helle Augen.«

In diesem Moment wurden die beiden Schwestern in ihren Überlegungen von Uwe unterbrochen. Er wollte ins Kino gehen und vorher noch etwas Essbares vom Türken organisieren. »Döner macht schöner«, sagte er, weil Amalia sich schüttelte. Sie mochte die Fleischlappen noch weniger als die ewigen Quarkkeulchen.

Als die beiden aufbrachen, stand Großmutter Hildegard an der Gartenpforte, erwiderte Uwes Hallo mit einem akzentuierten Guten Abend und starrte böse auf Ohrring und Nasenstecker, mit denen sich der Freund ihrer Enkelin schmückte. »Wenn’s Mode wird, hängt der sich auch einen Kuhschwanz um den Hals«, brummte sie.

Beim Abendessen waren Hildegard und Ellen allein.

»Jetzt habe ich leider zu viel gekocht«, sagte Hildegard zu ihrer Tochter. »Dein Kind beliebt ja auswärts zu grasen. Mein Essen schmeckt ihr wohl nicht.«

[37]